Emil Ertl
Freiheit die ich meine
Emil Ertl

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Unter der schattenden Esche, die ihre Äste und Zweige wagrecht über das Lattendach der Laube breitete, saßen zwei frische, hübsche Knaben einander gegenüber, jeder sein »Namenbüchlein« in der Hand, wie man damals die Kinderfibeln oder Abcbücher für den Elementarunterricht nannte. Ein schwüler Spätfrühlingsnachmittag brütete über dem großen, stillen Garten.

Aufrecht auf seinem Sessel, ohne sich anzulehnen, mit dem festen Vorsatz, die natürliche Trägheit zu überwinden, hielt Poldi die Augen streng auf die großen Lettern seines Buches gelichtet. Wenn er sich einen Satz recht eingeprägt hatte, deckte er die Hand darüber und versuchte es, ihn nachzusprechen. Es kostete ihn Mühe. Im Buchstabieren nahm er es mit jedem auf, aber Auswendiglernen war seine Stärke nicht. Leichter wär' es noch gegangen, hätt' er die Worte laut vor sich hinsagen können. Um aber den Bruder nicht zu stören, bewegte er nur stumm die Lippen: »Gottlieb und Emilie wurden in ihrer Jugend von ihrem Vater daran gewöhnt, früh aufzustehen ... «

Ein schwerer Seufzer, der von der andern Seite des Tisches kam, machte ihn aufblicken. Dort saß Fred auf der Bank, oder lag vielmehr in die Ecke hineingelehnt, zerstreut, unlustig, schwer unter der Hitze leidend, immer in Bewegung, verdrossen hin- und herwetzend oder seine dicke blonde Mähne ungeduldig mit der Hand aus den Schläfen streichend. Er hatte wieder seine liebe Not, der Ärmste, man sah es gleich. In Poldis weichem Herzen, das beinahe wie das einer Mutter um den jüngeren Bruder sorgte, regte sich das Mitleid.

»Fredl?«

»Hugh!«

»Sag, machst du es denn ordentlich?«

»Du siehst doch, wie ich wanze!« Sie hatten zu ihrer Erheiterung eine ganz eigene Sprache untereinander, die beiden Leodolterbuben. Ein wunderlich erdachtes und sorgfältig ausgebildetes Kauderwelsch, aus allen erdenklichen Bestandteilen gemischt, das sie mit Vorliebe pflegten. In dieser Sprache bedeutete »wanzen« so viel wie eifrig lernen.

»Das ist nicht gewanzt, was du treibst,« sagte Poldi ernst. »Gib acht, du wirst wieder nichts können!«

»Hugh!«

»Ich weiß, wie es kommen muß. Der Schinackel wird dich skalpieren!«

Schinackel war der Lehrer, und skalpiert werden hieß eine Strafe bekommen.

»Der Schinackel ist ein Bleichgesicht,« sagte Fred. »Ein Feigling, wer sich vor ihm fürchtet!«

»Ich sage nicht, daß du dich vor ihm fürchten sollst. Aber ein bißchen schämen solltest du dich, eine Strafe zu bekommen.«

»Hugh!« machte Fred abermals.

Poldi blickte bekümmert drein.

»Du machst dir freilich nichts daraus, ich weiß es. Mir aber tut es weh.«

»Was braucht dir eigentlich daran zu liegen?«

»Es ist halt einmal so. Wenn du eine Strafe bekommst, so möcht' ich am liebsten weinen.«

»Wer weiß, krieg' ich eine Strafe?« versuchte Fred ihn zu trösten.

»Sicher, wenn du so fortmachst! Geh, das könntest du mir ersparen! Hast du mich denn gar nicht ein wenig gern?«

»Riesig gern hab' ich dich, Poldi! So gern wie niemand sonst in diesen weiten Wäldern der Delaware«!«

»Willst du mir auch etwas zulieb tun?«

Begeistert horchte Fred auf. Er dachte an irgend etwas Großes, an ein Opfer, das er bringen, an einen Drachen, den er erlegen würde. Er war bereit, für Poldi im Kampf gegen die Mingos zu fallen.

»Alles, was du willst, Poldi! Alles, alles! Sprich, was soll ich tun? Du brauchst es nur zu sagen, und ich tu' es!«

»So lern' deine Lektion ordentlich! Du hast es ohnedies so leicht. Sieh, du brauchst die paar Zeilen nur zwei- oder dreimal durchzulesen, so weißt du sie auch schon auswendig!«

Etwas enttäuscht blickte Fred zu Boden. Er schien mit sich zu kämpfen.

»Gut! Dir zulieb!« Und plötzlich entschlossen, vertiefte er sich mit ehrlichem Vorsatz in sein Namenbüchlein.

Poldi bewegte stumm die Lippen: »Gottlieb und Emilie wurden in ihrer Jugend von ihrem Vater daran gewöhnt, früh aufzustehen ... «

An den Zweigen der Esche und an den Flieder- und Jasmingebüschen, die den Kiesweg säumten, rührte sich kein Laub. Das Fichtenboskett in der Nähe, das den lautlos fließenden Mühlbach von den Spalierobstpflanzungen, von den Erdbeerbeeten, Ribesstauden und Grasellen trennte, hauchte ab und zu unter der Glut der Sonne eine Wolke von würzigem Harzduft in die Luft. Und von weitem klang manchmal ein Geräusch, wie wenn die Kugel beim Kegelspiel durch den Kugellauf kollert. Es war aber das Rollen des Donners in der Ferne ...

