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Flammenschrift.

Über das Stoppelfeld fegte der Herbstwind, und die Schafe, denen man die Wolle geraubt hatte, drückten sich frierend aneinander, während sie emsig die wenigen grünen Halme aufsuchten, welche zwischen den Schollen hervorsproßten. Neben dem steinernen Marterkreuz an der Fahrstraße stand der alte Schäfer vom Kreuzhofer Schloß. Auf seinen Stecken gelehnt, ließ er sein Auge, das von buschigen weißen Brauen beschattet war, hinausschweifen über die weite Donauniederung, aus deren braunem Qualm und Staubmeer man den Doppeladler auf der Spitze des Stephansturmes konnte aufblitzen sehen.

»Nichts als Dunst und Rauch!« murmelte er. »Mich wundert's, daß sie nicht ersticken, da unten!«

Das halbwüchsige Mädchen, das zu Füßen des Schäfers kauerte, hob ihr zierliches Köpfchen:

»Großvater, schau, wie die Turmspitze glitzert! Die muß ganz aus purem Golde sein! Sie ist doch so weit, so weit und wirft die Strahlen der Abendsonne bis zu uns herüber! Ich möcht' sie so gern einmal in der Nähe sehen, Großvater!«

»Die kann man nicht aus der Nähe sehen. Wenn man noch so nahe kommt, so ist sie noch immer hoch über einem.«

»Aber so nah als möglich möcht' ich wenigstens kommen. So gerne möcht' ich da hinaus, wo die vielen Häuser und Türme sind.«

»Die Häuser und Türme, die in dem braunen Qualm dort stecken? Dank es Gott, Mädel, daß du in Wald und Feld aufwachsen kannst!«

»Schau hinunter in die Kreuz-Mulde,« sagte das Mädchen und wies mit ausgestrecktem Arm in das teils angebaute, teils bewaldete Hügelland, das sich gegenüber der Höhe ausbreitete, auf der sie sich befanden; »siehst du, wie der Rauch, der aus dem Wirtschaftsgebäude steigt, alles einhüllt, das Schloß, die Ställe, die Scheunen und unsere Hütte? Jetzt – jetzt zieht eine ganze Wolke, man sieht die weißen Mauern des Schlosses kaum noch durchscheinen. Und jetzt – unser Strohdach und der Holzbirnbaum darüber sind verschwunden. Und wenn du unten bist, im Haus, oder auch vor dem Haus, so merkst du fast nichts davon.«

»Das ist ein einziges Herdfeuer,« sagte der Schäfer; »aber da unten sind tausend und noch einmal tausend Häuser und Fabriken und alle zusammen haben sie mehr als hunderttausend Rauchfänge, und viele davon sind höher als der Kirchturm von Brunnwies.«

»Ich möcht' auch nicht immer zwischen den vielen Häusern bleiben,« sagte das Mädchen. »Noch weiter hinaus möcht' ich, dorthin, wo die blauen Wolken liegen, wo es gar kein Ende gibt, keine Berge und nichts, nur eine endlose Ferne. Wie heißt es dort?«

»Das ist das Marchfeld. Und dorthin, nach der andern Seite, geht's ins Ungarische.«

»Sind dort draußen, wo die Wolken mit der Erde zusammenstoßen – sind dort auch Menschen und Häuser, Großvater?«

»Auch. So weit du wanderst, immer dasselbe.«

Der Abendschein begann jetzt das nahe Hügelland in Fluten warmen, wogenden Lichts zu tauchen. Ein rötlicher Schimmer lag über den weidenden Schafen und über den weißen Mauern des Kreuzhofer Schlosses, das aus der bereits dämmernden Mulde emporblickte. Der alte Schäfer wendete sich um, nach der entgegengesetzten Himmelsrichtung. Die Hand über den Augen, schaute er in die Wolken, hinter denen die Sonne unterging. Es war, als ob die westlichen Erhebungen des Wienerwaldes in Flammen stünden. Hochauf züngelte die rote Lohe von den bewaldeten Hügeln und Bergkuppen. Das Mädchen war aufgesprungen und hielt gleichfalls die schützende Hand über die Augen:

»Großvater,« fragte sie, »wer entzündet das Feuer hinter den Bergen?«

»Die Sonne schaut zur Hölle hinab,« erwiderte der Alte, »darum ist es so rot.«

»Zur Hölle hinab?« sagte sie leise erschauernd; und in dem Gefühle der Bangigkeit, das plötzlich über sie kam, riß sie sich von dem Anblick los und rannte fort. In überschäumender Jugendlust sprang sie über das Stoppelfeld hin, gaukelnd und ohne bestimmte Richtung, wie eine Hummel, die in eine Stube geraten ist und einen Ausweg sucht. Ihr armseliges Röckchen flog ihr um die nackten Beine und ihre roten Lippen summten ein wildes, regelloses Lied. Tiras, der Schäferhund, begleitete sie mit großen Sätzen, und wo sie hinkamen, stoben die blöden Schafe auseinander und liefen geängstigt dem heiseren Ton der Blechglocke nach, die dem Leithammel um den Hals gebunden war.

Der Schäfer war nahe an den Wegrain herangetreten, um besser über die Büsche von Berberitzen und Schlehdorn hinwegzusehen, welche die tief eingeschnittene Brunnwieser Fahrstraße säumten. Mit vorgeneigtem Haupt betrachtete er die blutigen Wolkengebilde, die ihre abenteuerlichen Gestalten über das Gebirge emporreckten. Sein zahnloser, faltiger Mund bewegte sich wie im Gebet und mit dem Daumen der Rechten, die knochig und vertrocknet aussah wie die Hand eines Toten, machte er ein paarmal das Kreuzeszeichen über sein Antlitz.

Jetzt wendete er sich wieder um nach seinem Enkelkind:

»Thekla! Hör, Thekla!«

Sie kam heran, mit geröteten Wangen, barfuß, in ihrem braunen Lodenkittel und dem groben Leinenhemd.

»Denk an ein Abendgebet!« sagte der Großvater. »Die Sonne ist traurig und verhüllt ihr Angesicht, und der Himmel blutet. Das bedeutet nichts Gutes! Schlimme Tage werden kommen, böse Tage!«

Ernst sah sie zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Böse Tage? Es wollte ihr nicht in den Sinn. Mit großen, leuchtenden Augen blickte sie in die Glut.

»Rotes Gold!« flüsterte sie. »Weißt du, was es bedeutet, Großvater? Der Vater wird einen Schatz graben, eine Menge, Menge, Menge Gold!«

»Narretei!« brummte der Schäfer. »Woher denn?«

»Rings in den Wäldern liegt es verscharrt,« raunte sie geheimnisvoll. »Noch aus der Türkenzeit her …«

Und ihre Gedanken entzündeten sich mehr und mehr an allerhand Gehörtem und Erhofftem. Erst jüngst habe eine Bäuerin aus Merkenstein von einer Truhe geträumt, die sie unter einem Wegkreuz im Walde fand. Aber der Förster habe verboten, darnach zu graben, von den Kreuzhofleuten sei keiner, der einem Armen sein Glück gönne. Ganz heimlich müsse man es tun, in der Nacht …

»Dann fahre ich in einer Kutsche,« rief sie, »geradeso wie der Kreuzhofer! Weit fort fahre ich, fort von euch allen, dort hinaus, wo keine Berge sind und wo man an kein Ende kommt!«

»Kind, Kind!« mahnte der Schäfer; »mußt dich nicht versünden! Gott danken heißt es schon, wenn euch das Hundegger-Gütl nicht verhungern läßt?«

Aber ihre Einbildungskraft verklärte die Beschränkung und Niedrigkeit, in der sie aufwuchs, zu einer Welt voll schimmernder Träume und umgab die alltäglichsten Ereignisse ihres jungen Lebens mit geheimnisvollem Zauber. Sie dachte daran, wie heute, als die Mutter Wäsche aushängte unter den Obstbäumen, die Sonne helle Lichtkreise darauf geworfen hatte, die aussahen wie Talerstücke. Und auch auf dem Grase ringsum hatte es gelegen, rund und leuchtend, als sei ein Platzregen von gemünztem Golde niedergegangen. Daran dachte sie jetzt.

»Wenn ich einmal reich bin, Großvater,« rief sie, »dann kaufe ich dem Kreuzhofherrn sein Schloß ab und jage ihn über die Schwelle, für alles, was er an uns getan hat!«

Nun leuchteten auch die trüben Augen des Schäfers auf, wie ein glühender Funke unter der Asche hervorglimmt. Für einen Augenblick hatte er sich mit fortreiben lassen durch die abenteuerlichen Träume seines Enkelkindes. Aber die trüben Ahnungen, die sein schon kindisches Gemüt befangen hielten, hängten sich sogleich wieder an seine Gedanken wie niederziehende Gewichte.

»Wenn ich dir's schon sage, Thekla, daß die Sonne schlimme Zeichen kündet! Grob wird es kommen! Denk an mich! Mir kann's ja gleich sein, mir kann nichts mehr geschehen, ich bin zu Ende. Aber vor dir liegt noch ein ganzes Leben, Thekla! Alles, was du tun kannst, ist beten!«

»Aber ich will lieber singen, Großvater,« lachte das Mädchen. »Singen und tanzen, heidi, heidi! Denn ich glaube dir nicht, Großvater, ich glaub' dir nicht, und ich glaub' dir nicht!«

»Ja, die Jungen, die wollen's nie glauben und müssen's schließlich doch … Weißt du nicht, was es bedeutet, wenn an einem Freitag die Kirchturmuhr ins Glockenläuten hineinschlägt? Und weißt nicht, daß es am vorigen Freitag die Brunnwieser Uhr getan hat? Und erinnerst dich nicht an den Bienenschwarm, der sich im Spätsommer auf den Dachfirst des Hundeggerhauses gesetzt hat? Das bedeutet Feuer, ganz gewiß, das sagt auch die fromme Liesl, und die versteht mehr als Rosenkranzbeten.«

Er unterbrach sich, um seinem Hund zu pfeifen.

»Frühen Winter gibt's heuer,« sagte er fröstelnd. »Komm, wir gehen heim, die Sonne ist begraben, die schwarzen Krähen fliegen über den Himmel.«

Und während sie hinter der Herde die große Biegung der Straße hinunter gingen, gegen den Kreuzhof hin, erzählte der Alte seinem Enkelkind noch von allerhand Zeichen und Wundern, von geschwänzten Sternen und feurigen Besen, die in seiner Jugend am Himmel erschienen waren, um die Cholera anzukündigen oder einen blutigen Krieg. Dann vom Nebelwolf, der die Herden bedrohe, von Irrlichtern, die auf der Brunnwieser Straße beim Marterkreuz gesehen worden, und vom Hirschkäfer, der das böswilligste und gefährlichste aller Tiere sei. Denn sein Vater selig, den er nun schon an ein Halbhundert Jahr' überlebt, der hab es einmal mit eigenen Augen gesehen, wie ein Hirschkäfer ein glühendes Stück Kohle in seinen Zangen durch die Luft getragen und heimtückisch in einen gefüllten Kornspeicher fallen ließ. Das sei also kein bloßes Altweibergeträtsch, daran könne kein Schulmeister nichts deuteln …

* * *

Eine klare kalte Vorwinternacht lag über dem Galizinberg und über dem Berg, der »Himmel« heißt, und über dem weiten, dunklen Donauland, als Hundegger, Theklas Vater, gegen Mitternacht aus dem »Husaren« zu Brunnwies unter den Sternenhimmel hinaustrat. Mit seinem einzigen Freund, dem Gendarmen Huber, hatte er sein Glück genügend durchgesprochen und auch zum Andenken seiner Muhme, der alten Wendel selig, ein wenig über Durst getrunken. Und doch wurde er erst jetzt, als er mit sich allein war und die freie Nachtluft einatmete, sich so recht bewußt, daß er gleichsam ein anderer Mensch geworden war, neu erschaffen durch den Zufall, durch ein gütiges Geschick. Zum erstenmal überkam ihn etwas wie eine Ahnung von einem freien, menschenwürdigen Leben. Das Ungewöhnliche hob ihn gewissermaßen über sich selbst empor, aus der fast tierischen Dumpfheit, in der er sonst hinlebte. Er breitete die Arme aus und schaute zum Himmel auf. Das war auch ein Gebet. Eine Sternschnuppe fiel, worüber er heftig erschrak. Man sagt, es bedeute den Tod eines Kindes. Er dachte an seine Thekla, an seinen Franzl und schickte sich an, den Heimweg anzutreten.

Hinter der Mühle, die am äußersten Ende des Dorfes steht, holte ihn ein Wagen ein, der von der Stadtseite gerollt kam und dessen Lichter er schon lange gleich einem paar feuriger Augen durch die Nacht hatte glotzen sehen. Als er die Kreuzhofer Schimmel erkannte, wollte er in den Schatten zurücktreten, besann sich aber rasch eines andern. Mochte immerhin der grelle Schein der Wagenlaternen auf ihn fallen, nicht eine Hand würde er rühren zum Gruß!

In der Tiefe des Wagens wurde die Glut einer Zigarre, das flüchtige Aufleuchten einer spiegelnden Brille sichtbar. Nur ein paar Augenblicke lang – indessen der Hundegger aufrecht stehen blieb, den Hut auf dem Kopf, hell beschienen von der Laterne, den Blick geradeaus auf den Wagen gerichtet, und keine Miene machte, auch nur einen Finger zu rühren. Die funkelnden Brillengläser neigten sich rasch vor, zum Wagenfenster heraus, wie um schärfer hinzusehen – und dann war das Gefährt vorbeigerollt. Ein Lachen scholl hinter dem Wagen drein und eine Faust ballte sich. So wurde heute der Kreuzhofer gegrüßt. Und von wem? Vom Hundegger – wohl, so hieß er nach wie vor. Aber das war nicht mehr derselbe Hundegger, der ehegestern noch den Rücken vor dem Kreuzhofherrn hatte krümmen müssen, der mühselige Keuschler aus seiner überschuldeten Hube! Der hatte sich inzwischen verwandelt und war ein völlig anderer geworden! Was doch eine gefüllte Brieftasche alles bewirken kann! Wie er sich jetzt gleich ganz anders fühlte!

Langsam folgte er dem Wagen, der sich weiter und weiter von ihm entfernte, und freute sich, wenn er daran dachte, was für einen ungeheuren Packen von Wut und Ärger die Kreuzhofer Schimmel jetzt zu ziehen hätten. »Jawohl, Herr Nachbar,« sagte er ganz laut, als ob er den Schloßherrn leibhaftig vor sich hätte, »gar so leichten Kaufs wird das Hundegger-Gütl doch nicht zu haben sein!«

Und während er schweren Schrittes die Windungen der Brunnwieser Bergstraße hinanstieg, zogen all die günstigen Folgen seiner plötzlich geänderten Lage an seinen Gedanken vorüber. Die zwangsweise Feilbietung wegen der fälligen Prozeßkosten fand natürlich nicht statt. Gerade noch rechtzeitig war die alte Wendel – Gott hab' sie selig! – gestorben; der Servitutsstreit mit dem Kreuzhofherrn hätte ihn fast an den Rand des Verderbens gebracht. »Aber mit dem Viehtrieb über den Kreuzweg wird es jetzt erst recht nichts!« rief er in die Nacht hinein. Er beschloß, an die höhere Instanz zu appellieren.

Überhaupt wollte er sich von nun ab zur Wehre setzen, gegen jedermann, gegen alle! Gegen alle guten Nachbarn und Freunde, die ihn bisher mit Füßen getreten, die ihn eine Schande für die Gemeinde genannt hatten und die Leßnig eine – zum Teufel, was hatten sie ihr nicht alles für Namen gegeben! Und weshalb? Nur weil er all die Jahre her sich nicht so weit hatte helfen können, um die Kosten für die Trauung aufzubringen! Seine Kinder sogar hatten sie deshalb beschimpft und ihre Rangen aufgereizt, sie sollten sich weigern, in der Kirche neben ihnen zu stehen, und sollten die Thekla in der Schule fragen, weshalb sie denn Leßnig heiße und nicht Hundegger, nach ihrem Vater, wie andere Kinder? Der Kreuzhofer und der Pfarrer steckten natürlich besonders hinter dem allen – die waren doch stets ein Herz und eine Seele.

Und wie sie heute gekommen waren, die guten Freunde und Nachbarn, scheinheilig und katzbuckelnd, angeblich, um ihn wegen der Erbschaft zu beglückwünschen, in Wahrheit freilich nur, um womöglich etwas Verläßliches zu erfragen, wie hoch die Summe sich eigentlich belaufe? Denn das Gerücht hatte gleich von einigen Tausenden gesprochen. Laut lachte er auf. Nur gleich so ein paar Tausender! Die alte Wendel! Aber unendlich viel mehr, als der Neid ertragen konnte, war es auf alle Fälle. Eine Bemerkung fiel ihm ein, die der Maderleitner, der Bürgermeister von Brunnwies, hingeworfen hatte. Die fromme Liesl sei zwar auch erbberechtigt gewesen, aber man könne nie wissen, welcher Art Gründe und Einflüsse bei der Abfassung eines letzten Willens den Ausschlag gäben. Was für ein hämisch verborgener Sinn mochte in diesen Worten stecken? Klangen sie nicht wie eine Anspielung auf Erbschleicherei? Die Wut wollte ihn schier übermannen. Aber er schüttelte gewaltsam die Böswilligkeiten von sich. Wozu quälte er sich noch? Mochten sie denken und reden was sie wollten. War er nicht daran gewöhnt? Und was brauchte es ihn jetzt noch zu kümmern?

