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Ein Rohrpostbrief, der tags darauf in Konrad Eybels Bude abgegeben wurde, eröffnete ihm die unerwartete Aussicht, Mariannen schon in kürzester Frist wiederzusehen.

Justine Hocheder, die Gattin des Laurenz, lud ihn im eigenen Namen und dem ihres Mannes für Ostermontag zum Mittagessen ein. Er wußte, daß entfernte blutsverwandtschaftliche Beziehungen, die sich von irgendeinem gemeinsamen Urahn herleiteten, zwischen ihm und ihr bestanden; er hatte keinen Kopf für solche Dinge, konnte sich die Zusammenhänge nie recht merken, empfand es aber dankbar, daß sie die Liebenswürdigkeit hatte, ihn mit »Du« und »Lieber Vetter« anzureden, obgleich sie einander persönlich kaum kannten.

Man erwartet, schrieb Justine, Severins Eintreffen für Ostermontag früh. Ihr Mann werde ihn vom Bahnhof abholen und nach Hause bringen, wünsche den Heimgekehrten aber erst zu Mittag anläßlich eines gemeinsamen Mahles den übrigen Familienmitgliedern zuzuführen und würde Wert darauf legen, wenn neben einigen andern Nahestehenden auch Eybel als Freund Severins dabei zugegen sein wollte.

Der Hauptmann begriff. Offenbar beabsichtigte Laurenz Hocheder, sich vorerst unter vier Augen mit dem Bruder auszusprechen, um ihn mit den Zuständen bekannt zu machen, die er im Hause vorfinden würde. Vermutlich lag ihm auch daran, das erste Zusammentreffen von Vater und Sohn gewissermaßen unter Aufsicht zu stellen, damit nicht irgendein unbedachtes Wort von der einen oder andern Seite den glücklich eingeleiteten Gottesfrieden gleich von Anbeginn wieder bedrohe. Und vielleicht war ihm überdies auch noch darum zu tun, das Wiedersehen zwischen Severin und Justine, das für beide Teile immerhin etwas Peinliches enthalten mochte, dadurch unverfänglicher zu gestalten, daß es in Gegenwart eines kleinen Kreises von Verwandten und Freunden stattfinden sollte. Solchen Gründen konnte Eybel seine Billigung nicht versagen. Es stand für ihn fest, daß er sich der Mitwirkung an dem sauber ausgedachten Versöhnungswerk nicht leicht entziehen könne, er wolle es auch nicht, es war ein Liebesdienst, den man von ihm forderte. Außerdem befeuerte der Gedanke an Marianne seine Bereitwilligkeit. Nur der trübselige Zustand seiner Ausrüstung, mit der er im Rahmen einer so feierlichen Veranstaltung wenig Ehre aufzuheben befürchten mußte, bereitete ihm Sorgen.

Einen anständigen Zivilanzug sich anzuschaffen, dessen er schon dringend bedurft hätte, verwehrte ihm die mißliche Vermögenslage, in der er sich befand. Sein Vater, der 1906 in Wien verstorbene General von Eybel, ebenfalls Sohn eines Offiziers und lange Jahre hindurch als Kommandant in Böhmen stationiert, hatte das Licht der Welt in einem damals noch rein deutschen Gebiet Ungarns erblickt, das aber nach dem Friedensschluß an Jugoslawien gefallen war. Infolge von Unklarheiten und Verwicklungen, die irgendwie hiermit zusammenhingen, schwebte die Frage der Zuständigkeit und Heimatberechtigung Konrad Eybels noch unentschieden in der Luft, weshalb ihm vorderhand kein Heller des ihm zukommenden Ruhegenusses ausbezahlt wurde. Die Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien schoben einander wechselweise die Verpflichtung zu, diese Zahlung zu leisten, und Österreich, für das er selbst, da er in Wien geboren und aufgewachsen war, optiert hatte, konnte angesichts der noch nicht abgeschlossenen Erhebungen derzeit keine Entscheidung treffen, obgleich es sich in tausend weit fragwürdigeren Fällen nur allzu entgegenkommend erwiesen hatte. So wiederholte sich die Erscheinung vom Streit einer Anzahl griechischer Städte um Homer im umgestülpten Sinne dergestalt, daß vier sonst nichts weniger als einmütige Staatsgebilde sich in dem unrühmlichen Beginnen zusammenfanden, einen wiederholt mit Auszeichnung genannten Generalstabsoffizier ihres früher gemeinsamen Heeres am Hungertuch nagen zu lassen.

