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Anmerkungen und Ergänzungen

Verzeichnis der Abkürzungen

Die sechs Bände der «Theoretischen Schriften» in Paul Ernsts «Gesammelten Werken» (München 1928–1935) sind angeführt unter:

C = Ein Credo (Ausgabe 1935)

EG = Erdachte Gespräche

GG = Grundlagen der neuen Gesellschaft

TeD = Tagebuch eines Dichters

WzF = Der Weg zur Form (Ausgabe 1928)

ZI = Der Zusammenbruch des Deutschen Idealismus.

Die beiden selbstbiographischen Darstellungen unter:

JE = Jugenderinnerungen (1930)

JJ = Jünglingsjahre (1931).

Mit dem «Register zum Drama» ist gemeint das «Namen- und Sachregister zum Drama für die theoretischen und selbstbiographischen Schriften von Paul Ernst» im Jahrbuch 1939 der Paul-Ernst-Gesellschaft «Paul Ernst und das Drama» S. 306–322.

Zur Entstehung des Buches

Als Paul Ernst sich während der Nachkriegsjahre in wirtschaftlichen Nöten befand, wurde ihm angeraten, eine Weltliteraturgeschichte zu verfassen; er sei der Mann dazu, und mit einem solchen Werk könne und werde er äußeren Erfolg wie tiefere Wirkungen haben. Paul Ernst, der damals auf seinem oberbayrischen Bauerngut Sonnenhofen am «Kaiserbuch» arbeitete, lehnte den Vorschlag ab: eine derartige Brotarbeit würde ihn zwei gute Jahre beanspruchen, dazu müßte er um der Bibliotheken willen wieder in die Stadt ziehen, und vor allem, so lautete seine ausschlaggebende Begründung: «Sagen Sie einem Maler, der eben sein Hauptwerk malt, er solle eine Kunstgeschichte schreiben! ...»

Ernst lehnte den Vorschlag ab, obwohl er wie kaum einer dazu befähigt war, die überkommenen literarischen Bestände nach den Bedürfnissen unserer Zeit und unseres Volkes neu zu sichten. Die Gründe seiner Ablehnung waren triftig: sein Kaiserbuch war wichtiger als eine neue Literaturgeschichte. Aber glücklicherweise haben wir das Bild der Weltliteratur, wie es in Paul Ernst lebte, zum großen Teil dennoch erhalten. Bei der Durchsicht seines hinterlassenen Schrifttums zeigte es sich nämlich, daß er im Laufe seines Lebens zu fast allen wesentlichen Dichtungen sich in Aufsätzen, Einführungen, Vorträgen oder Besprechungen geäußert hat, und es bedurfte nur einer ordnenden Auswahl, um aus den vielen Einzelarbeiten ein in sich einigermaßen rundes Werk entstehen zu lassen.

Das Besondere dieser hier nun in zwei Bänden vereinigten Arbeiten liegt zunächst einmal darin, daß sie von einem Dichter stammen, der in ungewöhnlichem Maße um sein Handwerk Bescheid wußte und dem dies Dichtungshandwerkliche aufs engste mit den allgemeinen ästhetischen, sittlichen und religiösen Fragen verbunden war. Nach seinem eigenen Ausdruck verhält sich der Dichter zu dem Germanisten, Literarhistoriker und Ästhetiker so wie der selbstschaffende Philosoph zum bloß gelehrten Philosophieprofessor: in den entscheidenden Fragen und Wertungen sind die Schaffenden die eigentlichen Sachverständigen. Paul Ernst gelangte bei seinen Untersuchungen zur Technik, oder wie er später sagte, zum Handwerk der Dichtung denn auch fast immer zu Grundfragen des menschlichen Daseins, ja, Formerkenntnis bedeutete ihm im Grunde sittliche Erkenntnis, und von der Kritik der Formen führte ihn der Weg zur Kritik der Sprache wie der «falschen Gefühle». Schließlich geht es bei seinen literarkritischen Arbeiten um das Gleiche wie in seinen Dichtungen, nämlich um ein neues Weltbild: und im Gewand der Dichtung fühlte er Religion.

Sodann aber – und dies war für die vorliegende Auswahl und ihren Titel der leitende Gesichtspunkt – sah Ernst in den Dichtungen einen aus den seelischen Tiefen kommenden Wesensausdruck der Völker und Zeiten, empfand deren Weltdeutung und ihren Geltungsanspruch als ein politisch fühlender Deutscher wie als Mann der Gegenwart und setzte sich mit ihnen darum oft leidenschaftlich auseinander. Über das eigentümliche Verhältnis zwischen Volk und Dichtung sagte er («Russische Religion» in «Der Tag» 1909, Nr. 296): «Was ein Volk ist, das erfährt man am besten von seinen großen Dichtern: was ein Volk ist, nicht die Anzahl der Individuen, aus denen es sich zusammensetzt, Volk ist ein Begriff, vielleicht ein Ziel, und es ist so verschieden von der Wirklichkeit jener Anzahl von Einzelmenschen, daß gerade die nationalen großen Dichter am seltensten Typen aus der Wirklichkeit genommen haben, die sie umgab. Die Gestalten Goethes, Dantes und Corneilles wandern nicht auf den Straßen von Berlin, Rom und Paris, und dennoch stellen die drei Dichter ihre Völker dar.» Und in einem etwas später verfaßten Aufsatz («Das russische Ideal» in «Vossische Zeitung», 16. Mai 1915, Nr. 247) heißt es: Für die Entstehung der Kriege seien «auch die politischen Motive nicht das Letzte. Das Letzte sind die unfaßbaren, dem Einzelnen oft unbekannten, der Gesamtheit fast nie klar bewußten Triebe der Nation, Am ersten kann man diese verstehen, wenn man die Dichter eines Volkes studiert, denn die Dichter sprechen aus, was die Anderen verschweigen müssen, weil sie es nicht formen können.» –

Die abgedruckten Aufsätze entstammen der Zeit von 1892–1931, was eine Reihe von Abweichungen in der Auffassung mit sich bringt, – Paul Ernst war in seiner abgelegenen Harzheimat mit der Bibel und den deutschen Klassikern aufgewachsen, hatte eine humanistische Schulbildung erhalten und früh die Vorteile seiner Zeit zu nutzen gewußt, deren Bildungsbestreben eine ganze Reihe von Weltliteraturgeschichten hervorbrachte und in billigen Heftleihen gleich denen von Reclam, Hendel oder Spemann die Werke vieler Zeiten und Völker vermittelte. Als Kleinstädter und Theologiestudent kam er nach Berlin, lernte dort die Sozialdemokratie wie die damals einströmende russische, skandinavische und französische Literatur des 19. Jahrhunderts kennen und suchte diese ihn ergreifenden Eindrücke in sich zu verarbeiten. Seine früheste Schrift hieß «Leo Tolstoi und der slawische Roman»; der damals Zweiundzwanzigjährige hatte sie im September 1888 anläßlich des 60. Geburtstags von Tolstoi zunächst als mehrteiligen Aufsatz in der Vossischen Zeitung (Sonntagsbeilage 37–39) unterbringen können. Bald folgten ähnliche Arbeiten über Dostojewskij, Ibsen und Björnson, Balzac, Maupassant oder über den Naturalismus, von denen unser Band nur die Darstellung Flauberts enthält. Als sich die Hoffnungen, die der unruhvoll Suchende auf Sozialismus, Wissenschaft und die Dichtung jener Zeit gesetzt hatte, wieder zerschlugen, rettete er sich in die Vergangenheit und zu den klassischen Werken, Er erlebte nun in der Begegnung mit den antiken, altnordischen, mittelalterlichen und fernöstlichen Dichtungen große Formen, hohe Gesittung und vornehm stolzes Fühlen; und zugleich mit dem Offensein für die Werke der Weltliteratur erfolgte eine Besinnung auf die Werte der eigenen Rasse, des eigenen Volkes und ein tieferes Verstehen von Nietzsches Ethos. Ernst fand jetzt seinen «Weg zur Form» und zum eigenen dichterischen Werk. Um die Jahrhundertwende kam er auch in engere Fühlung mit dem aufblühenden deutschen Verlagswesen, so mit dem Verlag von Eugen Diederichs, mit der «Insel», mit Georg Müller oder R. Piper, und als Übersetzer, Anreger, Herausgeber und Kritiker hat er vielerlei bewirkt. Seit dem Weltkrieg verstärkte sich Ernsts völkische Einstellung, zugleich aber auch seine deutsche Selbstkritik, wie denn überhaupt bei ihm die Beurteilung fremder Werke viel Selbstkritik einschließt. In den späteren Jahren ging seine literarische Betrachtung mehr und mehr mit umfassender Kulturkritik überein, und auf viele Weisen hat er die Bedeutung der Dichtung im Leben der Völker als einer die Gefühle und Vorstellungen formenden Macht dargelegt. –

Da die Aufsätze zum Teil nur in ungenauen Zeitungsabdrucken vorlagen und nach Rechtschreibung und Zeichensetzung sehr ungleichmäßig behandelt sind, wurde hier eine mittlere Linie zwischen der heutigen Rechtschreibung (Duden) und den etwas unregelmäßigen Stileigenheiten Paul Ernsts einzuhalten erstrebt.

