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Die drei »Organisierten«, die im Werksaal des Hauses »Zum Seidenbaum« ihren Einzug gehalten hatten und jetzt mit dem Weber Schinnerl um die Wette die Schütze durchs Fach warfen, verbreiteten anfangs eine Wolke von Mißtrauen um sich, aber eigentlich ohne ihr Zutun. Man sah in ihnen die Laus, die die große, mächtig gewordene Partei dem Bürgertum in den Pelz gesetzt habe, und beobachtete sie mit scheuer Zurückhaltung, des schlimmsten gewärtig. Nach und nach aber stellte sich heraus, daß sie eher wunderliche Käuze als gefährliche Verschwörer und Geheimbündler waren. Und wie jedermann sonst, litten auch sie unter der Not der Zeit, dachten nicht viel weiter, als ihre Nase reichte, und waren froh, wenn ihnen niemand etwas in den Weg legte und sie ihr kümmerliches Dasein, in Frieden fristen durften.

Mit großen Worten, die sie irgendwo aufgelesen, der eine da, der andere dort, warfen sie freilich manchesmal um sich. Das diente aber nur der eigenen Herzstärkung und war so schlimm nicht gemeint. Ein jeder von ihnen hatte seine eigene Gattung von Einbildungskraft, womit er sich über das Einerlei der grauen Aussichtslosigkeit hinwegtäuschte. Das Bedürfnis nach Gemütsbewegung, das auch in der schmächtigsten Seele seinen Platz hat, warf dann farbige Phantasmagorien auf die geduldig ausgespannte Leinwand des Alltags.

Der erste von ihnen, der Pimper hieß, hatte mit dem alten Hocheder einst auf du und du gestanden, er war selbst Fabrikbesitzer gewesen, aber vor Jahren zugrunde gegangen. Er gehörte zu den vielen kleineren, die von den Größeren aufgefressen wurden. Daß das technische Wesen nach Zusammenfassung in große und ganz große Gefüge drängt und die fortschreitende Umwandlung jeder Arbeit in ein zwangsläufiges Räderwerk von ungeheurer Verschlungenheit keine Zwergbetriebe mehr duldet, das hatte er am eigenen Leibe erfahren, wäre er nicht ein armer Schlucker und müder alter Mann gewesen, so hätte Georg Leodolter vielleicht einen überzeugten Förderer und Mitarbeiter in ihm gefunden.

»Die alte Mühle am Bach, im kühlen Grund,« sagte er gelegentlich, »ist freilich lieb und schön gewesen, aber die neuzeitliche Dampfmühle eine technische Notwendigkeit und für die moderne Wirtschaft unentbehrlich.«

Damit sprach er wohl seine wahre und eigentliche Überzeugung aus, genau wußte man übrigens nie, wie man mit ihm daran sei. Gerne bog er dann wieder den Sinn seiner Worte in ihr Gegenteil um und ließ sie in eine bitterironische Spitze auslaufen, indem er hinzufügte: »Denn wenn es keine Dampfmühlen geben würde, könnte doch das Gebäck nicht immer teurer werden und die Zahl der Familien, denen es am täglichen Brot mangelt, nicht in stetem Anwachsen begriffen sein.«

Es wohnten eben zwei Seelen in seiner Brust. Die eine konnte es nicht verwinden, daß er mit seinem braven bescheidenen Fabriklein gescheitert war, und hing an lieben alten Erinnerungen; die andere erkannte die Ursachen dieses Scheiterns und redete ihm ein, daß er der rechte Mann gewesen wäre, ins Große zu schaffen, wenn die Umstände nicht einen Riegel vorgeschoben hätten. Der Firma Hocheder und Sohn weissagte er, wenn er seinen apokalyptischen Tag hatte, den unvermeidlichen Untergang, weil sie eine »Pimperl-Firma« sei, wie er sich ausdrückte. Der Laurenz komme zu wenig zu Wort, dem alten Herrn fehle der Weitblick, wenn man ihn, den erfahrenen Geschäftsmann, statt ihn bloß als simplen Handweber zu verwenden, an die Spitze gestellt hätte, dann würde der Wind freilich aus einem andern Loch blasen!

Vergebens rechnete die Zwirner-Wettl ihm vor, wie viele Arbeiter es in Klopsdarf gebe, und wie viele Kraftstühle dort liefen, hartnäckig beharrte er: »Zu wenig! viel zu wenig! Zehnmal mehr müßten es sein, hundertmal mehr!«

Und großsprecherisch legte er los: »Wenn ich nicht Malheur gehabt hätte; und wenn ich nicht von meinem Vater selig das alte Krempel hätte übernehmen müssen, das nichts wert war, sondern über genügend Kapital verfügt hätte, mich ganz neu einzurichten, mit den neuesten schweizerischen Kraftstühlen, wissen Sie; und wenn ich vielleicht noch außerdem eine reiche Heirat hätte machen können, so daß ich das Geld überhaupt gar nicht hätte anschauen brauchen – dann ... ja, dann ...!«

»Na alsdann, was denn dann –?« drängte der Schinnerl.

»Dann hätte sich gezeigt, wer ich bin! Dann hätten die Leut' die Augen aufgerissen! Dann hätte man erst begriffen, wie eine moderne Fabrik beschaffen sein muß und hätte eingesehen, was für rückständige Pfründner die Schottenfelder Fabrikanten alle miteinander sind. Denn für einen schöpferischen Organisator, wie er in mir gesteckt hätte, sind alle Fabriken da herum nichts anderes als lächerliche Schnackerlbetriebe!«

Siegreich blickte der arme unter die Räder Gekommene von einem zum andern, schneuzte sich befriedigt ohne Taschentuch in die Luft und fuhr dann, schweigsam geworden, zu weben fort, ingrimmig mit den Webertritten klappernd.