Das mütterliche Erbe, durch die Geldentwertung fast zu einem Nichts zusammengeschmolzen, bestritt einstweilen noch, wenn auch notdürftig, die ebenfalls beinahe auf ein Nichts herabgesetzten Lebensbedürfnisse des Entwurzelten, drohte sich aber bald völlig zu erschöpfen. Das meiste ging auf die unentbehrlichen Hilfsmittel auf, welche der Lehrbetrieb auf der Hochschule forderte. Für die Erneuerung der äußeren Hülle, die dem Menschen leider nicht angeboren ist wie dem Tiere das Fell oder Federkleid, blieb schlechterdings nichts übrig. Begreiflich, daß unter solchen Umständen die Einladung in die Schutzengelgasse dem an ein adrettes Erscheinen Gewöhnten den Kopf heiß machte. Und schon war er nahe daran, die Hände verzagend in den Schoß zu legen, als er sich gerade noch zur rechten Zeit daran erinnerte, an einem der vielen Trödelläden, die in dem engen Gäßchen zwischen Salzgries und Hohem Markt nisteten, einen Zettel gelesen zu haben, welcher Herren, die eine »Zeitlang« als Kavaliere einherzuschreiten wünschten, höflich einlud, von der günstigen Gelegenheit, sich tadellos sitzende elegante Anzüge tagweise auszuleihen, in ihrem eigenen Interesse recht fleißig Gebrauch zu machen. Für ein derart befristetes modisches Auftreten, das sich mit den fremden Federn des Judengassels schmückte, reichten allenfalls seine Barmittel noch aus. Beschwingt durch die neu eröffnete Aussicht, bedachte er sich nicht länger und beantwortete Justinens Brieflein mit einer mutigen Zusage.

In einem frisch aufgebügelten Blendwerk von ausgeschweiftem schwarzem Rock und gestreifter Hose, das sich aus einigem Abstand immerhin noch sehen lassen konnte, fand er sich denn auch am Ostermontag pünktlich zur angesetzten Stunde im Haus »Zum Seidenbaum« ein, wo rechter Hand im zweiten Stock der alte Herr mit seiner Tochter wohnte, während links davon, aber auf demselben Flur, die Wohnung des Laurenz Hocheder und seiner Frau sich anschloß. Das Dienstmädchen, das dem Hauptmann die Tür öffnete, geleitete ihn in ein kleines Empfangszimmer, in welchem bereits einige Gäste versammelt waren.

Justine erhob sich, ihn zu begrüßen. In ihrer blonden Schönheit trat sie ihm entgegen, bleich, gemessen in jeder Bewegung, wie man sich etwa das Bild einer Nachtwandlerin vergegenwärtigt. Aber so ernst und leidend sie aussah, so meinte er doch um ihre geschlossenen Lippen jenen eigentümlichen Ausdruck von Unnahbarkeit wahrzunehmen, der ein seelenstarkes Ruhen in sich selbst verrät. Nach einem knappen Wort des Dankes für sein Kommen führte sie ihn einem heiteren alten Herrn zu, der im Gespräch mit Marianne Hocheder am Fenster stand und ein rundes, schwarzes Käppchen auf dem kahlen Scheitel trug. Der bewegliche Greis, den sein geistliches Gewand als katholischen Priester zu erkennen gab, bemächtigte sich sofort der Hand des neuen Ankömmlings, um sie leutselig zu schütteln und so bald nicht wieder loszulassen. Mit der wohlwollenden Gesprächigkeit des Alters begann er etwas weitschweifig zu erzählen, wie er im Jahre 1883, er erinnere sich noch genau, Konrad Eybels Mutter, deren anmutige Erscheinung als Braut er in den artigsten Ausdrücken pries, mit dessen Vater, dem damaligen Oberst von Eybel, in der Kirche von St. Laurenz kopuliert habe. Es war Pater Wilfrid, dessen Marianne ihm gegenüber schon einmal Erwähnung getan, Konventuale des Schottenstiftes und seit langen Jahren als Seelsorger an der Schottenfelder Pfarrkirche tätig, die dem heiligen Laurenz geweiht war und der unmittelbaren Pastoration des Ordenshauses auf der Freiung unterstand.

