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Die Jahreszeit war so weit vorgeschritten, daß Justine, wenn sie die bettlägerige Frau Staudenmayer an die Luft fuhr, jetzt nicht mehr die Sonne aufsuchte, sondern den Schattenwinkel des Gartens bevorzugte. Die Feuermauer war dort bis hoch hinauf mit wildem Wein bewachsen, aus dessen Dickicht ein ununterbrochenes Gezwitscher scholl. Denn zahlreiche Sperlinge nisteten darin mit lästermäuligem Geklätsch und Geträtsch, schnäbelten sich, stritten sich, jagten einander die karge Beute ab und trieben es auch sonst ganz wie die Menschen.

Aus der feuchtmodrigen Ecke, wo die Mauer mit der Rückwand eines quergestellten Lagerschuppens zusammenstieß, stieg ein überaus lieblicher Duft auf. Maiglöckchen wucherten dort, ein üppiger Wald von spitz zulaufenden eirunden Blättern, über denen die sanft geneigten Stengel sich im schwachen Winde wiegten, mit ihren unschuldsweißen einseitwendigen Blütenträubchen. Ein wonniges Gefühl war es, diesen Wohlgeruch einzuatmen ...

»Können Sie sich noch erinnern, Frau Justin',« sagte die Kranke, sich in ihrem Rollstuhl aufrichtend, »wie die Schneeglöcklein noch geblüht haben, da waren Sie in schweren Sorgen, ob Sie es erlauben sollen, daß der Herr Severin wieder ins Haus aufgenommen wird. Sie haben mich damals um Rat gefragt, und meine Antwort war: Was man aus Nächstenliebe tut, ist wohlgetan. Jetzt, wo die Maiglöckerln blühen, sind auch Sie wieder aufgeblüht und sehen befreit, erleichtert, förmlich verjüngt aus. Denken Sie nur, wie bitter es Ihnen nachginge, wenn Sie den armen, zermürbten Menschen hilflos seinem Schicksal überlassen hätten!«

Als ganz junges Mädchen hatte Justine den Severin lieb gehabt. Vom Lande, aus der einsamen Berggegend der Lüsen, wo ihr Vater die großen Marmorwerke leitete, war sie nach Wien gekommen, sich in Musik auszubilden. Sie lebte in der Familie ihres Oheims Wolf Mairold, des Fabriksherrn, in der ehemaligen Luftschützgasse, wo das alte Stammhaus der Firma Mairold stand. Der Oheim, ein tüchtiger Verdiener, im übrigen ein gemächlicher Mann und Freund der Künste, nahm die Anwesenheit der Nichte gern zum Anlaß, junge Musiker ins Haus zu ziehen. Es ging gesellig her, man schwelgte im Reich der Töne, und Severin Hocheder, damals ein blutjunger Feuergeist, dem sein Geigenspiel näher am Herzen lag als die griechische Grammatik, mit der er sich noch hätte abgeben sollen, wurde bald der geistige Führer der kleinen Kunstgemeinde. Einmal, als sie mit ihm allein war – sie übten für den Abend das Adagio molto espressivo aus der Frühlingsonate – da übermannte es sie beide, daß sie einander in die Arme sanken, von da ab fanden sie des geheimen Küssens kein Ende.

Die Leidenschaft war mit solcher Gewalt über ihre unerfahrenen Herzen hereingebrochen, daß sie sich vor den Leuten Zwang antun mußten, sich nicht zu verraten. Schon wenn sie einander beim Wiedersehen oder Abschiednehmen die Hand reichten, lief es wie ein Schauer durch ihre jungen, heißen Körper. Sie lechzten förmlich nacheinander. In Gesellschaft sahen und hörten sie nichts mehr als er sie, sie ihn. Es war wie ein Wahnsinn, der sie blind und taub machte. So vergaßen sie bald der gebotenen Vorsicht, merkten es nicht einmal, daß sie ihrer vergaßen. Die Notwendigkeit, sich ein freiwilliges Bekenntnis zu versagen, machte sie zu unfreiwilligen Bekennern.

Herr Mairold, der sich für die ihm anvertraute Nichte verantwortlich fühlte, verbot dem jungen Hocheder das Haus, Justine wurde streng überwacht. Aber die jungen Leute konnten nicht voneinander lassen. In ihrem Ungestüm faßten sie den abenteuerlichen Entschluß, zu entfliehen. Die Liebe, die die Kräfte erhöht, aber freilich auch leicht ein falsches Kraftgefühl vortäuscht, redete ihnen ein, daß sie imstande sein würden, sich mittels ihrer Kunst durchs Leben zu schlagen. An einem eisigkalten Winterabend trafen sie auf dem Nordbahnhof zusammen, um gemeinsam die Reise in die Welt hinaus, die Fahrt nach der Insel der Seligen, wie sie meinten, anzutreten.

Die Rücksicht auf ihre Anverwandten, die keineswegs gänzlich erloschen war, hatte sie veranlaßt, Abschiedsbriefe zu hinterlassen, die ihren Schritt erklären, rechtfertigen sollten. Sie bedachten nicht, um wieviel der Draht schneller ist als der Dampf. Schon an der böhmischen Grenze wurden sie aufgehalten und zurückgebracht. Die von Justinens Behüter und Oheim in der ersten Aufwallung des Unmuts vorschnell gegen Severin erhobene Anklage auf Entführung wurde zwar nach der Aussage des Mädchens sofort wieder zurückgezogen, man bemühte sich, die peinliche Angelegenheit niederzuschlagen. Da nun aber schon die Behörden damit befaßt gewesen, ließ es sich nicht verhüten, daß die eine oder andere Zeitung Notiz davon nahm. Ein Parteiblatt ergriff sogar die Gelegenheit, sein Mütchen an Herrn Wolfgang Mairold zu kühlen, indem es ihn als einen Unterdrücker der Familienangehörigen hinstellte, wie er ein Unterdrücker der Arbeiter sei, und die jugendlich unüberlegte Handlungsweise des verliebten Pärchens als eine befreiende Tat gerechter Notwehr verhimmelte. Solche Nebenumstände, an denen sie unschuldig waren, konnten die Lage der Schuldigen nur verschlimmern. Der alte Hocheder zog seine Hand von dem aus der Schule gestoßenen Sohn. Justine führte Jahre hindurch das Leben einer Büßerin.

Seither hatten die beiden einander nicht wiedergesehen. Severin brachte sich als Geiger in Schenken fort, später wurde er Leiter eines aus zwei Fiedeln, einem »Blasbalg« und einem »süßen Hölzel« Wienerisch für Harmonika und Klarinette. bestehenden volkstümlichen Quartetts, das in besseren Lokalen aufspielte. Justine hörte nicht viel von ihm, mehr gerüchtweise verlautete, daß es ihm so übel nicht gehe. An Verdienst wenigstens schien es ihm nicht zu mangeln, in dem mit Tabaksqualm geschwängerten Dunstkreis der Wirtshausmusik konnte er noch seinen Weg machen. In der Familie Mairold wurde seiner mit keinem Wort mehr gedacht. Nur einmal, als ein großer Heurigen-Wirt in Dornbach anläßlich eines Festes, das er ankündigte, als besondere Anziehung die Mitwirkung des rühmlich bekannten Hocheder-Quartetts hervorhob, legte der Oheim verächtlich die Zeitung beiseite und murmelte etwas von einem »Bratlgeiger«, worunter man einen Wirtshausmusikanten niedrigster Sorte versteht. Und Justine wußte nichts zu entgegnen, es tat ihr selbst weh um die vielversprechende Künstlerschaft, die sich im Frondienst aufbrauchte und der Fortbildung ermangelte.