Der Schinnerl aber sagte weniger zu ihm als zu den andern: »Wär' der Hätte zeitig aufgewacht, hätt' der Hätte nit ins Bette g'macht.«

Und dann verfiel er in trübselige Nachdenklichkeit, hatte er Ursache, sich über andere lustig zu machen? Die schwarzbraune Marfa war ihm wieder in den Sinn gekommen. Die war das zentnerschwere Wäre und Hätte, das er selbst zu schleppen hatte ...

Der zweite von den Neuen, ein stiller, hagerer Mann, der seines Zeichens eigentlich Leinenweber war, befliß sich einer ganz andern Geistesrichtung, von der Geburt bis zu Kriegsausbruch hatte er im böhmischen Erzgebirge bei seinem ehrsamen Gewerbe wacker gehungert, hierauf im Schützengraben rund zwei Jahre lang nach seinen Begriffen wie der Herrgott in Frankreich gelebt, dann weitere zwei Jahre hindurch das zivile Hungern in Uniform fortgesetzt. Seit dem Umsturz betrieb er es wieder in Zivil. Frühzeitig einer Methodistengemeinde angeschlossen, erwartete er geduldig das Reich Gottes auf Erden. Einmal meinte er bereits, es sei schon da, das war in den ersten Zeiten der Neuordnung. Aber bald erkannte er, daß diese eher eine Neu-Unordnung war. Da begriff er, daß das Reich Gottes offenbar doch anders aussehen müsse, und wartete weiter. Manchmal kam der Geist über ihn, daß er reden mußte. Dann hielt er mit Weben inne und schilderte der erstaunt aufhorchenden Zwirner-Wettl die Wonnen des Paradieses in den gleißendsten Farben.

Da er eine nordböhmische Mundart sprach, die mehr Anklänge ans Norddeutsche als ans Bajuvarisch-Österreichische enthielt, galt er der Zwirner-Wettl für einen »Preußen«, und diese konnte sie nicht leiden. Sie hatte auf einer Prater-Bühne einmal eine Posse gesehen, in der ein Berliner verulkt wurde, seither stand ihr Urteil über die »deutschen Brüder« fest. Um so weniger brachte sie die Geduld auf, dem Methodisten, wenn er ins Schwärmen geriet, lange zuzuhören.

»Wie es in Zion aussieht, geht mich nichts an«, sagte sie schnöde; »nicht einmal Berlin, diese öde Streusandbüchse, interessiert mich. Gottlob bin ich eine Wienerin, und bei uns ist das so: Zum Predigen sind die Kirchen da, in einem Werksaal aber heißt's arbeiten, wenn ich einen geistlichen Herrn an einen Webstuhl setz', so kommt nichts Gescheites dabei heraus; und noch viel weniger, wenn ein Weber den geistlichen Herrn ins Handwerk pfuschen will. Das lassen Sie sich gesagt sein, Herr Schirmann (so hieß er), denn ich bin Betriebsrätin für ›dat Janze‹ und verantwortlich dafür, daß hier auch was vorwärtsgebracht wird.«

Solche allmaßlichen Worte konnten dann den Dritten, der ein waschechter »Roter« war und Toblak hieß, ganz aus dem Häuschen bringen, während die andern beiden der »Organisation« nur aus dem Grunde beigetreten waren, um keine Unannehmlichkeiten zu haben, gehörte er ihr aus Überzeugung an. Diese Überzeugung schoß ihm aber freilich nur sporadisch ein, nebenher und zu andern Zeiten war er auch wieder ein Abtrünniger. Er hatte angestrebt, ins Parteisekretariat zu kommen; da er es nicht erreichte, schimpfte er auf die »Bonzen« auch im eigenen Lager. Mit ausgleichender Gerechtigkeit richtete sein Zorn sich nicht nur gegen das Kapital, sondern gelegentlich auch gegen die entgegengesetzte Seite, je nach dem Anlaß oder der Stimmung des Tages. Zwei Redensarten, über die er verfügte, tummelte er abwechselnd oder auch als Zweigespann wie muntere Steckenpferdchen. Die eine war die Feststellung einer Tatsache und besagte, daß er, Toblak, gewohnt sei, Blut zu sehen. Die andere, die prophetisch klang, bestand in der unheimlich dunklen Drohung, der oder die oder das werde schon noch einmal etwas erleben.

Eine Unzahl von Einzelnen, Verbänden oder Begriffen gab es, die noch einmal etwas erleben würden, vom Bundespräsidenten angefangen bis herunter zum Greisler, der ihm eine verdorbene Wurst verkauft hatte, vom Kanzleramt und den verschiedenen Ministerien bis zur Invalidenentschädigungs-Kommission, die ihm keine Unterstützung gewährte, weil die unbedeutende Schramme, die er an der linken Schulter davongetragen, sein Wohlbefinden nicht im geringsten beeinträchtigte. Sie alle würden noch einmal etwas erleben! Außerdem und ganz besonders würde die Bourgeoisie bestimmt noch einmal etwas erleben, aber auch die »Organisation« wegen der korrupten Wirtschaft, die angeblich darin herrsche. Ferner die Parteien überhaupt durch die Bank, wie sie auch heißen mochten. Dann selbstverständlich die »Räte«, alle Räte insgesamt, der Völkerbundrat, der Nationalrat, der Gemeinderat, der Arbeiterrat, der Soldatenrat und so weiter. Alle, alle würden noch einmal etwas erleben, denn allzusammen seien sie das fünfte Rad am Wagen ...