Eybel war froh, als er seine Rechte endlich doch wieder freibekam, um sie dem geliebten Mädchen zu reichen, die mit dem Rücken gegen das Fenster danebenstand, und deren Blicken er sich die ganze Zeit über im hellen Licht des Tages wehrlos ausgesetzt fühlte, was ihn ein wenig beunruhigte. Denn während er dem gütigen alten Herrn die ungeteilteste Aufmerksamkeit zu widmen schien, mußte er im Unterbewußtsein doch immer ein wenig auch an die Fettflecken und Spiegel denken, mit denen sein ausgeliehener schwarzer Rock an der Vorderseite behaftet gewesen. Der wackere Hebräer, dem er ihn verdankte, hatte sie auf seinen Wunsch durch zielbewußte Benzinbehandlung beziehungsweise kunstvolles Ausdunsten beinahe zum Verschwinden gebracht – aber eben nur beinahe. Indessen tat er, das konnte er freilich nicht wissen, Mariannen bitter unrecht, wenn er meinte, sie hätte Aufmerksamkeit für derartige Lappalien übrig. Ihr Auge sah die Welt heute fleckenlos, ein Doppelglanz von Glück blendete es, ausstrahlend von der Hoffnung auf das nahe erwartete Wiedersehen mit dem geliebten Bruder, der in wenigen Minuten vor ihr stehen würde, ausstrahlend auch von der männlich kraftvollen Erscheinung des ihr teuren Mannes, der nun bereits vor ihr stand. Zu reden gab es nicht viel, nur einen Augenblick lang ruhten mit wonnigem Empfinden die Hände ineinander, und Neigung grüßte zu Neigung hinüber. Ein hübsches rundliches Frauchen, etwa anfangs der Dreißig, gesellte sich zu ihnen, das Marianne, da sie vorstellte, als eine Base Justinens bezeichnete, ohne daß der Hauptmann in der Geschwindigkeit hätte Klarheit darüber gewinnen können, wie diese ihm neue Erscheinung, welcher springlebendige Teufelchen aus den dunklen Augen sprühten, aber hoffentlich gutartige, mit der übrigen Familie zusammenhängen mochte.

»Ursel Fürst heißt sie, genannt die Principessa«, kam Marianne ihm zu Hilfe. »Mir scheint, Sie kennen sie gar nicht?«

»Ich hatte niemals das Vergnügen ...«

»Und doch bin ich nicht nur mit Justine, sondern ebenso nah oder ferne wie sie auch mit Ihnen verwandt«, sagte Ursel.

»Das freut mich außerordentlich, aber Sie müssen verzeihen, in Genealogie bin ich etwas begriffsstutzig.«

»Es ist freilich ein verwickeltes Gebiet, ich habe beinahe ein Studium daraus gemacht und kenne mich aus wie ein Konversationslexikon.«

Und sie begann ihm zunächst ihr Verwandtschaftsverhältnis zu Justine zu erklären. Zwei Geschwisterpaare aus den alten, kinderreichen Bürgerhäusern Leodolter und Mairold waren kreuzweise eine Verbindung miteinander eingegangen, indem ein Leodolter eine Mairold und ein Mairold eine Leodolter zur Frau genommen hatte. Flugs ließ sie eine Reihe von Namen aufmarschieren, die sie mit eingestreuten biographischen Abrissen verzierte, und zählte wie am Schnürchen Geburts- und, wo es leider nicht zu umgehen war, auch Todesdaten her.

