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Zur Salig.

Wenn ich, dem der Krieg so übel mitgespielt hat, diese Veranda nicht hatte, diesen weiten Blick auf die mächtigen Berge ringsum und den dunklen See, der sich zu ihren Füßen schmiegt! Wenn ich mich unten auf den Wegen müßte umherschleppen, wo das Auge immer auf Grenzen stoßt, wo man nicht heraussieht und sich wie eingesperrt vorkommt! Wo man höchstens ins Grüne schaut, aber in keine Ferne, der man nachhängen kann, die einen weiter und weiter lockt, bis in eine ganz andere Welt, bis in ein ganz anderes Leben!

Und doch – wer weiß, vielleicht wäre mir dann leichter; denn je weiter der Blick, desto größer die Sehnsucht, und diese verursacht mir Qualen.

Hätte mein Leiden, wie anfänglich zu erwarten stand, mich am Leben bedroht, längst könnt' ich erlöst und meine Sehnsucht gestillt sein. Oder hätte es wenigstens, wie der Arzt eine Zeitlang befürchtete, sich auf die Augen geschlagen und mich geblendet – ich glaube, ich wäre ruhiger in mir und zufrieden in meinem Gemüt wie die meisten Sünden in ihrer Beschränkung. Aber mit ausgesuchter Tücke hat es mir, der ich dies niederschreibe, das Leben gelassen und das Licht des Lebens, hat mir vergönnt, weiter die Schönheit der Welt zu schauen und die Schönheit meiner geliebten Berge, hat die mir eingeborene Wanderlust und den Trieb hinauf in die Höhen und Gletscher, der mich von jeher besessen hielt, in mir nicht ertötet, aber die Freiheit meiner Bewegung gelähmt und mich für immer an den Krankenstuhl geschmiedet. Vielleicht würde nicht jedem dies Schicksal so hart ankommen wie mir, dem das Erklimmen der Gipfel Lebensatem bedeutete. Aber wie ich nun einmal geartet bin, kann ich's nicht anders nennen, als wie ich's nannte: eine ausgesuchte Tücke vom Schlag jener antiken Bosheit, die sich darin gefiel, unterweltliche Tantalusqualen zu ersinnen und wollüstig auszumalen.

Ist es nicht seltsam, daß man seine Qual lieben, seine Peiniger segnen kann? Denn das kann man, ich weiß es von mir selbst aus eigenster Erfahrung. Liebe ich doch die Sehnsucht, die mich martert, und segne ich doch mit der ganzen Glut dieser unvergänglichen Liebe – euch, ihr heiligen, zum Himmel getürmten Felsenhäupter, die ihr schweigsam und weltenfern aus leise zitterndem Sonnenglast herunterschaut auf den glitzernden See. Segne euch als meine Tröster und Freunde, so peinvoll auch euer unablässiges Winken und Locken an meinen Nerven reißt und zerrt, als sollt' ich wie einst am eisenbeschlagenen Alpstock, die Flinte über dem Rücken, mich fröhlich über eure steilen Grate schwingen. Segne euch, ihr grausamen Peiniger, und flehe euch an: Fahrt fort, an mir zu reißen und zu zerren, fahrt fort, mich zu rufen und zu locken! Ich weiß, daß wir nie mehr zueinander kommen können, das ist für immer vorbei. Aber ich habe ja nichts mehr als meine Sehnsucht, die unaussprechlich süße Qual der Sehnsucht nach euch!

Ob man an der Sehnsucht sterben kann?

Da drüben, steil über dem See, da seh' ich im bläulichen Duft die Geröllhalden und weißen Felsschroffen herüberleuchten, die sie »Zur Salig« nennen. Die Stelle, wo in stillen Mondnächten, wie man sagt, die Saligen Fräulein vor dem Felsentor ihres Kristallpalastes sitzen und ihren Gesang so herzbetörend, Himmelssehnsucht weckend erklingen lassen, daß mancher, der sie hörte, in Wonneschauern zu Stein erstarrt und selbst ein Seliger geworden sein soll. Und so oft mein Auge auf dieser Stelle ruht, fällt mir der Abend ein, an dem ich zum erstenmal dies Bergparadies betrat, und die traumhaft schöne grauenvolle Nacht, in der mich der Kahn zum erstenmal über den mit schwarzem Wasser gefüllten Abgrund des Graunsees trug. Ja, und dann bin ich fest davon überzeugt, daß man vor Sehnsucht sterben kann.