Diesmal ging es übrigens nicht über eine öffentliche Einrichtung her, sondern über die Zwirner-Wettl, welche allerdings die herausfordernde Behauptung aufgestellt hatte, sie sei hier Betriebsrätin.

»Was Sie da sagen, ist so dumm, daß sich eine Antwort darauf gar nicht auszahlt. Es ist aber auch eine Keckheit und eine Herausforderung der gesamten internationalen Arbeiterschaft. Deswegen werd' ich es dem Doktor Birenz stecken, warten Sie nur! Er muß es im Nationalrat zur Sprache bringen, dann werden Sie etwas erleben! Wir sind drei organisierte Arbeiter und gelernte Weber obendrein, verstanden? Und wenn Sie bei Ihrem Kavilierstock und als Nichtorganisierte sich als unsere Betriebsrätin aufspielen wollen, so ist das eine persönliche Beleidigung, die ich mir nicht gefallen lasse. Die andern sollen machen, was sie wollen, ich bin gewohnt Blut zu sehen, ich werde mich auch noch gegen eine Person, wie Sie eine sind, zu wehren wissen!«

Etwas erschrocken rief die Zwirner-Wettl alle weiblichen Listen, die in ihrem verhutzelten Körper Platz hatten, unter die Fahnen und bemühte sich, seinen Grimm auf ein Nebengeleise zu schieben.

»Von dem Doktor Birenz hab' ich schon einmal etwas läuten hören, das muß ein sehr lieber Herr sein. Mir kommt vor, er ist auch mit unserer Frau Justin' verwandt, ein Ziehbruder von ihrem Vater selig, oder so etwas dergleichen.«

»So –? Davon ist mir nichts bekannt, ich weiß nur, daß er unser Abgeordneter im Nationalrat ist. Den sollten Sie einmal reden hören, dann verging' Ihnen Ihr Übermut! Der erzählt Ihnen haarklein, wie es im Zukunftsstaat aussehen wird, und erklärt Ihnen genau, warum es so nicht bleiben kann, wie es jetzt ist. Denn die kapitalistischen Ausbeuter, die noch immer auf ihrem Geldsack sitzen, die werden noch einmal etwas erleben, das können Sie mir glauben!«

»Wenn nur auch Sie und wir alle es noch erleben, daß es wirklich besser wird!« sagte die Zwirner-Wettl, das ins Auge gefaßte Ziel mit Klugheit weiter verfolgend. »Ums Reden ist mir nicht besonders zu tun, geredet wird viel, mir kommt's nur drauf an, ob ich was davon spür', daß das Reden auch etwas genützt hat. Spüren Sie was davon? Hat Ihnen der Doktor Birenz schon einmal zu etwas verholfen?«

Da hatte sie ihn auch schon auf dem Punkt, wo sie ihn haben wollte.

»Nichts spür' ich! Nichts hat er mir geholfen! Immer bleibt's die alte Metten, immer drehn wir uns auf demselben Fleck herum, wie soll da etwas vorwärtsgehen? Der Birenz ist auch nicht anders als die andern, immer schon hab' ich mir's gedacht, aber jetzt versteh' ich's erst – wenn er sogar mit der Bourgeoisie verwandt ist! Benimmt er sich denn nicht auch danach? Im Auto kommt er vorgefahren und redet dann von der Not des Proletariats! Was weiß denn der von Not? Was weiß er vom Proletariat? Ihm geht's gut, er lebt wie alle diese Herren von den Parteigeldern, das ist freilich bequem! Aber nennt man das nicht Korruption – he? Wenn einer sich von unsern sauer verdienten Groschen ein Auto halten kann? Sie haben ganz recht, mit dem Reden allein ist noch nichts getan, geholfen muß uns werden, darauf kommt's an, und im Notfall werden wir uns halt selber helfen. Ich kenn' mich aus, ich weiß, wie andere sich geholfen haben, ich bin weit herumgekommen in der Welt, tief in Rußland war ich drin, bis nach Sibirien hinein, ich bin gewohnt Blut zu sehen. Und wenn der Doktor Birenz nicht bald dafür sorgt, daß auch für uns etwas geschieht, dann wird er noch einmal etwas erleben!«

Der Schinnerl freute sich im stillen, daß es der Zwirner-Wettl gelungen war, den Toblakschen Groll von sich abzulenken und ihm eine andere Richtung zu geben. Er kam ihr jetzt zu Hilfe, indem er sich, opferwillig wie er war, selbst als Blitzableiter aufpflanzte.