»Um Gottes willen, halten Sie ein!« rief der Hauptmann entsetzt. »Ich werde verrückt, es geht über meine Fassungskraft!«

»Daß Sie im Bründlfeld Wienerisch für Irrenhaus. enden, kann ich freilich nicht verantworten, ich will mich kurz fassen. Also: der einen dieser beiden Ehen übers Kreuz, die gottlob kein Ehekreuz mit sich brachten,« sprudelte sie lachend hervor, »entstamme ich, eine geborene Leodolter, der andern Justine, eine geborene Mairold. Wir sind also zwiefach Geschwisterkind, Justine und ich, und sonach ziemlich nahe miteinander verwandt. Weitschichtiger steht die Sache bei Ihnen, da müssen wir schon ein paar Generationen weiter zurückgreifen, aber noch immer bleibt eine Blutsverwandtschaft leicht nachweisbar.«

Es bestand offensichtig die Gefahr, daß sie sich nun daranmachen würde, auch noch die ältere Familiengeschichte aufzuwühlen, bis ins fünfte oder sechste Glied hinauf; weshalb Eybel, dem von dem Gehörten ohnedies schon der Kopf schwirrte, ihr entschlossen ins Wort fiel. Zum Glück erinnerte er sich daran, daß unter den Ahnen oder Ahninnen seiner Mutter der Name Leodolter irgendwie eine Rolle spielte. An diesen Namen, der in Ursels Ausführungen wiederholt vorgekommen war, klammerte er sich jetzt mit dem Mut der Verzweiflung und behauptete, er kenne sich bereits über Erwarten gut aus. Der ganze Stammbaum, sagte er, sei Dank ihrer lichtvollen Darstellung durchsichtig geworden wie aus Glas, er berge für ihn keine Dunkelheiten mehr und liefere ihm die einwandfreie Bescheinigung, daß es ihm nicht als Kühnheit oder Anmaßung ausgelegt werden könne, wenn er um die Erlaubnis bitte, sie als Frau Kusine anreden zu dürfen.

Und um ihr nur ja keine Gelegenheit zu geben, auch noch die Urgroßväter aus der Grabesruhe aufzustören, fragte er geschwind, wie sie eigentlich zu dem Spitznamen Principessa komme, alles andere sei ihm jetzt völlig klar, nur dieser eine Punkt bedürfe noch der Aufhellung.

»Die Anfänge der Firma Fürst und Sohn«, sagte sie, »gehen auf den Großvater meines leider im Kriege gebliebenen Mannes zurück – ich bin nämlich Witwe – auf einen kleinen Garn- und Seidenhändler, der sich zur Zeit, da diese Vorstadt noch Schottenfeld hieß, redlich schund und plagte und vor den Fabrikanten, von denen er abhängig war, fleißig ducken mußte, bevor er es zu einigem Wohlstand brachte. Er hieß ursprünglich Princeps, ein allerdings absonderlicher Name, aber konnte er etwas dafür? Die hohen Herrn jedoch, die Fabrikanten, zogen ihn weidlich damit auf und nannten ihn spottlustig, wie sie immer waren, nicht anders als Prinz Schöps. Das wurmte ihn gewaltig, er kam um Namensänderung ein, und es soll ihn außer vielen Laufereien auch einen Haufen Geld gekostet haben, eh' er die amtliche Erlaubnis erwirkte, den Namen Princeps abzulegen und sich statt dessen Fürst zu nennen und zu schreiben. Im Mund der Leute aber wurde er den alten Namen niemals los. Was man für einen Witz hält, und wenn's noch so schal wäre, daran klebt man bei uns mit bewundernswerter Zähigkeit. Noch heute lebt der Name Princeps unvergessen fort, und ins Weibliche gewendet ist er sogar auf mich übergegangen.«