Etwas unterhalb dem Marterkreuz ließ er sich auf dem schmalen Rasenstreif des Wegrains nieder. Nur für einen Augenblick, dachte er. Aber die freudige Aufregung des Tages und der feurige Wein von den sonnigen Hängen des Wienerwaldes, dem er im »Husaren« zugesprochen, übermannten ihn, und unversehens waren ihm die Augen zugefallen. Bunte Traumbilder umgaukelten ihn sogleich. Das Räderwerk seines sonst so trägen Geistes war in Bewegung geraten und haspelte eine Kette freundlicher Zukunftsbilder ab. Schon sah er sich in seinem zweckmäßig ausgebauten Hause, das inmitten der zugehörigen Grundstücke lag. Gutgehaltene Schweizer Kühe brüllten im Stall, gleich ein halbes Dutzend, ein Pferdchen war auch da und ein grünlackierter Milchwagen, der bei Morgengrauen tagtäglich die Brunnwieser Straße hinunterfuhr, mit einer reichen Ladung blank gescheuerter Milchgefäße, über Sievering nach Wien hinein … Wo war die Zeit, da die Leßnig noch die Kreuzhofer Kühe gemolken hatte, um sechs Kreuzer den Tag?

Es strich ein unwirscher Lufthauch über die Höhe am Marterkreuz und streute dürres Laub auf die ärmlichen Kleider des Schlafenden. Seufzend und wimmernd wiegte der Herbstwind sich in dem kahlen Gezweig der Birken und Buchen, die rechts und links an der Straße standen. Es war ein klagender Ton, der die Nacht durchzog, ein leiser Wehlaut, der ab und zu über der Erde zu schweben schien … Aber der Schläfer von der Brunnwieser Straße atmete tief und ruhig und von Zeit zu Zeit lächelte er wie ein sorgloses Kind.

* * *

Als er aus dem Schlafe auffuhr, war sein erster schreckhafter Gedanke, alles könnte nur ein schöner Traum gewesen sein. Aber da fiel ihm mit dem ganzen sichern Bewußtsein der Wirklichkeit das Geld ein, das zu Hause in seinem Schubladkasten versperrt und aufbewahrt lag, in schönen, sauberen blauen Staatspapieren mit Wasserdruck.

Rasch sprang er auf die Beine, schüttelte den Schlaf aus den Gliedern, reckte und dehnte sich und schaute zum Himmel auf. Da oben stand noch ein Stern, der merkwürdig hell flammte und loderte; am Horizont aber lag es schon wie bleiche Morgendämmerung, fern im Osten, wo an reinen Tagen, weit hinter der in zitternder Luft schwebenden Nadel des Stephansturmes die braune Ebene mit dem bläulichen Himmel träumend ineinanderdämmerte. Es war hohe Zeit, endlich heimzukehren. Weit von seinem Anwesen konnte er nicht mehr sein; dort krümmte sich die Straße zum letztenmal, bevor sie die Höhe erreichte, und dort schimmerte im Zwielicht das steinerne Marterkreuz herüber, vor dem eine weite Rundschau sich breitet auf die Hügelketten des Wienerwaldes und hinab auf die Kreuzhofmulde und hinaus ins unendliche Flachland.

Wie er noch so stand und seine wachen Gedanken zusammensuchte, tönte auf einmal ein geller Schrei, der ihm das Blut gerinnen machte. Einen Augenblick lang stand er wie erstarrt, dann rüttelte es ihn auf und in großen Sätzen flog er die Straße hinan, die überschauende Höhe zu gewinnen – aber fürder blieb alles still, es mochte eine Sinnestäuschung gewesen sein oder der Ruf eines Totenvogels aus dem nahen Kreuzhofwalde. Tief aufatmend lehnte er sich ans Marterkreuz und ließ seinen Blick in die Runde schweifen, die Brunnwieser Straße entlang, die wie ein fahles Band in der Dämmerung vor ihm lag, nach dem Kreuzhof hinüber, der mit seinen hohen weißen Mauern gespenstisch zu ihm herschaute, und nach seinem eigenen Haus, dessen schwache Umrisse mit dem Morgennebel zusammenflossen, so daß man sehr scharf hinsehen mußte, sollte das Auge … sehr scharf …

Und wie er sich bemühte, das Zwielicht mit seinem Blick zu durchdringen, da sah er plötzlich einen Schein aus der Dachluke aufleuchten. Knirschend vor Wut stampfte er den Boden. Wie oft hatte er der Leßnig untersagt, mit dem Licht auf den Dachboden zu gehen! Und trotzdem – rein als hätte sie keine Ohren oder tät's ihm zum Possen! Jawohl, das mußte sogar eine Lampe sein; die Stallaterne gab kein so grelles Licht … Jesus, Maria! Da züngelten bläuliche Flämmchen aus dem Dach hervor! Hatte sie richtig Unheil angerichtet in ihrem Leichtsinn! Dicker Qualm stieg aus dem Dachfirst auf. Aber in demselben Augenblick schoß auch aus dem Scheunendach die rote Lohe. An zwei Stellen zugleich! Es war ihm sofort klar: das war gelegtes Feuer!

Der Wind pfiff nur so um seine Ohren, wie er halb verrückt den Abhang hinunterraste. Die Leßnig und die Kinder – die retteten sich wohl, für die fürchtete er nichts. Aber die Kuh, ob sie die herausbrächten? Und vor allem – da fiel es ihm erst ein – das Geld, die Erbschaft der alten Wendel, in der versperrten Schublade!

Der Fußweg war schlüpfrig, so daß er mit seinen schweren Stiefeln in den Lehmboden einsank. Er glitt aus und tappte mit beiden Händen in Brennesel, und wieder auf und wieder weiter! Jetzt ein Sprung über die tief eingeschnittene Wasserrinne des Kreuzhofbaches und jenseits eine taufeuchte Wiese hinan, durch den Waldschachen, der Teufelslueg genannt wird, eilends zwischen den harzigen Stämmen hin, deren dürre Äste seine Wangen und Hände wundkratzten. Und als er keuchend heraustrat, da sah er vor sich sein Anwesen in hellen Flammen. Wie eine Fackel brannte das Hausdach, die Scheune war eingestürzt und brauner Qualm bezeichnete die Stelle, wo sie gestanden, aber der kleine Stall nebenan ragte grellbeschienen aus dem Schwaden hervor und das hilferufende Brüllen der Kuh vermischte sich mit wirr durcheinander schreienden Menschenstimmen und mit dem Heulen des alten Hofhundes, der verzweifelt an seiner Kette zerrte.

Nur einen Augenblick hielt er inne, wie gebannt durch die furchtbare Schönheit des nächtlichen Schauspiels. Und dann weiter, hinweg über den Zaun seines Obstgartens und gebückt unter den Apfelbäumen hin – da rannte er gegen ein Weib, das mit dem Rosenkranz in der Hand vor ihm stand.

»Beten, lustig beten!« rief sie ihm zu. »Kommst schon wieder zu spät in die Kirchen?«

Er kümmerte sich nicht um sie. Es war die fromme Liesl, eine ausgediente Magd vom Kreuzhof, die an religiöser Verrücktheit litt. Halb bewußtlos wankte er in den Hof, der von brenzlichem Qualm erfüllt war. Das Blut hämmerte in seinen Schläfen, vor den Augen tanzten ihm rote Flecken. Aber er wußte, jetzt durfte er nicht umsinken, jetzt galt es in Sicherheit bringen, was noch zu bergen war.

Ein paar Kreuzhofknechte waren eben daran, die Kuh aus dem Stall zu zerren, die sich unverständig gegen ihre Rettung sträubte. Hundegger eilte hinzu, um ihnen zu helfen, er legte Hand mit an, da fiel es ihm plötzlich wieder ein, das Geld, das Wichtigste, auf das er beinahe vergessen hätte.

Schon stand der Flur des Hauses in Flammen, und brennende Balken, die auf die Diele herabgestürzt waren, verwehrten den Eintritt. Während er noch hin- und herrennend überdachte, was zu tun sei, wie er einzudringen vermöchte, stürzte aus einem Menschenknäuel die Leßnig hervor, wankte gleich einer Trunkenen auf ihn zu und wies mit fast tierischen Lauten der Verzweiflung auf das niedrige Stubenfenster. Er dachte nicht anders, als daß auch ihr die Rettung des Geldes auf dem Herzen liege; aber auf den ersten Blick, den er ins Zimmer warf, begriff er bebend, was ihr die Sprache raubte. Denn beim zuckenden Schein der Flammen sah er den Franzl auf seinem Bette sitzen, der sich mit den Fäustchen die Augen rieb und, halb betäubt durch den Rauch, seinen Kopf gegen die Wand lehnte. Das war es also! Den Buben hatten sie im brennenden Hause vergessen!

Rasch entschlossen schwang der Hundegger sich auf die Brüstung, stieß aber auf den eisernen Zahn, der wie das erhobene Schwert eines Cherubs von unten in die Fensteröffnung hineinragte, wie es an ärmeren Hütten statt des Gitters gebräuchlich ist. Herrgott im Himmel, was nun? Ein Beil, ein Beil! Ein paar große Sätze nach dem aufgeschichteten Brennholz neben dem Holunderstrauch, das Beil blitzte in seiner Faust, ein einziger Hieb, und der Spieß bog sich ab wie ein krummgeschlagener Nagel und stand wagrecht hinein, gleich einem ausgestreckten Finger, der auf den gefährdeten Knaben wies. Gewaltsam zwängte der breitschulterige Mann sich durch die enge Fensteröffnung, riß sein Kind in seine Arme und trug es taumelnd durch den scharfen Rauch, der ihm den Atem beengte, ans Fenster, um es der zitternden Mutter hinauszureichen, die sich alsbald daran machte, das starre Gesichtchen durch ihren Hauch zu beleben, gleich einem Tiere, das mit schnaubenden Nüstern sein Junges liebkost.

Mit jedem Augenblick wurde es gefährlicher, sich in der Nähe des bedrohten Hauses aufzuhalten. Ein unheimliches Krachen wurde im Gebälk der Stubendecke vernehmbar. Erschreckt blickte die Leßnig nach ihrem Manne um, und da sah sie ihn in der Fensterhöhle hängen, an dem eisernen Zahn, der sich in seine Kleider verbissen hatte. Kopflos durch all den Schreck, packte sie ihn am Arm und fing an zu zerren; ein paar Kreuzhofknechte eilten auch herzu und begannen blindlings zu ziehen, daß der Mann nahe daran war, sich das Eisen in den Leib zu bohren. Erst auf sein Schreien und Winken ließen sie von ihm ab, so daß er seine Kleider losmachen und sich behutsam über den gefährlichen Spieß hinwegschieben konnte. Tief atmete er aus, als er wieder im Freien auf seinen Füßen stand. Und da krachte auch schon die Stubendecke nieder, daß Funken und brennende Holzsplitter rings umherstoben und eine neue dicke Rauchwolke sich brustbeklemmend über den Hof wälzte …

Auch die anstoßenden Wirtschaftsgebäude des Kreuzhofes waren inzwischen vom Feuer ergriffen worden. Höchst seltsam nahm es sich aus, wie der Kreuzhofherr, der die Löscharbeiten in eigener Person leitete, im Schlafrock, die Brille auf der Nase, seinen breitkrämpigen Hut auf dem Kopfe, mit seinen kurzen Armen in der Luft umherfocht und dabei in der ihm eigenen Art keuchte und pustete, als wolle er mit der röchelnden Gartenspritze wetteifern, die ihren mageren Wasserfaden voll zwecklosen Eifers in die Flammen spritzte. Alle Kreuzhofknechte und eine Menge Nachbarn, die sich allmählich gesammelt hatten, waren in Bewegung, Wasser herbeizuschleppen, um den unersättlichen Bauch der Spritze zu füllen, mit Beilen und Karsten der weiterfressenden Flamme ein Ziel zu setzen, Vieh und Vorräte zu bergen. Und alle Anstrengungen waren auf das Kreuzhofgut gerichtet. Für das Hundeggerhaus rührte setzt niemand mehr einen Finger, nicht einmal Hundegger selbst.

Wozu auch? Das Geld der alten Wendel war unwiderbringlich dahin. Was konnte ihm jetzt daran liegen, ein paar Balken oder Sparren vor dem Verkohlen zu retten?

Erstaunlich rasch hatte er die alte Grundstimmung wiedergefunden, die ihn seit vielen Jahren beherrschte, die dumpfe Ergebung in alles, was über ihn verhängt war. Fast wunderte er sich, daß er einen Augenblick an sein Glück geglaubt, daß er nicht im voraus gewußt hatte, wie es kommen würde. War es nicht wie eine starre Notwendigkeit, die über seinem Dasein schwebte, daß er stets um so tiefer hineingestoßen wurde, wenn er sich nur ein klein wenig aus Not und Elend zu erheben im Begriffe stand?

Etwas abseits saß er auf einem umgestürzten Waschtrog mit der Leßnig und den Kindern und blickte teilnahmslos in die Glut. Den Franzl hielt er auf dem Schoß und strich ihm sanft liebkosend übers Haar. Erschöpft und noch immer schwer atmend schmiegte der Knabe sich in seinen Arm. »Vater«, sagte die Thekla, die aufmerksam und ohne Furcht mit ihren großen Augen alle Vorgänge beobachtete, »nicht wahr, das Feuer ist gelegt worden?«

Er hörte nicht auf sie.

»Der Neid hätte die Nachbarn nicht schlafen lassen,« sagte sie mit der frühreifen Menschenkenntnis, welche das Elend verleiht; »darum haben sie uns den roten Hahn aufs Dach gesetzt.«

Sie erblickte ihren Großvater, den alten Schäfer, der in einiger Entfernung unter einem Baum saß, und eilte an seine Seite. Ob man das Feuer nicht besprechen könne? fragte sie.

Gewiß könne man das, erwiderte der Alte.

Wie man es angehe?

Es gebe verschiedene Arten. Am besten sei das Wort: »Feuer, steh still in deiner Glut, wie Christus, der Herr, ist gestanden in seinem rosinfarbenen Blut.« Aber mit dem Wort sei noch nichts getan, man müsse es auch sonst verstehen. Er selbst habe es noch von seiner Ahnin gelernt.

Warum er es denn nicht getan hätte?

Für das Hundeggerhaus sei er zu spät gekommen. Der Kreuzhof aber möge brennen.

Durch das Morgengrauen scholl nunmehr näher und näher das »Trara« der Brunnwieser Feuerwehr, welche die Bergstraße hinankeuchte. Dauerte auch nicht lange, so fuhr die Spritze rasselnd über das Kiespflaster des Schlosses. Ein dicker Wasserstrahl sprang zischend in die Glut, daß weiße Dampfsäulen aufstiegen. Man sah es sogleich: die Brunnwieser werden dem Elemente Herr. Ja, wenn sie eine Viertelstunde früher gekommen wären!

Der Feuerwehrhauptmann hatte jetzt die Leitung der Löscharbeiten übernommen, während der Kreuzhofherr mit seinen kleinen trippelnden Schritten hin und her ging und den Schaden zu überschlagen schien. Das Dach der Milchkammer und ein Holzschuppen, der sich an das Stallgebäude lehnte, waren ein Raub der Flammen geworden. Das war alles. Für den Stall selbst, die Scheune und das Übrige bestand keine Gefahr mehr, seit die Brunnwieser arbeiteten, das sah man sofort. Aber den Kreuzhofherrn hatte schon der erlittene Verlust aus Rand und Band gebracht. So oft ein Mensch ihm in die Nähe kam, herrschte er ihn an und gab irgendeine Anordnung, die er im nächsten Augenblick widerrief. Fortwährend schimpfte er auf seine Knechte, nur diese »Cujone«, diese »faulen Ludern« seien Schuld, daß das Feuer auf den Kreuzhof übergegriffen habe.

Von Zeit zu Zeit schoß er hinter seiner spiegelnden Brille einen Blick auf Hundegger hinüber, mit stummem Vorwurf, daß er sich am Rettungswerk nicht beteiligte, sondern müßig zusah. Denn der Hundegger saß nach wie vor unbeweglich und teilnahmslos da, und nur ab und zu murmelte er immer wieder dasselbe Wort: »Ist schon ein Ding! Ist schon ein Ding! … Ist halt einmal so. Was kann man machen? …« Das war überhaupt sein Lieblingswort. Und hier paßte es ganz besonders. Was konnte es ihn auch kümmern, daß der Kreuzhofherr ein paar Hundert Gulden Schaden erlitt, nachdem ihm soeben sein Alles, sein Haus und Stall und Scheune niedergebrannt und auch das Erbgut der alten Wendel, das das Glück ihm in den Schoß geworfen und mit dem er gehofft hatte, sich retten zu können, in den Flammen aufgegangen war?