»Sie wollen weit in der Welt herumgekommen sein?« fragte er von oben herab, »wegen dem bissel Rußland etwa? Oder wegen der kleinen Landpartie nach Sibirien, wo heutzutag schon jeder Zweite gewesen ist? Lassen Sie sich nicht auslachen, das gehört doch alles beinah' noch zu Europa! Weit in der Welt herumgekommen sein – darunter versteh' ich etwas anderes. Waren Sie schon einmal am Yang-tse-kiang, wo die Kamelien wild wachsen wie bei uns die Brennessel? Und wo es schon viertausend Jahr' vor Christi Seidenbäume und darum auch Seidenweber gegeben hat? Waren Sie schon einmal bei den Feuerländern, die sich ein Kravattel mit einer Busennadel umbinden, lange bevor sie an eine Schwimmhose auch nur denken? Oder bei den Negerstämmen in Afrika, wo der Mann sich ins Bett legt und sich pflegen und bedienen läßt, wenn seine Frau in die Wochen kommt? Nein? Na also, wenn Sie noch nirgends gewesen sind als auf diesem armseligen alten Kontinent, was reden Sie dann von Ihren Reisen? Wer nicht übers große Wasser gefahren ist, kennt die Welt überhaupt nicht!«

»Sind Sie denn überall da gewesen, Herr Schinnerl, und sogar übers Weltmeer gefahren?« fragte der Methodist, sehr darauf erpicht, Nähers zu erkunden. »Wie war das doch, was Sie eben sagten? Der Mann lege sich ins Bett, wenn die Frau...?«

»In die Wochen kommt, ganz richtig. Und das ist nämlich so...«

Die erste Frage überhörend – denn er war ja kaum jemals aus der Schutzengelgasse herausgekommen – schickte der Weber Schinnerl sich an, den Wissensdurst des frommen Kollegen zu stillen und sich des breiteren über diese und andere Merkwürdigkeiten auszulassen, die er aus seinen geliebten Reisebeschreibungen kennengelernt hatte; indessen war gerade in diesem Augenblick Severin Hocheder in den Saal getreten, um namens seines Bruders irgendeinen Auftrag an die Zwirner-Wettl zu bestellen. Da verstummte das Gespräch, mit löblichem Eifer widmeten sich alle wieder der ihnen obliegenden Tätigkeit, als hätten sie nie an etwas anderes gedacht.

Es gab jetzt, wenn alles ordentlich in Gang war, schon ein recht ansehnliches Geräusch im alten Werksaal, beinahe wie in einer richtigen kleinen Fabrik. Die Zwirner-Wettl freilich, die ihre Seidensträhne kavilierte, machte keinen Lärm, denn diese Tätigkeit ist stumm. Vier Webstühle aber können gar gewaltig klappern, wenn sie wollen, und außer den drei neuen Webern hatte Laurenz auch noch zwei oder drei Fabrikmädchen eingestellt, die die hölzernen Spulmaschinen kollern machten, daß es klang, als stiege ein erdbebenkündendes Grollen aus den Tiefen der Erde auf. Er machte aus der Not eine Tugend und ließ jetzt wenigstens einen Teil jener Ware, deren Kette vor dem Verweben bedruckt werden mußte, in Wien herstellen. So ersparte man sich das wiederholte Hin- und- Herschicken über die Grenze und damit manche Lästigkeit.

Für Severin gab's im Werksaal eine Überraschung. Gänzlich unerwartet erkannte er in dem Weber Toblak einen alten Kriegskameraden. Fast ein Jahr lang waren sie miteinander in einem russischen Gefangenenlager interniert gewesen, bis Severin noch weiter nach Sibirien hinein verschickt wurde.

Sie hatten sich angefreundet, der schiefgegangene Bürgerssohn und der aus dem Proletariat hervorgewachsene Arbeiter. Gleiches Schicksal wirkte ausgleichend auf die Höhenunterschiede, die zwischen einer heißen, auf menschliche Hochziele gerichteten Künstlerseele und einem nur ans Greifbare denkenden, mit leeren Redensarten vollgehämmerten Durchschnittskopf bestanden. In langen Abendgesprächen krempelten sie die Welt um, die Schwingen, die dem einen wuchsen, hoben auch den andern ein klein wenig über den Staub. Nun fanden sie einander wieder, in enger Abhängigkeit, mit unerfüllten Wünschen. Ungestillt die Sehnsüchte des einen wie des andern, die erreichbaren wie die erdfernen. Enttäuschte beide, zurückgesunken beide in den Staub kleinlicher Alltäglichkeit. »Es ist nicht alles so gekommen, wie wir es uns dachten«, sagte Severin.

»Du kannst lachen, du bist der Sohn vom Haus.«

»Weiß nicht, ob du mit mir tauschen möchtest...«

Der Weber schwieg. Halb unbewußt lastete es plötzlich auf ihm, daß er immer drohte und prahlte und doch ein armes, ohnmächtiges Leben führte, das jeden Aufschwungs entbehrte, seit er heimgekehrt und mit parteimäßiger Unzufriedenheit vollgestopft war.

»Was macht denn die Gitarre?« fragte er unvermittelt.

»Ist noch immer dieselbe.«

»Eigentlich war's schön«, sagte Toblak.

»Ja, schön ist es gewesen!« stimmte Severin ihm zu.

Die unendliche Eintönigkeit des Lagers tauchte vor ihm auf, wo man so verlassen war, so ganz aus der Welt, fern von jeder Wirklichkeit. Wo man ungestört seine Träume spinnen konnte, von einer maßlosen Sehnsucht erfüllt, die einem das Leben in holderem Lichte zeigte, als hätte man es tatsächlich gelebt, welch eine Freiheit mitten im Elend! Was für kühne, beseligende Bilder von einem höheren Zustand der Menschheit, überwachen Geistes ersonnen in Entbehrung, Knechtschaft und Leid, ohne daß sie auf ernüchternden Widerspruch stießen! Stacheldraht beengte die willkürliche Bewegung der Leiber, aber die Herzen vertieften sich, auf die Knie gezwungen vor der Majestät eines gigantischen Schicksals. Besser, reiner, vielleicht auch – glücklicher war man gewesen im fast urzeitlichen Unglück, als im Dunstkreis der gepriesenen Kultur ...