Sie erblickte eine Charakterschwäche Severins darin, daß er sich mit vielleicht recht einträglichen, aber wohlfeilen Erfolgen begnügte, statt lieber hungernd und durch Stundengeben sich über Wasser haltend höchste Ziele anzustreben, wie mancher andere mittellose Kunstjünger es tat. Sie selbst ging ernst und in sich gekehrt den vorgezeichneten Weg durch die Musikhochschule, erwarb das Diplom, das zum Lehrberuf berechtigt, und fand im Unterrichten, im Umgang mit der Jugend, Anregung und Ablenkung von quälenden Gedanken.

Denn sie bereute. Wenige Jahre nach der Affäre war ihre Mutter Bethy Mairold, eine geborene Leodolter, kaum über fünfzig alt, im sogenannten Klosterschlössel in der Lüsen unerwartet gestorben, auch Justinens Großmutter, die als Vorbild einer aufrechten deutschen Frau verehrte Therese Mairold, die ihre letzten Lebensjahre ebenfalls im Klosterschlössel verlebte, hatte sie bald danach verloren. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Kummer, den sie den beiden ihr am nächsten stehenden Frauen bereitet, und ihrem Tod bestand nicht, aber sie hatte sie geliebt und dennoch durch jugendliche Unüberlegtheit deren letzte Lebensjahre getrübt. Das nagte an ihr, sie bereute doppelt. Je reifer sie wurde, um so mehr begriff sie, wie unsinnig sie damals gehandelt hatte. Und bei alledem konnte sie doch nicht anders an ihre allmählich verbleichende Neigung zu Severin zurückdenken als an ein verlorenes Glück, das in der gleichen Süße niemals wiederkehren würde.

Erst das ungeheure Erlebnis des Krieges brachte Vergessen und trug dazu bei, ihr über die Erinnerung hinwegzuhelfen, wenigstens vorübergehend verdrängten die Bilder des Leidens im Krankensaal, dem sie sich zur Verfügung gestellt hatte, jeden andern Gedanken.

An einem Sommertag im Lauf des zweiten Kriegsjahres war es gewesen, daß ihr Onkel Mairold sie zu einem Ausflug in die Brühl beredete. Sie fühlte sich erholungsbedürftig, fast bis zur Erschöpfung angegriffen durch den schweren Dienst, und machte sich frei. In der waldgrünen Umgebung der Höldrichsmühle, die durch Erinnerungen an Franz Schubert geweiht ist, lernte sie in größerer Gesellschaft Laurenz Hocheder kennen. Der ernste, zurückhaltende Mann, das Widerspiel seines Bruders, begegnete ihr mit Ehrerbietung und wohltuendem Zartgefühl. Sie redeten ganz offen über Severin, dessen Spur sich in den Greueln der Kriegsschauplätze und Gefangenenlager verlor. Man schrieb gelegentlich noch an ihn, ohne den rechten Glauben, an einen Lebenden zu schreiben, und hatte es aufgegeben, auf eine Antwort zu hoffen. Auch für Justinens Fühlen war er gestorben. Sie erinnerte sich jetzt seiner fast wie eine Mutter, wenn sie mit ausgeglichener Trauer an ein verlorenes Kind zurückdenkt, das auf keinen Fall zu retten gewesen wäre. Und die Bruderliebe des Laurenz befand sich in einer ähnlichen Lage. Wie durch das Leben Gereifte über einen Unfertigen sprechen, den auch die Ewigkeit nicht vollenden kann, so sprachen sie miteinander über Severin. Und das Gedächtnis des Bedauernswerten, der ihnen beiden so teuer gewesen, und der bei aller hochfliegenden Begabung die friedlosen Gewalten seines Innern doch niemals überwunden haben würde, schloß sie in wehmutsvoller Freundschaft zusammen.

Erst viel später erfuhren sie, daß jener Ausflug in die Brühl zwischen dem alten Hocheder und Herrn Wolf Mairold abgekartet gewesen war. Die beiden alten Herrn hatten einander einmal zufällig auf der Straße begegnet, über die Kriegslage und Weltläufte geklagt und erst mit vorgestreckten Fühlern, dann offener ihr Bedauern über die Verstimmung zwischen den Familien ausgesprochen, die sie in einer Zeit als doppelt überflüssig empfanden, wo man ohnedies allüberall auf Feindseligkeiten stieß. Ein Wort gab das andere, und schließlich fand sich der Gedanke ein, das gestörte Einvernehmen durch eine engere Verbindung der beiden Häuser wieder herzustellen und den geschlossenen Frieden, wie es zwischen Fürstenhäusern üblich, durch eine Heirat zu besiegeln. Ohnedies wünschte sich Michael Hocheder längst einen Leibeserben, der seinem Namen und der Firma eine Zukunft sicherte. Er stand damals hoch in den Sechzigern, sein Sohn Laurenz näherte sich bereits den vierzig und war noch immer unbeweibt. Herr Mairold seinerseits fand es auch für Justine hoch an der Zeit, daß sie einen Mann bekomme. Hatte ein Hocheder ihren Ruf gefährdet, so wäre es eine beiderseits befriedigende Lösung gewesen, wenn ein Hocheder ihn wiederherstellte. Nichts hätte die beiden Weißhaarigen natürlicher gedünkt. Sie beschlossen, Vorsehung zu spielen und die Ahnungslosen, deren Schicksal ihnen am Herzen lag, unauffällig einander zu nähern. Der Erfolg war ein vollkommener. Laurenz und Justine, die durch einen freundlichen Zufall einander zugeführt zu sein glaubten, tauschten bald danach die Ringe. Gemeinsames Leid, ernste Lebensauffassung, der Wunsch, in dieser harten Zeit einander hilfreiche Gefährten zu sein, umschlang sie mit dem leidenschaftslosen Band einer auf gegenseitiger Wertschätzung fußenden Ehe.

Wer hätte das Unvorhergesehene, das Unwahrscheinliche in die Rechnung miteinstellen können? Mehr als vier lange Jahre hindurch hatte diese Ehe ihren stillen Segen bereits bewährt – da plötzlich die Nachricht, daß Severin noch am Leben sei und heimkehren wolle. Es traf Justinen wie ein betäubender Blitz, schier sündhaft, daß sie sich nicht restlos darüber freuen konnte. Sie fürchtete sich vor ihrer eigenen Unberechenbarkeit. Sie fragte sich, ob sie der Leidenschaft nicht abermals unterliegen würde? Ob der wohltuend friedliche Schlummer, in den die mittlerweile verstrichene Zeit ihre Seele eingewiegt zu haben schien, nicht etwa bloß Verzicht und Ergebung gewesen sei? Es war ihr, als ob ein Grab sich öffne, aus dem Bedrohliches für sie und Laurenz aufstieg, und dabei fühlte sie ihr Herz pochen wie vor namenloser Wonne. Sie wußte ihr eigenes Inneres nicht mehr zu deuten. Und erst nach schweren Kämpfen hatte sie der Aufnahme Severins ins Vaterhaus, die dem Laurenz so selbstverständlich schien, ihre Zustimmung zu erteilen vermocht. Den Mut dazu verlieh ihr schließlich der Entschluß, ihrer Pflicht treu zu bleiben, komme was wolle. Der heilige Wille, das Vertrauen ihres Mannes, des gütigsten aller Menschen, nicht zu enttäuschen. Vielleicht auch die nicht wankende Zuversicht Anna Staudenmayers, ihrer mütterlichen Freundin, daß Gott für eine Tat der Nächstenliebe nicht neue Anfechtungen über sie verhängen, sondern im Gegenteil ihr endgültige Befreiung des Gemütes schenken werde.