Und wie der Kreuzhofherr gerade sich nähert und ihn gewissermaßen herausfordernd anschaut, als wollt' er fragen, wieso er dazu komme, Maulaffen feilzuhalten, derweil alle andern sich plagen, da muß den Hundegger der Teufel reiten, daß er ihn irgendwie ärgern möchte, und auf die sprichwörtliche Knauserei des Kreuzhofers anspielend, ruft er hinüber: »Es ist kein Unglück so groß, hat immer noch sein Gutes dabei. Sie können eh' froh sein, jetzt rentiert sich's wenigstens einmal, daß Sie so lange Brandschadenversicherung zahlen!«

Der Kreuzhofer schießt einen wütenden Blick herüber, wendet den Rücken und geht ein paar Schritte weg, bleibt stehen, kehrt sich wieder um und schreit, indem er die geballte Faust in der Luft schüttelt, mit einer scharfen, kurz abbrechenden Stimme: »Wart nur, dir tränk ich's schon ein, du Brandstifter! Wir reden noch ein Wörtel miteinander!«

Was war das? Der Hundegger ist emporgeschnellt und hat ein paar Schritte gegen den Kreuzhofherrn gemacht, als ob er sich an ihm vergreifen wollte. Aber die Müdigkeit wirft ihn fast um und die Abspannung von der Freude, vom Unglück, das macht stumpf, unempfindlich, läßt so einen Giftpfeil abprallen; und schließlich – er lacht verächtlich auf, laut auf lacht er – es war ja nur der Kreuzhofherr, der diese Verleumdung gegen ihn geschleudert hat, der »Herr Baron«, von dem der Letzte im Dorf die Geschichte zu erzählen weiß, wie er zu Reichtum und Adel gekommen ist! »So ein abgefeimter Blutsauger,« ruft er laut hinter ihm drein, um sich das Herz zu erleichtern, »kann ein solches Rindvieh, wie ich eins bin, überhaupt nicht beleidigen!«

Und plump setzt er sich wieder nieder und schaut ihm nur ingrimmig nach, dem Kreuzhofherrn, wie er so dahingeht. Jetzt sieht er, wie jener stehen bleibt, um mit dem Huber zu sprechen, dem Zugsführer vom Gendamerieposten, der eben die Brunnwieser Straße herabkommt, in voller Feldausrüstung, mit Federhut, Gewehr und Säbel, den Mantel zusammengerollt quer über der Brust. Was mag mit dem der Kreuzhofherr so Wichtiges zu besprechen haben, daß er förmlich außer Atem kommt und mit den Armen in die Luft stößt, als wollt' er sie durchlöchern? Nun, der Huber wird es nachher schon erzählen und ihm hinterbringen, was es gab. Wie wird der sich wundern über den jähen Wechsel des Glücks! Kaum ein paar Stunden, daß sie im »Husaren« zusammensaßen und eine Art Fest miteinander feierten, indem sie die Erbschaft der alten Wendel selig mit einer Maß Grinzinger begossen und sich eine gute Stunde machten.

Und da nähert er sich schon, der Gendarm, langsam, schweren gemessenen Schrittes, mit einer fast feierlichen Miene. »Komm mit, Hundegger,« sagt er leise, »du bist verhaftet.«

Verständnislos schaut der Hundegger ihn an, den Huber: »Geh, hör auf mit deine dummen G'spaß!«

Nein, es war voller Ernst. Aber freilich dauerte es eine Weile, bis Hundegger sich davon überzeugen ließ, begriffstutzig wie er war. Und als er schließlich daran glauben mußte, tat er das Albernste, was er in seiner Lage tun konnte, begann zu fluchen und zu toben und tätlichen Widerstand zu leisten. Alles Beschwichtigen des Landjägers, daß sich das Mißverständnis gewiß bald aufklären würde, und was er sonst in guter Absicht vorbrachte, half nichts; wie verrückt, wie rasend gebärdete sich der ungebildete Mann. Ein paar Kreuzhofknechte, die der Schloßherr der bedrohten öffentlichen Gewalt zu Hilfe gesendet hatte, mußten ihn festhalten, damit ihm Handschellen angelegt werden konnten. Und auch dann noch sperrte und stemmte er sich in fruchtlosem Grimm gegen die Übermacht und wollte sich durchaus nicht abführen lassen. Und die Leßnig, die an seiner Seite heulte und jammerte, bestärkte ihn noch in diesem törichten Verhalten.

Aber da trat Thekla an ihn heran, berührte seinen Arm und bot ihm ihre Lippen zum Kuß. Und dabei schaute sie mit tränenlosen, rätselhaften Augen zu ihm auf. Er küßte sie und wendete sich ab. Und dann ging er.

Der erste Strahl der Sonne glitt über die schwelenden Trümmer des niedergebrannten Hauses, als Hundegger an der Seite des Gendarmen die Brandstätte verließ und seinen schweren Gang über die Brunnwieser Bergstraße antrat, auf der er wenige Stunden vorher, beim Flimmern der Sterne, von seinem Glück geträumt.

* * *

Gut, so ist es nun einmal; was läßt sich dagegen machen?

Ein geschulter Geist, der sich aufs Nachgrübeln verlegen wollte, wäre vielleicht wahnsinnig darüber geworden. Aber wer das Denken nicht gelernt hat …

An dem spärlichen Graswuchs, der im Hofe der Männerstrafanstalt Mettenau zwischen den Pflastersteinen gedieh, ließ sich erkennen, daß es wieder Frühling werden wollte. Auch ein paar Gänseblümchen schickten sich an, ihre bescheidenen Knospen zu entfalten, und der Militärposten, der vor der Torfahrt stand, zog seit einigen Tagen ohne Mantel auf, wenigstens um die Mittagsstunde, wenn die Sträflinge ihren Spaziergang machten, einer hinter dem andern, eine ganze Reihe grauer Zwilchkittel, immer im Kreise herum, wie blinde Pferde, die ein Schöpfrad treiben.

Daß es einen Gott gibt, glaubte der Hundegger felsenfest; schon im Katechismus hatte er's gelernt. Auch war Denken und Grübeln seine Sache nicht. Aber ein paarmal während der letzten Monate war ihm doch ganz leise und von fern der Gedanke gekommen: »Wie, wenn es erlogen wäre?« Ganz leise und von fern. Er scheuchte ihn zurück, ließ ihn nicht näher kommen. Felsenfest glaubte er an seinen Herrgott. Aber in den Tod mußte dieser auf ihn vergessen haben! Es gab so unendlich viele Menschen – nun, und auf einen hatte er halt vergessen, nur leider, daß unglücklicherweise gerade er, der Hundegger, es war, den er vergessen hatte? Aber wie sollte unser Herrgott auch seine Gedanken überall zu gleicher Zeit haben können?

Eines schönen Tages aber, wenn der Herrgott zufällig vom Himmel herunterschaut, da wird er ihn plötzlich bemerken und wird fragen: Wie kommt denn der Hundegger nach Mettenau? Sonnenklar wird dann die Wahrheit an den Tag kommen, und die ganze Gerichtsverhandlung, das Urteil, die Strafe, die Schande, alles wird null und nichtig sein. Des Kaisers Majestät selbst wird ihm einen eigenhändigen Brief schreiben, er möge entschuldigen, der Richter, der im allerhöchsten Namen Recht gesprochen, habe diesmal geirrt …

Irren ist menschlich, aber bei den Doktors vom Gericht, die alles haben auswendig lernen müssen, sollte es freilich nicht vorkommen, nach Hundeggers Meinung, daß sie Recht für Unrecht ansehen. Zumal sein Verteidiger den ganzen Sachverhalt so einfach aufgeklärt hatte, daß auch ein Blinder die Wahrheit hätte sehen können.

Tief in die Nacht hinein hatte die Verhandlung gedauert. Hundegger wußte nicht mehr, wovon gesprochen wurde, es war ihm wirr im Kopfe. Immer hätte er sollen ein »Alibi« nachweisen, in der Zeit, die zwischen dem »Husaren« zu Brunnwies und dem Ausbruch des Brandes verstrichen war. Daß er am Wegrain geschlafen in jener Nacht, das wollte niemand ihm glauben. Der Kreuzhofherr sagte aus, daß er ihn fuchswach gesehen habe mit eigenen Augen, in bösartiger Stimmung, wie er höhnisch aufgelacht hinter seinem Wagen. Auch der Maderleitner sagte gegen ihn aus und mehrere Nachbarn. Hauptsächlich aus Böswilligkeit habe er die Brandlegung verübt, um den Kreuzhofherrn zu schädigen. Selbst sollte er nicht viel Vorteil für sich dabei haben sehen können, aber auch keinen Nachteil. Die Versicherung sei mindestens so viel wert wie das alte Gerümpel. Daß das Erbschaftsgeld mit verbrannt sei, mochte glauben, wer wollte.

Der Staatsanwalt bemächtigte sich all des freundnachbarlichen Geredes mit großer Geschicklichkeit und schmiedete ein scharf geschliffenes Schwert daraus. Durch merkwürdige Umstände waren dies Prozeßkosten wegen des Servitutsstreites grundbücherlich, während die Versicherungsprämie persönlich ausgezahlt wurde. Der Brand verminderte sonach den Ertrag der gerichtlichen Feilbietung, die wegen der noch ausstehenden Prozeßkosten stattfinden sollte, wohingegen die Brandschadensumme zu deren Deckung nicht herangezogen werden konnte. Dieser Umstand fiel allerdings sehr schwer gegen den Hundegger in die Wagschale.

Er selbst war viel zu schwer von Begriffen, um eine solche Verkettung zu begreifen. In seinem Denken herrschte nach all den Kreuz- und Querfragen das vollkommenste Durcheinander. Er verstand nichts mehr von den vielen Reden und Gegenreden, er verstand nicht die Winke seines Verteidigers, er leugnete nur immer. Alles, alles leugnete er. Es hatte ihm einmal jemand gesagt, einer, der hartnäckig leugne, könne nicht verurteilt werden. So leugnete er denn und wußte selbst kaum mehr was. Er verstrickte sich vollständig, indem er sogar ganz belanglose und dabei leicht nachweisbare Umstände ableugnete. Und dann hörte er etwas von einer Belehrung an die Geschworenen, er hörte durcheinander redende Stimmen der Zuhörer, er hörte etwas von einem Stimmenverhältnis, von solchen, die »ja«, und solchen, die »nein« gesagt haben sollten, und schließlich hörte er, wie unter allgemeiner Stille der Vorsitzende Richter den Urteilsspruch verkündete.

War er verurteilt, war er freigesprochen worden? Er setzte sich nieder und wünschte nichts sehnlicher, als immer so sitzen bleiben zu dürfen, von niemandem mehr um etwas gefragt, von niemandem gesehen, von niemandem behelligt.

»Zehn Jahr! Zehn Jahr!« hörte er die Leßnig jammern. Als ob das Heulen etwas nützte! »Zehn Jahr! Was soll nun aus uns werden, aus mir und aus den Kindern?«

Aus den Kindern! Und wie er jetzt an seine Kinder dachte, da wurde es ihm auf einmal so recht deutlich: Zehn Jahre schweren Kerker!

Er brach zusammen und wußte nichts mehr von sich. Erst ein quälender Schmerz, der anfangs keinen bestimmten Inhalt hatte und nirgends und überall war, brachte ihn allmählich zum Bewußtsein. Und da gewann die Qual festere Umrisse, wurde ein Gedanke, eine Gewissensfrage: »Hab' ich es am Ende wirklich getan?« Allgemach fing er an, halb und halb daran zu glauben. Ein wenig zu viel getrunken hatte er zweifellos an jenem Abend, vielleicht hatte er wirklich, ohne sich nachträglich darauf besinnen zu können, den Brand in seine Scheune geworfen? Der Moshammer und mehrere andere Nachbarn, die er anfangs in Verdacht gehabt, daß sie ihm aus Neid den roten Hahn aufs Dach gesetzt hätten, die besaßen alle jenes »Alibi« oder wie man's nennt, das ihm fehlte. Und dann die Aussage der frommen Liesl, sie habe ihn kurz vor Ausbruch des Brandes um sein Anwesen schleichen sehen, als sie in aller Gottesfrüh den Kreuzweg entlang ging, um eine Wallfahrt nach Maria-Taferl anzutreten … Oder hatte er dies nur geträumt in bangen Nächten? Und sollte die alte Liesl, die doch mit ihm verwandt war durch die alte Wendel selig, sollte sie wirklich gegen ihn ausgesagt haben? Es dämmerte ihm von weitem so in seiner Erinnerung, als habe er ihre kreischende Stimme im Gerichtssaal gehört und ihre knochige Hand gesehen, wie sie anklagend auf ihn wies.

Das »Motiv«, wie der Herr Staatsanwalt es nannte, stimmte leider auch; denn leugnen konnte er's nicht, daß ihm das Geld für den Brandschaden lieber gewesen wäre als die alte Keusche in der Kreuzhofmulde, die er ohnedies umzubauen die Absicht hatte mit der Erbschaft der alten Wendel. Aber gerade dieses Erbschaftsgeld, nun – das hätte doch eigentlich seine Unschuld erweisen müssen! Sollte man wenigstens glauben – denn das wird er doch nicht eigenhändig angezündet und vernichtet haben! Ja, so meinte freilich sein Verteidiger auch. Allein der Herr Staatsanwalt, der war anderer Ansicht und behauptete, daß er dieses Geld vorher in Sicherheit gebracht hätte, sei doch klar. Also versteckt, irgendwo vergraben hatte er es. Wirklich? Wenn nur der Herr Staatsanwalt die Freundlichkeit gehabt hätte, ihm zu sagen, wo?

Die Mühe nahm sich aber der Herr Staatsanwalt nicht, sondern erklärte kurz und trocken, die Kette der Beweise sei geschlossen. Und wenn nun ein so vornehm aussehender Herr wie der Herr Staatsanwalt, der eine goldene Brille und sogar einen goldenen Kragen trug, so lückenlos genau den Nachweis erbrachte, wie sich alles zugetragen hätte, da sollte er, der Hundegger, der es seinerzeit bei den Soldaten nicht einmal bis zum Oberkanonier gebracht, es besser wissen dürfen?

In der Nacht, auf seinem Sträflingsstrohsack, träumte er oft und oft, daß er aufstand, daß er auf den Zehenspitzen hinausschlich und Feuer in seine Scheune oder in sein Haus warf. Und wenn es lichterloh brannte, dann wachte er stöhnend auf und starrte in die Finsternis des Schlafsaales. Aber vor seinen Augen schwirrten rote Flecken umher und feurige Zungen, und es fielen ihm die Worte ein, die der öffentliche Ankläger in den dicht gefüllten Gerichtssaal hinausgerufen hatte mit dröhnender Stimme: In Flammenschrift habe der Angeklagte selbst sein »Schuldig« auf den nächtlichen Himmel geschrieben. Dieses furchtbare Wort hatte ein unbestimmtes Gefühl des Bangens in Hundeggers Gemüt zurückgelassen. Es war wie ein körperlicher Herzdruck, wenn er daran dachte. In Flammenschrift – das war wie ein Wort aus der Bibel, ein Wort, das an den jüngsten Tag erinnerte, das wie Vergeltung klang, wie Posaunen des Gerichts. Er wollte beten, aber da sah er den Cherub mit dem feurigen Schwert aus der Brunnwieser Kirche vor sich stehen, der ihn von Gottes Antlitz hinwegzuweisen schien. Er schloß die Augen, aber da tanzten wieder die feuerroten Zungen vor ihm auf und nieder und fügten sich zu unleserlichen drohenden Zeichen zusammen auf dem Hintergrunde des nachtschwarzen Himmels: Flammenschrift! Flammenschrift!

Erst wenn das Frühlicht hinter den Fenstergittern des Schlafsaales auszudämmern begann, verließen ihn die Wahnvorstellungen. Bei Tag gab es ganz gewiß einen Gott, wenigstens in der Strafanstalt Mettenau. Es wurde sogar täglich die Messe gelesen und die Sträflinge sangen die Kirchenlieder, die ihnen in der Schulstube eingelernt worden waren. Denn Schule wurde auch täglich gehalten. Das war dem Hundegger ein wenig lästig. Mit Lesen und Schreiben hatte er schon als kleiner Junge sein Kreuz gehabt. Nun sollte er nochmals anfangen, als Fünfzigjähriger. Und dazu Erdbeschreibung und Rechnen und Noten, die rings von den Wandtafeln herniederglotzten mit ihren dicken, schwarzen Köpfen und aussahen wie die Kaulquappen im schlammigen Tümpel am Teufelslueg.

In der Tischlerei, wo er zugleich mit sechs Genossen arbeitete, verging ihm die Zeit am schnellsten. Wenn er noch eine Pfeife Tabak dazu hätte rauchen dürfen, so wäre er ganz zufrieden gewesen. Manchmal ging es geradezu fidel zu in der Werkstatt. Besonders war einer darunter, den sie den Gwinner-Pepi nannten, der steckte immer voll Ausgelassenheit.

»Bist gewiß bald herum, weil du so lustig bist?« fragte Hundegger einmal.

»Zehn oder zwölf Jahrln hab' i' schon auf'm Buckel,« erwiderte der Gwinner. »Wie lang's noch dauern wird, weiß man halt nit.«

Das war auch eine Antwort. Hundegger wagte nicht weiter zu fragen. Aber in der Stille wunderte er sich, daß so die »Schweren« aussahen. Bisher hatte er nicht die geringste Abneigung gegen den Gwinner-Pepi empfunden; im Gegenteil, einer der Liebsten war er ihm geworden unter allen »Kameraden«.

»Bist halt auch schon so einer …,« dachte er schaudernd.

Merkwürdig, wie schnell die Zeit vergeht! Einen Fasttag gab es und hartes Lager in der Nacht. Für den Jahrestag des Brandes in der Kreuzhofmulde hatten sie ihm diese kleine Abwechslung zudiktiert, zur heilsamen Nachdenklichkeit. Bei solcher Gelegenheit merkte man erst, wie gut es einem sonst erging in Mettenau. Wie einen der Hunger wild machen kann – wer satt ist, ahnt es nicht!