In ähnlicher Richtung, ob auch auf ausgefahrenen Gleisen, mochte auch Toblaks stumpfes Sinnen zu abgeblaßten Erinnerungen zurückstreben und trübselige Vergleiche ziehen mit der Gegenwart und ihren Aussichten. Ingrimmig sagte er: »Die am Steuer sitzen und doch ewig den Kurs nicht in die Sonne nehmen, die werden schon nach einmal etwas erleben! ...« Und dann, gleichsam eine Bürde abwerfend, mit befreiendem Entschluß: »Hol's der Geier! Spielen und singen möcht' ich dich noch einmal hören wie damals. Mehr verlang' ich mir nicht. Dann könnt' ich mir einbilden, ich wär' noch in Sibirien. Und es würde mir wieder wohl.«

»Sollst es haben«, sagte Severin. »will dir gern den Gefallen tun, wenn dein Herz dran hängt.«

Erwachtes Mitleid hob ihn aus der eigenen Bedrückung. Nein, mit dem tauschte er nicht! Mit keinem! Er spürte Reichtum in sich neben der Leere und Kahlheit des Massengefühls, das er in Toblak witterte. Um wieviel schlimmer war jener daran, der nach wie vor in Ketten der Wirklichkeit schmachtete! Der bedauernswerte Leidensgenosse von einst! Ihm war es nicht gegeben, anderen aus sich selbst etwas zu schenken.

Überhaupt waren es die knappen Stunden, wo er ein Gebender sein konnte, die Severin aufrechthielten. Sein Dasein, tagsüber ausgefüllt mit nichtigen Verrichtungen, eingekerkert in einen verkalkten Hausbrauch, der ihm tyrannischer als sibirischer Stacheldraht dünkte, hätte ihn verzweifeln machen, wären die Abende nicht gewesen, wo er, die geliebte Geige oder Laute im Arm, wieder er selbst sein durfte, und hätte er nicht aus untrüglichen Anzeichen merken können, wie reich sein Bruder, seine Schwägerin sich durch die Kunst beschenkt fühlten, die wundersam in ihm wieder aufblühte.

Auf Laurenz lasteten geschäftliche Sorgen, niederdrückend, aufreibend. Die Knappheit an Kapital zwang ihn im Lauf des Sommers, einen Teil der Klopsdorfer Fabrik stillzulegen, obgleich der Absatz nichts zu wünschen übrig gelassen hätte. Denn je schlimmer die mittleren, einst wohlhabenden Klassen unters Rad kamen, je beschämender die Tage der geistigen Arbeiter sich gestaltete und je vergeblicher das ängstliche Bemühen hochklingender Namen wurde, die anklopfende Dürftigkeit abzuweisen, um so prahlerischer gebürdeten sich Eitelkeit und Verschwendung in den Kreisen der neuen Reichen. Es hätten sich in Seidenzeugen und Samt jetzt großzügige Geschäfte abschließen lassen. Aber die Arbeiter, zum Teil auch der Rohstoff mußten bar bezahlt werden, die Abnehmer der Ware, Klein- und Großkaufleute, ließen sich mit dem »Regulieren« Zeit, rissen womöglich noch Prozente ab, setzten wohl gar die Miene von Großmütigen auf, wenn sie überhaupt beglichen. Durch die verwandtschaftlichen Beziehungen zu der Garn- und Rohseidenfirma Fürst und Sohn, der die kleine muntere Ursel vorstand, genossen die Hocheders den denkbar weitesten Kredit, doch sahen sie sich gezwungen, wollten sie nicht Einbuße an Kundschaft erleiden, einen noch viel weiteren den Schnittwarenhändlern und Modegeschäften einzuräumen. Unerwartet kamen auf dieser Seite Zahlungsstockungen oder gar -einstellungen vor. Dann wehte Krisenluft durch die Schutzengelgasse, das Haus »Zum Seidenbaum« erbebte in seinen Grundfesten.

Es kamen sogar Augenblicke, wo es schwankte und alles in Frage gestellt schien. Rettung, Deckung galt es zu suchen. Immer noch bisher war sie gefunden worden, aber auf der Stirn des Chefs zogen sich düstere Wolken zusammen. Dabei steigerte der alte Herr, statt mit Besonnenheit zu überlegen und zu raten, die Schwierigkeiten eher noch, als daß er sie gemindert hätte. Denn er fing dann gewöhnlich nach irgendeiner Seite hin zu wüten an, überhäufte seine Mitarbeiter mit Vorwürfen, wollte alles vorausgesehen und anders angeordnet haben, als es ausgeführt worden, und verhinderte manche erwünschte Lösung durch Schroffheit und hochfahrendes Wesen den Geschäftsfreunden gegenüber, auf deren Entgegenkommen man angewiesen war. Für Laurenz gesellte sich zu den verantwortungsvollen Entscheidungen, die zu treffen waren, in solchen Fällen auch noch die peinliche Aufgabe, erregte Gemüter zu beschwichtigen und Verstimmungen auszugleichen. Und dieser Zustand der Unsicherheit, der an seinen Nerven zehrte, dieses fast ohnmächtige Ankämpfen gegen zu hoch gehende Wogen, das seine Widerstandskraft zu erschöpfen drohte, trug weniger die Anzeichen einer raschen Vergänglichkeit an sich als die einer nicht abzusehenden Dauer.

Ja, es lasteten schwere Sorgen auf Laurenz, niederdrückende, aufreibende Sorgen.