Und welches Wunder! Die gläubige Voraussage schien wirklich in Erfüllung gegangen! Mehrere Monate lebte nun Severin schon im Haus, man hatte sich ineinander gefunden, ging schonend nebeneinander her, es bedurfte keines Vorsatzes, keines Willens, keiner Überwindung, wie Nebel vor dem werdenden Tag waren die eingebildeten Gefahren ins Nichts zerflossen im Licht der Wirklichkeit. Ganz ebenso wie für Laurenz war auch für Justine der Heimgekehrte ein vom Unglück verfolgter naher Verwandter, nicht weniger, nicht mehr. Man widmete ihm Güte und Fürsorge, suchte seine Eigenheiten nachsichtig zu ertragen, ihm ein Heim zu bieten, ihm und sich selbst angenehm gesellige Stunden zu bereiten, die durch Musik erhöht waren, der Kunst, die alle Meinungsverschiedenheiten des Verstandes überbrückt – das alles machte sich wie von selbst, und die geheime Angst fiel ab von Justinens Herzen.

Frau Staudenmayer hatte recht behalten, sie täuschte sich nicht, die junge Frau war in der Tat wie von einem Alp befreit und fühlte sich so leicht und froh wie seit Jahren nicht. Das machte die innere Unberührtheit, mit der sie, fast wider die eigene Erwartung, das nahe Zusammenleben mit dem Geliebten ihrer Jugend vertrug. Sie war ihm wirklich eine Schwester, durfte es sein, vermochte es zu sein. Die für sie beinahe überraschende Erfahrung erlöste sie nun erst endgültig von der Last der Vergangenheit, die noch immer ihr Gewissen beschwert hatte, ihr selbst halb unbewußt. Reinen Herzens sah sie den werdenden Sommer erblühen, in sich und um sich. Süße Lebensfreude, aller Schönheit geheimnisvolle Triebkraft entfaltete ihre festliche Farbenpracht in dem kleinen, hinter Mauern geduckten Garten. Aus den zarten Blütenbechern des Jasmins quollen bezaubernde Wohlgerüche, die sich mit dem Duft der Maiglöckchen mischten, die Kletterrosen, die ums »Salettl« rankten, erschlossen in allen Abschattungen von Rot ihre ersten Blumenbüschel, sogar der alte Maulbeerbaum, der »Seidenbaum«, nach dem das Haus benannt war, hatte sich über und über mit hellen Sternchen geschmückt, deren zierliche Staubfäden, vom Winde bewegt, ein goldiges Flimmern über die ganze Krone verbreiteten. Und auch um das goldige Haupt der wie schuldbefreit aufatmenden jungen Frau wob ein lang entbehrtes Glücksempfinden neue Schönheit ...

»Ihr Rat war gut«, sagte sie zu ihrer Vertrauten, der schlichten kranken Frau. »In dem Augenblick, wo er vor mir stand, mit den deutlichen Spuren langjährigen Elends in Antlitz und Haltung, da fiel alle Erinnerung an junge Leidenschaft von mir ab. Ich sah nur mehr den um sein Lebensglück betrogenen Menschen in ihm. Nicht anders war's, als in den ersten Kriegsjahren, da ich noch Pflegeschwester war. Wie damals zu den Schwerverwundeten, so stehe ich jetzt zu ihm.«

»So dürfen wir hoffen, daß der Entschluß, den Sie sich mühsam genug abgerungen haben, die Schutzengelgasse reicher macht«, sagte Frau Staudenmayer nicht ohne Genugtuung ... »Ich höre an Abenden, die sonst stumm waren, jetzt öfters edle Musik aus Ihren Zimmern?«

»Laurenz freut sich so, wenn wir musizieren.«

»Man hört auch den Herrn Severin manchmal auf seinem Zimmer üben, bis tief in die Nacht hinein. Merkwürdig, daß er nach so vielen Jahren im Krieg noch immer so meisterhaft spielt.«

»Es ist bewundernswert!« flammte Justine in Begeisterung auf. »Oh, er ist ein großer, großer Künstler!«

Auf die Armlehne ihres Fahrstuhls gestützt, forschte Frau Staudenmayer nachdenklich in den Zügen der schönen jungen Frau. Justine wendete den Blick ab und wurde rot. Sie wußte nicht weshalb, aber es war ihr lieb, daß in diesem Augenblick ein Zufall die Aufmerksamkeit der Kranken von ihr ablenkte. Rumpsack, der Ehrendoktor der Schutzengelgasse, hatte den kleinen Garten betreten.

Vom Hof kommend näherte er sich, ohne die beiden Frauen zu bemerken, dem großen Maulbeerbaum. Behutsam bog er einen Zweig zu sich herunter, er schien die Blüten zu betrachten, wie versunken in ihren Anblick verweilte er lange unbeweglich in der gleichen Stellung. Und als er sie endlich genügsam betrachtet hatte, hob er vorsichtig den Arm hoch, damit der Zweig nicht gewaltsam in seine natürliche Lage zurückschnelle, wodurch die zarten, empfindlichen Blütenblätter vielleicht hätten Schaden nehmen können. In seiner ganzen Länge streckte er sich auf und gab den Zweig erst frei, nachdem er ihn an seinen richtigen Ort zurückgebracht. Gemächlich und sichtlich vergnügt trat er den Rückweg an. Aber plötzlich, erst knapp vor dem Ausgang bemerkte er, daß er nicht unbeachtet geblieben sei. Er schien zu erschrecken, wurde sichtlich verlegen, grüßte unbeholfen herüber und trollte sich schließlich so rasch, als es mit dem Anstand vereinbar blieb, durch die Gitterpforte in den Hof zurück.

Befremdet wiegte Justine das Haupt: »Was benimmt er sich so wunderlich? Stört ihn etwa unsere Anwesenheit?«

»Verstehen Sie nicht, was in ihm vorgeht?« fragte Frau Staudenmayer mit einem begreifenden Lächeln.