In der Nacht vermochte er kein Auge zu schließen. Das Gedächtnis hatte ihn ganz durcheinander gerüttelt. Rote Flammen züngelten ununterbrochen vor seinen Augen. Und doch tat die Einsamkeit ihm wohl. Sein sehnlichster Wunsch war seit lange, in die Einzelhaft zu kommen, dort wurden zwei Tage für drei gerechnet. Und dann brauchte man nichts zu reden und die Scherze der Stubengenossen nicht mit anzuhören. Ruhe wollte er haben, nichts hören und nichts sehen.

Um die Weihnachtszeit herum sollte er zur Anerkennung für seine anständige Aufführung »Stubenvater« werden. Das war eine Art Aufseherstelle im Schlafsaal, zu der man solche auszuersehen pflegte, die sich abseits von den übrigen hielten. Aber er suchte bei der Vorstehung an, daß man ihm dieses Amt erlassen und dafür Einzelhaft gewähren möge. Diese Ablehnung der zugedachten Ehre wurde übel vermerkt und er blieb zur Strafe bis auf weiteres in seinem bisherigen Verhältnis. Erst um Ostern erhielt er ganz unerwartet die Erlaubnis, ins Zellengefängnis zu übersiedeln, das einen abgeschlossenen Flügel des ausgedehnten Strafhauses bildete. Nachdem er die enge Einzelzelle betreten hatte, die ihm fürder zum Aufenthalt dienen sollte, geriet er in eine gewisse Verlegenheit. Es beschämte ihn, daß er wirklich seine eigene Stube besitzen sollte wie ein großer Herr. Das an der Wand aufklappbare eiserne Bett mit der wollenen Decke, das Kopfbrett mit der blanken Eßschüssel und den beiden Brotlaiben, die Vorrichtung am hochangebrachten Fenster, durch welche dieses nach Belieben geöffnet und wieder geschlossen werden konnte, der nette, strohgeflochtene Stuhl endlich und der grüngestrichene Werkstisch, der ihm ganz allein gehören sollte – das alles kam ihm wie unverdienter Wohlstand vor. Zum erstenmal in seinem Leben empfand er die weiche, warme, unbestimmt streichelnde Hand, die wir anderen »Behaglichkeit« nennen.

Als der Gefangenaufseher die schwere eisenbeschlagene Tür hinter ihm abgeschlossen hatte, setzte er sich auf den Strohsack seines Bettes und über die gefurchten Wangen herab liefen ihm heiße, unaufhaltsame Tränen. Es wäre schwer zu beschreiben, welch ein Kunterbunt von Gefühlen in dieser stumpfen, fast tierisch geduldigen Seele sich drängte. – –

* * *

Daß Sterbende sich anmelden können, ist eine alte Geschichte; und hätte Hundegger nicht daran geglaubt, so wäre er im dritten Jahr seiner Strafhaft davon überzeugt worden.

Der Gedächtnistag des unglückseligen Brandes war abermals ein Fasttag und die darauffolgende Nacht hatte er in der Strafzelle auf hartem Lager zuzubringen. Bewirkte es nun die lebhaftere Erinnerung oder peitschte der Hunger seine Sinne auf – genug, es stellten sich in dieser Nacht wieder heftige Lichterscheinungen ein, und zwar lästiger als je. Die ganze enge Zelle schien in Glut zu stehen, feurige Wirbel drehten sich vor seinen Augen und zuckende Flammen züngelten gegen ihn heran. Rings um ihn her loderten Feuerzungen, und mit großen, rätselhaften feurigen Buchstaben stand an den schwarzen Wänden seine unauslöschliche Schuld geschrieben. Der Länge nach warf er sich auf das hölzerne Schlafgestell, fest entschlossen, den Schlummer zu erzwingen – aber schon im nächsten Augenblick sprang er schaudernd wieder empor und suchte mit angestrengtem Blick die Dunkelheit zu durchdringen: denn er hatte die deutliche Empfindung, daß er nicht allein sei, daß sich irgend Jemand in der Zelle befinden müsse. Es war kein Geräusch, das ihm diese Vorstellung aufdrängte, er hätte selbst nicht zu sagen gewußt, was ihn eigentlich auf den Gedanken brachte. Aber er wagte kaum zu atmen und saß regungslos, wie gebannt, während Hitze und Frost abwechselnd seinen Leib durchfluteten. Mit äußerster Anstrengung richtete er sich endlich auf und trat einen Schritt in die Dunkelheit hinein – und da war ihm, als hätte er die fromme Liesl gesehen, mit dem Rosenkranz in der Hand, genau so, wie er damals im Baumgarten, vor der brennenden Hundegger-Keusche auf sie gestoßen war. Noch gellte ihr Lachen ihm in den Ohren und die Worte, die sie ihm zugerufen hatte: »Kommst schon wieder zu spät in die Kirchen?«

Eine blasse Gestalt schien an ihm vorüberzugleiten, gleich einem Nebel, der aus der Tiefe aufsteigt. Unsägliches Grauen befiel ihn. Zitternd tastete er die Zellenwände entlang, um sich zu überzeugen, daß er allein sei. Aber alles Aufgebot an Besonnenheit vermochte die Gebilde seiner Einbildung nicht zu bannen, die ihn bedrängten. Erst als hinter der vergitterten Fensterluke das fahle Frühlicht dämmerte, sank er erschöpft in todähnlichen Schlaf.

Einige Tage später erfuhr er, daß die fromme Liesl in derselben Nacht gestorben war, in der dieser Schreck ihn heimsuchte.

Es war an einem Sonntag, eben hatte er sein Mittagsbrot eingenommen und seine Eßschale gereinigt – da rasselte der Schlüsselbund des Aufsehers, und es kam Besuch, die Leßnig! So gab es noch jemanden, der an ihn dachte, draußen unter den Menschen! Schreiben konnte die Leßnig nicht und die Fahrt war weit. Die Thekla freilich hätte sich einmal hinsetzen können – aber das war schon eine gewaltige Sache, so einen Brief schreiben. So hatte er von den Seinigen wohl an die zwei Jahre nichts gehört und sich auch abgewöhnt, an sie zu denken. Über die Flaschenhülsen aus Stroh, die er jetzt Tag für Tag anfertigte, schweiften seine Gedanken selten hinaus. Und nun stand auf einmal wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt die Leßnig vor ihm, die Mutter seiner Kinder! Ein richtiges altes Weib war sie geworden. Beinahe hätte er sie nicht erkannt.

Unbeholfen gaben sie einander die harten Hände und sagten nicht einmal »Guten Tag«, so stumm waren sie. Die Leßnig sah sich befangen um in der ungewohnten Umgebung. Endlich brachte sie ein paar Worte hervor. »Wie schaust denn aus?« sagte sie verlegen lächelnd. Das sollte eine liebevolle Bemerkung sein. Es kam aber fast so heraus, als ob sie sich über seine äußere Erscheinung lustig machen wollte. Unwillkürlich strich er sich mit der Hand ums Kinn und über den Kopf. Sein Haar war kurz verschnitten, der Vollbart fortgeschabt, graue Stoppeln bedeckten die bleichen, schwammigen Wangen. Der alte Ärger, schon halb vergessen, stieg wieder in ihm auf, daß sie ihn wie einen Possenreißer zugerichtet hatten oder wie einen – Verbrecher. Aber was konnte er dagegen tun? Die anderen waren eben die Stärkeren.

Mürrisch schob er ihr seinen strohgeflochtenen Stuhl hin, während er für sich das Bett von der Wand herunterklappte. Nun saßen sie beide. Aber geredet wurde noch immer nichts. Alle zwei waren sie schwer von Wort.

»Kann dir leider nichts z'essen aufwarten,« sagte er endlich mit einem hilflosen Blick nach dem Stellbrett hinauf, wo seine leere blechene Eßschale stand und ein halber Laib Kommißbrot. Sie machte eine abwehrende Bewegung. Und nur um etwas zu erwidern, sagte sie:

»Schaust ein bissel käsig aus; fehlt dir was?«

Nein, nein, es fehlte ihm nichts. Ein wenig Husten dann und wann … Aber die Kost! Nur zweimal in der Woche Fleisch, am Sonntag und Donnerstag!

Und nun wurde er gesprächig. Die Kost! Wie viel hätte es darüber zu sagen gegeben! Immer Ritschet und Knödel und gar keine Abwechslung, und nur zweimal die Woche Fleisch, am Sonntag und Donnerstag …

Die Leßnig hatte zwei Knöpfe ihrer Jacke aufgenestelt und fuhr mit der Hand hinein, indem sie ängstlich nach der angelehnten Zellentür blickte, vor welcher der Aufseher auf und niederging. Ein kleines Paket brachte sie hervor, in Zeitungspapier gewickelt.

»Ein Stückel G'selchtes, wennst magst …«

Er begriff sofort, ließ das Geschenk unter seiner Bettdecke verschwinden und schaute sie dankbar an, wie einem ein Hund in die Augen schaut, dem man etwas Gutes erwiesen hat. Das war doch schön von ihr, daß sie an ihn gedacht hatte! Und nun brach plötzlich die Frage hervor, die ihm schon fast das Herz abgedrückt hatte: »Was machen denn die Kinder?«

Na, die –! Schön grüßen lassen sie. Der Franzl sei halt immer ein bissel krank. Und die Thekla – na, der geht es schon besser, seit sie in der Stadt sei …

In der Stadt? Was sie denn dort mache?

»Nähen halt so in die Geschäfte …« sagte die Leßnig verlegen.

»Was in die Geschäfte?«

»Ja, eine Zeitlang hat sie einen guten Posten gehabt, als Probiermamsell … Die ist fein geworden, groß gewachsen, kaum zum Wiedererkennen. Und so – was die Doletten sind, pick! Bringt sich fein durch und hat auch für uns manchmal was übrig.«

»Und da ist sie also allweil in Wien drin?« fragte Hundegger, so als ob er noch immer nicht daran glauben könnte.

»So in verschiedene Anstellungen halt.«

Da fuhr er aber auf. Das junge Ding? So ein Blödsinn! Daß sie ins Lottern kommt! Was ihr da eingefallen sei? Er sei noch immer der Herr im Haus und sonst niemand! Zu so was müsse man vorher den »Vattern« fragen. Ob sie das nicht wisse?

»Hast sie leicht loshaben wollen?« schrie er im Zorn. »Willst selber auf die Gaudé gehn?«

Sie antwortete ihm gar nicht. Nur ein tränenloses Schluchzen und Wimmern begleitete seinen Wutausbruch. Erst nachdem er ausgetobt hatte und schweigend die paar Schritte zwischen Tisch und Fensterwand hin und her lief wie ein Wolf im Käfig, da fand sie wieder Worte.

»Wenn du wüßtest, wie es uns geht!« sagte sie leise. »Grad daß wir nit verhungern, der Franzl und ich!«

Das Grundstück war zwangsweise feilgeboten worden, von dem Erlös mußten die Prozeßkosten für den Servitutsstreit gedeckt werden, und das Geld von der Brandversicherung ging fast ganz auf wegen Schuppen und Milchkammer, die dem Kreuzhofherrn verbrannt waren. Denn ein Brandstifter müsse für den ganzen Schaden aufkommen, den das Feuer anrichtete, so habe das Gericht entschieden, als die Versicherungsgesellschaft auf Schadenersatz klagte. Und überdies habe der Kreuzhofherr noch einen ausgiebigen Entgang nachgewiesen wegen Störung und Unterbrechung seines Milchgeschäftes.

Ein endloses Lied des Jammers, das die Leßnig ihm da vorzusingen wußte: »Recht angenommen hat sich auch kein Mensch um uns … Nichts ist übrig geblieben – alles draufgegangen. Das einzige Angebot war vom Kreuzhofherrn am Termin, bei der Feilbietung … Alle anderen waren still. Niemand hat sich getraut, Nachbar des Kreuzhofers zu werden … So sind wir ins Elend gekommen! … Die Thekla ist fortgegangen, der Großvater, wie er noch gelebt hat, hat's auch nicht erlauben wollen. Der ist nämlich am Herzschlag gestorben, vorigen Herbst … Aber die Thekla hat nicht viel gefragt. Auf und davon ist sie, und wer kann ihr's verdenken? Weißt du, was wir tun, ich und der Franzl, auf dem Kreuzhof? Hungerleiden tun wir.«

»Hast dich denn nicht um einen andern Dienst umgeschaut?«

»Nimmt uns ja niemand. Überall heißt es: das ist dem Hundegger seine.«

Er lachte auf. »Ha freilich, so eine! … Aber die Kost muß er euch doch geben, so lang ihr im Dienst bei ihm seid!«

»Mir schon, aus der Gesindeschüssel halt. Aber dem Franzl gunnt er nichts, weil er auch nicht arbeitet, sagt er. Da muß ich halt immer schaun, wie ich für ihn etwas auf die Seite bringe. Vom Verdienst langt's nicht, wie hart ich mich rackere früh und spät. Denn allweil zwackt er noch am Taglohn und sagt, wir müßten dankbar sein, daß er die Familie eines Verbrechers auf dem Kreuzhof dulde. Ja siehst, so geht es uns!«

Hundegger sagte nichts, aber es ging etwas über sein Gesicht, daß sie unwillkürlich innehalten mußte. Hin und her sann er, wie er der Leßnig aushelfen sollte. Wie ein Zugochse hätte er für sie arbeiten wollen und durfte nicht und konnte nicht! Es war ihm zumute wie einem, der mit gefesselten Händen zusehen muß, wie die Seinigen untersinken, ertrinken. Die paar Kreuzer, die ihm täglich von seinem Verdienst zurückgelegt wurden, durften erst nach Ablauf der Strafzeit behoben werden. Es blieb nichts übrig, als daß sie doch so bald als möglich vom Kreuzhof fortzukommen trachtete.

Die Leßnig war nicht recht zufrieden mit diesem Ratschlag. Enttäuscht war sie und fing abermals zu lamentieren an. Unbestimmte Vorwürfe mengten sich in ihre Worte. Er könne gewiß etwas für sie tun, wenn er nur wolle, sagte sie. Und da er sie verständnislos anschaute, erklärte sie sich näher. Er brauche doch nur zu sagen, wo er das Geld versteckt habe?

»Welches Geld?« fragte er ganz betroffen.

»Na ja,« sagte sie, »wenn du's schon getan hast! Die Erbschaft halt von der alten Wendel!«

Mit gefalteten Händen drang sie in ihn. Ihre Not sei unbeschreiblich. Der Franzl müsse sicher krank werden durch die feuchte Wohnung und ungenügende Nahrung.

»Geh, Hundegger«, bat sie flehentlich, »hab Erbarmen mit uns, gib uns nur ein bissel was von dem Geld, nur eine Kleinigkeit! Das andere heben wir dir schon auf, bis du herauskommst!«

Es zerfleischte ihm schier das Herz, daß er sie und den Franzl so im Elend lassen sollte … »Mußt nicht bös sein,« sagte er kleinlaut; »mußt auch nicht erschrecken über das, was ich dir jetzt sage. Aber siehst du – darein müssen wir uns jetzt fügen … daran läßt sich nichts mehr ändern: leider Gott's hab' ich's halt wirklich nicht getan!«

Die Leßnig stand eigentlich im Begriff, ein großes Geschrei zu erheben und ihn einen Schuft zu heißen, weil er Weib und Kind hungern lasse, um das Geld für sich allein zu behalten, sobald er wieder in Freiheit gesetzt wäre. Aber der verlegene, aufrichtige Ton, in dem er gesprochen hatte, und wie er sich förmlich entschuldigte, daß er unschuldig war – das verschlug ihr die Rede. In diesem Augenblick belog er sie nicht, das fühlte sie. Unschuldigerweise hatten sie ihn also eingesperrt, ihren Mann? Das kam ihr rein unfaßbar vor. Und das Geld war wirklich und wahrhaftig beim Teufel, das arme Geld? Verbrannt in dem vermaledeiten Feuer? Es war ihr so leid um das schöne, schöne Geld, daß sie eine Zeitlang an nichts anderes denken konnte. Was hätte man alles darum haben können!

Eine ganze Weile dauerte es, bis sie vom Gelde wieder auf ihn kam. »Du, Hundegger,« sagte sie plötzlich im Tone der Überzeugung, während eine fliegende Röte ihr hageres Gesicht überzog, »die fromme Liesl muß es getan haben!«

Er stutzte, als er etwas von der frommen Liesl hörte … vor ein paar Tagen sei sie gestorben, erzählte die Leßnig, in der Jahresnacht des Brandes.

»So, so, und weiter?«

Ja, von verrückten Ängsten sei sie kurz vor ihrem Tode gepackt worden. Da habe sie nach dem Pfarrer geschickt, um ihm zu beichten. Der befand sich aber auswärts auf einem Versehgang und ließ auf sich warten. In ihrer Todesangst verlangte sie nach der Leßnig, und als diese, weil sie sich mit der Sterbenden allein zu sein fürchtete, mit zwei andern Mägden hinkam, da redete sie irre und faselte fortwährend von einem großen Feuer, das sie angezündet hätte, zu aller Heiligen Ehre und damit ein ewiges Licht brenne für ihre arme Seele. Aber auf dieses Gerede der frommen Liesl habe niemand sonderlich geachtet. Die Leßnig selbst habe es für die Irrede einer Sterbenden gehalten.