In solcher Zeit gab es nur einen Trost für ihn, der ihn tröstete, nur eine Entspannung, die ihn beruhigte. Das war die Musik. Nicht die Konzertsäle oder Bühnen: die traulichere, heimlichere, die an stillen Abenden, nach des Tages Mühen und Beängstigungen, Severin allein oder begleitet von Justine in der gewohnten Umgebung für ihn machte, ausruhend blieb er nach dem Abendbrot gerne noch am Speisetisch sitzen, während aus dem kleineren Nebenzimmer, wo der Flügel stand, hehre Klänge zu ihm herüberwehten und ihn träumerisch umspielten, sich mit dem bläulichen Rauch seiner Zigarre vermischend. Nur selten waren an solchen Abenden andere zugegen. Manchmal allenfalls Ursel Fürst, einst Mitwirkende in jenem musikalischen Kreis im Hause Mairold, wo Severin und Justine einander kennengelernt hatten. Manchmal auch, aber noch seltener Marianne Hocheder, die mit ihrem ganzen Herzen an Severin hing, ihn als Künstler bewunderte und am liebsten den ganzen Tag sich von ihm hätte vorspielen und -singen lassen, aber zu ihrem Leidwesen sich nur ab und zu einmal freimachen konnte; denn der alte Herr sah es nicht gern, wenn sie ihn allein ließ. Zuweilen blieb Laurenz der einzige Zuhörer, und das war ihm gerade recht. Er wollte nicht genötigt sein, eine Unterhaltung zu führen, er wollte nur lauschen und sich in Rhythmen vergessen, verlieren.

Mit Dankbarkeit empfand er die Erholung und Erhebung, die von solchen Stunden ausstrahlte, wenn die wortlose und doch so vielsagende Kunst ihn mit dem Frieden einer erhabenen Gedankenentbundenheit segnete, pries er im stillen den Tag, wo er den Vater überredet hatte, Severins Heimkehr zu gestatten. Er liebte Justinen nun doppelt, über ihr Können staunend, das so lange brachgelegen, und ehrfürchtig ihr Urteil und ihre Tiefe bewundernd, die sich ihm nie so überzeugend geoffenbart hatten wie jetzt aus Tönen. Und sie auf der andern Seite und Severin liebten ihn wieder, wie man jeden um so mehr liebt, je mehr Liebes man ihm erweist. Für sie beide gab es ja kein höheres Glück als das einmütige Zusammenwirken, das die in den Werken der großen Tondichter schlummernden Geister und Geisterchen aus einem Gewirr schwarzer Notenköpfe zu rauschendem Leben erlöste. Und sie empfanden es fast als merkwürdig, daß sie mit dem, was sie am liebsten taten, und was ihnen natürlichste und erwünschteste Lebensäußerung war, auch noch dem geplagten Gatten und Bruder gleichsam aus dem Nichts etwas wie eine Oase hervorzuzaubern imstande waren, in der seine entspannten Sinne sich ergehen, an nie versiegenden Brunnen Labsal trinken konnten.

Wieder einmal wurde Ereignis, was jedem aus sich heraus Schaffenden schier als ein Wunder erscheint: daß die Früchte am Baum der Kunst, die zu spenden diesem selbst Notwendigkeit und reinster Genuß ist, von dem, der sie pflückt und genießt, mit innigem Dank empfangen und wie ein Verdienst gewertet werden.

Es ging schon gegen den Herbst, da geschah es einmal, daß Laurenz über die übliche Stunde hinaus noch in seiner Schreibstube festgehalten war, als Severin sich wie gewöhnlich zum Abendessen einfand, wartend saßen die beiden auf dem Sofa nebeneinander. Sie befanden sich in dem kleinen Empfangszimmer, wo die Versammlung von Verwandten und Freunden den Heimgekehrten am ersten Tage begrüßt und Justine, indem sie die Arme um seinen Nacken legte, ihn zum Willkomm auf den Mund geküßt hatte, wer vermöchte es zu erklären, warum sie sich gerade an diesem Abend hieran erinnerten? Beide dachten sie, ohne daß eins vom andern es wußte oder aus irgendeinem Anzeichen hätte erraten können, zu gleicher Zeit an jenen Augenblick zurück. Sie blätterten dabei gemeinsam in einem Notenheft, in das sie, fast Kopf an Kopf, gleichzeitig hineinblickten, um sich dessen Inhalt im Fluge anzueignen. Und als beim Umblättern ihre Hände sich zufällig berührten, stand unversehens ein stockendes Gefühl der Befangenheit zwischen ihnen auf, das sie unwillkürlich auseinanderrücken machte.

Justine erhob sich, klappte das Notenheft zu und legte es auf den Flügel. Dann nahm sie wieder Platz, ihm gegenüber, auf einem Polsterstuhl.

»Der arme Laurenz hat jetzt einen schweren Stand«, sagte sie.