Es dunkelte bereits, als ich, von der anderen Seite kommend, das Seeufer erreichte; ein Fischer war eben damit beschäftigt, sein Boot in den knirschenden Sand zu schieben, und als ich ihn frug, ob er mich nach dem Dorfe übersetzen könne, antwortete er ausweichend, er hatte schon Feierabend gemacht und die Nacht sei zur Ruhe da, nicht zur Arbeit.

»Es wird nicht lang dauern,« sagte ich, »so verwandelt der Vollmond die Nacht wieder in Tag.«

»Das wohl: aber gerade darum rühr' ich heute kein Ruder mehr an.«

»Weshalb gerade darum?«

»Es hat halt ein jeder seinen eigenen Kopf. Gute Nacht, Herr!« Und damit wollte er gehen. Aber auch ich hatte meinen eigenen Kopf und den wollte ich nun einmal diese Nacht nirgend sonst als im Dorfe Graun zur Ruhe legen. Ich bot ihm ein schönes Stück Geld – vergebens. Ich bot ihm das Doppelte, ohne ihn umzustimmen. Erst als ich Miene machte, das Boot selbst ins Wasser zu stoßen, und er einsah, daß ich entschlossen sei, auch ohne ihn meinen Willen durchzusetzen, gab er nach.

»In Gottes Namen, wenn es schon sein soll. Allein dürft Ihr auf keinen Fall fahren, das könnt' ich als Christenmensch nicht verantworten.«

Ich hatte im Kiel Platz genommen und das Doppelruder ergriffen: der alte Mann saß vor mir auf der Ruderbank, er hatte den Rock abgeworfen, und ich konnte in der Dunkelheit die weißen Hemdärmel und den breiten Rücken sehen, die sich bedächtig vorbeugten und auslegten und dann kräftig wieder zurückbogen. Alles mit der Stetigkeit einer langsam stampfenden Maschine. Und ich bemühte mich, gleichen Takt zu halten. Ein Glucksen und Rauschen aus der schwarzen Tiefe mir zur Seite belehrte mich, daß der Kahn unter den regelmäßigen Schlägen unserer vier Ruder wie ein Pfeil dahinschoß.

So mochten wir ungefähr bis in die Mitte des Sees gelangt sein, als ich unwillkürlich innehielt.

»Ein Höhenfeuer!« sagte ich halb erschrocken. »Oder ist es ein Waldbrand?«

Aber schon im nächsten Augenblick erkannte ich meinen Irrtum. Die volle Scheibe des Mondes, die erst nur mit einem winzigen Endchen über einen der höchsten Felsgipfel gelugt hatte, stieg unglaublich rasch höher, löste sich von der zackigen Kante und schwebte wie ein Wunder im blauen Raum. Nun war die Nacht plötzlich in die rings ansteigenden Tannenwälder und in die Tiefe des Wassers gebannt, die Felswände hingegen schimmerten fahl wie bloßgelegte Gebeine, und über die Oberfläche des Sees spielten unzählige Silberfische.

Durch das flutende Licht wie von einem geheimen Druck erlöst, gestand ich mir erst setzt ein, daß ich mich bei dem ungewohnten Hingleiten über die unsichtbare Finsternis unter mir eines gewissen Unbehagens nicht hatte erwehren können. Und zugleich erinnerte ich mich, daß mein alter Fischer, als ich seiner Weigerung, mich überzufahren, mit dem Hinweis auf den bald ausgehenden Vollmond begegnen wollte, mir seltsamerweise zur Antwort gegeben hatte, gerade darum rühre er kein Ruder mehr an. Dahinter mußte etwas stecken.

»Ihr fahrt nicht gern, wenn der Mond scheint, Pint?«

»Seit gut dreißig Jahren oder länger hat mich der Vollmond nicht mehr auf dem Wasser gesehen.«

»Und weshalb, wenn man fragen darf?«

Er ruderte ruhig weiter. Erst nach einer geraumen Weile erklang wie verdrossen die Antwort aus seiner rauhen Kehle.