Mit vorgestrecktem Kopf auf seinem Strohsack sitzend, sog Hundegger förmlich die Worte von den Lippen seines Weibes. Was die alte Liesl sonst noch gesprochen? Sie möge nachdenken und sich erinnern und ihm alles haarklein berichten, eiferte er sie an.

Und die Leßnig stöberte emsig in ihrem Gedächtnis. Böse Feinde hätten sie in die Hölle hineinbeten wollen, habe die Liesl noch gesagt, und darum hätte sie eine große Kerze angezündet für ihr Seelenheil. Das sei aber keine Sünde, für sein Seelenheil sorgen. Dem Kreuzhofherrn gehöre die Sünde, der hätte sie »aufgehußt« und ihr vorgeredet, daß der Hundegger ein Erbschleicher sei. Denn von rechtswegen hätte nicht er, sondern sie selbst, die fromme Liesl, die alte Wendel beerben müssen, als nächste Verwandte.

»Und dazwischen,« erzählte die Leßnig, »hat sie so viel durcheinandergeredet von Engeln und Teufeln; wir haben gar nicht aufgepaßt und ihr nur immer Brustumschläge gemacht … Mehr weiß ich auch nicht mehr. Vielleicht, daß sich die anderen etwas gemerkt haben, die haben einen jüngeren Kopf.«

Aber Hundegger wußte genug. Seine trägen Gedanken waren aufgerüttelt und arbeiteten lebhaft wie damals, als er zum letztenmal aus dem »Husaren« in Brunnwies nach Hause ging. Alle Fäden lagen jetzt offen vor ihm, der ganze Knäuel entwirrte sich. Er hatte einmal etwas von Wiederaufnahme des Verfahrens gehört. Wenn sich dergleichen ins Werk setzen ließe? Das Geständnis der Sterbenden mußte doch eine Art Beweis sein, oder wie sie's nennen, vielleicht war es sogar das »Alibi«, das sie immer von ihm verlangt hatten und das ihm damals fehlte.

Und schon erlebte er's in seiner aufgepeitschten Einbildung, daß er frei wurde und wieder mit seinen beiden Armen schaffen durfte und arbeiten auf seiner Hube in der Kreuzhofmulde. Denn nun mußte doch alles rückgängig gemacht werden, was inzwischen geschehen war, sein Gütl mußte er wiederbekommen, und daß sie es ihm zwangsweise veräußert hatten, das galt nicht. Schadlos halten mußten sie ihn überdies für die in Mettenau verbrachte Zeit, und die Staatspapiere der alten Wendel, die verbrannt waren, die ließ der Kaiser oder der, dem der Kaiser diese Dinge übertragen hat, neu drucken, so hatte er sie wieder, und alles war in schönster Ordnung. Das stand alles so klar und einfach. Der Kreuzhofherr soll sich wundern, wie klar und einfach! Im Handumdrehen sitzt ihm die Hundegger-Keusche wieder in der Kreuzmulde, und aus dem Viehtrieb über den Kreuzweg wird jetzt erst recht nichts!

Die Aufregung übermannte ihn. Er fuhr sich mit dem Rücken der Hand über die Augen, ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte den Mann, der in seinen Zwilchkleidern auf dem Sträflingsstrohsack saß. Die Stube ward ihm zu eng, die Wände bedrückten ihn, zum erstenmal, seit er sich in diesem öden Hause der Ausgestoßenen befand, erwachte in seiner Brust das Gefühl stürmischen Freiheitsdranges. Errang nach Atem, er erhob sich, das Fenster zu öffnen, das in Übermannshöhe in die Wand eingelassen war, so daß man hinter den Gitterstäben nur einige Rauchfänge sehen konnte und das zarte Blau des winterlichen Himmels. Ein erfrischender Luftstrom floß in das Gelaß hernieder. Draußen lag ein kalter, reiner Tag über den Dächern des Strafhauses. Der Klang einer Glocke zitterte leise durch die Luft. Die wurde täglich geläutet: Es war die Sterbeglocke des Delinquentenspitals. Dort starb wieder einer an der Krankheit, an der sie fast alle sterben …

Nein, so wollte er nicht ebenfalls zugrunde gehen? Frei mußte er werden und wieder sein eigener Herr, voll Zutrauen war er jetzt, ein neues Leben zu beginnen. Nur über die ersten Schritte war er sich nicht recht klar. Eine Eingabe an die Direktion der Strafanstalt? Ein Majestätsgesuch? Oder was sonst?

Da zeigte es sich, daß die Leßnig doch nicht so dumm war, wie er eigentlich glaubte, denn ihr fiel das Richtige ein. Die Thekla sollte in Wien zu Dr. Schweighofer gehen, seinem Verteidiger, und ihm die Sache vortragen. Der hatte damals so warm für ihn gesprochen, der würde schon ein Schmarrnschäuferl zur Hand haben, den angelegten Sterz neu aufzurühren, und gewiß alles daransetzen, die »Wiederaufnahme des Verfahrens«, oder wie man das Ding nannte, bei den Gerichtsherren durchzusetzen oder im Notfall sogar beim Kaiser selbst zu erwirken. Das Nächste war also, einen Brief an Thekla zu schreiben. Um ihre Adresse im Gedächtnis zu behalten, bat er den Aufseher um einen Bleistift und malte sie in unbeholfener Schrift auf den inneren Deckel seines Gesangbuches. »Thekla Leßnig, Rauhensteingasse, Nummer so und so viel … bei –? Bei – wem?«

»Sie hat jetzt gerade keine Stellung,« erklärte die Leßnig ausweichend und sichtlich befangen. »Schreib nur die Nummer, weiter ist nichts notwendig.«

Er blickte sie mißtrauisch von der Seite an. »Na, fang noch einmal an zu brummen!« rief sie mit ihrer keifenden Stimme. »Sei froh, daß die Thekla in Wien ist – und gerad' bei die Doktors und diese Leut' ist es gar nicht schlecht, wenn man eine junge und saubere Fürbitterin hat.«

* * *

Über die Umstände und Förmlichkeiten, die mit der Wiederaufnahme des Verfahrens verbunden waren, war der Frühling und der Sommer hinweggegangen. Im Herbst wurde Hundegger unter Bewachung von Mettenau nach Wien gebracht. Die Verhandlung vor dem Geschwornengericht nahm zwei volle Tage in Anspruch. Spät abends am zweiten Tage erfolgte die Freisprechung des Angeklagten. Am nächsten Morgen, am Rosenkranzsonntag, wurde er in Freiheit gesetzt.

Schier erstaunt war er, als er plötzlich auf der belebten Straße stand. Die Menschen liefen an ihm vorüber, Trambahnwagen und Kutschen aller Art fuhren hin und her, es war ein Getriebe und ein Getöse, daß dem an Einsamkeit Gewohnten schwindelte. Niemand kümmerte sich um ihn, niemand beachtete ihn auch nur. Das war ganz natürlich, eigentlich konnte er sich nicht darüber wundern. Und doch empfand er es wie eine leise Enttäuschung. Schließlich war er doch unschuldig eingesperrt gewesen, hatte geduldet, Jahre hindurch … Wenigstens die Thekla hätte ihn an der Pforte erwarten können bei seinem Austritt, die war doch in Wien.

Beklommenen Herzens stieg er in einen Omnibus, fuhr auf den Stephansplatz und begab sich von dort in die Rauhensteingasse, wo seine Tochter wohnen sollte. Es war ein altersgraues, düsteres Haus, das die bezeichnete Nummer trug, fünf Stock hoch, und während er die Treppe hinanzusteigen begann, überlegte er, daß er zuerst im obersten Stockwerk nach ihr suchen wollte. Das Steigen fiel ihm nicht leicht, da er jeder Bewegung entwöhnt war. Schon auf dem ersten Treppenabsatz hielt er keuchend inne und rang nach Atem. Während er noch so stand, gegen das Geländer gelehnt, öffnete sich eine Wohnungstür und eine feingekleidete Dame rauschte heraus, in Hut und Schleier. Eben wollte sie an ihm vorübergehen, um die Stiege hinunter zu steigen, als sie plötzlich stutzte, anhielt und ihn scharfer ins Auge faßte.

»Jesus – der Vater!« stieß sie leise hervor.

»Sie sind doch nicht …« Das waren die einzigen Worte, die er über die Lippen brachte. Halb entsetzt, halb ehrfürchtig starrte er sie an. Hinter dem Schleier erkannte er ihre Züge, die sich wenig verändert hatten, nur etwas heiterer und weniger eckig erschienen sie, die Wangen voller und frischer, wie Milch und Blut, fast jugendlicher als die des halbwüchsigen Mädchens gewesen waren, und die Augen auch noch dieselben, jedoch nicht mehr so scheu und rätselhaft, viel freier und froher, sieghaft und beherrschend, und strahlend von Jugendglanz und Feuer. Ihre ganze schlanke Erscheinung verriet nichts mehr von ihrer Vergangenheit, von den vorgeneigten spitzen Schultern und den langen hängenden Armen des wilden, hageren Bauernkindes. Da war alles Ebenmaß und Rundung, Haltung und sicher beherrschte Bewegung.

Lebhaft erzählte sie, wie sie sich eben nach dem Strafgericht habe begeben wollen, um ihn zu erwarten, sich jedoch verspätet hätte und jetzt beinahe an ihm vorbeigegangen wäre, ohne ihn zu erkennen.

»Und nun laß dich vor allem beglückwünschen,« rief sie, »daß du freigekommen bist! Wie habe ich mich gesorgt um die Entscheidung. Aber du wirst erschöpft sein und hungrig? Bitte, komm doch gleich herein und mach' dir's bequem!«

Er fühlte hinter der gewandten und sprudelnden Art, in der sie sprach, einen Untergrund von Gezwungenheit. Sein Mißtrauen steigerte sich gegen diese Weltdame, die sein Kind sein sollte.

»Laß nur,« sagte er trotzig; »dahinein gehe ich nicht.«

Sie stutzte, faßte sich aber rasch. »Also gehen wir anderswohin,« sagte sie. Sogleich schritt sie voraus, die Treppe hinunter. Fast schien es, als sei es ihr lieb, daß er nicht bei ihr eintreten wollte. »Irgend wohin – wohin du willst?«

»Ja, vielleicht sollte ich zum Doktor Schweighofer gehen?«

»Zu dem? Was willst du dort?«

»Ich muß mich halt bedanken,« meinte er. »Er hat mich doch herausgeredet.«

»Ach, dem bist du keinen Dank schuldig,« sagte sie trocken. »Der redet nur so schön, weißt du, man glaubt, es komme ihm vom Herzen, dabei denkt er an nichts als an sich selbst … Übrigens triffst du ihn jetzt nicht zu Hause.«

In Scheu und unbestimmter Angst vor seiner Tochter schwieg der vorzeitig gealterte, halb gebrochene Mann still, willenlos schritt er an ihrer Seite hin und hatte darauf acht, nicht an ihr Kleid zu streifen, unter dem knitternde Seide rauschte. Er verstand ihre Art nicht, ihr ganzes Wesen, und wünschte sich zurück in seine Einzelzelle …

Nebeneinander wandelten sie durch die belebten Straßen, ohne zu wissen wohin, und die Leute blieben stehen und blickten verwundert um nach dem seltsamen Paare, das so gar nicht zusammenzupassen schien. Aber mitten im Lärm und Getriebe, da geschah es plötzlich wie ein Wunder, daß er sich wie allein mit ihr fühlte und daß die Stimme der Natur in ihm wach wurde, und während er stumm neben ihr herging, ohne sie anzusehen, und nur ihre Nähe empfand, da schwand das Fremde, das zwischen ihnen stand, und sie war sein Kind … Und zum erstenmal seit Jahren krampfte sein stumpf gewordenes Herz sich wieder in heftigem Schmerz zusammen bei dem Gedanken, daß er sie verloren hatte – an wen? Er wußte es nicht; aber sein Gefühl sagte ihm, ohne daß er es in Worten hätte ausdrücken können: an das Leben, an die Welt, vielleicht – an die Sünde.

Worte machen war überhaupt seine Sache nicht, das bißchen Reden hatte er fast verlernt, aber in diesem Augenblick löste sich seine Zunge:

»Thekla,« sagte er, »gelt, du bleibst jetzt bei deinem alten Vater?«

»Aber gewiß,« versetzte sie; »heute den ganzen Tag, wenn du mich magst.«

So hatte er es nicht gemeint. Schwerfällig bemühte er sich um eine andere Wendung.

»Ein Hundegger-Gütl,« sagte er, »gibt es nicht mehr – vorderhand wenigstens, bis mir alles ersetzt wird. Da muß ich mir halt derweil einen Schlupfwinkel suchen, irgendwo in der Stadt.«

»Wir wollen gemeinsam suchen, es wird sich leicht etwas Passendes finden.«

Beklommen fuhr er fort: »Ja, ich bin heute meinem Kerker entronnen und wieder frei geworden und ehrlich. Und siehst du, wenn du wolltest, Thekla, könntest du dasselbe auch von dir sagen.«

»So meinst du es?« sagte sie kühl.

Sie waren aus den Stephansplatz gelangt und standen unwillkürlich still, während ihr Blick die ungeheure Steile des Turmes hinanklomm. Wie Korallenriffe bauten sich die steinernen Türmchen übereinander, in ganzen Büscheln und Drusen, aus denen wieder neue steinerne Wälder emporwuchsen, immer mehr sich verjüngend, bis zur kühn in das Blau des Himmels ragenden Spitze, deren Gold im Sonnenlicht funkelte.

»Wie oft,« sagte Thekla, »habe ich von der Höhe am Marterkreuz heruntergeschaut auf diesen glitzernden Punkt und mich in die Ferne gesehnt! … Nun weiß ich, wie es hier ist – erbärmlich schön! Zurück möchte ich doch nicht mehr. Was man sich selbst gestaltet, so oder so, hat immer einen gewissen Sinn, weil es nun schon einmal so gekommen und geworden ist, und darum auch einen Kern von Glück. Es ist doch wenigstens Leben! Verstehst du, wie ich es meine?«

»Ich weiß nicht recht« sagte er zweifelnd und bekümmert. »Ich bin alt und müde. Zu den Gescheitesten hab' ich wohl auch nie gehört – besonders was so die neuzeitlichen Sachen sind, in die hab' ich mich nie recht schicken können … Und so willst du also nicht mit mir kommen?«

»Mach' es uns nicht schwer, Vater!« sagte sie mit einem Anflug von Ungeduld. »Alles Gute und Liebe will ich dir tun, was in meinen Kräften steht. Aber einfangen laß' ich mich nicht, im Käfig geh' ich zugrunde, siehst du!«

Schweigend gingen sie weiter über den großen Platz und traten durch das offen stehende Seitentor in die Kirche. Dort rauschte die Orgel und wie mächtige Wogen rollten ihre langgezogenen Töne über die Weihrauchwolken hin, die vom Hauptaltar aufstiegen zwischen dem schwarzen Chorgestühl an den Seitenwänden. Die zahlreichen Kerzenflammen erblindeten fast im bläulichen Duft und die riesigen dunklen Bogenwölbungen der Decke dämmerten in unbestimmter Höhe wie ein sternenloser Nachthimmel. Und jetzt setzte vom Orgelchor hernieder volltönender Kirchengesang ein, und eine helle Frauenstimme schwang sich wie auf Cherubsflügeln zur Höhe, leidenschaftlich triumphierend. Aber in den Gemütern des Vaters und der Tochter, die unter der Menge der Gläubigen standen, weckte der Jubel nur stille, seufzende Gedanken.

Als sie wieder ins Freie getreten waren, blieb Hundegger stehen und ergriff plötzlich die Hand seiner Tochter. »So, jetzt behüt' dich Gott, Thekla,« sagte er, »und geh deiner Wege.«

Sie erschrak beinahe. »Wie meinst du, Vater? …«

»Daß wir voneinander scheiden müssen. Ich seh' schon, wir gehören nicht mehr zusammen.«

»Bist du sehr böse auf mich, Vater?«

»Nein,« sagte er müde. »Aber siehst du, dein Anblick tut mir weh, so schön und fein du bist. Ich bin halt so ein alter … Aber es ist mir auch zu vieles schief gegangen in meinem Leben; ich kann doch nicht mehr deine Jugend mit meinem Schicksal zusammenkoppeln – dazu fehlt mir schon der Mut und die Stärke. So schau halt, wie du's treibst. Der Herrgott soll dich behüten. Er wird uns alle richten, hoffen wir, milde.«

»Aber wenn du etwas brauchst, Vater, so schreibst du; das versprichst du mir, nicht wahr?«

»Geh nur, geh!« sagte er, mit der Hand winkend.

Sie erfaßte seine Hand und küßte sie. Dann riß sie sich los und eilte von dannen. Auf der andern Straßenseite wendete sie sich noch einmal um und grüßte zurück. Die Augen standen ihr voll Wasser. Er nickte ihr zu und winkte abermals mit der Hand: »Fort, fort!« Dann wendete auch er sich ab und verschwand im Getriebe der Straße.

* * *

Vom Rosenkranzsonntag bis zum Feste Allerseelen sind nur ein paar Wochen; aber was kann sich in ein paar Wochen alles ereignen, wie manche stille Hoffnung kann erfüllt, wie manche grausam getäuscht werden!