»Er tut mir leid, wie wir alle ist er um hundert Jahre zu früh auf die Welt gekommen.«

»Meinst du, daß es nach hundert Jahren besser wäre?«

»Es fehlt in der gesamten Wirtschaft die Gemeinsamkeit«, sagte Severin. »Jeder ist auf eigene Faust Verdiener und Erraffer, jeder der Feind des andern, was für ein wildes, leidenschaftliches Drängen nach dem Allerheiligsten, wo das Götzenbild aufgerichtet steht! Ein jeder stößt den andern zurück mit rücksichtslosen Ellenbogen, wer stolpert und stürzt, wird niedergetreten. Da schlagen die Leute die Hände zusammen über den Krieg, weil er grausam war. Ist das Leben im Frieden vielleicht minder grausam? Wenn man den Krieg abschaffen will, müßte man nicht früher daran denken, eine Gesellschaftsordnung abzuschaffen, die nur deshalb unblutiger ist, weil sie das Erwürgen und Niedertreten an die Stelle der Geschosse und Bomben setzt?«

»Glaubst du denn,« fragte Justine, »daß es sich auch anders einrichten ließe?«

»Und glaubst du denn,« fragte er dagegen, »daß die Menschheit wirklich so roh und unbelehrbar sein könnte, um ewig in diesem unerträglichen Zustand zu beharren?«

»Ich hörte immer sagen, Kampf und Wettbewerb müsse es geben?«

»Und warum sollte nicht Zusammenarbeit, gegenseitiges Einvernehmen, Brüderlichkeit an deren Stelle treten können? Muß denn die Welt erfüllt sein mit Neid, Haß, Elend, Verzweiflung, statt mit Liebe, Freudigkeit und allgemeinem Wohlergehen? Wenn alle guten Willens wären, was hinderte uns daran, eines Tages zu beschließen, daß es anders werden muß?«

»Vielleicht der Eigennutz der einzelnen«, sagte Justine.

Er war aufgestanden und ging erregt, innerlich aufgewühlt, im Zimmer auf und nieder.

»Du wirst schon recht haben, so wird es sein. Dann wäre freilich alles vergeblich gewesen. Seit ich daheim bin, seh' ich's immer mehr: alles war vergeblich! Vergeblich das viele Blut, vergeblich die Greuel. Die Menschheit ist wirklich nicht reif genug und viel zu unbelehrbar, um etwas zu ändern. Es bleibt alles beim alten. In Sibirien hatte ich noch meinen Glauben, daheim kommt er mir allmählich abhanden. Es ist traurig, sehr traurig. Mir ekelt vor der Welt! Manchmal überkommt es mich wie Müdigkeit, daß ich am liebsten...«

Er ergänzte seine Worte durch eine wegwerfende Handbewegung, während er fortfuhr, unstet auf und ab zu gehen.

»Du fühlst dich nicht wohl bei uns!« sagte Justine bekümmert.

»Schon. Aber noch wohler wär' mir's, ich wär' im Feld geblieben. Es wäre ein anständiger Abgang gewesen.«

Tränen traten ihr in die Augen, Leid würgte sie. Konnte sie ihm denn nicht helfen? War sie ihm nichts? Was sollte sie tun, ihn von dieser Trostlosigkeit zu erlösen?

»Hast du in letzter Zeit nichts komponiert?« fragte sie in dem Bestreben, ihn auf andere Gedanken zu bringen, die ihn vielleicht aufrichten würden.

»Doch!«

Er blieb stehen, faßte nach der Rettungsleine, die sie ihm zuwarf... Ist die Kunst nicht etwas wie Feigheit? ... ging es ihm durch den Kopf ... Flucht vor dem, was ist ... Gestaltung, wichtiger genommen als Erleben... »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt...«

Er hatte sich vor den Flügel gesetzt und nahm die Laute in den Arm, deren Register durch seitlich gespannte Saiten bereichert waren.

»Eine dem Komponisten ungewohnte Form«, sagte er. »Ich habe sie ungefähr behandelt wie Stollen und Abgesang.«

Dem kleinen Raum entsprechend sang er nur mit halber Stimme:

Gebet

Durch eine dunkle Pforte eingetreten
Fand ich zu diesem Dasein mich verdammt,
's war ein verantwortliches, hartes Amt,
Ward nicht gefragt, hab' nicht darum gebeten.

Die Zeit stand unter schamlosen Planeten,
Ihr müdes Herz, versandet und verschlammt,
war mehr für Mammon als für Gott entflammt,
Bedacht mehr aufs Genießen als aufs Beten.

O Herr, laß mich so unbefleckt und rein,
An Leib und Seele ohne ekle Schwären,
wie ich hier eintrat einst als Kindelein,

Der kranken Sumpfluft dieser Welt entfliehn
Und still zur ewigen Lauterkeit heimkehren!
Dann will ich danken dir auf meinen Knien.

Justine weinte. Er legte die Laute fort und trat an, ihre Seite. Leise strich er ihr mit der Hand übers Haar.

»Das war nun auch nicht der Zweck der Übung. Da sprech' ich von Freude, die sich über die Welt ausbreiten soll, und bring' es nicht einmal zustande, dir Freude zu machen. Nicht einmal dir, Justine. Nur Kummer, nur Kummer!«

»Warum bist du so unglücklich?« fragte sie unter Tränen. »Fühlst du nicht, wie wir dich lieben?«

Er sank neben ihr in die Knie und schlang seine Arme um ihre Mitte: »Du! Du! Liebst du mich?«

»Ja!« stieß sie hart und mit dem Zorn der Verzweiflung hervor. »Dich! Dich! Nur dich!«

Im Speisezimmer nebenan hörte man die Tür gehen. Laurenz trat ein. Rasch hatte Severin sich erhoben und stand hilflos neben Justine, die ihre noch immer fließenden Tränen zu trocknen suchte.

Besorgt und teilnehmend blickte Laurenz von einem zum andern.

»Na, warum weint sie denn?« richtete endlich seine Frage sich an den Bruder.

»Er hat gesungen«, antwortete Justine statt seiner... »Es hat mich ergriffen.«

Beppi, die Magd, trat in die Tür, das Abendessen sei aufgetragen.