Vielleicht hatte Ursel in der offenen und sicheren Art, die ihr eigen zu sein schien, absichtlich laut und viel gesprochen, um die peinliche Spannung gleichsam zu übertäuben, die in dem kleinen Raume, allen fühlbar, in der Luft lag. Als für einen kurzen Augenblick Stille eintrat, wendete sie sich rasch dem geistlichen Herrn zu, mit dem sie sich in harmloser Weise zu necken begann, wobei sie auch Justine ins Gespräch zu ziehen versuchte. Aber ihre wohlmeinenden Bemühungen, eine Art Betrieb aufrechtzuerhalten, wurden jäh unterbrochen, ein Bangen wie Gewitterschwüle vor ausbrechendem Sturm glitt spukhaft durchs Zimmer und machte sie verstummen. Herr Michael Hocheder war eingetreten, das schneeweiße Haupt gleichsam über die Wolken ragend, vom Scheitel zur Sohle Pik von Teneriffa, eingehüllt in eine Schicht eisigkalter Luft und – wenigstens aus seiner Miene zu schließen – mit starr vergletschertem Herzen.

Marianne flog ihm an die Brust und brach in Tränen aus. Sie hätte kaum zu erklären vermocht, weshalb; es überwältigte sie. Der Vater aber erfühlte das Flehen um Milde und Liebe für den Bruder aus diesem hilflosen und törichten Weinen, dem heißen Tau von Mädchentränen widerstand er so wenig wie irgendein Mann. In ungewohnt zärtlicher Bewegung legte die alte runzlige Hand sich auf ihr Haar, das Gletschereis des Pik begann zu schmelzen. Aber es war, als schämte er sich dieser Szene, die er als überspannt empfinden mochte. Sachte löste er sich von der hingegebenen Gestalt und trat auf Pater Wilfrid zu.

»Zu weich macht ihr mir das Mädel«, sagte er, ihm mit einer gewissen Lauheit die Hand reichend. Es war, als sei er nicht aufs angenehmste überrascht, den geistlichen Herrn hier zu treffen. Und ohne den Versuch, ein Geheimnis daraus zu machen, fügte er grollend hinzu: »Es tut nicht gut, wenn das Herz mit dem Kopf davonläuft.«

»Warum nicht?« gab der Priester, der Mariannens Beichtvater und geistlicher Führer war, lächelnd zur Antwort. »Das Herz weiß den rechten Weg meist besser zu finden als die Klugheit.«

»Wozu hat der Herrgott uns Verstand verliehen?«

»Vielleicht, damit wir rechtzeitig erkennen, wie wenig wir mit ihm allein unser Auslangen fänden.«

Gleichsam eine Verkörperung zweier verschiedener Welten standen die beiden Greise einander gegenüber. Der wuchtige, hochgewachsene mit dem silberweißen Haarbusch ein Kind des wirtschaftlichen Aufschwungs nach achtundvierzig, fest wurzelnd im Tatsächlichen, Freund des freien Spiels der Kräfte, Verächter des Mißerfolgs, der ihm nicht mehr und nicht weniger bedeutete als Untüchtigkeit, stark sich fühlend als einzelner, wenn nur Staat und Kirche die Masse niederhielten; und so bei aller freiheitlichen und aufgeklärten Denkart, die er sich zuschrieb, dennoch hineinragend in diese neue Zeit, die überwiegend sozial und wieder religiös geworden war, wie das versteinerte Überbleibsel einer vorsintflutlichen liberalen Ära, die es längst nicht mehr gab. Der andere dagegen, schmächtiger und gewandter, aber ebensowenig ohne Selbstbewußtsein und Würde, ein Mann, der nach dem Rat des Meisters bei den Tauben und Schlangen in die Schule gegangen war, Anwalt der Seele und ihrer Rechte gegenüber dem Schein und Siegerglanz einer von Motten und Rost gefährdeten Vergänglichkeit, deren Gebrauchswerte er doch zweckmäßig zu nutzen wußte; älter noch um ein paar Jahre als jener und ebenfalls mit weißem Haar, das leicht geringelt rings um das schwarze Käppchen hervorquoll, und dennoch jung geblieben im Gemüt, ja mit jedem Tage gleichsam einer zweiten, himmelsnäheren Jugendblüte sich nähernd, weil er aus den Überlieferungen eines Jahrtausends, denen er sich mit dem Mut der Unbedingtheit verschrieben, die tröstliche Sicherheit und Beruhigung schöpfte, auf dem allein seligmachenden Wege zu sein. So türmten Gegensätze sich zwischen ihnen, einer unübersteigbaren Mauer gleich. Dem Pater Wilfrid indessen lag nicht daran, sie zu betonen, und der alte Hocheder sagte sich, daß er auf diesen weißhaarigen Jüngling, in dem er etwas wie einen unvermeidlichen Tauf-, Trauungs- und Sterbebeamten sah, über kurz oder lang doch noch einmal würde angewiesen sein. Auch er wünschte leidlich mit ihm auszukommen, schon der Ordnung wegen. Nach einer verbindlichen Bemerkung, die den geistlichen Herrn an Nachgiebigkeit glauben machen sollte, aber keineswegs glauben machte, wendete er sich dem Hauptmann zu.