Freilich hatte Hundegger sich übertriebenen Erwartungen betreffs der Schadloshaltung hingegeben, die ihm zuteil werden müsse. In seinem schlichten Verstande dachte er nicht anders, als daß er das Gütl in der Kreuzhofmulde einfach zurückzufordern das Recht habe, und war nicht wenig betreten, als ihm sein Verteidiger eröffnete, daß davon keine Rede sein könne. Die gerichtsordnungsmäßige Zwangsveräußerung hatte nun einmal stattgefunden, davon ließ sich nichts rückgängig machen, und der Kreuzhofherr blieb rechtmäßiger Eigentümer der Hundeggerhube. Daß der Staat nicht verpflichtet war, ihm die verbrannten Wertpapiere zu ersetzen, wenn er nicht wollte, das sah er eher ein, aber weshalb er es nicht wollte, konnte er nicht begreifen, da es sich doch nur darum handelte, ein paar Wische zu bedrucken, um einem armen Teufel, der unverschuldet ins Elend gekommen war, wieder auf die Beine zu helfen.

Auch bestand er darauf, durch Dr. Schweighofer ein darauf bezügliches Majestätsgesuch aufsetzen und einreichen zu lassen, und der gewandte Verteidiger fand sich dazu bereit, obgleich er von der völligen Erfolglosigkeit dieses Schrittes überzeugt war. Er hatte sich durch den Fall Hundegger einen gewissen Namen gemacht, alles, was er für seinen Klienten tat, kam in die Zeitung, und da er erst im Anfang seiner Laufbahn stand, so versprach er sich Vorteil hieraus für seine Zukunft. Stempel und schönschriftliche Ausfertigung des Gesuches war Hundegger noch zu zahlen in der Lage, von dem Arbeitsgelde, das ihm während seiner Strafhaft zurückgelegt worden.

Übrigens schwanden diese Ersparnisse unheimlich rasch und neue Hilfsquellen standen vorderhand nicht zur Verfügung. Bald nach seiner Entlassung aus der Strafhaft war Hundegger nach Heiligenstadt übergesiedelt, seinem Geburtsort, den er als kleiner Junge noch als ländliche Gegend gekannt hatte, während inzwischen eine Vorstadt von Wien daraus geworden war, mit ganzen Gassen dreistöckiger Häuser. Die Leßnig und den Franzl nahm er zu sich, denn ihnen war der Aufenthalt auf dem Kreuzhof zu derselben Zeit untersagt worden. Der Kreuzhofherr wollte von dem »unheimlichen Kerl« nichts mehr wissen und hielt es darum für angezeigt, auch die Verbindung mit dessen Angehörigen abzubrechen. Einen Vorwand zur Entlassung der Leßnig hatte er bald gefunden, und wer es hören wollte, dem erzählte er, er habe genug für das »Gesindel« getan, jetzt aber fühle er sich zu nichts mehr verpflichtet, da sie ihren Ernährer wieder hätten. Ja, wenn nur der »Ernährer« selbst etwas zu beißen gehabt hätte! Aber die paar Kreuzer aus dem Strafhaus mußten mit größter Genauigkeit eingeteilt werden, denn passende Arbeit ließ sich so rasch nicht finden.

Es war eine dumpfe, feuchte Kellerwohnung, in der sie zusammengepfercht lebten. Licht und Luft drangen nur spärlich durch das hochgelegene Fenster, an dem man die Beine der Leute vorübergeistern sah, die den Bürgersteig entlang gingen. Der kleine eiserne Sparherd, der in der Mitte des engen Raumes stand, diente zugleich als Ofen, und die ordinären rotgewürfelten Kissen auf den Betten lagen auch am Tage offen, weil passende Überdecken fehlten, um sie zu verkleiden. So oft Hundegger in diese Stube trat und der widerlich muffige Geruch der Armut ihm entgegenschlug, sehnte er sich unwillkürlich nach der musterhaften Reinlichkeit und Nettigkeit seiner Zelle zurück. Und auch nach der Einsamkeit sehnte er sich mächtig, wenn er sich's auch nicht gerade eingestehen mochte. Man gewöhnt sich eben mit der Zeit an gewisse Zustände und hängt dann oft zäher an ihnen als am Umgang mit Menschen. An seinem Buben, dem Franzl, hatte er schon manchmal seine Freude, wenn er auch beinahe zu stumpf und müde war, um die Sprache und die Denkweise des Kindes noch zu verstehen. Aber die Leßnig wurde ihm einfach zuwider mit ihrem keifigen Ton, ihrem ewigen Jammer, ihren ewigen Sorgen. »Mein Gott, mein Gott!« rief er dann manchmal aus, »was kann uns denn weiter geschehen? Daß wir halt krepieren! Was liegt denn schließlich daran?«

Das wollte sie aber begreiflicherweise nicht und darum wehrte sie sich um ihr Teil. Einen argen Verdruß setzte es anläßlich eines Besuches, den Thekla dem mühseligen Armenhaushalt im Tiefgeschoß abstattete. Sie hatte vergeblich versucht, dem Vater etwas Geld, das sie nicht im geringsten entbehre, einzuhändigen. Er weigerte sich hartnäckig, es anzunehmen, und verbot auch der Leßnig, einen Kreuzer anzurühren.

»Wenn du es doch nehmen wolltest, Mutter?« bat Thekla, der es hart ankam, den Vater und Franzl in so mißlicher Lage zu wissen.

»Hörst ja, daß er's nicht erlaubt, der Tappl!« sagte die Leßnig roh.

Thekla, die mit ihrer Mutter nie auf sonderlich gutem Fuß gestanden hatte, empörte sich. »Geh, sei still!« herrschte sie sie an. »Solche Ausdrücke gehören sich nicht. Er wird schon wissen, was er tut.«

»No ja,« höhnte die Leßnig, »dir kann's freilich recht sein, wenn er so dalket ist, weil du dein Geld dabei sparst.«

»Geizig bin ich nie gewesen,« versetzte die Tochter geringschätzig.

»So? Warum hast uns nachher nicht ordentlich ausgeholfen, wie er noch im Kriminal war?«

»So oft ich etwas hatte, gab ich euch davon,« sagte Thekla; »aber zu Zeiten habe ich selbst gehungert.«

Ein Wort gab das andere. Wenn sie gereizt wurde, dann enthüllte die Leßnig leicht ihre niedrigsten Seiten.

»Selbst gehungert?« höhnte sie. »Schäm dich! Ich hab' gehört, daß du gar einen Alten hast. Also, wenn's nicht anders ist – meinetwegen! Aber dabei noch hungern? Das wär' mir doch zu dumm!«

Und nun ließ auch Thekla einen Blick tun in die bodenlose Fühllosigkeit ihrer Seele. Denn sie lachte auf und spielte leichtfertig ihren Trumpf aus. »O bitte,« sagte sie, »den Alten betrüg' ich doch nur; zum Gernhaben hab' ich schon noch außerdem einen Jungen!«

Nun erhob sich Hundegger, der bisher unbeweglich dagesessen und auf die Tischplatte niedergestiert hatte, richtete sich auf mit blutübergossenem Antlitz, und indem er seine Tochter mit rollenden Augen maß und zugleich mit ausgestreckter Hand nach der Tür wies, schrie er nur das einzige Wort: »Hinaus!«

Thekla prallte zurück, erschrocken und tief bestürzt. Sie duckte sich ordentlich zusammen, denn in diesem Augenblick hielt sie ihn für fähig, über sie herzufallen und sie zu erwürgen. Als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten, so hob sie unwillkürlich den Arm zum Schutze, flüchtete gegen die Tür und verließ eilends das Gelaß.

* * *

Der Letznig wäre das Geld lieber gewesen als dieser moralische Sieg über ihre Tochter. In der Tat ging es elend knapp her in dem winzigen Haushalt, denn noch immer konnte Hundegger keine Arbeit finden. Jemand riet ihm, sich an den Unterstützungsverein für Abgestrafte zu wenden, und er tat es auch, wurde aber abgewiesen – freilich in schmeichelhafter Form. Die Vereinsgelder konnten nur für jene Bedürftigen Verwendung finden, welche wirkliche Verbrecher waren. Denn wenn sich bei solchen die Leute scheuten, sie wieder in die arbeitende Gemeinschaft aufzunehmen und ihnen eine neue Existenz zu ermöglichen, so sei dies bis zu einem gewissen Grade begreiflich und gerechtfertigt. Bei ihm aber liege ein solcher Grund nicht vor, er sei kein verurteilter, sondern ein Freigesprochener und seit jeher ein ehrlicher Mensch gewesen.

Jawohl, allerdings war er freigesprochen, für unschuldig erklärt worden in öffentlicher Gerichtsverhandlung, aber es mußte, weiß Gott, doch Leute geben, die sich an seinem Aussehen stießen. Wenn ihm nur erst Haupthaar und Bart wieder zu anständiger Länge gediehen wären; aber diese halbwüchsigen grauen Stoppelfelder, die schwammig gewordenen Wangen mit ihrer fahlen Mauerfarbe erinnerten noch immer ein wenig an Mettenau, und wo er auch einen Versuch machte unterzukommen – überall scheue Blicke und vorsichtiges Ausweichen. Es war, als ob die Leute sagen wollten: »Getan hast freilich nichts, aber gelernt könntest etwas haben – da drinnen!«

Um Allerheiligen, wo es schon anfing, empfindlich kalt zu werden, waren die Hundeggerleute bereits so sehr in der Klemme, daß sie die Kohlen nicht mehr erschwingen konnten, um Herd und Wohnstube zu heizen, und diese stiegen noch fortwährend im Preise. Dr. Schweighofer hatte die Freundlichkeit, eine kleine Sammlung für die notleidende Familie einzuleiten, deren Ergebnis über die nächsten Wochen hinweghalf. Hundegger wollte aber eigentlich nichts geschenkt haben, er sah nicht ein, warum seinethalben die Mildtätigkeit angerufen werden sollte, da er doch nach seiner Meinung zu fordern hatte. Ungeduldig überlies er seinen Verteidiger, was es denn mit der staatlichen Entschädigung sei für seine ungerechtfertigte Verurteilung. Der Doktor versicherte ihm, es sei alles in schönster Ordnung; die schriftliche Eingabe zur Anmeldung seiner vermögensrechtlichen Ansprüche war rechtzeitig gemacht worden, die gerichtlichen Erhebungen seien bereits im Zuge. Aber es müßten eben noch Zeugen und Sachverständige einvernommen werden, das Gericht sei geneigt, auch jene Umstände sorgfältig zu erheben, welche gegen die geltend gemachten Ansprüche sprächen, jedenfalls aber diese auf ein niedriges Maß herabzudrücken. Darum habe er sie auch schon im voraus höher beziffert als billig – auf diese Weise werde dann ungefähr das Erreichbare erreicht werden.

Wann die Sache endlich erledigt sein könne? fragte der Hundegger.

Das lasse sich nicht so genau voraussagen, erwiderte Dr. Schweighofer. Die geschlossenen Akten müßten dann noch an den Justizminister gehen, welcher den Entschädigungsbeitrag festzustellen habe. Es sei aber nicht ausgeschlossen, daß diese oberste Instanz noch Ergänzungen der gemachten Angaben anordne.

Dem Hundegger kam sein altes Lieblingswort auf die Lippen: »Na ja, so ist es halt … Was kann man machen?«

»Heißt eben warten,« sagte der Doktor begütigend und machte eine Bewegung, wie um die Tür zu öffnen.

»Ja –« sagte Hundegger bekümmert, »aber der Hunger wartet nicht.«

Schweighofer zuckte die Achsel. »Ich werde die Angelegenheit gewiß betreiben, so weit ich kann. – Wollen Sie noch etwas?«

»Ja, wenn ich bitten dürft'. – Ob ich nicht das Schmerzensgeld wenigstens früher bekommen könnt'.«

Der Verteidiger war nahe daran, ungeduldig zu werden; er bedurfte seiner ganzen Beherrschung, um nicht aufzubrausen. Immer wieder diese Vorstellung von einem »Schmerzensgeld«! Wohl ein halbdutzendmal hatte er ihm erklärt, daß er nur Anspruch habe auf eine Entschädigung für die durch die Verurteilung erlittenen vermögensrechtlichen Nachteile.

»Aber ich muß doch außerdem ein Schmerzensgeld dafür bekommen,« beharrte Hundegger, »daß ich über drei Jahre unschuldig hab' sitzen müssen!«

Vor vielen Jahren hatte er bei einer Wirtshauskeilerei dem Maderleitner eins hinters Ohr versetzt, so daß dieser ein paar Tage nicht zur Arbeit aufgelegt war. Damals habe er ihm nicht nur den Verdienstentgang ersetzen müssen bei Heller und Pfennig, sondern auch noch ein »Schmerzensgeld« zahlen, behauptete er. Und ihn sollten sie einsperren dürfen, drei Jahre lang, und er sollte kein »Pflaster« dafür bekommen?

»Ist denn das eine Gerechtigkeit?« rief er immer wieder.

Dr. Schweighofer bestritt diese ganze Vorstellungsreihe als irrig und schief. Er kam ihm mit Paragraphen und schließlich, zur Verteidigung des Staates, gar mit dem Römischen Recht: »Neminem laedit, qui suo jure utitur.«

Lirumlarum, was ging den Hundegger das Lateinische an? … Es stieg eine fast tierische Wildheit in ihm auf. Ein Haß des Ungebildeten gegen diesen Studierten, der ihn doch freigeredet hatte, weil er ihm eine Hoffnung nach der anderen hinwegerklärte, und weil er der einzige Vertreter der gut gekleideten Menschheit war, den er gerade vor sich hatte.

»Wenn nur die Herren, die die Gesetze machen, und die, welche sie ausführen, für einen Tag in meiner Haut stecken könnten!« dachte er.

Er kam sich wie rechtlos vor, wie hinausgestoßen unter ein fremdes, grausames Volk, das eine fremde Sprache redete, schon einmal, weil er sein Gütl nicht wieder erhielt, das ihm, ihm allein gehörte nach seiner innersten Überzeugung; dann weil mit der Auszahlung seines unbedingt nachweisbaren Ersatzanspruchs solange amtlich herumgezogen wurde, während er mit den Seinigen darbte, und endlich weil er kein »Schmerzensgeld« erhalten sollte, wie er sich's nun einmal in den Kopf gesetzt hatte.

Aus diesem überzeugten Gefühle, daß ihm Unrecht widerfahre, entwickelte sich in dem zerrütteten Manne allmählich eine fast krankhafte Begierde nach einer Art von Rache – an wem? das machte er sich selbst am wenigsten klar. Irgend etwas Unerhörtes zu begehen, das war ihm ein süßer Gedanke, mit dem seine Einbildungskraft in müßigen Stunden gerne spielte. Etwas Himmelschreiendes zu begehen – und dann gleich einem schadenfrohen Kinde zu frohlocken: »Seht ihr, da habt ihr's jetzt! Was wundert ihr euch darüber, daß ich ein Verbrecher bin? Ihr wolltet es doch nicht anders!«

Es kam vor, daß er ganz ernstlich darüber nachdachte, was er etwa anstellen könnte, um sein Mütchen zu kühlen, um aus diesem Zustand der Halbheit zwischen Nichtschuldigsein und doch Büßen herauszukommen. Er zerbrach sich förmlich den Kopf darüber. Wie – wenn er einen umbrachte oder ausraubte? Den Kreuzhofherrn zum Beispiel? Aber es schauderte ihn davor, seine Hände mit Blut zu beflecken. Nein, nein! das nicht! Aber vielleicht – den Kreuzhof anzünden? Er stutzte. Der Gedanke gefiel ihm nicht übel … Das wäre etwas! und dann, wenn der Himmel glüht und die Leute zusammenlaufen, ihnen zuschreien: »Seht ihr's dort geschrieben, in Flammenschrift, das erlösende Wort: Rache! Rache! …« Bis ins einzelne malte er sich solche Vorstellungen aus.

Glücklicherweise ließ ihm die Leßnig wenig Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, denn beständig war sie hinter ihm her, trieb ihn stets zu erneuten Versuchen, wenigstens vorübergehend in Arbeit und Verdienst zu kommen. Einen kleinen Erfolg hatten seine Bemühungen insofern aufzuweisen, als er es erreicht hatte, bei der Verkehrs- und Frachtgesellschaft als Arbeiter für die Schneefortschaffung vorgemerkt zu werden. Aber dies war zunächst nur eine Zukunftshoffnung. Der Winter ließ sich zwar außerordentlich streng an, war aber arm an Niederschlägen, und Tausende von Beschäftigungslosen harrten seit Wochen auf einen ausgiebigen Schneefall.