Auf einmal fuhr Poldi erschrocken zusammen. Freds Namenbüchlein war auf den Tisch geflogen.

»Der Schinackel soll sich einen andern suchen! Bei der Hitze ist es einfach nicht möglich, zu lernen!«

»Fredl, ich bitte dich!«

»Ich will dir etwas sagen, Poldi?«

»Geh, du bist häßlich!«

»Es muß wieder einmal ein Böller gesetzt werden!« sagte Fred mit Überzeugung.

Poldi erbleichte. In ihrem Sprachgebrauch bedeutete »einen Böller setzen« ungefähr so viel wie einen Streich ausführen, etwas tun, das das ganze Haus alarmierte.

»Um Gotteswillen keinen Böller, Fredl, wenn du mich lieb hast! Komm, wir wollen miteinander wanzen! Du sollst sehen, wie leicht es geht, wenn ich dir's vorsage. Magst du?«

»Hugh!«

»Also, gib acht! Gottlieb und Emilie wurden in ihrer Jugend von ihrem Vater daran gewöhnt, früh aufzustehen.

Dieses wurde ihnen anfänglich sehr schwer ... Merkst du auch auf, Fred? Was wurde ihnen schwer?«

»Daß sie von ihrem Vater daran gewöhnt wurden,« stöhnte Fred mißmutig.

»Früh aufzustehen nämlich! Gut!« Poldis Langmut und Geduld schienen unerschöpflich. »Richtig! Also! Dieses wurde ihnen anfänglich sehr schwer, nach und nach aber immer leichter; jetzt ist es ihnen schon zur Gewohnheit geworden ... Kannst du Gewohnheit buchstabieren, Fred?«

»Denke wohl, das werd' ich gerade noch treffen!«

»Also buchstabiere einmal! Ich bin sicher, der Schinackel läßt dich Gewohnheit buchstabieren!«

»Meinetwegen! Dir zulieb, Poldi! Ge–e–we–, Gew–.«

»«Nein, das We gehört zur zweiten Silbe. Ge–e, Ge–, we–o–ha–en, wohn–, Gewohn ... Weiter?«

»Ha–a–i–de, haid, Gewohnhaid.«

»O! du! Ums Himmelswillen! E und hartes Te, nicht A und De! Hörst du?«

»Hartes oder weiches De – das bleibt sich doch wirklich gleich?«

»Nein, das bleibt sich nicht gleich, du! Gerade darauf kommt es dem Schinackel an, das kannst du mir glauben! Ich bitte dich, Fredl, merk' dirs gut? Ha–e–i–te, –heit! Nicht wahr? Wirst du dirs merken? Gelt?«

»Meinetwegen! Dir zulieb!« sagte Fred.

»Gut! Also! Jetzt ist es ihnen schon zur Gewohnheit geworden, Und wenn sie nun die Sonne so schön aufgehen und das prächtige Morgenrot sehen, die angenehme Kühle des Morgens fühlen und im Frühlinge die Nachtigallen und Lerchen hören ... «

»Eine Infamie!« sagte Fred empört und seine Augenbrauen zogen sich trotzig zusammen. »Das Häferl geht über,« pflegte Onkel Muschir zu sagen, wenn so der Jähzorn über ihn kam ...

»Was hast du nun wieder?«

»Eine Infamie! Weil es erlogen ist! Die Nachtigallen singen garnicht am frühen Morgen!«

»Doch! Warum nicht?« Poldi dachte nach. Es stiegen ihm selbst Bedenken auf. »Hier stehts im Namenbüchlein,« entschied er: »Die angenehme Kühle des Morgens fühlen und im Frühlinge die Nachtigallen und Lerchen hören ...«

»Es ist aber nicht wahr! Die Nachtigallen singen am Abend und in der Nacht, darum heißen sie Nachtigallen.«

»Es wird halt auch Nachtigallen geben, die am Morgen singen. Wenn es hier steht, so muß es wahr sein.«

Fred wurde bleich vor Zorn.

»Und wenn es zehnmal da steht, so ist es doch nicht wahr!«

»Gut! Aber lernen müssen wir es, da es einmal hier steht!«

»Was nicht wahr ist, lerne ich nicht!« sagte Fred.

Poldi redete ihm zu und gab sich die größte Mühe, ihn zu besänftigen.

»Nein, ich lerne es nicht!« erklärte Fred aufgebracht.

Poldi bat, flehte. Wenigstens ihm zulieb mög' er es lernen. Es war alles vergebens. Fred blieb halsstarrig. Nein! Etwas, daß nicht wahr sei, könn' er auch ihm zulieb nicht lernen.

»Es muß ein Böller gesetzt werden!« sagte er düster.

Und als Poldi wieder von vorne beginnen wollte: »Gottlieb und Emilie wurden in ihrer Jugend ...,« da hielt Fred sich mit beiden Händen die Ohren zu.

*


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