»Nein, das versteh' ich wirklich nicht.«

»Man muß ihn kennen. Er kommt sich wie ertappt vor, weil wir Zeuge waren, wie er die Blüten des Seidenbaums angestaunt hat. Das ist bei ihm wie ein Beten, überall sieht er Wunder. Denn im Grunde ist er ein andächtiges Gemüt. Aber er schämt sich, es merken zu lassen.«

»Solch ein wunderlicher Heiliger ist er?«

»Man muß ihn eben kennen«, wiederholte die Kranke; »dann wird man ihn verstehen und schätzen, wissen Sie, wem wir die Maiglöckerln verdanken, die so wundervoll duften? Und all das wilde Wachstum, das vom ersten Frühling an hier zwischen den Gebüschen hervorsprießt, die Schneeglöckchen, Leberblümchen, den Hundezahn, die Ranunkeln und später die Spiräen? Niemand sonst als dem Doktor Rumpsack! Er war's, der das alles im Wald geholt, mit den Würzelchen ausgegraben und hier auf unserer grünen Insel eingepflanzt hat. Und warum? Weil er die unschuldigen Gewächse so lieb hat. Und noch aus einem andern Grund, weil er weiß, daß ich mein Lebtag in keinen Wald mehr komme und mich freue, wenn ich trotzdem Waldblumen blühen seh'.«

»Dies alles hat Rumpsack gepflanzt?«

»Alles! Aber immer insgeheim, niemand darf darum wissen. Auch ich muß so tun, als wüßt' ich's nicht, sonst wird er verlegen und schämt sich. Ja, so ist er, das ist nun einmal seine Art.«

»Man lernt nicht aus auf unserer grünen Insel«, sagte Justine. »Den Rumpsack hätt' ich eher für kratzbürstig gehalten als für zartbesaitet. Er muß ein beneidenswert reines Gewissen haben.«

»Wieso?«

»Wenn er keinen andern Grund hat, sich zu schämen!«

 

Zu den Heimkehrern, von denen Pater Wilfrid gesprochen hatte, gesellte sich im Lauf des Sommers ein neuer. Aber es war keiner von denen, die nur das nötige Fahrgeld in der Tasche zu haben brauchen, um sich auf die Eisenbahn zu setzen, und dann auch schon zu Hause sind. Er mußte erst eine ganze Fabrik in seinen Koffer packen, eh' er endgültig daran denken konnte, der Fremde den Rücken zu zeigen und in die Heimat seiner Väter und seines Herzens zurückzukehren. Darum fand er sich vorläufig nur mit leichtem Gepäck in Wien ein, und das Gewichtigste, was er mit sich führte, waren die Pläne und Grundrisse für ein ungeheuerliches Luftschloß, das er bauen wollte. Sie wogen nicht schwer, denn sie waren nur in seinem Kopf vorhanden, wohlverpackt neben der ernstlichen und gründlich erwogenen Absicht, den Boden des alten und doch neuen Vaterlandes zu prüfen, ob er tragfähig genug wäre für dieses Luftgebilde, wenn es einmal zur nüchternen und greifbaren Wirklichkeit gedeihen sollte.

Gegen Mittag war er angekommen, kaum in seinem Hotelzimmer eingerichtet, läutete er auf und legte die Muschel ans Ohr.

»Hier Kakabe«, tönte es ihm daraus entgegen.

»Wer, bitte?«

»Generalsekretariat der Kakabe. Was wünschen Sie?«

»Ach ja, ich verstehe. Hier Georg Leodolter, Fabrikbesitzer aus Sebendorf. Kann ich den Herrn Generaldirektor sprechen? Es handelt sich um eine Kreditangelegenheit, er ist bereits brieflich unterrichtet.«

»Einen Augenblick!«

Lässig an der Wand lehnend, die Hörmuschel am Ohr, lächelte Georg Leodolter, ein schlank gewachsener, trotz der langen Eisenbahnfahrt frisch und gepflegt aussehender junger Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, belustigt vor sich hin. Eine niedliche Abkürzung das: »K. K. B.!« Fast klang es wie Verrat an der jungen Republik; ein Spaßvogel konnte »Kaiserlich Königliche Bank« übersetzen. Oder bedeutete es vielleicht »Kaufmännische Kredit-Bank«? Oder am Ende gar: »Knifflige Konkursvermittlungs-Bank«? Er lachte auf und beschloß, auf seiner Hut zu sein. Da der »Augenblick« sich in die Länge zog, brachte er das Kunststück zustande, sich mit einer Hand allein eine Zigarette zu drehen. Aber noch ehe sie ganz fertig war, störte ihn die Hörmuschel in seinem Vergnügen.

»Hallo! Herr Generaldirektor Lemburg steht Ihnen um vier Uhr zur Verfügung, bis dahin ist er voll besetzt. Er läßt um genaueste Einhaltung der Stunde bitten, um halb fünf hat er eine wichtige Sitzung, bei der er nicht fehlen kann.«

»Schön, ich werde pünktlich sein.«

Er sah auf die Uhr. Von den nahen Verwandten gedachte er nur seine Schwester Ursel Fürst und seinen Oheim Wolf Mairold aufzusuchen, aber angesagt hatte er sich nicht, so wollte er ihnen nicht in die Suppenschüssel fallen. Er speiste im Haus zu Mittag, begab sich dann in ein Café, einige Zeitungen durchzusehen, bummelte über den Ring durch die Kärntnerstraße, machte wie immer, so oft er nach Wien kam, dem alten Stefansdom einen Besuch und stieg Punkt vier Uhr die prunkvolle Marmortreppe im Palast der »Kakabe« hinan. Im Wartezimmer befanden sich noch einige Herren und Damen, denen er notgedrungen den Vortritt einräumen mußte. Es wurde halb fünf, es wurde fünf, endlich kam die Reihe an ihn, der Diener öffnete ihm die Tür zu einem fürstlich eingerichteten Empfangszimmer. Am Schreibtisch sah Georg ein Jüngelchen, das er auf achtzehn oder neunzehn schätzte, in weißem Tennisanzug sitzen, er nahm an, daß er noch immer erst in einem Vorraum sich befinde und das Herrchen der Sohn des Generaldirektors sei, der vielleicht mit seinem Vater aufs Land fahren wolle und deshalb hier auf ihn warte. Er näherte sich und sagte: »Entschuldigen Sie, junger Mann, ich möchte Ihren Herrn Papa sprechen, den Generaldirektor Lemburg.«

Der Angeredete sprang auf, streckte ihm liebenswürdig die Hand entgegen und sagte lachend: »Der bin ich selbst. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Georg hatte sich die rasch emporgekommenen Milliardäre der Nachkriegszeit vielleicht nicht gerade wie Beelzebube, aber doch wesentlich anders vorgestellt und fühlte sich angenehm überrascht. Rank und schmal wie eine geschmeidige Messerklinge, mit klugem scharf geschnittenem Profil und einem einnehmenden Lächeln um die glatten Lippen, sah der Generaldirektor bei näherem Betrachten zwar nicht ganz so jung aus wie auf den ersten Blick, glich aber in seinem ganzen Wesen doch eher einem frischen und aufgeweckten Studentlein als dem Bilde, das man sich von einem erfolgreichen Börsenmatador zu machen pflegt.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie in Dreß empfange«, fuhr er verbindlich fort. »Ich sollte eigentlich längst nicht mehr hier sein, ein überaus reizendes junges Mädchen erwartet mich zum Tennis. Da ich Ihnen eine Unterredung zugesichert habe, muß ich nun schon die Gefahr riskieren, in Ungnade zu fallen. Übrigens interessiere ich mich außerordentlich für Ihr Projekt. Ihre Fabrik befindet sich in Sabliczka?«

»So heißt es jetzt, früher hieß es Sebendorf und liegt im polnisch gewordenen Schlesien. Ich möchte aus Polen heraus. Die dortigen Verhältnisse sind mir verleidet. Man weist uns die deutschen Arbeiter aus, die polnischen sind nicht zu brauchen, man drangsaliert uns nach Noten, die ganze Wirtschaft paßt mir nicht mehr.«

»Man wird Sie auch hier nach Noten drangsalieren«, warf Lemburg lachend dazwischen.