»Seit das mit meinem Kameraden passiert ist …,« sagte er. »Ich denk' es noch gut, solang es schon her ist. Am Abend war er ausgefahren, Reusen und Netze legen. Aber heimgekommen ist er nicht mehr.«

»Der Kahn gekentert?«

»Ein Fischer und kentern!«

»Also, was sonst?«

»Am Herzweh gestorben. Im grauenden Morgen ruderten wir hinaus, ihn zu suchen. Da saß er tot im treibenden Nachen, die Hände gefaltet und die starren Augen hinauf zur Salig gerichtet.«

»Zur Salig?« wiederholte ich; denn ich war noch fremd in der Gegend und hatte nie von den Saligen Fräulein gehört.

Immer ruhig weiterrudernd, hob der Alte den Kopf und wies mit dem Kinn nach der Seite, gegen die Felswand empor, die aus einem schmalen Saum von schwarzen Wäldern fast senkrecht über dem Wasser aufstieg wie ein steinernes Kirchenschiff von riesigen Ausmaßen, auf dem das volle Licht des Mondes spielt.

»Da, wo mitten im Fels die weißen Klippen sind … sehen Sie's, Herr? Gerade über der Stelle, wo der Sandgrieß wie mit Zungen herunterleckt … da lagern manchmal im Vollmondschein die seligen Fraun. Und die singen wie mit Engelsstimmen. Und singen so schön, daß einer vergehen möcht' vor Sehnsucht und Wehmütigkeit. Und wer sie hört, der sitzt wie eingefroren und horcht …«

Er unterbrach sich und ließ die Ruder sinken.

»Hören sie nichts, Herr?«

Mit angehaltenem Atem lauschte ich in die Nacht hinaus. Es war mir unsagbar bang und süßwehmütig ums Herz. So ganz lebendig hatten meine gespannten Sinne mir den Eindruck vergegenwärtigt, den es aus mich machen würde, wenn plötzlich ein himmlischer Gesang von der mondbeschienenen Felseneinöde da oben erklingen und in getragenen Tonen über die schweigenden Wasser des Graunsees hinschweben würde.

»Hören Sie, Herr! Hören Sie!« flüsterte Pint.

»Ich höre nichts!«

»Nicht möglich! Sie hören nichts? Den wunderbaren Sang, der von da droben kommt, den hören Sie nicht?«

Aber so angestrengt ich lauschte, es war nichts zu vernehmen als das leise Glucksen der Wellen rings um den Kahn. Im kalten Mondlicht flimmernd, brütete über Himmel, Berg und See die Lautlosigkeit der Nacht …

»Sie täuschen sich, Pint! Die Nacht ist still wie der Tod.«

»Unbegreiflich, daß Sie nichts hören!«

»Es kommt vor, daß uns die aufgeregten Sinne irreführen, wenn –«

»Still, still! Stören Sie nicht den Gesang der Geister!«

Mit hochgezogenen Schultern schüttelte ich die Befangenheit von mir ab.

»Dergleichen mag es früher einmal gegeben haben,« sagte ich lachend; »jetzt ist nichts mehr damit.«

Und ich nahm die Ruder wieder auf, damit wir doch vom Fleck kamen. Denn noch immer saß mein Fischer mit erhobenem Haupte da und schien zu horchen, während das flüssige Silber, das meine Ruderschläge aufquirlten, im Kielwasser des stetig, wenn auch nicht mehr so rasch wie früher dahingleitenden Kahnes durcheinander brodelte. Mehr und mehr rückten die Felsen, die sie »Zur Salig« nennen, von uns ab, und als ich mich umwendete, gewahrte ich in nicht allzu großer Ferne die ersten Lichter des Dorfes Graun. Auf die hielt ich zu, immer gleichmäßig weiterrudernd, und dabei mußte ich unablässig an den Kameraden meines braven Alten denken, den der Gesang der Saligen getötet hatte.