Grundformen der Dichtung

Gesprächsweise deutete Paul Ernst im Sommer 1932 einmal an, daß er seine verstreuten Einsichten über die Dichtung und ihre Formen in einem größeren Werk zusammenfassen wolle, wenn er über die gefühlte gesundheitliche Krise hinwegkommen sollte. Dazu kam es nicht. Aber der Abschlußaufsatz der GG «Die Aufgabe der Dichtung» (S. 577), der Vortrag «Mein dichterisches Erlebnis» ( C S. 7) oder der Beitrag zu einem Sammelwerk «Das deutsche Volk und der Dichter von heute» ( C S. 339) vermitteln doch eine Vorstellung davon, wie Ernst in seinem Alter die volkhafte, religiöse und menschheitliche Aufgabe der Dichtung gesehen hat. Zu diesen späten Arbeiten gehört auch der Vortrag « Das Handwerk des Märchens», den Ernst auf Veranlassung von Prof. Julius Petersen im Januar 1931 in der Aula der Berliner Universität vor Studenten der Germanistik gehalten hat. Die sich anschließenden Aufsätze dieses vornehmlich dem Märchen und der Erzählkunst im allgemeinen gewidmeten Abschnittes, der in mancher Hinsicht die Untersuchungen im «Weg zur Form» ergänzt, geben teils ausführlichere Beispiele, teils sind sie Vorstufen und Abwandlungen zu dem Berliner Vortrag. Auch ein mit dem hier bereits Gesagten sich vielfach überschneidender Aufsatz anläßlich der Sammlung «Die Märchen der Weltliteratur» des Diederichs-Verlages («Der Tag», 25. November 1917) gehört hierher: wir bringen folgenden Ausschnitt daraus:

«Die Welt des Märchens ist nicht die Welt wie sie ist: auch nicht, wie sie sein soll! sondern wie der Mensch sie sich wünscht ... Einer der am tiefsten wurzelnden Wünsche ist, daß der Gute belohnt und der Schlechte gestraft werden möge. Dieser Wunsch ist so tief bei uns, daß er sogar oft unsere Blicke fälscht, daß wir oft genug überzeugt sind, wir beobachteten seine Erfüllung im täglichen Leben. Eine der aufrüttelndsten Wirkungen der Tragödie besteht darin, daß die Falschheit dieser geglaubten Tatsache aufgewiesen wird und auf das Gemüt wirkt. Die Theorie hat den Gedanken von der tragischen Schuld gebildet: so unmöglich schien es den Menschen, daß eine solche Dichtung sein könne, welche diesem tiefsten Wunsch nach gerechtem Lohn für das Handeln widerspricht ... Sehr oft sind die Wünsche gar nicht begrifflich zu sagen, umfassen sie eine bildliche Vorstellung. Man denke an das reizende Märchen von Goethe «Die neue Melusine». Hier ist der naive männliche Wunsch erfüllt, der wohl oft genug dem Mann nicht klar wird; dazu aber in einer reizenden Form: daß die Geliebte und ihr ganzes Haus nach Wunsch so klein werden kann, daß sie mit dem Haus als Kästchen in der Hand getragen wird. Sobald man das mit trockenen Worten sagt, ist es unsinnig; der uneingestandene und ungebildete Wunsch wird durch die anmutige Erzählung gestaltet, und so leben wir denn nun, wenn wir die Geschichte lesen, in einer Welt, die ihm ganz entspricht ...

Der andere Grund des Reizes der Märchen ist ihr eigentümlicher Vorstellungskreis, – Ein blindes und taubstummes Mädchen, das auch fast ohne Geruchssinn war, namens Laura Bridgmann, ist wissenschaftlich berühmt geworden, weil man das unglückliche Geschöpf genau hat beobachten können. Das arme Wesen vermochte eine Kenntnis der Außenwelt fast nur durch den Tastsinn zu gewinnen. Demzufolge konnte sie nur sehr wenig Begriffe entwickeln und blieb in ihrem Denken größtenteils in den Spezialvorstellungen. Ihr Lehrer bringt ihr etwa den Begriff des Jenseits bei: sie stellt sich das Jenseits aber als eine Schule vor. – Wir müssen uns bei den früheren Menschen die geistige Entwicklung ähnlich denken, wie bei Laura Bridgmann. Die Märchen sind gedichtet von solchen Männern, die noch ähnlich dachten wie Laura, die etwa den Palast des Königs sich in der Weise vorstellen wie Laura das Jenseits, nämlich mit den aus ihren nächsten, einfachsten Erfahrungen gewonnenen Vorstellungen. Wenn Völker noch heute auf der Stufe stehen, daß sie gläubig Märchen erzählen, und schon Einflüsse der Zivilisation erfahren haben, dann kommen durch diesen Umstand ganz schnurrige Erscheinungen zutage, wie etwa in einem griechischen Volksmärchen die jüngste Königstochter am schönsten auf der Nähmaschine nähen kann ... Nun muß auch uns heutigen Menschen, die wir so sehr viel abgezogen denken und auch in den Dichtungen Abziehungen anwenden, diese urtümliche Art der Darstellung die immer noch vorhandenen Instinkte aus den Urzeiten erschüttern, so daß ein Gefühl des Urvertrauten entsteht, eine Wärme und Behaglichkeit, neben der uns unsere heutige, abgezogen ausgedrückte Welt als kalt und unbehaglich erscheint ...»

«Jede Art von Dichtung, welche die gleichen Mittel [wie das Märchen] anwenden kann, wird sofort einen ungemeinen Vorsprung vor andern haben in der Wirkung auf das Gemüt. – Es gibt bekanntlich eine Art von tiefstehender Bühnenliteratur, die hauptsächlich das Mittel der Wunscherfüllung auf Belohnung der Guten und Bestrafung der Schlechten anwendet. In Paris bestehen ganz obskure Vorstadttheater, in welche das ärgste Gesindel strömt und sich vom Sieg der Tugend über das Laster rühren läßt: der Instinkt ist so tief, daß er gegen die unmittelbaren Lebensinteressen der Leute geht. Weshalb finden wir solche Theaterstücke schlecht und finden Märchen, die ihnen durchaus entsprechen, schön? Mit der sogenannten Verlogenheit ist nichts erklärt, denn das Märchen ist um nichts wahrer als das sentimentalste Stück, Sollte nicht der Grund darin liegen, daß uns im Märchen überhaupt eine phantastische Welt aufgerollt wird, daß wir von Anfang an uns ironisch zu dieser Welt stellen, in welcher die Königstöchter im Nähen mit der Nähmaschine untereinander wettstreiten? Dann wäre doch zu bedenken, daß die Dichter und früheren Erzähler dieser Märchen gläubig waren und die Märchenwelt nicht ironisch auffaßten, denn sie entsprach ja ernsthaft ihren Vorstellungen. Es würde dann also das Märchen an sich, wie es eigentlich gemeint war, durchaus dem heutigen Vorstadtstück wesensverwandt sein? Vielleicht wäre der ganze Unterschied nur, daß der alte Märchendichter naiv dichtete, der Skribent aber, der diese Stücke schreibt, selber nicht an sie glaubt und auf die Gläubigkeit der Zuschauer rechnet, daß die Ironie also in ihm sitzt? Und würde daraus das kommen, was wir als Unwahrheit empfinden, während wir die Märchen als wahr auffassen? – Die Ästhetik hat sich mit diesen Problemen noch nicht beschäftigt. Die schlechte Literatur wird gewöhnlich gar nicht beachtet; und doch findet sich in ihr viel Merkwürdiges. Vielleicht wird man einmal solche Untersuchungen machen, wenn man nicht mehr, wie heute, vom Dichter ausgeht, sondern vom Leser.»