»Möglich. Die sozialen Schwierigkeiten werden hier vielleicht noch größer sein, dafür fallen wenigstens die nationalen fort. Wo beide ineinanderspielen, wird die Sache für den Fabriksherrn unerträglich. Außerdem sind wir ja im Grunde eine Wiener Firma, hier ist der Sitz der gesamten Seidenindustrie für das südliche Mitteleuropa und den näheren Osten. Ich suche Anschluß an meinesgleichen. Das neunzehnte Jahrhundert hat das Handwerk zur Industrie, dann die Industrie zur Großindustrie emporgenötigt; um die Mitte des zwanzigsten wird es nur mehr eine Weltindustrie geben, wenn es mir gelänge, eine Anzahl größerer Betriebe durch Vergesellschaftung zusammenzufassen, so ließe sich ein Unternehmen schaffen, das die gigantischen Ausmaße – sagen wir etwa von Krupp in Essen, erreichen könnte. Erst dann werden wir mit Erfolg produzieren und uns den Forderungen der Zeit angepaßt haben.«

»Vortrefflich! Vortrefflich!« rief der Generaldirektor. »Die Zukunft der Industrie liegt im Konzern!«

»Wenn Sie darunter nicht einen zum Zweck der Preistreiberei geschlossenen Ring verstehen, so stimme ich zu. Der Unternehmer will nicht darben, er will zu frohem bürgerlichen Wohlstand gelangen, aber wenn er nicht bloß trockener Geschäftsmann, sondern darüber hinaus auch ein warm fühlender Mensch ist, so will er noch mehr. Er will, daß nicht nur er selbst, sondern auch alle seine Mithelfer, die Fabriksarbeiter inbegriffen, jeder innerhalb seines Kreises es zu dem seiner Leistung angemessenen Wohlstand bringen kann. Und wenn er auch noch hierüber hinaus etwas wie ein Schöpfer und Künstlergeist ist, so will er noch immer mehr. Dann will er nicht nur Nützlichkeitszwecke für sich und die Seinigen erreichen, er will auch Gemeinschaftsziele verwirklichen. Und das bedeutet innerhalb seines Schaffensgebietes schließlich nichts anderes, als die beste und schönste Ware zum denkbar wohlfeilsten Preis herstellen. Das alles ist heute nur durch eine Vergrößerung der Betriebe ins Riesenhafte erreichbar. Aber dazu braucht man Kapital. Dies der Grund meines Besuches. Ich bemerke hierzu, daß ich noch mit keinem meiner Fachgenossen Rücksprache genommen habe. Es handelt sich vorläufig nur um ein Fühlerausstrecken, um mir selbst darüber klarzuwerden, ob und inwieweit meine Gedanken realisierbar wären.«

»Ich kann Ihnen nur wiederholen,« erwiderte der andere, »daß ich persönlich mich für Ihre Pläne ganz außerordentlich interessiere. Die Finanzierung einer Seiden- und Samtfabriks A.-G. von so gewaltigen Dimensionen wäre mir eine äußerst sympathische Aufgabe. Natürlich müßte die Sache erst nach allen Seiten hin erwogen und besprochen werden, auch liegt die Entscheidung nicht bei mir allein. Zu meiner Information erbitte ich inzwischen noch einige Auskünfte.«

»Vielleicht würden Sie wünschen, diese Auskünfte, die ich gern erteile, zu einem geeigneteren Zeitpunkt entgegenzunehmen? Sie wollten doch Tennis spielen.«

»Gott, wenn ich immer könnte, wie ich wollte, dann säß' ich überhaupt nicht in diesem widerlichen Prunkbau, der mir auf die Nerven geht. Die Leute stellen sich das so vor, als dächt' unsereiner den ganzen Tag an Geldverdienen, Beutelschneiden und Übers-Ohr-Hauen, sie bilden sich ein, wir seien die beneidenswertesten Menschen dabei. Wissen Sie, woran ich denke, wovon ich träume? Von Tennis, Bergsteigen, Reiten, Fliegen, Angeln, Jagen und ähnlichen Dingen, die sich im Freien abspielen. Glauben Sie mir, zu dem verfluchten Mammonsdienst bin ich gekommen wie die Magd zum Kind, mit allem andern möcht' ich mich lieber abgeben als gerade damit. Aber jetzt hat mich nun einmal die Kakabe beim Schopf, und ich komme mit dem besten Willen nicht mehr los.«

Es klang so aufrichtig, was er sagte, daß Georg Leodolter eine neue Bestätigung von Rumpsacks Theorie der verkehrt eingesetzten Bäumchen darin erblickt haben würde, hätte er sie gekannt. Da dies nicht der Fall war und ihm auch keine Zeit blieb, sich Gedanken zu machen, weil der Generaldirektor sofort mit Ausfragen begann, so bemühte er sich, ihm möglichst umfassende Einblicke in die Verhältnisse seiner Industrie zu gewähren und nebenher durch Gegenfragen wenigstens in den Umrissen Näheres über die allenfalls in Aussicht genommenen Bedingungen des Geldgebers in Erfahrung zu bringen. Er erschrak ein wenig über den Zinsfuß, ließ sich aber, um die Unterhaltung nicht stocken zu machen, nichts davon merken. Und schließlich, nachdem sie beide annähernd so weit waren, Boden unter den Füßen zu spüren, hielt er es doch für geboten, Herrn Lemburg, mit dem es sich über Erwarten gut gesprochen hatte, nicht länger von seiner Tennispartie abzuhalten, und mahnte zum Aufbruch.

»Wohin führt Ihre Straße?« fragte der Generaldirektor, der sichtlich auch an ihm Gefallen gefunden hatte. Und als Georg die Adresse seines Oheims Wolf Mairold nannte, lud er ihn ein, mit ihm zu fahren.

»Ich fahre nach Hietzing, der siebente Bezirk liegt fast auf meinem Weg. Wenn Sie erlauben, bring' ich Sie hin.«

Dankbar nahm Georg an. Während sie im Auto dahinsausten, erkundigte sich Lemburg, wo die Fabrik sich befunden habe, bevor sie nach Schlesien verlegt worden, und wie alt sie sei. Mit lebhaftem Anteil ließ er sich berichten, wie weit ihre Geschichte zurückreichte, und wie vielfach Georgs Familienbeziehungen sich in die Seidenindustrie verzweigten. Insbesondere fesselte es ihn, zu erfahren, daß die Leodoltersche Fabrik auf dem sogenannten Braunhirschengrund, der später in den Gemeindebezirk Rudolfsheim aufging, zu den ersten gehört habe, die mechanische Webstühle in Verwendung nahm. Gerade deshalb war sie im Sturmjahr achtundvierzig von aufgewiegelten Arbeitern zerstört und in Brand gesteckt worden. Georgs Großvater Leopold Leodolter, der mit der einzigen Tochter der ebenfalls auf dem Braunhirschengrund ansässigen freiherrlichen Familie von Auenwald vermählt gewesen, hatte sie dann wieder aufgebaut, und der Lohn aus dieser Ehe, Georgs Vater Alfred Leodolter, sie in den siebziger Jahren nach Schlesien verlegt. Nur ein kleines Stadtbüro vertrat seither die Firma in Wien.