»Der Hunger aber wartet nicht,« hatte Hundegger gesagt, und der Bäcker und der kleine Kaufmann, von dem die Leßnig die Lebensmittel bezog, wollten auch nicht mehr warten mit der Bezahlung. Für sich selbst benötigte der Hundegger so viel wie nichts, um sein Leben zu fristen, er hätte lange ausgehalten; aber daß er seinen Franzl langsam zugrunde gehen sah, daß er zusehen mußte, wie das Kind gleichsam welkte und verdorrte wie eine Topfpflanze, der man zu wenig Wasser spendet, das griff ihm ans Herz, machte ihn mürbe. Und so entschloß er sich an einem Frühwinterabend, nachdem er den ganzen Tag hindurch auf Arbeitsuche in der Stadt umhergeirrt war, zu einem Schritte, den er sich selbst niemals zugetraut hätte, und den er fast wie in dumpfer Unzurechnungsfähigkeit unternahm, in völliger Betäubung des letzten Restes von Stolz und Selbstachtung, blind geleitet von Trieb und Zwang. Denn wie die Not in harten Wintern manchmal die Tiere des Waldes zwingt, ihrer Natur zu vergessen, und sie wie zahm zu den Behausungen der Menschen treibt, so strich Hundegger an diesem Abend um das Haus, in dem seine Tochter Thekla wohnte, um jenes Almosen von ihr zu erbetteln, das er noch vor einigen Wochen so hartnäckig zurückgewiesen hatte. Und es wurde ihm eigentlich nicht einmal recht klar, wie sehr er sich zu demütigen im Begriffe stand, so erfüllt war er von dem Bedürfnis, von der Notwendigkeit. Erst als er die Treppe des Hauses in der Rauhensteingasse hinanstieg, flog ihm ein plötzliches Gefühl davon durch die Seele, da die sausende Gasflamme seinen Schatten, ins Riesenhafte vergrößert, an die Stiegenwand warf. Er blieb stehen und betrachtete gleichsam erstaunt sein schwarzes Umrißbild. Er erinnerte sich, wie er seine Tochter zum erstenmal hier getroffen, wie er trotzig gesagt hatte: »Da hinein gehe ich nicht.« Und dann nickte er langsam mit dem Kopfe seinem Schatten zu und sagte traurig zu ihm: »So, so – das ist ja der Hundegger? Kriecht er nun zu Kreuz, der schäbige Wicht? Der Vater in Lumpen, vor der seidenrauschenden Tochter?«

Als er die Klingel gezogen hatte, öffnete ein nettes blondes Dienstmädchen mit einem schneeweißen Tüllhäubchen die Tür und blickte ihn fragend an.

Ob Fräulein Leßnig zu Hause sei?

»Die gnädige Frau hat Besuch,« lautete die Antwort.

»Besuch?«

»Jawohl.«

Ob sie nicht trotzdem zu sprechen sei?

»Die gnädige Frau empfängt nicht heute abend.«

»Ja, warum denn nicht?« fragte Hundegger ungeduldig.

»Es ist der Herr Onkel da,« antworte das Dienstmädchen kühl.

»So, so …« sagte er ingrimmig; »der Herr Onkel! … Und wann wird er denn die Freundlichkeit haben, wieder fortzugehen, der Herr Onkel?«

»Das weiß ich nicht,« sagte das Mädchen spitz. »Was wollen Sie denn eigentlich? Wahrscheinlich eine Bettelei!«

Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu und er stieg die Treppe hinab, fest entschlossen, unten zu warten, um später ein zweites Mal sein Glück zu versuchen. In der nur spärlich erhellten Straße auf und ab gehend, sah er, daß im ersten Stock des Hauses zwei nebeneinander befindliche Fenster beleuchtet waren, während die übrigen in tiefer Dunkelheit lagen. Es mochte ein angenehmes kleines Abendessen zu zweit hinter diesen erleuchteten Fenstern veranstaltet sein, während er selbst frierend und nichts weniger als gesättigt auf der Straße stand und emporblickte. Seiner Tochter konnte er diesen Gegensatz nicht eben hart anrechnen; herzlos war sie nicht eigentlich gewesen, im Gegenteil, bereit, ihren Überfluß mit ihm zu teilen. Und doch erfüllte ihn eine unbestimmte Wut und ein wahrer Lebensekel, indem er fühlte, wie er durch die Gewalt der Umstände unwiderstehlich in Abhängigkeit geraten mußte von der tatsächlichen Macht und Kraft, über die sie, sein eigen Fleisch und Blut, die seinen Willen und seine Ehre brach, wie eine kleine Königin gebieten konnte, weil sie sich an das Leben verkaufte.

Und da reifte plötzlich in ihm etwas wie ein sonniger Gedanke. Aussprechen, begrifflich zu Ende denken hätte er es nicht können – dafür war es viel zu hübsch und sein Geistesleben viel zu dumpf. Er fühlte es mehr oder sah es vor sich, gleichsam als ob man etwas unberührt bewahrte, etwa eine Goldmünze, die man um den Hals trägt, und die man immer in Augenblicken der Gefahr mit der hohlen Hand gegen die Brust drückt und hindurchrettet durch Menschengedränge, oder durch Feuer und Wasser, und schließlich hinüberrettet in einen dauernden, unangefochtenen Besitz, als etwas Unverlierbares. So etwas der Art war noch immer in ihm – trotz alledem; etwas der Art hatte er noch in sich, das er ein wenig liebte, eine unbesudelte Stelle, die er bis zu diesem Augenblick immer gerettet hatte – trotz alledem, die sein einziges Gut, sein einziger Trost, sein einziger Halt war. Und auch dieses Einzigen würde er sich entäußern, dieses Letzte verlieren, wenn er heute mit seiner Tochter spräche. Nein, lieber wollte er in die Donau gehen! Irgendein kleines Fleckchen, wo er fast ein bißchen mehr ist als ein Mensch, braucht auch der Niedrigste und Elendeste, und wenn ihm das Leben auch dieses entreißen will, dann lieber das Leben hinwerfen, aber unberührt in die Ewigkeit hinüberretten, was seinen tiefsten Wert ausmachte.

Sein Entschluß stand fest: fort von hier! Unbestochen, unverkauft im Leben oder Tod! Aber in dem Augenblick, wo er um die Straßenecke biegen wollte, da rasselte ein Wagen über das Pflaster, ein Herrschaftswagen, und hielt am Tor von Theklas Haus. In düsterer Neugier blieb Hundegger stehen und blickte um. Wer mochte jetzt noch kommen? Vielleicht noch ein Onkel? Aber es stieg niemand aus. Offenbar war der Wagen bestimmt, jemanden abzuholen. Er ging knapp an dem Gefährt vorbei, um es schärfer ins Auge zu fassen, als er aber die Pferde aus der Nähe sah, beim Schein der Straßenlaterne, da stutzte er – sie kamen ihm bekannt vor … Du Dreimalheiliger! – waren das nicht die Kreuzhofschimmel?

Um nicht aufzufallen, ging er ein Stück weiter, kehrte aber, sobald er in die Dunkelheit getaucht war, wieder um und schritt noch einmal zurück, abermals an dem Wagen vorüber. Und nun erkannte er auch ganz deutlich den Kutscher, der zusammengekauert und teilnahmslos auf dem Bock saß, in seinem dicken Fuchspelz – es blieb kein Zweifel mehr, das war der Grundner Alois, der ihm wohlbekannte Leibkutscher des Kreuzhofherrn!

* * *

Was fortan, von diesem Augenblick ab, Hundegger sah, tat oder dachte, das jagte alles in wüstem Wirbel durch seinen Kopf und seine Sinne, war wie ein Zustand der Trunkenheit, bald klar und scharf, bald ohne jedes Bewußtsein, einmal wie in blitzheller Erleuchtung, dann wieder in undurchdringliche Nacht gehüllt, ein wirres Träumen, ein Wachen, mit dem der Wahnwitz spielte.

Äußerlich ganz ruhig, lehnte er an der verwitterten Wand eines Hauses und sah die Wagenlaternen und die erleuchteten Fenster oben und hatte den dunklen Torweg scharf im Auge, an dessen Mündung die Straßenlaterne einen Lichtkreis auf das Pflaster des Bürgersteiges breitete. Er gewahrte, wie oben ein Vorhang aufgezogen und ein Kopf am Fenster sichtbar wurde, um herabzusehen, ob der Wagen schon da sei. Es war nur eine ganz flüchtige Erscheinung, aber er glaubte ein rosenrotes Frauengewand zu erkennen und an den hinhuschenden Umrissen die Haartracht Theklas. Dann war der Vorhang wieder vor dem Fenster.

Bald darauf hörte man kurze Schritte in der Torfahrt. Der Kutscher auf seinem Sitz fuhr in die Höhe und begann die Pferde abzudecken. Eine gedrungene Gestalt trat in den Schein der Straßenlaterne, unter dem breitkrempigen schwarzen Hut blitzte eine Brille auf, der Wagenschlag klappte zu, die Pferde zogen an, in der dunklen Tiefe des Wagens, während er vorüberrollte, glühte der rote Lichtpunkt einer Zigarre. Das Rasseln der Räder verscholl in dem Augenblick, da das Gefährt um die Straßenecke bog. Da lag die nächtliche Straße still.

Und auf einmal verschwand oben der warme Lichtschein an beiden Fenstern. Sie tauchten in Dunkelheit, dagegen aber tauchten die zwei anstoßenden Fenster plötzlich aus der Finsternis auf. Still und gleichmäßig lag der ruhige Schein auf den vorgezogenen Behängen, wie auf einer mattglasernen Lampenkugel …

Ferner sah Hundegger in dieser selben Nacht noch viele, viele Straßen, halbdunkle und hellerleuchtete, belebte und ausgestorbene, und große Plätze mit schlafenden Kirchen oder träumenden Männern, die auf steinernen Sockeln standen. Dann sah er eine lange, lange Brücke von eisernem Gitterwerk und darunter eine fahle vertiefte Straße von unendlicher Breite, in der lebendige Lichtfunken wie Raketen herabquollen und immer wieder zu ihrem Ursprungspunkte hinaufsprangen, in ununterbrochenem Geriesel; und als er hinabstieg an den Rand der Straße, da wurden seine Schuhe naß und lange graue Wellenkämme glucksten und rauschten ihm um die Knöchel. Und dann sah er wieder brausende Lokomotiven, die mit grünen und roten Lichtern an den Stirnen über schwarze Eisenschienen hinflogen, und ein paarmal mußte er zur Seite springen, sonst hätten sie ihn niedergerannt. Und schließlich sah er einen hohen, gemauerten Bogen, der wölbte sich wie zum Schutz, wie ein Himmelbett; da legte er sich hin und schlief ein wenig, aber nicht lange, denn bald darauf sah er wieder schwarze, umgebrochene Äcker, über die mühsam wandern war, und kahle Bäume, in denen der Wind wimmerte, und viele, viele weiße Leichensteine auf einem Friedhof und Lebensbäume dazwischen, und eine endlose Mauer und niedrige Fabriksgebäude mit hohen Schloten, die in den leise aufdämmernden Himmel ihre schwarzen Rußwolken ausspieen, und dann wurde es immer heller, und die Häuser wurden ganz selten, und auf jeder leeren Wand stand in ungeheuren blauen Buchstaben angeschrieben: Van Houtens Kakao, Knorrs Hafermehl, Van Houtens Kakao …

Als die Wintersonne sich aus den braunen Nebeln des Marchfeldes losrang, stand Hundegger am steinernen Marterkreuz über der Brunnwieser Fahrstraße. Die Kreuzmulde unter ihm lag noch in bläulichem Dämmer, aber die weißen Mauern des Kreuzhofes stachen scharf heraus zwischen der schneefreien staubbraunen Wintererde, zwischen den ausgetrockneten fahlgrünen Wiesenflächen und den tieftraurigen laublosen Wäldern. In der Ferne aber schwebte hoch über dem schmutzigvioletten Brodem des Häusermeeres die schlanke steinerne Nadel des Stephansturmes, nur wie hingehaucht, wie ein Schemen, ein Traum ohne Körperlichkeit, gleichsam als wäre nur ein holder, verschwimmender Schein, was in der Nähe so greifbar hart und kalt und wirklich im Räume steht, sei es die ungeheuere lastende Steinmaste des Domes, sei es das Leiden, Sehnen, Jagen und Sichverkaufen jener vielmalhunderttausend Seelen, deren Erdendasein man von diesem Punkte aus mit einer einzigen, vor das Auge gehaltenen Handfläche zudecken konnte …

* * *

Gegen zehn Uhr morgens fand Hundegger sich im »Husaren« zu Brunnwies ein und setzte sich in den dunkelsten Winkel der Wirtsstube. Er ließ sich ein Glas Wein geben und blätterte zerstreut in dem Zeitungsblatt, das auf dem Tische lag. Plötzlich fuhr er zusammen. Ein bekannter Name war ihm ins Auge gefallen. »Die 48 jährige Taglöhnerin Maria Leßnig,« las er, »die mit dem durch seine unschuldige Verurteilung bekannt gewordenen Hundegger im gemeinsamen Haushalt lebt …« Er mußte das Blatt fortlegen, die Buchstaben verschwammen ihm vor den Augen.

Was war das für ein neues Unheil, das da über ihn kommen sollte? Was mochte sich mit der Leßnig zugetragen haben, daß es sogar in der Zeitung stand?

Es dauerte eine gute Weile, ehe er sich entschließen konnte, weiter zu lesen. Da erfuhr er denn, daß die Leßnig auf Grund der Anzeige eines Kammerdieners in Neuwaldegg, da sie sich, angeblich um zu betteln, in die Villa eines Grafen eingeschlichen haben sollte, polizeilich beanstandet und vom Bezirksgericht Hernals zu vierundzwanzigstündigem Arrest verurteilt worden sei.

Diese Zeitungsnotiz erschütterte Hundegger aufs tiefste. Der Wirt, der später eintrat und ihn sogleich wieder erkannte, fand ihn mit aufgestütztem Kopf dasitzen und wie verloren vor sich hinstarren. Auf die Versuche des Wirtes, ihn über seine Erlebnisse auszuhorchen, antwortete er nur mürrisch und einsilbig, manchmal gar nicht. Nur als zufällig sein Blick auf dem Kalender an der Wand haften blieb und ihm plötzlich zum Bewußtsein kam, welcher Tag heute sei, da wurde er auf einmal lebendig und lachte auf, ohne sich übrigens näher zu erklären. Nachträglich erinnerte man sich, daß an diesem Tage der Brand in der Kreuzhofmulde sich zum vierten Male jährte. Gegen Mittag verließ er das Gasthaus, nachdem er gegessen und ziemlich stark getrunken und seine silberne Uhr zum Pfand zurückgelassen hatte, weil er die Zeche nicht bezahlen konnte. Der Wirt behauptete hinterher, Hundegger hätte den Weg zum Marterkreuz eingeschlagen. Da aber um die Mittagszeit die Brunnwieser Bergstraße ziemlich belebt zu sein pflegt, so ist es seltsam, daß niemand, wie später festgestellt wurde, weder in Brunnwies, noch in der Kreuzhofgegend sich erinnerte, ihm begegnet zu sein oder ihn gesehen zu haben, wo doch so viele ihn genau kannten. Nur ein altes Mütterchen, das gegen Abend durch den Wald am Teufelsberg ging, blieb steif und fest dabei, sie hätte ihn ganz bestimmt zwischen den Stämmen hinstreichen sehen, sich oftmals bückend, um dürres Holz aufzulesen.

Etwas vor Mitternacht war es, da schlug im Kreuzhof ein Hund an. Ein zweiter antwortete ihm und kläffte dazwischen. Beide bellten sie heftig eine ganze Zeitlang. Es kümmerte sich aber niemand darum. In sternfunkelnden stillen Nächten kam es manchmal vor, daß die Tiere ohne besonderen Anlaß rebellisch wurden, vielleicht hatte sie das Rasseln einer Halfterkette aus dem Schlaf geschreckt. Nach einer Weile beruhigten sie sich wieder, und alles war lautlos und dämmerte so hin … Ungefähr eine Stunde später aber legten beide Hunde wieder los; beide zu gleicher Zeit, fast in demselben Augenblick setzten sie ein, und mit einer Wildheit und Heftigkeit, als ob sie in einen Kampf verwickelt wären. Niemand rührte sich auf dem ganzen Hofe, kein Knecht, keine Magd stand auf, um nachzusehen, was es gäbe. Abgerackerte, unlustige Leute, die für ihren Herrn nichts übrig hatten.