»Ihren Großvater Franz Beywald hab' ich noch gut gekannt. War ein tüchtiger Mann, hat das alte Geschäft in der Rittergasse wieder hochgebracht, was nicht ganz leicht war. Der Ruf einer Firma ist heikel wie der einer Frau. Übrigens erinnere ich mich auch noch an Ihren Urgroßvater, der ebenfalls Franz Beywald hieß ...« Er hielt inne, übersprang schonend einige Gedankengänge und fuhr fort: »Das Jahr dreiundsiebzig war ein böses, hat manchem Unglück gebracht. Ich bin damals noch ein junger Mensch gewesen, aber noch heute dank' ich's meinem Vater, daß er mir das Wort eingeprägt hat: Was zu leicht eingeht, geht auch leicht wieder aus. Er wollte damit sagen, daß ein Wohlstand, der nicht mühsam erarbeitet ist, sondern mehr auf Zufallsgewinn beruht ...«

Hier unterbrach er sich, völlige Stille war in dem kleinen Zimmer eingetreten. In der Tür stand Laurenz, den Arm um die Schultern des Bruders gelegt.

»Da habt ihr ihn endlich!« rief er mit einer vor Freude bebenden Stimme und schob ihn dem plötzlich verstummten alten Herrn entgegen.

Scheu irrenden Blicks, daß das Weiße des Auges in dem hageren und bartlosen Gesicht, das braun wie eine gedörrte Birne war, unstet aufleuchtete, stand der Heimgekehrte vor seinem Vater. Die Haltung der in Khaki gekleideten Gestalt hatte etwas mißtrauisch Geducktes, als sei er jeden Augenblick auf eine Mißhandlung vom Rücken her gefaßt, einen Fauststoß ins Kreuz, einen Tritt in die Kniekehlen. Den Kopf hielt er gesenkt, das kurz gehaltene Haar des nicht viel mehr als Dreißigjährigen war an den Schläfen stark angegraut.

»Ich bedank' mich schön für die Erlaubnis«, sagte er leise und ohne aufzublicken.

»Bist wieder da?« antwortete Michael Hocheder, ihm steif die Hand entgegenstreckend. »Soll mich freuen, wenn's zu unser aller Segen ist.« Und an der festgehaltenen Rechten ihn halb herumdrehend, sagte er mit besonderer Betonung: »Da ist Justine, deine Schwägerin.«

Jetzt hob Severin den Kopf und trat einen Schritt auf sie zu. In sichtlicher Bewegung ergriff er ihre beiden Hände und beugte sich nieder, ehrfürchtig seine Lippen darauf zu drücken. Aber Justine hatte sie ihm rasch entzogen. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und sah ihm ins Auge, das Haupt weit zurückgeneigt, mit einem wundervoll vergeistigten Ausdruck von Mitgefühl und Erbarmen, ein Bild hochherziger Nächstenliebe, so rein und mütterlich mild.