»Und was ist aus dem Fabriksgebäude auf dem Braunhirschengrund geworden?« fragte der Bankdirektor.

»Es befindet sich noch heute in unserm Besitz, ist aber als Lagerhaus verpachtet, weil nach modernen Begriffen für eine Fabrik nicht zu brauchen.«

»Als Grundstück müßte es doch seinen Wert haben?«

»Gewiß, einen bedeutenden sogar. Die Gegend, in der es liegt, gehörte damals zu ›die entern Gründ‹, wie man sagt; heute ist sie eine der verkehrsreichsten der Stadt.«

»Nun, da wäre ja Kapital?«

»Wenn man bei der fortschreitenden Inflation einen Verkauf von Liegenschaften wagen könnte, kämen auch noch andere Besitztümer in Betracht. Da wäre zum Beispiel der alte Leodoltersche Landsitz, das sogenannte Himmelhaus samt großem Garten, heute ebenfalls der Stadt sehr viel nähergerückt als damals. Und unmittelbar daran anschließend das historische Schloß Auenwald mit prachtvoll altem Park, das Erbe von meiner Großmutter her. Aber wer wollte die Verantwortung auf sich nehmen, derlei Ehrwürdigkeiten in schlechtes Papiergeld umzuwandeln?«

Der Kraftwagen machte in einer stillen Gasse vor einem Haustor halt. Georg wollte sich verabschieden, aber Lemburg hielt ihn noch einen Augenblick am Ärmel fest.

»Hören Sie meinen Rat, den Rat eines Mannes, der Ihnen ehrlich wohlwill, warten Sie eine wertbeständige Währung ab, dann helfen Sie sich selbst und verschaffen sich das nötige Betriebskapital durch Veräußerung von Grundbesitz. Uns aber lassen Sie links liegen! Sobald die Inflation vorüber ist, krachen wir ja doch ab, nicht nur die Kakabe, auch alle andern.«

Verblüfft über diese unerwartete Wendung war Georg ausgestiegen, er hörte, wie der andere ihm noch vergnügt nachrief: »Darf ich meinem Herrn Papa, dem Bankdirektor, Ihren Gruß bestellen? Ja? Danke! Adieu!«

Schon hatte das Auto sich in Bewegung gesetzt und sauste davon. Belustigt blickte Georg ihm nach. Es machte ihm Spaß, diesen Mann kennengelernt zu haben, auch wenn nichts weiter dabei herauskam. Der Typ war ihm neu, und doch fühlte er sich irgendwie mit ihm verwandt. Köstlich, wie Arbeitskraft und Geschäftstüchtigkeit sich darin mit einer liebenswürdigen, schier kindlichen Laune vermischten! Eine neue Zeit, noch unfaßbar, unbestimmbar, kündigte sich in diesem Schlag Menschen an, den es früher nicht gegeben hatte. Der siegreiche Atem der Jugend schien sie zu umwehen.

Rasch stieg Georg die Treppe des alten Familien- und Geschäftshauses hinauf, aus dem seine Mutter hervorgegangen war. Denn sie war eine geborene Mairold und die Schwester Wolfgang Mairolds, des offenen Gesellschafters und Wiener Vertreters der großen Seidenweberei zu Nedweditz in Mähren, der hier noch in demselben Hause wohnte, wo er vor mehr als sechzig Jahren das Licht der Welt erblickt hatte. Auch Justine Hocheders verstorbener Vater, der sogenannte Wegwacht-Mairold, ebenfalls ein Bruder seiner Mutter, war aus diesem Hause hervorgegangen.

Seinen Oheim Wolf traf er in sichtlicher Verstimmung an. Dessen Sohn Thomas, ein untersetzter junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, brav, willig, aber vielleicht etwas zu herrisch erzogen und darum unselbständig, sprunghaft und empfindlich, war eben aus Nedweditz heimgekehrt, wohin er mehrmals des Jahres zu reisen pflegte, um mit der Fabrikation in laufender Verbindung zu bleiben. Er klagte über Zoll- und Grenzplackereien, mehr noch über die inneren Verhältnisse der Fabrik selbst. Zwistigkeiten und Meinungsverschiedenheiten aller Art, die seit Jahrzehnten zwischen der Nedweditzer Firma und ihrer Wiener Niederlassung bestanden, verbitterten dem Vater wie dem Sohn das Leben.

»Ich hab' mir immer zuviel gefallen lassen und mich nicht genügend um mein Recht gewehrt«, sagte Onkel Wolfgang, dem Georg zum Herzausschütten gerade zupaß zu kommen schien. »Dein Oheim Dominik, mein Bruder, den wir in der Familie immer nur mit seinem Kindernamen Moini nannten, hatte eine Tschechin geheiratet, Mara Nehuda, eine schöne, glänzende Frau und leidenschaftliche Patriotin. Der Deutsche ist in solchen Fällen immer im Nachteil, sein Volk gibt ihm nicht genug Rückgrat mit, und auch Moini hielt es bald mit den Feinden seiner Nation, wenn er auch später wieder etwas einlenkte. Als Geschäftsmann war er überaus tatkräftig und tüchtig, das muß man sagen, es wird selten einen Fabrikanten gegeben haben, der sein Handwerk so gut verstand. Das verlieh ihm auch ein entsprechendes Bewußtsein, er wurde immer präpotenter, es war eine Kunst, mit ihm auszukommen. Ich hätte ja als gleichberechtigter Gesellschafter auch ein Wörtchen mitzureden gehabt, aber ich wollte meinen Frieden. Wie viele Briefe, die von kritischen und sarkastischen Bemerkungen durchspickt waren, mußte ich stillschweigend schlucken! Ich ließ es mir gefallen und suchte Zerstreuung bei einem Spielchen, bei meiner kleinen Sammlung von Kunstwerken, auch in der Musik, besonders damals, als deine Base Justine in unserm Haus zu Gast war. Es ließ sich noch leidlich an, solange Moini noch lebte. Seit aber sein Sohn Christian, der durch und durch Tscheche ist, in seine Fußtapfen getreten ist, hab' ich keine gute Stunde mehr. Vom älteren Bruder läßt man sich allenfalls noch schuriegeln, wenn der Neffe dasselbe tun will, wächst es einem schließlich zum Hals heraus. Und nun gar, seit mein Thomas in die Firma ...«

»Ja, davon muß ich dir erzählen, Georg,« rief Thomas dazwischen, »da wirst du Augen machen ...«

»Unterbrich mich nicht und laß mich ausreden!« herrschte ihn wie einen Schuljungen der Vater an, der die Friedfertigkeit vielleicht nur da bevorzugte, wo er einen Stärkeren fühlte. Und er nahm den abgerissenen Faden wieder auf: »Ja, was ich sagen wollte. Seit der Thomas in die Firma eingetreten ist, mit dem springt er um, wie es ihm gerade paßt. Seine letzten Angestellten behandelt er nicht so bagatellmäßig wie seinen eigenen Vetter. Es ist rein, als wollte er uns hinausekeln. Ich spreche im Vertrauen zu dir, lieber Georg, du wirst ja weiter keinen Gebrauch ...«

»Zum Beispiel!« fiel Thomas dem Vater nun doch ins Wort. »Nur um dir ein Beispiel zu geben, Georg, wie häßlich sich Christian mir gegenüber benimmt. So sagt er neulich zu mir ...«

Und er fing umständlich von irgendeinem peinlichen Vorfall zu erzählen an, der sich zwischen ihm und Christian zugetragen, knüpfte unter Hinzufügung nebensächlicher Einzelheiten ein zweites und drittes Erlebnis daran und wurde nicht müde, die kleinlichsten Streitigkeiten auszukramen und die aus Nedweditz mitgebrachte schmutzige Wäsche vor den Augen des Vetters zu waschen. Gelangweilt und angeödet hörte dieser zu und hatte Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. Schließlich war Christian so gut sein Vetter wie Thomas, er hätte vorgezogen, nicht zum Vertrauten eines Familienzwists gemacht zu werden, der ihn nichts anging, und war überhaupt kein Freund von Gesprächen so wenig aufbauender und fördernder Art, auch selbst noch kaum zu Wort gekommen. Aber plötzlich leuchtete ein Gedanke in ihm auf, der ihm die fast abhanden gekommene Spannkraft zurückgab.