Paul Ernst war sich übrigens darüber klar, daß allgemeinhin der Begriff «Märchen» kein ästhetisch formaler Begriff ist, sondern daß man unter ihm die verschiedenartigsten Erzählungen zusammenfaßt, in denen wunderbare, übernatürliche Ereignisse vorkommen; so sind die religiös gefühlten Märchen der Inder etwas durchaus anderes als unsere Kindermärchen; und literarische Märchen, wie die von E. T. A. Hoffmann, waren für Ernst überhaupt keine echten Märchen. – Weiteres zum Märchen, zu diesen «schönsten Dichtungen», siehe in den «Beiträgen zum Kaiserbuch», Jahrbuch 1936 der Paul-Ernst-Gesellschaft, S. 106–119.

Kunstmärchen: Diese Betrachtung entstand anläßlich einer Neuausgabe von Basiles in neapolitanischer Mundart geschriebenem Pentamerone in der durch Hanns Floecke erneuerten Übersetzung von Felix Liebrecht (Verlag Georg Müller). Bereits die Brüder Grimm haben für Giambattista Basile (1576–1632), diesen barocken Märchenerzähler und ersten wirklichen Märchensammler Europas, viel übrig gehabt, und Jakob Grimm hat die 1846 erschienene Übersetzung Liebrechts mit einer Vorrede versehen.

Tausendundeine Nacht: Das hier gekürzte Nachwort entstammt einer 1911 im Insel-Verlag erschienenen vierbändigen Auswahl, die Paul Ernst aus der von Felix Paul Greve besorgten zwölfbändigen Gesamtausgabe der arabischen Märchensammlung getroffen hat. Auch das bereits von Goethe in der elfbändigen Ausgabe von der Hagens besprochene Gegenstück zu Tausendundeine Nacht, nämlich die Sammlung «Tausendundein Tag», hat Ernst, der wie wenige das gesamte in deutscher, französischer und italienischer Sprache zugängliche Märchengut kannte, in einer inhaltlich weitgehend veränderten und auf seine Veranlassung neu übersetzten Auswahl herausgegeben (Insel-Verlag 1909/10, Neuausgabe 1925. Vier, später zwei Bände). Eine durch ihn als «schönes poetisches Lesebuch» gleichfalls neu zum Druck gebrachte Sammlung sind ferner J. G. von Hahns «Griechische und Albanesische Märchen» (Verlag Georg Müller, München 1918).

Dichtungen Afrikas: Die hier fortgelassene zweite Hälfte des Aufsatzes «Menschenseelen in Afrika» verfolgt im Zusammenhang mit den Funden und Theorien von Frobenius die kulturhistorischen Fragen der Herstellung der Nephritwerkzeuge sowie der Erfindung und der Herstellung der Bronze.

Tamerlans Spaßmacher: Zu einer von Albert Wesselski herausgegebenen Sammlung von 515 Schwänken Nasreddins des Schulmeisters (genau Nasr-ed-Din Chodscha), einer Volksgestalt, die mit unserem Eulenspiegel große Ähnlichkeit hat (2 Bde., Weimar 1911). Die kulturkritisch gehaltenen Bemerkungen zeigen zugleich Ernsts Liebhaberei für volkstümliche Schnurren, Lügengeschichten und dergleichen, die z. B. auch sichtbar wird in der von ihm witzig eingeleiteten Ausgabe von «Des Herrn von Münchhausen Tischgesprächen» (Verlag Georg Müller, 1911), einer Übersetzung von Philippe d'Alcripes « La nouvelle fabrique des Excellens Traits de Vérité» (1579).

Antike

Auch für Paul Ernst war die Antike Grundlage und Höhepunkt unserer europäischen Kultur. In dem Bericht über seine Bibliothek (1914) schrieb er: «... mir schien immer, daß man die Alten nicht mehr liest, gleichzeitig Folge und Ursache mit des geistigen Rückganges der modernen Menschheit zu sein. Auch die geringeren unter den alten Männern ... haben doch noch soviel Natur, noch soviel Kunst, daß sie uns immer auf einer Höhe halten, von der aus alles, was wenigstens bei uns heute Geltung hat, überhaupt nicht sichtbar ist.»

Für Homer hatte Ernst eine «leidenschaftliche Verehrung». Siehe JE S. 222 ff., ferner EG S. 33 «Die Macht». Die beiden homerischen Epen haben Ernst durchs Leben begleitet, wenn er auch später der Homer-Kritik des ihm befreundeten Philologen Eduard Schwartz folgte, ja sie in gewisser Hinsicht noch ausbaute ( C S. 74 ff.).

Über die Dichtungen der Tragiker wie über griechische Kultur überhaupt siehe vor allem die ersten Aufsätze des ZI; stichworthafte Einzelangaben zur griechischen Tragödie und Komödie im «Register zum Drama».

Horaz und Vergil ( C S. 312) waren ihm vor allem große Männer, die der Schwung eines gewaltigen Geschehens trug und durch die eine große politische Idee sprach.

Von den Werken über die Antike schätzte Ernst insbesonders die von Fustel de Coulanges, von Eduard Meyer, dessen «Geschichte des Altertums» er in der dritten Auflage unter dem Titel «Ein klassisches Geschichtswerk» anzeigte (Berliner Tageblatt 1909, Nr. 299) und von Jacob Burckhardt, dessen «Griechische Kulturgeschichte» er bei ihrem Erscheinen gegenüber den Ansprüchen der «neuesten» Forschung in ihrem Eigenwert verteidigte (Posener Zeitung, 31. Januar 1899: abgedruckt im 2. Band dieser Aufsatzsammlung).

Sophokles: Dieser Essay erschien 1905 als Band 37 der von Paul Remer herausgegebenen Sammlung «Die Dichtung» (Verlag Schuster und Loeffler, Berlin). Auf S. 86 nach Z. 6 von unten ist eine genaue Inhaltsangabe von Hofmannsthals «Elektra» fortgelassen. – Aufschlußgebend ist ein Vergleich zwischen der hier und der zehn Jahre später im ZI veröffentlichten Auffassung von den «Trachinierinnen».

Herodots orientalische Königsgeschichten: Vorwort von Bd. 6 der «Fünfzig Bücher» des Ullstein-Verlages, Berlin.

Daphnis und Chloe: Vorwort von Bd. 46 der «Liebhaber-Bibliothek» des Verlages Kiepenheuer, Weimar.

Ein Hauptstück Weltgeschichte: Anfang der 90er Jahre beschäftigte sich Ernst eingehend als Soziologe und Historiker mit dem Untergang der Antike ( JJ S. 267), wovon damals nur eine umfangreiche Studie «Die sozialen Zustände des Römischen Reiches vor dem Einfall der Barbaren» («Die Neue Zeit», 1893, Jg. 11, Nr. 34–39, rund 40 S.) das äußere Ergebnis war. Doch hat Ernst später mehrfach auf seine Forschungen zurückgegriffen.