»Willkommen in der Heimat!« hauchte sie. Und im Bewußtsein ihrer Lauterkeit, erhaben über jede Furcht vor Mißdeutung, küßte sie ihn auf den Mund.

»So ist's recht, Kinder!« rief Laurenz glückstrahlend und umfaßte sie beide mit seinen kräftigen Armen. »Auf gute Freundschaft für immer!«

Aber Marianne war ihm unter der Achsel durchgeschlüpft und sprengte den Kreis, den seine Arme um Severin und Justine schlossen, indem sie plötzlich innerhalb desselben auftauchte.

»Ich bin auch noch da! Wollt ihr mich gar nicht an ihn heranlassen?«

Und wie vorhin am Hals des Vaters, so hing sie jetzt an dem des Bruders, aber nicht weinend, sondern jubelnd und frohlockend, weil sie ihn nur wiederhatte, diesen fast fremden und doch geliebten Menschen, um dessen Andenken die Sehnsucht ihrer Kinder- und Jungmädchenjahre sich gerankt, und den sie längst in einem fernen Massengrab Sibiriens verscharrt gewähnt.

Holde Geisterchen der Freude und des Glücks, so selten geworden in dieser Stadt, in diesem Hause, schwebten unsichtbar durch den Raum, die Luft reinfegend von den feindseligen Dämonen der Sorge und schweren Gedanken, die sie stürmisch hinausdrängten und durchs Fenster aufs Straßenpflaster hinabwarfen, wie Beppi, das dienende Mädchen des jüngeren Hocheder-Paares, den Staub aus ihrem Wischtuch auf die Köpfe der Vorübergehenden hinunterbeutelte. Und der sandsteinerne Schutzengel, nach dem die Gasse benannt war, und der ein paar Häuser von da in einer Mauernische Wache hielt, nahm wehrhaft die an die Luft gesetzten Dämonen in Empfang und versuchte sie mit Hilfe des scharfen Nordwest, der an diesem Ostermontag wehte, noch weiter fortzujagen, um sie womöglich gänzlich zu verscheuchen und für immer aus dieser Gegend abzuschaffen. Ein solches Beginnen mußte sich nun freilich an einem halben Erfolg genügen lassen, denn Sorgen und schwere Gedanken sind anhänglicher noch als der Hausschwamm, der schon selten genug ganz zu beseitigen ist, wenn er einmal im Gebälke nistet, und immer wieder dahin zurückkehrt, so oft man ihn auch schon daraus vertrieben. Aber eine Zeitlang immerhin blieb das Haus »Zum Seidenbaum« und seine Bewohner doch verschont von der gewohnten Plage, und für die folgenden Stunden wenigstens behaupteten die guten Geister die Oberhand. Befreiten Gemütes scharten nach gelöster Spannung die Anwesenden sich um den Heimgekehrten, der sich in seine neue Lage noch nicht recht zu schicken wußte, ihn beglückwünschend zu seiner Rückkehr ins Vaterhaus und immer wieder ihrer freudigen Genugtuung über seine Errettung aus den Nöten des Krieges und der Gefangenschaft Ausdruck verleihend.

Schon seit längerer Zeit hatte man die erwähnte Beppi, die jeder Freund des Hauses als eine »Perle« kannte und schätzte, nebenan mit Tellern, Gläsern und Bestecken klappern hören. Kaum nahm dieses verheißungsvolle Geräusch ein Ende, so meldete sie, daß angerichtet sei. Justine, die Hausfrau, bat ins anstoßende Speisezimmer, indem sie ihre Gäste zu einer einfachen, der noch immer herrschenden Knappheit an Lebensmitteln angemessenen Mahlzeit einlud. Und doch war es im wahrsten Sinne ein Festmahl, zu dem man sich jetzt in vorbestimmter Reihenfolge um die von Silber und Kristall blinkende und reich mit Blumen geschmückte Tafel niederließ.

 


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