Im Geiste sah ich ihn an der Arbeit, wie er nächtens den Fischen nachstellt. Der Mond flammt wie heute über den Berggipfel und gießt seinen Flimmer über die leicht gekräuselten Wellen, da fängt es von der hohen Wand des fahl schimmernden Felsendoms zu klingen an, als stünde der Himmel offen. Ein Choral wie von Engelsstimmen gesungen. Und der Fischer im Nachen vergißt seinen Fang und lauscht weltentrückt zur Höhe empor, die Hände wie zum Gebet gefaltet. Ahnungen eines schöneren und besseren Daseins erwachen in seiner Brust. Ein Vorgefühl von Seligkeit, das ihn fast verzehrt, steigert das Bewußtsein irdischer Enge, in der er sich gebunden fühlt, zu rasendem Schmerz. Und am Morgen finden die Genossen ihn leblos im treibenden Kahn, den verklärten Blick zur Salig erhoben, das Herz von Sehnsucht gebrochen …

Abermals umblickend, sah ich die Lichter von Graun schon näher glänzen, aber ein gut Stück hatten wir immer noch zurückzulegen. Und da mein Fischer auch jetzt noch, wo die Salig unseren Blicken längst entschwunden war, sich nicht anschickte, die Ruder wieder aufzunehmen, und alle Arbeit mir allein überließ, so hielt ich es für angebracht, seinen Eifer etwas zu beleben.

»Es fängt an kühl zu werden,« sagte ich. »Ich denke, wir hätten Ursache, uns zu sputen.«

Und noch kräftiger als früher legte ich mich in die Ruder. Er aber saß nach wie vor, ohne sich zu rühren.

»Heda! Pint! Hören Sie?«

Unbeweglich saß er da, ohne sich nach mir umzuwenden, ohne nach den Rudern zu greifen.

»Pint, was ist mit Ihnen!«

Ein kalter Schauer überlief mich, von Grauen geschüttelt, fing ich wie ein Wahnsinniger zu rudern an. Mit schier übermenschlichen Kräften, die ich mir nie zugetraut hätte, peitschte ich den Kahn durch die Flut, und als ich mich dem Ufer näherte, begann ich aus vollem Halse zu schreien, um die Leute auf mich aufmerksam zu machen. Es erschien auch wirklich, wie ich mich beim Umblicken überzeugen konnte, ein Mann mit einer Laterne auf dem Landungssteg, der auf uns zu warten schien. Auf den steuerte ich jetzt los.

Ich erinnere mich noch, daß mir der Mann mit der Laterne, in jener Minute wie ein gütiger Schutzgeist, wie ein rettender Engel vorkam. Und als ich endlich schweißtriefend an der Holzbrücke angelegt hatte, fiel ich ihm halb entseelt in die Arme. Mit einem verzweifelten Sah, so wie man etwa zur Seite springt, um einem Abgrund auszuweichen, war ich ans Land gesprungen. Und ein letzter bewußter Blick, ehe mir die Sinne schwanden, belehrte mich, daß Pints unbewegliche Gestalt noch in derselben Stellung wie die ganze Zeit her aufrecht im Boote saß …

Das ist nun schon reichlich lange her, es war mein erster Besuch in diesem Bergland, das ich inzwischen so liebgewonnen habe. Damals hörte ich auch zum erstenmal von jenen kühnen, fast unzugänglichen Felsklippen in der Bergwand hoch über dem See, die sie »Zur Salig« nennen, und auf denen mein Blick jetzt so gern weilt.

Ob manchmal dort in stillen Mondnächten noch jener himmlische Gesang erklingt? Die Entfernung scheint zu groß, als daß die Lüfte ihn bis zu mir herübertragen könnten. Und doch ist mir hie und da einmal, als vernähme ich ihn leise, wie aus weiter Ferne, und dann steigert meine Sehnsucht sich zu einem unsagbaren Weh, das so wild und dabei so süß ist, daß ich schier meine, das Herz müsse mir brechen. Aber immer, wenn ich dann mit angehaltenem Atem lausche, begierig, die zarten Töne aufzufangen, da sind sie verweht, und der herbe Wind, der von den Bergen streicht, bewegt lautlos seine Schwingen …

O, du mein armes Herz, das so unerwartet standhält, das stets wieder aufs neue – was sich höchstens durch das Beharrungsvermögen erklären läßt – zum altgewohnten Rhythmus des Lebens zurückkehrt, wie neidest du dann dem alten Fischer, der mich damals nach langem Weigern über den Graunsee ruderte, sein Schicksal!

Denn als in jener Nacht der Wann mit der Laterne ihm ins Antlitz leuchtete, soll er – wie mir nachträglich berichtet wurde – starr und steif auf seiner Ruderbank gesessen haben, die Hände wie zum Gebet gefaltet, das verklärte Auge emporgerichtet wie zu einer himmlischen Erscheinung.

* * *


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