Aber in dem ziemlich hochgelegenen ersten Stockwerk des Hauptgebäudes, da, wo der Kreuzhofherr selbst wohnte, da klirrte jetzt ein Fenster, und jemand lauschte in die Nacht hinaus, lange, lange … Inzwischen waren die Hunde wieder still geworden. Aber die Gestalt am Fenster lauschte noch immer, voll Mißtrauen anscheinend und Bangigkeit, und verharrte ganz unbeweglich, weit hinausgebeugt … Endlich zog sie sich zurück, das Fenster schloß sich leise, im Zimmer wurde Licht gemacht, knarrende Tritte tasteten über die Diele, die hölzerne Treppe hinunter, im ebenerdigen Geschoß umher, dann die Treppe wieder hinauf, ins Zimmer zurück. Eine kurze Weile brannte noch das Licht. Dann war plötzlich die ganze Reihe der Fenster wieder dunkel. Und alles still, während in das unendliche Meer der Zeit Tropfen um Tropfen hinabrann, unbewußt den Menschen, die da schliefen … Schlafend lagen jetzt auch die Hunde im Stroh … Lautlos zitterte und flimmerte die kalte Nacht über dem schweigenden Gehöft. Nur aus den Ställen ließ sich ab und zu das Schnauben eines Tieres vernehmen …

Gegen drei Uhr morgens mochte es gewesen sein, da stieg plötzlich eine schöne, mächtige Feuergarbe aus dem Scheunendach empor, kerzengerade wie eine Rakete. Im Nu stand der ganze Dachstuhl in Flammen und gleich darauf, als spiegelten sich die Sterne, huschten zahlreiche blaue Lichtlein zwischen den Schindeln des Hauptgebäudes hervor und aus einigen Fenstern des ersten Stockes, die über der Stiege lagen, brach ein roter Schein. Die Rosse in ihren Ständen klirrten mit den Ketten, und die Kühe brüllten, denn nun wirbelte auch über dem Stall eine grell beschienene weiße Rauchsäule auf – aber von den Menschen war niemand, der das Unheil ahnte, niemand, der wachte, weil niemand liebte, und der eine, den die Eigenliebe zur Wachsamkeit gespornt hätte, wälzte sich in wollüstigen Träumen, wie er ein junges Blut mit Gold erkauft hätte, sein Alter zu erfrischen. Ruhig und geräuschlos, von keinem Windhauch gestört, leckten die Flammen in die schwarze Finsternis hinauf und fraßen weiter, wo sie Nahrung fanden, und pflanzten sich fort wie hüpfende Wellen und vereinigten sich zu einem einzigen, großen wogenden Meere. Weithin über die dunkeln Wälder, durch das Gewirre entlaubter Baumkronen strahlte der feurige Schein gleich einem stillen, prachtvollen Sonnenuntergang. Und dann war es, als erwachten mit einem Schlage ringsher in der Umgebung die Dämonen des feindlichen Elements, als brächen sie aus dem Erdinnern hervor, durch die geborstene Rinde hindurch, aus klaffenden Rissen, um den blutroten Hähnen zuzuwinken, die über den Dächern flatterten und kreisten. Zuerst am Teufelslueg flog es auf, ein prasselnder Scheiterhaufen von Dürrholz, der wie ein Feuerwerk seine Funkengarben in die Luft sprühte, dann im Mooshammerwald und in der Gemeindeschonung und weiter in der Runde, eins nach dem andern, wie riesige Gaslichter, die sich der Reihe nach aneinander entzünden, daß die Flamme eilends zu springen scheint, in großen gierigen Sätzen, von Punkt zu Punkt, bis der Kreis geschlossen ist. So schossen ringsum im weiten, waldreichen Gebiet der Kreuzhofmulde jubelnde Feuersäulen auf, aus mächtig geschichteten Stößen, und beleuchteten taghell, wie ungeheure Pechfackeln, das ausgedehnte Hügelland bis in seine innersten Falten und riefen weit hinaus, gleich jauchzenden Freudenfeuern den Sieg der Vernichtung. Wie kleingemachtes Kienholz, das man in die Herdöffnung wirft, so fingen die ausgedorrten Wälder Feuer. Paradiesvögel mit orangeroten Schwänzen stiegen aus dem Scheiterhaufen und flogen von Baum zu Baum in wilder Hast, nach allen Seiten, und mit jedem Flug vermehrten sie sich und schickten ihre Brut auf neue Wege. Paradiesisch schön wurde die ganze Landschaft. Hunderte von mächtigen Bäumen mit ihrem Geäst und allen zarten Verzweigungen waren ganz aus schimmernden Glutzellen aufgebaut, phantastische Gewächse aus einer anderen Welt, gleichsam nur Blüte, die in rascher Brunst verloderte und nach kurzem Schönheitstraum in graue Asche auseinanderfiel. In paradiesische Farbenpracht kleidete sich das graue Gestein an der Erde, kleideten sich die staubigen Pfade und Lehnen, geschmolzenes Gold brodelte in den Tümpeln und Weihern, ein purpurnes Geriesel floß an den Stämmen nieder und schwebte zitternd über den heißen Äckern, und wie Leuchtkugeln bei einem Frühlings-Nachtfest, so stoben Milliarden gelber und roter Funken zum prachtvollen Himmel empor, der wie ein riesiger strahlender Rubin märchenhaft über der Erde hing. Und nun erwachte, durch die Hitze und das heftige Aufsteigen der erwärmten Luft geweckt, die Windsbraut und heulend brach der Sturm in die Flammen, von allen Seiten zugleich, und vereinigte die Waldbrände mit dem in ihrer Mitte gelegenen Feuerherd des Gehöfts zu einer einzigen Riesenfackel, die wie eine Sonnenprotuberanz, wie der Ausbruch eines feuerspeienden Berges, aus der in einen glühenden Krater umgewandelten Kreuzhofmulde gegen das Himmelsgewölbe loderte.

Eine wahnsinnige Lust und Wut bemächtigte sich der Schwärme gieriger Paradiesvögel mit den wehenden orangegelben Schweifen. Sausend kamen sie herbeigeflogen aus den Wäldern und fielen in die Obstgärten ein, die das Schloß umgaben, schwangen sich von Ast zu Ast, wiegten sich auf knisternden Wipfeln und lugten neugierig hinaus in den weiten, grell erleuchteten Hof, auf dem von Schreck gepeitschte Menschen hin und wider liefen, und lugten hinauf nach den ungezählten Scharen roter Hähne, die sich auf den Dächern balgten, sich gegenseitig auffraßen und wieder ausspieen, übereinander hinweghüpften und um jeden Tram des Speichers miteinander rauften.

Plötzlich sahen sie die Hähne nicht mehr; sie waren verschwunden, unter mächtigem Krachen und Donnern, und aus den einstürzenden Decken und Wölbungen des Hauptgebäudes wälzten sich ungeheure Wolken von Rauch und Staub. Da erschraken die Paradiesvögel, machten eilends kehrt und flatterten keuchend hinweg, gegen den noch unberührten Wald, der die Brunnwieser Bergstraße auf beiden Seiten säumt. Wie ein Heuschreckenschwarm fielen sie über ihn her und begannen ihn aufzufressen. Noch waren sie an der Arbeit, ihre unersättliche Gier zu stillen, da erschraken sie abermals, denn plötzlich sahen sie es blitzen von blanken Geräten und Maschinen und Uniformen und metallenen Helmen, und das alles bewegte sich näher auf rasselnden, breiträderigen Wagen, die von starken Pferden gezogen wurden. Sie erkannten, daß es der Feind war. Als sie aber näher hinsahen, fürchteten sie sich nicht mehr. Denn sie sahen, wie die Pferde, welche die Kriegsausrüstung der Feinde zogen, nur mühsam und im Schritt vordringen konnten, wegen des dicken Qualms, der auf der Straße lag, und wie die behelmten Männer, die sie an den Zügeln führen mußten, sich beständig die Hände vor das Gesicht hielten und sich die beißenden Augen rieben und sich nur mühsam weitertasteten, nach Atem ringend. Da erhoben die wilden Paradiesvögel ein boshaftes Zischen und Lachen und wie zum Hohne flogen sie in ganzen Schwärmen neben dem Feinde her, von Baum zu Baum, und bildeten Spalier, indem sie ihr flatterndes Gefieder leuchten ließen. Und jedesmal, wenn der behelmte Mann auf dem Wagen seine messingene Röhre an den Mund setzte und ein langgezogenes »Tra–ra« in die Nacht hinausblies, rissen sie kichernd einen glühenden Ast von einem der Bäume und warfen ihn den Pferden gerade vor die Füße, daß sie hochaufbäumten und zitternd die Deichsel zurückstemmten …

Den Leuten im Kreuzhof kam es wie eine Ewigkeit vor, seit sie das erste Hornsignal der Brunnwieser Feuerwehr von der Höhe hatten grüßen hören – und noch immer zeigte sich keine Hilfe. Da war in der ganzen Kreuzhofmulde nichts mehr zu retten, als was jeder auf dem Leibe trug, und mancher rettete nicht einmal das nackte Leben.

* * *

Das Gasthaus »Zum Husaren« in Brunnwies war in diesen Unglückstagen zu einer kleinen Weltberühmtheit emporgeschnellt. Dort befand sich der Herd der Berichterstattung und die Quelle der Neuigkeiten. Den ganzen Tag über kehrten Leute zu, die aus der weiteren Umgebung oder aus der Stadt herbeigekommen waren, um die riesige Brandstätte zu besichtigen. Es war ein ununterbrochenes Kommen und Gehen. Das Geschäft gedieh recht flott dabei, und der Wirt schmunzelte. Für ihn war jetzt alle Tage Kirchtag. So bewährte sich wieder, daß nichts Schlimmes geschehen kann, das nicht irgendeinem zum guten ausschlüge.

Einige »Abbrandler«, ehemalige Kreuzhofleute, die der Brand um Dienst und Obdach gebracht hatte, waren stets im »Husaren« zu finden. Bis auf weiteres gewährte ihnen der kluge Wirt Unterstand und freie Verpflegung. Sie waren das Kapital, mit dem er wucherte. Sie waren »dabei gewesen«. Wie die Phäaken der Erzählung des Odysseus, so lauschte die Runde von Neugierigen ihren Berichten. Man redete von nichts anderem und dachte den ganzen Tag an sonst nichts. Jeder Augenzeuge wurde zur Persönlichkeit, zu einer kleinen Berühmtheit. Und jeder hatte wieder seine eigenen Erlebnisse und Eindrücke, so daß man nicht alle Berichte gehört hatte, wenn man einen gehört hatte. Gerne ließ man sich mehrere Male dasselbe erzählen, und immer lautete es wieder ein wenig anders.

So saßen denn auch in dieser Zeit um einen Tisch im »Husaren« eine Anzahl Leute mit zwei einstigen Kreuzhofknechten zusammen, die aussahen, als kämen sie aus der Schlacht. Beide hatten sie oberflächliche Verwundungen wegbekommen bei dem fürchterlichen Brande. Dem einen war ein Verband in vielen kunstvollen Windungen über den Kopf und das rechte Auge gefatscht. Der andere trug den Arm in der Schlinge und die Hand hatte er eingewickelt. Ans Leben war es ihnen gerade nicht gegangen – beileibe! Aber es plagte sie dennoch der Durst von Schwerverwundeten.

»Dir hat's ja dein' ganzen Bart versengt. Andres?« fragte ein Neuankommender.

»Der alten Kuhmelkerin hat's gar das Hirn verbrunnen,« versicherte einer der Knechte.

»Was du nit sagst!« wunderte sich der erste. »Das Hirn verbrunnen? So ist sie hin?«

»Das nit, aber verrückt hat der Schreck sie gemacht.«

»Wie geht's denn dem Gendarm Huber? Ich hab' gesehen, wie sie ihn haben forttragen müssen, für tot haben sie ihn auf die Bahre gelegt.«

»Er liegt im Spital; sie sagen, die Hitz' hätt' sich auf die Brust geschlagen.«

»Von der Feuerwehr sind auch ihrer drei Mann im Spital,« bemerkte einer. »Dann der Lois, dem geht's aber schon besser.«

»Um die Stalldirn' und den Kutscher soll es gar nit gut stehn.«

»Mich wundert's noch,« meinte der Knecht mit der verbundenen Hand, »daß wir überhaupt davon 'kommen sind. In der Höll' kann man nit ärger braten! Bis zur Stund' hab ich meinen Durst nit löschen können.«

Er leerte seinen Weinstutzen bis zur Neige.

»Ich bin heute wieder oben gewesen,« erzählte ein anderer. »Die Leichen haben sie noch nicht gefunden. Ein Schutthaufen wie ein Berg. Und in der Gegend! Öd' schaut's her! Man kennt's nicht wieder. An vielen Stellen ist der Boden noch warm wie ein Ofen. Die ältesten Leute erinnern sich nicht an so einen Brand.«

Der Wirt, der sich für einen Augenblick zu seinen Gästen setzte, machte sich wichtig und tat geheimnisvoll.

»Ich sag's immer, und der alte Schäfer vom Kreuzhof hat es wohl auch gewußt: wie man das Feuer beschwören kann, so kann man es auch groß beten. Mit natürlichen Dingen ist das nicht zugegangen!«

»Unsinn! Red nicht so dalket daher!« versetzte der einäugige Knecht. »Wir haben doch in der gewölbten Kammer, in der feuersicheren, wo der Petroleumapparat steht, noch die Spuren vom Stroh gefunden und kein Tropfen Petroleum war mehr da. So hat er's gemacht: die ganzen Strohbünde aus der Scheune eingetränkt und überall verschleppt, auf die Dachböden und überall hin. Im Kreuzhof war die ganze Stiege mit Strohbünden vollgepfropft, damit der Alte ja nicht auskommt. Die ganze Nacht muß er gearbeitet haben wie ein Zugochse. Du, so was brennt lustig, Stroh und Petroleum.«

»Ausg'schaut hat er dir –« erzählte der andere Knecht, »nicht zum Kennen! Ich war der erste, der aufgewacht ist, und wie ich das rote Licht seh' und hinausrenn', steht er da, ganz allein auf'm Hof, wie aus Stein und mit Augen – daß mich noch jetzt der Grausen angeht, wenn ich dran denk … Keine Spur von Schatten hat seine Gestalt geworfen, von allen Seiten war der grelle Schein. Hundegger, schrei ich, das hast du getan! – Ja, leider, sagt er, ich hab' g'meint, dann wird mir leichter sein, aber ich spür's schon, jetzt erst recht nicht! – und damit fällt er in die Knie und heult. Wir haben uns nicht um ihn geschert und haben nur g'schrien und sind g'rennt.«

»Aber daß der Kreuzhofherr so spät aufgewacht ist?« warf ein Zuhörer dazwischen.

»Gar nicht so besonders spät! Haben die andern auch nicht viel früher was bemerkt. Das war aber wie im Hui! Gleich darauf, wie alle durcheinander rennen, da hat man schon sein Geschrei gehört. Den Schrecken vergeß' ich mein Lebtag nit und wenn ich hundert Jahr' alt werd'. Tausendmal hab' ich mir's gewünscht: Wenn ich dem alten Hundling den Kragen dürft' umdrehn! … Aber wenn du dann einen Menschen so in der Todesangst siehst! … Wie eine Trompete war's zum Fenster heraus, im Nachthemd: Hiiiilfe! Hiiiilfe! Der Qualm ist schon um ihn gewesen … Und dann, wie das weiße Hemd durch die Zimmer huscht, von einem ins andere, manchmal wie von der Sonne beschienen … und immer dicker der Qualm, und aus der andern Seite wieder ein Fenster auf, daß der Flügel schebbernd herunterstürzt, und wieder aus dem dicken weißen Rauch sein verzweifeltes Schreien: Hiiiilfe! … Und abermals zurück, von einer Tür zur anderen – überall Flammen … so war er in der Mausefalle …«

Man lauschte gespannt, alles hielt den Atem an. Endlich fragte ein fremder Gast:

»Und da war es, wo der Brandstifter selbst, dieser Hundegger, oder wie er heißt …?«

»Ja. Auf springt er und schreit: ›Leitern her!‹ Und rennt selber nach der großen Feuerleiter – versteckt hatte er sie im Grasgarten – und schleppt sie, wie ein Ries', sag' ich dir, und kommt damit gerennt und lehnt sie an, da krachen schon oben die Dippelbäume nieder, im Vorzimmer, bei der Treppe – das war wie eine Explosion, Feuer und Qualm, und von da ab hat man nicht mehr nach Hilfe rufen hören und überhaupt keinen Sterbenslaut mehr.«

»Ja, warum ist denn der Hundegger dann trotzdem noch hinein?«

»Retten hat er ihn wollen, den Alten. Das ist das Merkwürdige daran. Wird halt geglaubt haben, daß er ihn doch noch herauszieht … Ganz ruhig ist er hinaufgestiegen, ein Beil in der Hand. Und oben dreht er sich um und macht ein großes Kreuz und zeigt in den Himmel hinauf, wie ein verrückter Pfarrer auf der Kanzel, und ruft herab: ›Könnt ihr lesen, ihr lieben Leut', was dort geschrieben steht?‹ Was steht denn geschrieben? fragte einer von unten. Und er darauf: ›Die Rache ist mein, spricht der Herr! Besser Unrecht leiden als Unrecht tun.‹ – Und darauf macht er noch einmal das Kreuz und steigt dann zum Fenster hinein. Gesehen und gehört hat man nichts mehr von ihm. Hat auch kein Vaterunser lang gedauert, so ist der ganze Kreuzhof zusammengekracht.«

»Er war halt doch verrückt, der Hundegger, ich bleib dabei?« sagte der Wirt; »er war mir schon immer verdächtig und hab' mir's gleich gedacht, wie er an dem Tag bei mir ist eingekehrt. Halt, denk' ich mir, der Hundegger, denk' ich mir, der gehört ins Bründlfeld! Na, ist's nicht wahr? Wenn er nicht überg'schnappt wär' gewesen, so hätt' er doch nicht den Kreuzhofherrn nachträglich wieder aus dem Glutkessel retten wollen, noch dazu mit eigener Lebensgefahr?«

»Vielleicht sind ihm die Grausbirnen aufg'stiegen,« meinte einer der Zuhörer. »Feuer machen ist halt was anderes als einen umbringen. Wenn der Kreuzhofherr verbrennt, wird er sich gedacht haben, so komm' ich an den Galgen. Und das war ihm halt doch zu dumm.«

»Kann schon sein,« gab der Einäugige zu und hob die Schultern hoch. »Kann aber auch sein, daß es anders war. Ich denk' mir halt, vielleicht hat's ihn gefuchst und gekränkt, daß er schließlich doch noch ein schlechter Kerl ist geworden. Von Haus aus war er doch eigentlich ein kreuzbraver Mensch, der Hundegger, und ein gutmütiger Kerl, dem keiner nie so was zugetraut hätt' … Aber manchen verfolgt's schon so höllisch, daß er ganz aus Rand und Band kommt … Und wenn einer sich dann vergißt, daß er schließlich nicht mehr weiß, was er tut …«

Und indem er sich unterbrach und ein paarmal aufseufzte, faßte er seine Gedanken unbewußt und zufällig in dieselben Worte zusammen, die einst Hundeggers Lieblingswendung gewesen waren: »Na ja, so is es halt … Was kann man machen?«


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