Diesem Einfall zulieb nahm er die Einladung gerne an, am Abendbrot der Familie teilzunehmen. Und als man nach Tisch gemütlich beisammensaß, ergriff er die Gelegenheit, seine Pläne von der Zusammenfassung einer Anzahl großer Firmen in einen einzigen Riesenbetrieb auseinanderzusetzen.

Daß die Nedweditzer Fabrik, die nun doch unrettbar ein tschechisches Unternehmen geworden war, einen glänzenden Geschäftsgang aufwies, wußte er. Daß man seinem Onkel Wolf und dessen Sohn goldene Brücken bauen, das heißt eine beträchtliche Summe in Tschechokronen auszuzahlen bereit sein würde, wenn sie sich daraus zurückzögen, durfte er nach dem Gehörten und seiner sonstigen Kenntnis der Sachlage annehmen. Damit wäre sonach schon ein erster Grundstock an Kapital für die neue Aktiengesellschaft vorhanden. Andere würden anderes zubringen und er selbst bei eingetretener Festigung der Währung zunächst einmal den Erlös aus den Leodolterschen Braunhirschengründen zuschießen. Dann ließ sich vielleicht wirklich der Rat Lemburgs befolgen, die »Kakabe« und ähnliche, von mörderischen Zinssätzen lebende Kreditgeber gar nicht erst zu bemühen, man wirtschaftete aus Eigenem und vermied die Gefahren, die ein Zusammenbruch der zweifellos vielzuvielen Banken mit sich bringen konnte. Die Aussicht, der Erfüllung seiner Wünsche einen Schritt näher zu rücken, stieg Georg gewaltig zu Kopf.

Über den kleinen Bürgerhäusern des ehemaligen »Schottenfeld«, aus denen das lahme Geklapper der Handwebstühle wie ein Gruß aus der Postkutschenzeit herüberklang, wuchs vor seinem geistigen Auge ein ungeheures Fabriksgebäude wolkenkratzerartig zum Himmel. Ein Wald von Schloten schoß daraus empor, helle Fensterreihen spiegelten in der Sonne, und dahinter hörte man die stählerne Weberschütze in ihrem stählernen Rahmen hundertmal in der Minute hin und her sausen, auf viel Hunderten stählerner Webstühle, die alle einem Wink gehorchten und, zur Einheit geordnet, erlöst von der kraftzersplitternden und zeitvergeudenden Eigenbrötelei, den Wettbewerb mit der Weltproduktion aufnahmen. Und dieser ragende Dom der Arbeit stand nicht irgendwo in der Fremde, er wuchs aus dem geheiligten Boden der Heimat, hier, auf der Stätte alter Kultur, in Wien, das die Fertigkeit des Webens, eine der ältesten und ehrwürdigsten aller menschlichen Geschicklichkeiten, seit mehr als einem Jahrhundert fast zur Kunst erhoben hatte. Und Tausende von Menschen, die sonst gedarbt haben würden, fanden Unterschlupf in diesen luftigen Hallen, wo die Spindeln schwirrten, die Spulmaschinen kollerten, die Schweifrahmen sausten! Unzählige wackere Familien verdienten sich in den Zeiten der Arbeitslosigkeit ihr Brot darin und gediehen allmählich zu einem freundlichen Wohlstand ...

Lockendes Luftgebilde, wirst du jemals körperliche Gestalt gewinnen? Oder für immer ein Blendwerk und Hirngespinst bleiben? Nein, was an ihm lag, so war Georg dazu entschlossen, den alten Erbfehler des Österreichers, die Lässigkeit, das ungläubige Hände-in-den-Schoß-Legen überwinden zu helfen!

»Was vergrämt ihr eure Tage in einem Gesellschaftsverhältnis,« sagte er zu Oheim und Vetter, »das zur Qual wird, sobald es aufgehört hat, auf einmütiger Zusammenarbeit zu beruhen? Kehrt heim ins Vaterhaus, so wie ich heimkehren will dahin, wo die Quelle unserer Kraft einst entsprang! Der Unternehmer ist wie ein Gärtner, wohin er seinen Fleiß, seine Liebe wendet, da beginnt es zu sprießen. Laßt uns im eigenen Volk das Wachstum fördern, so werden wir mit doppelter Freude an der Arbeit sein!«

Die Strebsamkeit, mit der er seine Zukunftsträume gleichsam wie ein schon vollendetes Ereignis zu schildern wußte, hatte etwas Mitreißendes. Die wirtschaftlichen Gründe, mit denen er die Vorteile einer in einen einzigen Brennpunkt gesammelten Arbeitsgemeinschaft ins Licht setzte, waren so überzeugend, daß Herr Wolf Mairold, der für sich und seinen Sohn überdies noch die ersehnte Befreiung von den Nedweditzer Fesseln winken sah, nach einigem Schwanken und allmählicher Überwindung dieser und jener Bedenken schließlich mit fliegenden Fahnen in Georgs Lager überging, wohin Thomas in jugendlichem Ungestüm ihm bereits vorausgeeilt war.

Man besprach noch bis gegen Mitternacht mit wachsender Wärme verschiedene Einzelheiten, ging auch die Firmen durch, die man allenfalls zu einem Anschluß bestimmen zu können glaubte, und einigte sich dahin, zunächst einmal bei Michael Hocheder und John anzuklopfen. Man wußte, daß sie den schwierig gewordenen Verkehr zwischen Wien und dem zu einem Klokocov Morava gewordenen Klopsdorf, wo sich ihre Fabrik befand, als äußerst hinderlich für ihren Geschäftsbetrieb empfanden. Denn sie verfertigten eine bestimmte Gattung Ware, wo die entsprechend vorgerichtete Kette mit einem bunten Blumenmuster bedruckt wurde, dies aber noch vor dem Verweben des Einschlags, so daß das Farbige nur zart und verschwommen hervorschimmerte wie ein Traum, worin eben der besondere Reiz bestand. Da nur eine einzige Fabrik auf das Bedrucken der Seide eingerichtet war und diese sich in Wien befand, so mußte die Ware her und hin zweimal die neue tschechoslowakische Grenze überschreiten, ehe sie nur auf den Webstuhl kam, was zu unendlichen Plackereien und Weiterungen Anlaß gab. Wolf Mairold, der im Handumdrehen zum Vorkämpfer für das kühnste aller Kartenhäuser geworden war, hoffte in dem Groll, den der alte Hocheder hierüber nährte, einen kräftigen Vorspann zu finden.