Der ferne Osten

Von der chinesischen Gesittung hatte Ernst in seiner Sozialistenzeit durch das Buch eines französischen Konsuls (G. Eug. Simon: « La cité chinoise», Paris 1890) einen nachhaltigen Eindruck bekommen. In einem Aufsatz «Ostasiatische Lyrik» («Der sozialistische Akademiker» Jg. 2, H. 8) vom August 1896, darin er auch seine Bewunderung für die ostasiatische, vor allem japanische Graphik ausspricht, zeigt er sich mit der chinesischen Literatur, insbesondere mit der Lyrik in ihren verschiedenen, zum Teil auch lateinischen Übersetzungen, recht vertraut. Als dann vor dem Weltkrieg im Diederichs-Verlag eine von Richard Wilhelm betreute Sammlung von Klassikern der chinesischen Philosophie zu erscheinen begann, schrieb er (« Konfuzius» in «Der Tag», 7. Mai 1911), daß wir heutigen Europäer bei den Chinesen «eine grundsätzlich neue Stellung des Menschen zu dem, was er als Zweck seines Lebens empfindet, kennenlernen». «Alle Kulturen, von denen wir wenigstens etwas Wesentliches wissen, haben als letzte Einheit den Einzelmenschen, die chinesische Kultur aber nimmt als Einheit immer die Gesellschaft an. Man muß sich diesen grundlegenden Unterschied klarmachen, wenn man die merkwürdigen Erscheinungen der chinesischen Kultur gerecht würdigen will: die Bindung durch die Form, den Konservatismus, die andere Art von Wahrhaftigkeit, die Beschränkung auf das Diesseitige und das Ablehnen des Metaphysischen, die Hochachtung der Höflichkeit u. a. m. Es ist nicht so leicht, sich in diese ganz andere Art von Wertschätzungen und Empfindungen hineinzufühlen, bis man das Wunderliche und Fremdartige als organisch und natürlich empfindet.» Er fügte hinzu: «Es stehen uns wichtige Berührungen mit dem chinesischen Volk bevor: wahrscheinlich wird für absehbare Zeit der Inhalt der Weltgeschichte der Kampf unserer Kultur, zu der man auch die Inder und die mohammedanischen Völker rechnen kann, mit der Kultur der Chinesen sein: für diese Auseinandersetzung muß man den Gegner kennen: und die Wurzel einer jeden Nation ist ihre Religion.»

Belege für Ernsts Beschäftigung mit China sind im ZI S. 456 die «Das Maschinenherz» betitelte Predigt über einen altchinesischen Text, nämlich über die Geschichte «Der Ziehbrunnen» von Tschuangtse, im WzF S. 337 der Aufsatz «Eine chinesische Novelle» (1919), in der Schrift «Zusammenbruch und Glaube» S. 29 das Kapitel «Von der Kultur zur Zivilisation», in C S. 168 die sich auch auf Indien und Ägypten erstreckende Betrachtung «Die Kunst des Orients», ferner einzelne Anklänge, wie sie etwa von Tau Yüan Mings Gedicht «Die Sage vom Pfirsichblütenquell» in dem Gedicht «Beim namenlosen Volk» («Gedichte und Sprüche» S. 44) sich vorfinden.

Chinesische Märchen: In einer Anzeige («Das literarische Echo», 1911, Jg. 14, Spalte 1668/9) rühmt Ernst an den «Chinesischen Geister- und Liebesgeschichten» des Pu-Sung-Ling ihre ... «anmutige, leichte und klare Poesie jenseits aller Leidenschaft und alles Triebhaften, die etwa der hellenistischen Dichtung ähnlich sein mag ... Hier ist Kultur und Delikatesse, und irgendwelche alten Vorstellungen und Erzählungen sind durch einen auf das höchste gebildeten Geist als künstliche Fabeln dargestellt». Die Fabel des Kaiserbuch-Märchens «König Weisel» (Die Schwabenkaiser: Volksausgabe S. 638) geht auf eine dieser «Geschichten aus dem Liao Chai» zurück.

 

Die Welt der Inder, dieses «religiösen Volkes der Weltgeschichte neben den freilich sonst ganz anders gearteten Ägyptern», ist leider hier nicht der großen Bedeutung entsprechend vertreten, die sie für Paul Ernst hatte. Zur altindischen Literatur siehe EG S. 38 «Die Güte» mit der Sehergestalt Yagnavalkya aus den Upanischaden, ferner ZI S. 44 über die Legende vom Nariketas-Feuer, die das Kaiserbuch-Märchen «Der Jüngling und der Tod» umgebildet hat: zum Mahabharata (insbesondere zu Nala und Damajanti) TeD S. 309 «Das Böse», ferner EG S. 207 «Der Gott und der Hanswurst» (Bhagavadgita). Eine ähnliche Höhe der Idealisierung des Menschen erreichte in manchem auch der Buddhismus, dessen geistliche Dichtungen aber für uns wohl eine Erholung vom Kampf in dieser Welt der Wirklichkeit sein können, doch mehr nicht sein dürfen. Ein umfänglicher Aufsatz über «Die Lieder der Mönche und Nonnen Buddhas», der von dem klassischen Buddhawerk Oldenbergs ausgeht, mußte aus Raumgründen hier fortfallen («Magazin für Literatur» 1899, Jg. 68, Nr. 11/12). Zum Buddhismus ferner C S. 239 «Kultur und Zivilisation» (1919), dazu auch «Karl Eugen Neumann» (Buddha-Übersetzer) in «Der Tag», 26. April 1919, Nr. 88. Ferner EG S. 159 «Sich von der Welt unbefleckt halten» und EG S. 249 «Die Welt überwinden». – Zur indischen Geisteshaltung überhaupt EG S. 234 «Das Schicksal», auch «Indische Märchen» (Münchner Neueste Nachrichten 1921, Nr. 266); weitere Angaben bei Hasso Härlen in «Die Neue Literatur» Mai 1939, S. 266/9.

Zur persischenLiteratur vgl. EG S. 166 (Zarathustra), EG S. 181, C S. 51 (Firdusi) und ZI S. 40–46 (Lyriker und Mystiker).

Zur neueren europäischen Literatur

In den beiden Aufsätzen dieses Abschnittes treten zwei Gesichtspunkte hervor, die für Paul Ernsts Betrachtung des neueren europäischen Schrifttums bezeichnend sind.

Der Kriegsaufsatz «Im Spiegel der Dichtung» sucht an verschiedenen Gestaltungen des gleichen dichterischen Erlebnisses – es ist die auch Ernsts Tragödie «Brunhild» zugrunde liegende Spannung zwischen höherem und gemeinem Menschen – die verschiedene Wesensart und das dementsprechende Kulturwollen der damals miteinander kämpfenden Völker darzulegen. Ernst hat diese Betrachtung wohl absichtlich in keine seiner Aufsatzsammlungen aufgenommen, weniger weil die Gleichsetzung Shakespeares mit den heutigen Engländern seiner eigenen Anschauung vom Entwicklungsbruch im englischen Volk nicht recht entspricht oder weil der Othello, neben dem es ja auch einen Coriolan oder Hamlet gibt, als Beispiel zu absolut genommen erscheint, sondern weil er später den Deutschen Idealismus als bereits geschichtlich gewordene, letzthin mißglückte Erscheinung ansah und ihn nicht mehr wie damals mit dem Geist des deutschen Heeres gleichsetzte. In unserm Buch jedoch vermag der charakteristische Aufsatz, der den Ausgangspunkt für die späteren Auseinandersetzungen im ZI andeutet, eine Grundeinstellung sichtbar zu machen.

Die ein Jahrzehnt jüngere Anzeige der Romansammlung «Epikon» (Paul List Verlag, Leipzig) «Der europäische Roman» zeigt Zusammenhänge auf zwischen dichterischem Gestalten und gesellschaftlichem Zustand und spinnt Gedankenreihen an, die in Aufsätzen gleich denen zu Fielding, Thackeray oder Ibsen sowie allgemeiner in den GG behandelt sind.

Ein dritter für Ernst wesentlicher Gesichtspunkt war die Betrachtung der Sprachen, die Frage nach ihrer Ausdrucksfähigkeit, nach ihren besonderen Anlagen und nach ihrem heutigen Zustand. Vergleiche hierzu vor allem die Untersuchung «Eine Wortgeschichte» in WzF S. 397. Auch die Aufsätze zum fremdsprachlichen Unterricht («Fremde Sprachen» in «Der Tag», 16. Mai 1915, Nr. 113, und «Der französische Schulunterricht» in «Münchner Neueste Nachrichten», 17. August 1921, Nr. 344) sind hierfür bemerkenswert. Neben einer Erwägung der russischen Sprache («jedenfalls ist die russische Sprache in ihren sinnlichen Ausdrucksmitteln sehr hochstehend; sie übertrifft an Anschauungskraft sogar die deutsche, wenn sie auch, wie es scheint, höhere Dinge noch nicht mitteilen kann; die deutsche Sprache kann das schon seit Meister Ekkehart») betont er die Vorzüge der italienischen und spanischen Sprache gegenüber der französischen, die in ihrer Entwicklungsrichtung auf die Gesellschaftlichkeit immer unfähiger für wirkliche Dichtung und den Ausdruck bedeutender Gedanken werde.