Ziemlich einsilbig nahmen sie die Mahlzeit ein. Laurenz, voll Milde und Nachsicht gegen seine Frau, bemühte sich, sie durch kleine Scherzworte aufzuheitern. Sie tat sich Zwang an und versuchte darauf einzugehen. Als er etwas wie Erfolg merkte, überwand er mehr und mehr die eigene Schwerblütigkeit. Aber er mußte fast allein die Kosten der Unterhaltung tragen, die sich noch immer zäh und stockend hinschleppte. Zum Nachtisch ließ er eine Flasche Wein kommen, was selten geschah.

»Es belebt die Geister«, sagte er, indem er auch Justine nötigte, von dem Weine zu nippen.

Severin zu nötigen, konnte er sich sparen. Der trank in großen Zügen und ließ sich gern wieder einschenken, ohne deshalb gesprächiger zu werden. Seine Wangen röteten sich, ein verhaltenes Feuer glühte in den Blicken, mit denen er Justine verschlang. Auch Laurenz sprach dem Glase wacker zu. Der Wein steigerte sein Lebensgefühl, die geschäftlichen Schwierigkeiten, von denen ihm der Kopf voll gewesen, schienen ihm jetzt leichter überwindbar. Er würde schon noch damit fertig werden, morgen war auch ein Tag, der heutige Abend sollte einem wohltätigen Ausspannen gewidmet sein.

»Ihr müßt mir noch etwas spielen, Kinder! Etwas ganz Großes und Schönes!«

»Gern!« sagte Justine aufatmend, sie wartete schon darauf, wann das für sie heute so peinigende Beisammensein zu dritt ein Ende nehmen würde, »wenn Severin bereit ist – ich bin's.«

»Ich möchte heut' was Jubelndes!« sagte Severin.

»Auch gut. Aber den Jubel zum Schluß! Zuerst etwas Elegisches, das frei macht und zum andern hinüberleitet. Nach meiner Erfahrung muß die trübselige Stimmung, die unsre Tage mit sich bringen, erst zur Wehmut erhöht und vergeistigt werden, ehe die Freude ihren Einzug halten kann. Das ›Seid umschlungen Millionen‹ steht wohlweislich am Schluß der Neunten, nicht an ihrem Anfang. Als Steigerung wirkt es großartig, als Einleitung würde es wie die Hand aufs Auge passen. Und dieselbe Weisheit, dünkt mich, muß auch bei Zusammenstellung eines Programms walten.«

»Schön! Wir danken für den wertvollen Wink, den wir uns zunutze machen wollen.«

Justine hatte sich erhoben, froh, endlich loszukommen, und bereit, sogleich mit Musizieren zu beginnen, »Hast du für den Anfang vielleicht einen bestimmten Wunsch?« fragte sie noch.

»Du hast's erraten!« sagte Laurenz aufgeräumt. »Meine Theorie, wie ein Konzertprogramm aussehen soll, teilt das Los aller Theorien: sie sind meistens dazu da, zu beweisen, was man schon vorher wußte. So weiß auch ich längst, was ich eigentlich will. Mein Verlangen steht nach einem Musikstück, das ich ganz besonders liebe. Zufällig habt ihr es noch nie gespielt.«

»Und das wäre?«

»Das Adagio aus der Frühlingssonate.«

»Dazu fehlen leider die Noten«, sagte Justine errötend. »Du irrst. Ich fand sie erst unlängst in dem Beethoven-Band, der gewöhnlich auf dem Klavier liegt. Sieh nach, so wirst du dich davon überzeugen.«

»Es kann sein, daß ich irre. Aber wenn du nichts dagegen hast, mochte ich lieber etwas anderes spielen.«

»Weshalb?« fragte Laurenz verwundert.

»Ich liebe das Adagio nicht. Die ganze F-Dur-Sonate mag ich nicht.«

»Nun denn«, sagte Laurenz gutmütig. »Künstler haben ihre Launen. Also bitte, was anderes.«

»Spielen wir's doch!« rief Severin von seinem Stuhl aufspringend, »Warum nicht? Justine! Spielen wir's doch!«

»Nein, ich spiel' es nicht!«

»Dann spiel' ich überhaupt heute nicht!« sagte Severin wie ein trotziger Knabe, setzte sich wieder an den Tisch und trank sein Glas aus.

Befremdet blickte Laurenz von ihm zu ihr, von ihr zu ihm.

»Was habt ihr nur heute, ihr beiden?«

Mit fest geschlossenen Lippen stand Justine neben ihrem Stuhl und blickte zu Boden.

»So nehmt doch Vernunft an«, mahnte Laurenz, ungeduldig werdend. »Spielt, was ihr wollt, aber spielt schon einmal!«

»Er will ja nicht«, sagte Justine, indem sie sich am Kredenztisch zu schaffen machte.

»Das Adagio spiel' ich so gern«, sagte Severin.

»Und das spiel' ich nun eben nicht!« beharrte Justine.

Unmutig langte Laurenz sich das Abendblatt her und begann zu lesen.

Justine fuhr fort, in der Kredenz Ordnung zu machen, dann begann sie still und lautlos den Tisch abzuräumen. Severin stand auf, sagte guten Abend und entfernte sich. Kopfschüttelnd sah Laurenz ihm nach.

»Was ist mit ihm?« fragte er.

Justine zuckte schweigend die Achseln.

In solcher Verstimmung wie an diesem Abend war man noch nie auseinander gegangen.

 


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