Hierin aber sollte er sich freilich täuschen. Denn als er am nächsten Vormittag in Begleitung Georg Leodolters bei Herrn Michael Hocheder im Haus »Zum Seidenbaum« vorsprach und die Werbetrommel zu rühren begann, da traf ihn sofort ein ernüchternd eisiger Lufthauch, der vom Pik von Teneriffa herüberwehte.

»Eine Amphibie soll ich werden? Eine A.-G., bei der kein Mensch weiß, ob sie ein Fisch oder ein Frosch ist?«

Man stellte ihm vor, daß es ohnedies jedermann bekannt sein würde, welche Firmen dahinterstünden. Und daß natürlich auch er selbst im Verwaltungsrat sitzen würde.

»Was für eine Ehre!« spottete er. »Aber ich bedank' mich schön dafür. Ich bin mein eigener Verwaltungsrat und laß mir von andern nichts dreinreden!«

Auf den Vorhalt, er habe doch selbst wiederholt darüber geklagt, wie lästig es sei, daß seine Fabrik jetzt in einem fremden und in vieler Hinsicht feindseligen Staat liege, entgegnete er: »Freilich ist es z'wider! Aber noch immer laß ich mich lieber von den tschechischen Grenzern sekkieren als von meinen Kompagnons!«

»Wie soll unsere Arbeit der Heimat zugute kommen,« rief Georg aus, »wenn wir damit nicht in die Heimat zurückkehren? was wir im Ausland leisten, leisten wir fürs Ausland!«

»Die Arbeit kennt keine Heimat«, antwortete der Pik; »sie ist da zu Hause, wo ihr die geringsten Hindernisse in den Weg gelegt werden. In der Tschechei gibt's wenigstens Kohle. Und auch Bajonette, die im Notfall die Arbeiter niederhalten, wie sieht's dagegen bei uns aus, he? Mein hiesiger Zweigbetrieb war nie was anderes als ein Privatvergnügen von mir, dennoch zwingt mich die Organisation, drei Arbeiter darin einzustellen, die ich nicht brauche. Und wenn ich ihnen merken lasse, daß ich der Herr bin und nicht sie, so hetzen sie mir noch den Betriebsrat auf den Hals.«

»Das würde sich in einem vereinigten Großbetrieb nach und nach alles einrenken«, tröstete Georg. »Wenn man auf einem Ruderboot über Meer fahren will, spürt man freilich die Wellen; an einem Riesendampfer brechen sie sich.«

»Ich bin nicht fürs Amerikanische!« brauste der Alte auf. »Am liebsten schmisse ich den ganzen Krempel von Fabrik zum Teufel und setzte mich für mich allein an meinen alten Zampelstuhl. Da ist der einzige Platz, wo mir vielleicht noch einmal warm würde. Die modernen Verrücktheiten können mir allesamt gestohlen werden! Kommt's denn auf die Größe an? Meinetwegen soll's Walfische geben, so viel es will, sie gehen mich nichts an, ich bin als Karpfen auf die Welt gekommen und bleibe ein Karpfen ... Maria Lichtmeß!«

Ungeduldig schnalzte er mit den Fingern. Die Besucher begriffen, daß sie entlassen seien. Sie verzichteten darauf, auch noch mit dem Laurenz Rücksprache zu nehmen. Daß dieser anders denken würde, hielten sie nicht für unwahrscheinlich, aber sie wußten auch, daß er zu zartfühlend war, eine vom Vater getroffene Entscheidung umzustoßen.

Der Onkel hing ein wenig den Kopf, es waren ihm nun selbst Bedenken aufgestiegen. Georg aber faßte ihn vergnügt unter und meinte: »Wenn's so leicht wär', hätt's ein anderer schon längst gemacht. Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden, auch unser Wolkenkratzer braucht Zeit, nicht nur seine Geburt, auch seine Empfängnis.«

Er lachte, was kommen mußte, würde doch kommen, über kurz oder lang. Er war jung und hatte keine Eile.

Als sie die Treppe hinunterstiegen, sagte Wolf Mairold zu seinem Neffen: »In dem Punkt muß ich dem alten Hocheder fast recht geben, warm wird einem beim Amerikanismus nicht.«

»Meinst du, Onkel? Ich dächte, es käme nur drauf an, wie man's nimmt. Es gibt eine Sorte Amerikanismus, die mehr Wärme um sich verbreitet als die rückständige Sumperei, die es zu nichts bringt. Denk' etwa an einen Ford! Gerade weil er als kühler Rechner ins Riesenmäßige strebt, hat er vielen Tausenden von Menschen eine menschenwürdige Existenz geschaffen, was ist segensreicher: sich wehleidig ans Überlebte klammern und dabei zugrunde gehen, oder klar der Zukunft ins Auge schauen, sich den Notwendigkeiten anpassen und Gedeihen um sich verbreiten? Wenn's auf mich ankommt, so wähle ich das letztere. Mit der Biedermeierei, die unserm Gewerbe und ihren Vertretern noch immer im Blut steckt, muß endlich gebrochen werden! Kein Galvanisieren macht, was endgültig abgestorben ist, wieder lebendig. Ich bin gewiß der letzte, der nicht pietätvoll am Gedächtnis der Väter hängen würde. Aber ihr Verdienst war, daß sie schufen, was ihrer Zeit entsprach. Wir späteren müssen schaffen, was der unserigen entspricht – erst dann werden wir in ihrem Geiste handeln und ihrer würdig sein!«

Der Oheim war stehengeblieben und hing schier ergriffen an den Lippen des Neffen.

»Es ist rein, als hörte man deine Großmutter Therese Mairold aus dir sprechen! Oder auch deinen Großvater Leopold Leodolter, der ein Mann von seltener Umsicht und Kraft war, solange die vortrefflichen Eigenschaften der Ahnen in den Enkeln wiederkehren wie in dir, solange hat es mit dem Niedergang des Bürgertums, den manche voraussagen, noch seine guten Wege!«

Er drückte ihm die Hand. Sie setzten ihren Weg fort, gegen den Torgang. Eine Gestalt, die in den Hausflur einbog, glitt scheu an ihnen vorüber und war in der Richtung gegen die Treppe verschwunden. Wolf Mairold wendete sich um.

»War das nicht Severin Hocheder?«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Er soll heimgekehrt sein und seit längerer Zeit wieder im Hause leben. Ich, an Stelle des Laurenz Hocheder, hätte das niemals zugegeben.«

»Weshalb?«

»Justinens wegen ... Übrigens –« erinnerte er sich, »willst du nicht deiner Cousine einen Besuch machen?«

»Meine Zeit ist knapp, es sind noch eine Menge Dinge zu besorgen, und morgen abend muß ich unbedingt abreisen. Das nächstemal, wenn ich herkomme, denn ich habe Justine lieb.«

Sie gingen die stille Gasse entlang.

»Sie ist auch ein liebenswertes Geschöpf«, sagte der Oheim.

Und da sie an dem sandsteinernen Engel vorbeikamen, der traulich in seiner Mauernische Wache hielt, fügte er bedeutungsvoll hinzu: »Hoffen wir, daß sie nicht umsonst gerade in der Schutzengelgasse wohnt.«

 


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