Slawische Literatur

«Noch heute ist mir das Gefühl in der Seele, das ich hatte, als ich zum ersten Male Tolstoi und Dostojewskij in die Hand bekam. In ihnen habe ich verstanden, was Dichtung ist: die Stimmungen, Gefühle und Gedanken waren ja die unserer schwärmenden Jugend damals: was wir hier lasen, das lag nahe unserm Herzen und ging in uns, wie eine Offenbarung. Später habe ich manches kritischer betrachtet, die Weltanschauung und auch das Künstlerische; und mit dem, was ich dort für das Verständnis der Dichtung gelernt habe, habe ich dann die Kunst erlebt, die unserer Art näher liegt und uns nur verschlossen war durch die Entfernung der Zeiten; aber nie habe ich später einen tieferen Eindruck, ein süßeres Erschauern, ein kraftvolleres Gefühl von Wunderwerken gehabt.» (Aus dem Dostojewskij-Essay um 1900) Für dieses Ergriffensein, aber auch für das ihm nachfolgende lange, oft erbitterte Ringen mit jenen Dichtern gibt Ernst in den einleitenden Bemerkungen seines «Wegs zur Form» den tiefsten Grund an: «Die russische Dichtung sah die wirklichen dichterischen Aufgaben: sie sah Volk, Religion und Nation», jedoch sie sah diese Aufgabe auf russische, nicht auf deutsche Weise.

Diese folgenreiche Begegnung mit der russischen Literatur erlebte Ernst während seiner Berliner Studentenzeit im Winter 1887/88. Er muß damals mit ungeheurem Lesehunger nahezu alles gelesen haben, was an jüngerer russischer Literatur in deutscher oder französischer Sprache erreichbar war, z. B. auch weniger bekannte Verfasser wie Pissemskij, Tschernyschewskij, Michailow oder Schtschedrin, wobei ihm der Übersetzer Wilhelm Lange, den er aus dem literarischen Verein «Durch» kannte, manches vermittelt haben mag. Neben den seelisch aufrührenden Dichtern, auf die Ernst in den Aufsätzen dieses Bandes eingeht, las er aber auch jene stilleren Dichter wie Turgenjew, Gontscharow oder wie den ihm allerdings erst spät bekannt gewordenen Ljeskow, die nur durch die geringere Bedeutung der von ihnen aufgeworfenen Fragen, aber nicht durch ihre Gestaltungskraft den erstgenannten nachstehen.

Turgenjews «Väter und Söhne» hat Ernst 1911 in der «Bibliothek der Romane» herausgegeben und dabei im Nachwort gesagt: «In der Darstellung der russischen Natur ist Turgenjew der auch von seinen großen Zeitgenossen unübertroffene Meister: durch ihn hat die russische Landschaft ihre poetische Verklärung erhalten, und in einer Weise wie kaum in irgendeiner anderen neueren Literatur ist hier der Nation das Vaterland geschaffen. Selbst der Fremde wird durch den Zauber seiner Schilderungen so gefesselt, daß fast Heimatsgefühle wach werden, wenn man nach längeren Jahren solche Darstellungen von ihm wieder liest ... In seinen Zeitromanen stellt er in die russische Landschaft und gesamte Umwelt die wichtigen Typen seiner Zeit, dargestellt nicht mit der düsteren Leidenschaft Dostojewskijs, nicht mit der ethischen Kraft und sittlichen Klarheit Tolstois, nicht mit dem leidenden Humor Gogols, sondern mit dem fast uninteressierten, ästhetenhaften Ernst der damaligen Franzosen ... Es ist merkwürdig, wie dieses einst vielumkämpfte Buch uns heute erscheint ... Der Roman war für die Zeit aus der Zeit geschrieben, enthielt alle Anschauungen, Theorien und Gefühle der Zeit; Turgenjew, der sich hatte kritisch gegen die neue Generation stellen wollen, versichert glaubhaft, daß er während der Arbeit selbst für sie warm geworden ist. Und jene Zeit damals hatte noch dazu die Illusion, daß sie absolut richtige, unwiderlegliche Theorien gebaut habe, nach denen von nun an alle Menschen leben müßten. Und heute hat das alles gar nichts mehr zu bedeuten. Was heute den Roman noch – oder erst – anziehend macht, das ist der zeitlose dichterische Gehalt: die reizend naive Jugendlichkeit des Helden, das Idyll seiner Eltern, das liebenswürdige alte Brüderpaar und die schön empfundene, so tief geliebte Landschaft des Dichters.»

Über Gontscharow schrieb Ernst («Ein russischer Klassiker» in «Leipziger Neueste Nachrichten», 10. April 1913): «Er ist ein reiner Erzähler: in ruhigem Fluß strömt alles bei ihm dahin, in jener fast uferlosen Breite, welche die Slawen so oft haben, die einen der Hauptreize bei ihnen ausmacht: man kann sich ganz einleben in die Welten seiner drei Romane, man wird heimisch in ihnen und lebt mit seinen Helden, nicht in Aufregung oder Wirrwarr, sondern in ruhigem Frieden, der nicht ohne eine leise, freundliche und heitere Ironie ist. Wie möchte man den abgehetzten und ermüdeten Menschen von heute, welche nach Sensation und Aufpeitschung jagen, die schöne Freude wünschen, diese Bücher langsam, gründlich und in Ruhe durchzulesen! Die Vorgänge sind ja durchaus nicht etwa heiter, die Helden sind problematischer Natur und im Grunde tragische Gestalten; aber die Kunst des Dichters ist so groß, daß er nicht mitleiden macht, sondern uns auf einen Standpunkt führt, den etwa ein Gott einnehmen würde, wenn er die Bewegung der Menschen auf der Erde beobachtet. Man wird freier durch diesen Dichter.»

Ein Vorbild: Vgl. als Seitenstück «Dichtung und Nation» (1913) in TeD S. 91.

Tolstoi und Dostojewskij. Die Abfolge der hier wiedergegebenen Aufsätze über diese beiden russischen Dichter veranschaulicht, wie bei Ernsts Auseinandersetzungen mit bedeutender Dichtung schärfste Kritik und tiefe Verehrung oft zusammengehen.

Die körperliche Arbeit: Vgl. hierzu ZI S. 439 Tolstois Urteil im Streit zwischen Dumas und Zola über den Wert der Arbeit. – Mit der allgemeinen Pflicht zur körperlichen Arbeit sind hier natürlich nicht Einrichtungen in der Art des Arbeitsdienstes gemeint, wie sie Ernst selbst übrigens schon vor dem Weltkrieg als Ausgleich gegen die einseitige intellektuelle Schulausbildung des modernen Menschen in Vorschlag gebracht hatte. Es geht für Ernst letzthin um die Frage, was denn eigentlich die «Natur» des Menschen sei und was ihr entspreche, wobei sich eine verschiedene Sicht und Wertung vom dramatischen wie vom epischen Dichter her ergibt.

Über Tolstoi siehe ferner JJ S. 144 ff., EG «Der Tod» S. 61, C «Was sollen wir tun?» S. 189, über Tolstoi als Dramatiker: WzF S. 65 und S. 296.

Der hier nur teilweise abgedruckte Dostojewskij-Essay aus der Zeit um 1900, in den einige ältere Aufsätze wie die 1889 in der «Vossischen Zeitung» (26. Mai, 2. und 19. Juni) erschienene Gesamtdarstellung und eine Studie «Zur Technik Dostojewskijs» («Magazin für Literatur des In- und Auslandes» 1890, Bd. 59, Nr. 411) eingearbeitet sind, blieb seinerzeit unveröffentlicht.

Zu Dostojewskij siehe ferner: JJ S. 146 ff.: TeD «Dostojewskijs Weltanschauung» S. 27, über die Frauengestalten D.s S. 109, «Russische Möglichkeiten» (zu «Der Idiot») S. 241; EG «In der Ewigkeit» (Schiller und Dostojewskij) S. 317; ZI «Dostojewski, und wir» S. 391 auch «Don Carlos» S. 283.

Ein russisches Buch: Ähnlich wie in diesem Aufsaß steht in einigen anderen unser politisches Verhältnis zu Rußland im Vordergrund, so in «Das russische Ideal» (von Dostojewskij her gesehen) (Vossische Zeitung, 16. Mai 1915), «Die Memoiren der Kaiserin Katharina» (1916, nur in der Handschrift bekannt) und «Deutsch und russisch» («Das Gewissen», 2. Jg: Nr. 35, 8. September 1920), darin es heißt: «Der Weltkrieg hat Kapitalismus, Demokratie, Militarismus und Imperialismus auf das tiefste erschüttert: seine zweite Abteilung wird ihre endgültige Zerstörung sehen. War die erste Hälfte des Krieges nur möglich gewesen dadurch, daß die beiden auf das innigste aufeinander angewiesenen Völker, die Russen und die Deutschen, einander bekämpften, so wird seine zweite Hälfte vielleicht wieder Russen und Deutsche nebeneinander sehen.» Hinsichtlich der Frage, ob wir uns für oder gegen Rußland einstellen sollen, wechselte Ernst mit seiner Meinung: jedenfalls aber hielt er das russische Volk von jeher für zukunftskräftiger als das englische und glaubte, daß es in der künftigen Weltgeschichte noch eine wichtige Rolle spielen werde.

Ein moderner Naturalist: Reymonts Roman «Lodz» oder «Das gelobte Land» ist bereits 1898 und nicht, wie Ernst annimmt, nach den «Polnischen Bauern», die 1904–1909 geschrieben wurden, entstanden. Über Reymonts Hauptwerk «Die Bauern» siehe TeD S. 32 «Zur Entwicklung des Romans»(1913).

Romanische Literatur

In dem reichen französischen Schrifttum gab es viel, was Paul Ernst schätzte, aber den kulturellen Führungsanspruch Frankreichs lehnte er ab. In dem bereits erwähnten Aufsatz «Fremde Sprachen» («Der Tag», 16. Mai 1915) schreibt er: «Wir werden immer zugeben müssen, daß die Franzosen in Kunst und Wissenschaft ausgezeichnete Techniker sind, daß das dilettantische Pfuschertum bei ihnen nicht möglich ist, das bei uns sich oft so breit macht: wir werden in den Künsten, wo sie am Platz ist, eine gewisse animalische Vitalität bei ihnen finden, die uns leicht von des Gedankens Blässe Angekränkelten versagt zu sein scheint: aber wir können auch sagen, daß sie mit alledem zwar immer sehr gute Leistungen zweiten Ranges geschaffen haben, die wir gewiß achten werden: daß aber die Leistungen ersten Ranges fehlen (natürlich kann hier immer nur von dem Frankreich seit Ludwig XIV. die Rede sein). Wo Leistungen ersten Ranges stehen müßten, wie in ihrem großen Drama, in ihrer großen Architektur, da steht ein technisch vorzügliches, aber in jedem höheren Sinn gleichgültiges Epigonentum.

Wir müssen uns das ganz klar sagen, um es zu glauben, denn wir glauben es schwer. Zwei Gründe liegen für diesen Unglauben vor, und ihnen verdanken die Franzosen überhaupt viel von dem Glück, das sie ja doch offenbar in der Welt gemacht haben. Erstens wirkt die große Menge von vorzüglichen Werken und Leistungen zweiten Ranges verführerisch. Einesteils sind wenigstens wir nicht so reich an solchen Schätzen wie die Franzosen: andernteils sind es eigentlich immer die Schöpfungen zweiten Ranges, die man liebt, indessen die höheren Werke unter Umständen abstoßend wirken. Zweitens aber, und das ist der Hauptpunkt: man verwechselt besonders hier so gern Zivilisation mit Kultur, und in der Zivilisation sind uns die Franzosen lange überlegen gewesen.»

Eingehender beschäftigt hat sich Ernst unter anderem mit dem Rolandslied und den Ritterromanen wie dem Perceforest oder dem Amadis de Gaule, mit den Troubadours und den frühen Geschichtsschreibern gleich Joinville und Froissart, sowie mit den Lais und den Fabliaus, jenen Verserzählungen des 12. und 13. Jahrhunderts, die er als geschlossene Kunstformen ansah, deren Kunstzweck nicht im einzelnen, in Wort und Vers, sondern wesentlich in der Gruppierung des Stoffes und einem lebendigen, raschen Vortrag liege. Als ein literarisches Kleinod, das wie wenig anderes der neueren Literatur etwas vom hellenischen Geist verspüren lasse, galt ihm «Aucassin und Nicolette». Einige Fabliaus, bei denen die bänkelsängerartige Verserzählweise mit dem schwankhaften Stoff glücklich übereinstimmt, hat Ernst in einem Band «Spielmannsgeschichten» (Georg Müller-Verlag, 1911) herausgegeben; außerdem eine zweibändige Auswahl «Altfranzösischer Novellen» (Insel-Verlag, 1909). Anregend war ihm oft das Lesen der französischen Chronisten und Memoirenschreiber (vgl. zu Tallemant des Réaux die Geschichte «Zwei Liebende» in den «Romantischen Geschichten» (S. 248); ähnlich wie diese bedeutete ihm für die Wirklichkeitsanschauung auch ein Mann wie der französisch schreibende Italiener Casanova viel (vgl. EG S. 75 «Frauenliebe» und in «Ein Credo» alte Ausgabe 1911, 2. Bd., S. 69). Zu seinen französischen Lieblingswerken gehörten Lesages « Gil Blas», Abbé Prévosts « Manon Lescaut» und Cazottes «entzückender» « Diable amoureux». Bei der Auseinandersetzung mit den französischen Dramatikern war Ernst, ähnlich wie gegenüber Shakespeare, nicht der sich einfühlende Betrachter, sondern der kämpferische Gegner von Vorgängern, die einen falschen Weg zeigten; Näheres siehe an Hand des «Registers zum Drama». – Unter den frühen Aufsätzen zur neueren französischen Literatur seien genannt: «Balzac» in «Vossische Zeitung», 1890, Sonntagsbeilage Nr. 25/361 «Maupassant» in «Die Neue Zeit», 1893, Jg, 11, Nr. 49; «Zola» in «Vossische Zeitung», 1896, Sonntagsbeilage Nr. 28/29, ferner desgleichen 1897, Nr. 26, außerdem «Zolas neuester Roman ‹Rom›» in «Die Neue Zeit», 1896, Jg. 11, Nr. 49: «Die Lieder der Bilitis» (Pierre Louys) in «Die Zukunft», 1896, Nr. 36; «Der moderne Satanismus» in «Vossische Zeitung», 1897, Sonntagsbeilage Nr. 46: «Huysmans» in «Die neue Zeit», 1896, Jg. 15, S. 560–566 und S. 588–593: «Alphonse Daudet» in «Die Neue Zeit», 1897, Jg. 16, Nr. 16; «Rimbaud» in «Magazin für Literatur», Jg. 69, Nr. 33/35.

Der geistvolle, aber letzthin unfruchtbare Vertreter des ihm zeitgenössischen Frankreichs war für ihn Anatole France, bei dem sich die Religion in skeptischen Materialismus auflöse (es war P. E. darum besonders unlieb, daß Ende der zwanziger Jahre in der «Insel-Bücherei» ein Bändchen mit fünf seiner eigenen Novellen ausgerechnet einer Erzählung von Anatole France weichen mußte); an die Kraft von Claudels Neukatholizismus glaubte er nicht; Romain Rollands Roman «Jean Christophe» empfand er als Stilmischmasch; für Paul Valéry hatte er Hochachtung.

Rétif de la Bretonne: Durch Rétif hat sich Ernst zu einigen seiner in Frankreich spielenden Novellen anregen lassen. Die Vorlage zu Goethes Novelle «Die pilgernde Törin» aus Wilhelm Meisters «Wanderjahren» stand 1789 ohne Verfassernamen unter dem Titel « Folle en pèlerinage» in den « Cahiers de lecture II».

Ein Romantiker: Louis Bertrands « Gaspard de la Nuit» wurde von Paul Hansmann, angeregt durch P. E., ins Deutsche übertragen unter dem Titel «Junker Voland. Phantasien in der Art von Rembrandt und Callot» (Verlag Georg Müller, 1911). Übrigens hat sich auch Stefan George während seiner Pariser Studienzeit mit den «Prosagedichten» Bertrands beschäftigt und auf eigene Kosten einen Neudruck von dessen Hauptwerk geplant.

Henri Murgers «Boheme»: Ein Nachwort zu der Ausgabe in der «Bibliothek der Romane» des Insel-Verlages.

Flaubert: Als Nachwort zu «Frau Bovary» in der «Bibliothek der Romane» erschienen. Siehe auch EG S. 44 «Im Land der Dichtung» sowie die spätere, kritischere Einstellung in GG S. 530.

Maupassant: Paul Ernst hat die hier geäußerte Hochschätzung später abgeschwächt: er empfand vieles bei Maupassant als flach: siehe JJ S. 195.

Die italienische und spanische Sprache sowie deren Schrifttum schätzte Paul Ernst höher als die französische Sprache und Literatur. Dante, Ariost und Boccaccio, Calderon und Cervantes waren ihm große Dichter, mit denen er sich immer wieder beschäftigte. Aber Aufsätze sind über die italienischen und spanischen Dichter leider kaum vorhanden: doch erweisen zahlreiche Einzeläußerungen und viele seiner eigenen Dichtungen, wie stark das innere Verhältnis von Paul Ernst zu den südlichen Dichtungswelten war. – Zu Alfieri (und Maffei) siehe «Register zum Drama».

Altitaliänische Novellen: Außer der hier gekürzt wiedergegebenen Selbstanzeige schrieb Ernst eine schöne Einleitung zu seiner zweibändigen Auswahl und Übersetzung «Altitaliänischer Novellen» (Insel-Verlag, 1902, 2. Auflage 1907), die aber wegen ihrer weitausholenden dichterischen Einkleidung hier nicht gebracht wurde. Siehe auch WzF S. 68 «Zum Handwerk der Novelle».

Die Geschichte der Bürgerkriege von Granada: Erschienen als Band 19 und 20 in den «Perlen älterer romanischer Prosa», Hrsg. von Hanns Floerke (Verlag Georg Müller, München 1913). Über den Übersetzer Paul Weiland, einen jungen Freund von Ernst aus seiner Clausthaler Heimat, siehe Jahrbuch 1937 der Paul-Ernst-Gesellschaft «Der junge Paul Ernst» S. 66 und 97.

Weitere Äußerungen zur spanischen Literatur siehe unter anderem JE S. 291, 295 ff.: C S. 138/40: siehe auch «Register zum Drama». Als Verfasser der Spitzbubengeschichten hatte Paul Ernst naturgemäß auch für die Schelmenromane Sinn, über die er sich anläßlich einer Besprechung (zu «Sonjas letzter Name» von Otto Stoeßl in «Der Tag», 24, Januar 1909) so äußert: «Spanien, das Land, in welchem das Lustspiel seine bis jetzt höchste Form gewann, ist auch das Vaterland des Schelmenromans. Haftete dem Lazarillo, weniger schon dem Guzman, auch ein Rest erdenschweren Ernstes an, so wurde der bei den Franzosen gänzlich abgestreift, und der « Gil Blas» ist das Reinste an poetischer Heiterkeit, das es in dieser Art gibt. Im Lazarillo kann man noch deutlich die Entstehung der Art sehen: er ist eine Sammlung gelungener Spitzbubenstreiche, die so ausgewählt sind, daß sie auf eine Person vereinigt werden können. Das ästhetische Hauptinteresse konzentriert sich zunächst auf die einzelnen Streiche und besteht in dem Vergnügen, das uns eine Verwicklung und Lösung einer Situation gewährt. Von Schilderungen der Umwelt, Steigen in die Tiefen der Charaktere, Erzeugen von stärkeren Sympathiegefühlen und anderem ist zunächst nicht die Rede. Es ergibt sich aber durch das Aufreihen der Geschichten auf einen gemeinsamen Faden, daß die Voraussetzungen in der Umwelt dargestellt werden müssen, ein fester Charakter des Helden anzunehmen ist und jene Sympathie für ihn erweckt werden muß, welche uns mit Vergnügen seinen Weg verfolgen läßt. Das alles muß aber seine Beziehung zu dem Endzweck haben; mag es einen geringeren oder größeren Raum einnehmen; es darf nicht Wirklichkeitsdarstellung oder lyrischer Erguß, oder tiefbohrende seelische Analyse oder anderes sein: sondern es muß eine ideale Welt geschaffen werden, in welcher der Schelm sich ohne Anstoß bewegt: das heißt eine Welt von Narren, Schelmen, heiteren und gutmütigen Menschen, die sich als die alleinberechtigte ansieht und die übrige Welt als unberechtigt, also eine eigene ethische Atmosphäre hat; und die Psychologie muß dementsprechend sein. Mit einem Wort, wir haben konventionelle Dichtung vor uns, die uns Deutschen freilich schwer einzugehen pflegt.»

Englische Literatur

Die Engländer sah Paul Ernst vor allem als Hauptvertreter der bürgerlichen Kultur. Ihrer aufklärerischen und nutzbedachten Geisteshaltung gegenüber, wie sie auch von ihren Philosophen Hobbes, Hume, Locke, Adam Smith und zumal von «ihrem eigentlichen Weltweisen» Jeremias Bentham ausgesprochen wird, fühlte er sich auf Seiten des tieferen deutschen Lebensgefühles stehen, das schon in Leibniz und Kant gegen die beengende Verstandesherrschaft ankämpfte.

Über Shakespeare, den Ernst als großen «epischen Schauspieldichter» würdigte, aber dessen Geltung als maßgebendes Vorbild für das deutsche Drama und die tragische Dichtung er bestritt, siehe «Lear» (1906) im WzF S. 180, «Shakespeare und das deutsche Drama» (1912) im TeD S. 22, «Zur Shakespearefrage» (1916) im ZI S. 167 ff.; weiteres im «Register zum Drama».

Eine von Paul Ernst besorgte und eingeleitete Ausgabe von Oliver Goldsmith's «Der Landprediger von Wakefield», die bereits Ende 1913 vom Verlag Georg Müller angezeigt war, erschien infolge des Kriegsausbruches nicht: die Einleitung ist verschollen.

Als Schüler hatte Ernst eine Vorliebe für Walter Scott (vgl. JE S. 247): später hat er von dessen Romanen «Ivanhoe» und den «Talisman» in nachgeprüfter Übersetzung in der von ihm geleiteten «Bibliothek der Romane» herausgegeben.

Ein anläßlich der deutschen Gesamtausgabe von Robert Louis Stevenson um 1925 geschriebener Aufsatz über die englische Erzählkunst, die gut und spannend zu unterhalten vermöge, war bisher nicht auffindbar.

Um 1900 setzte Ernst einige Hoffnungen auf den sich in England bemerkbar machenden Neuidealismus und eine anscheinende «Wiedergeburt des Versdramas». Zu dem englischen Ästheten Walter Pater verhielt er sich allerdings ziemlich kritisch («Plato und Platoniker» in «Die Propyläen» 1905, 2. Jg., Nr. 31) und in einem hochschätzenden Aufsatz über Ruskin, einer sozialen Betrachtung des Ästhetischen an Hand von dessen Buch «Die sieben Leuchter» («Das Magazin für Literatur», 71. Jg., 19. April 1902) warnte er vor der nicht ganz unbedenklichen Modeströmung: «Die Engländer mit ihrer Betonung des Konstruktiven in der Kunst und des Wirkungsmäßigen» könnten «den kaum gefundenen Pfad uns wieder verschütten und zu neuer Süßlichkeit, neuer leerer Eleganz und Beengtheit führen.» Doch übersetzte er selbst das 1899 entstandene Trauerspiel «Paolo und Francesca» des Klassizisten Stephen Philipps (1886–1915) für die deutsche Uraufführung im Düsseldorfer Schauspielhaus. Die Einführung hierzu (in «Die Masken», März 1906, Nr. 22) ist in ihrem technischen wie weltanschaulichen Vergleich zwischen der Behandlung des gleichen Stoffes im modernen Drama und in Dantes Epos bemerkenswert.

Henry Fieldings «Tom Jones»: Dieses Nachwort erschien in der Ausgabe der Romansammlung «Epikon» des Paul List-Verlages. Siehe dazu die Anzeige «Der europäische Roman» in diesem Buch S. 122.

Dickens und Thackeray: Drei sich ergänzende Arbeiten sind hier zusammengefügt; erstens ein Nachwort zu Thackerays «Geschichte des Henry Esmond», die in der Übersetzung durch Else von Schorn, Ernsts spätere Gattin, in der «Bibliothek der Romane» erschien; zweitens eine Anzeige von Dickens «Pickwickiern»; drittens das Nachwort zu Thackerays bekanntem Roman « Vanity fair. A novel without a hero» oder «Der Jahrmarkt der Eitelkeiten», der in der Sammlung «Epikon» vorgesehen war, doch nicht erschien. – Ernst hat übrigens noch in seinen letzten Lebensjahren während einer Genesungszeit gern Dickens gelesen.

Oscar Wildes «Salome»: Über Wilde schrieb Ernst außer dieser Einführung, die er 1905 für die von ihm herausgegebene Düsseldorfer Theaterzeitschrift «Die Masken» verfaßte, auch noch eine soziologische Betrachtung «Zur Psychologie der Decadence» (in «Der Zeitgeist», Beiblatt zum «Berliner Tageblatt», 23. Juli 1902, Nr. 30), darin er ihn als Künstlernatur mit geschmackvollen, aber nicht mehr ganz wahren und echten Leistungen zweiten Ranges kennzeichnet. Als Wildes bedeutendste und für eine gewisse Gesellschaftsschicht seiner Zeit typische Figur sah er den Helden des Romans «Das Bildnis der Dorian Gray», den Menschen, dem die Schranken für sein Handeln fehlen. Er vergleicht dessen Lage und Menschlichkeit mit der von den schlechten der spätrömischen Kaiser: es ergeben sich hier wie dort die gleichen Folgeerscheinungen: «Grausamkeit, Genußsucht, Größenwahn, Läppischkeit, Langeweile, Passioniertheit für Nebendinge des Lebens». Wenngleich Wilde mitunter in den geistreichsten Zynismen über die Moral schwelge, so sei der «Dorian Gray» sicher so moralisch, wie man nur verlangen kann, «Da Wilde nicht in die psychologische Tiefe zu dringen vermag, so stellt er das Resultat [des hemmungslosen Genußlebens] durch ein Symbol dar: das Resultat wäre in Wahrheit das immer schmerzlicher und bohrender werdende Gefühl von der Sinnlosigkeit alles Daseins. Es scheint doch, daß der Mensch nicht ohne Schranken leben kann, daß seine Freiheit einen Zwang erfordert, daß er eine Furcht haben muß, daß er nur in der Armut reich ist.»

Vom Komischen: Der hier erwähnte Essay von George Meredith (1828–1909) entspricht dessen 1878 gehaltenen Vorlesungen « On the Idea of Comedy».

Skandinavische Literatur

Zu den isländischen Sagas siehe TeD S. 209, zu alten schwedischen Balladen aus der Sammlung Afzelius WzF S. 344, zu dem altdänischen Singspieldichter Heiberg TeD S. 327 und «Geist, werde wach!» S. 17. Für den schwedischen Liedersänger Karl Michael Bellmann (1740–1795) hatte Paul Ernst viel übrig, wußte hübsch von ihm zu erzählen, hat ihn aber in seinen Schriften nicht erwähnt.

In einem Aufsatz über Jacobsen («Posener Zeitung», 3. Januar 1899) hebt er dessen Fähigkeit zur Distanz wie seine gleichzeitige Jünglingshaftigkeit hervor, vergleicht auch seine Zartheit und Naturschwärmerei mit der unmoderneren, aber reicheren Art eines «Großen unserer Literatur», nämlich Jean Pauls.

Am meisten schätzte Ernst unter den neueren Dänen Hendrik Pontoppidan, dessen Romane «Hans im Glück», «Das gelobte Land» und «Totenreich» ihn stark angingen.

An norwegischer Literatur lernte Ernst als Student außer Ibsen vor allem Björnson und Arne Garborg kennen und schrieb über ihre «Probleme» verschiedentlich in sozialdemokratischen Blättern. Wenngleich ihn Ibsen als Zeitausdruck wie als Dramatiker weit mehr beschäftigt hat, so hat er doch ihm gegenüber Björnson als Dichternatur höher bewertet und ein bereits 1889 ausgesprochenes Urteil («Ibsen und Björnson» in «Die Neue Zeit», Jg. 7, H. 3), daß «eine spätere Zeit, welche Ibsens Fragen längst gelöst hat, Ibsen als einen trockenen Theoretiker verachten wird, während sie Björnson als einen warmen, lebendigen Dichter schätzt», in seinem letzten Lebensjahr ähnlich wiederholt.

Bereits 1890 besprach Ernst die ersten ins Deutsche übersetzten Bücher von Strindberg («Die Neue Zeit», Jg. 8, S. 45) und schrieb 1899 einen ausführlichen Aufsatz über dessen selbstbiographische Romane «Modernes Mittelalter» («Posener Zeitung», 1. September, Nr. 615). Weiteres siehe im «Register zum Drama». Er kennzeichnet ihn später als einen in der Verzweiflung lebenden und von einer fürchterlichen dämonischen Kraft besessenen Literaten.

Um die Jahrhundertwende bedeuteten ihm die im Insel-Verlag erscheinenden Novellenbände Per Hallströms besonders viel, da er in ihnen ein verwandtes Streben spürte. Mit Verner von Heidenstams Roman «Karl der Zwölfte und seine Krieger» beschäftigte sich Ernst eingehender, als er an seiner unvollendet gebliebenen Luther-Dichtung arbeitete. – Zu Selma Lagerlöf siehe WzF S. 427.

Andersen: Dessen «Märchen und Geschichten» gab Ernst 1911 in einer zweibändigen Auswahl im Verlag Kiepenheuer heraus. Einleitend vergleicht er Andersen mit dem «als Künstler und auch wohl als Mensch bedeutenderen» Franzosen Louis Bertrand, der in seinem « Gaspard de la Nuit» als «großer Künstler die Form gehandhabt hat, welcher Andersen als weicherer und daher den Menschen sympathischerer Mann seine Berühmtheit verdankt: die Projektion eines novellistischen Erlebnisses in ein möglichst plastisch ausgeführtes Bild; ästhetisch betrachtet ist das Märchenhafte bei Andersen ja etwas Sekundäres, wie ja auch von Anfang an von ihm selber kein großer Unterschied zwischen jenen auf ein Bild konzentrierten Erzählungen und den Märchen gemacht war ... Wenn man gewisse Zugeständnisse macht, besonders nach der Richtung hin, daß sein Talent nie über die Schilderung des Idyllischen hinausgeht und größeren Empfindungen gegenüber sofort zu Sentimentalität versagt, so ist er in dieser, seiner Form, ein Meister».

Ibsen: Dieser Essay erschien zuerst 1905 als Band 1 der Sammlung «Die Dichtung» (Verlag Schuster & Loeffler, Berlin). In einem 1903 geschriebenen Aufsatz «Ibsen-Aufführungen in Weimar» (in «Die Masken», 1905, Heft 4, S. 9–16) charakterisiert Ernst vor allem die darstellerischen Aufgaben innerhalb der Ibsenschen Dramen und geht auf die Wesensverwandtschaft zwischen altnordischen Gestalten, etwa den Frauen der Njal-Saga, und solchen Ibsens weiter ein. Die Einführung in «Rosmersholm», die durch ihre vorbildliche Blickführung zur kritischen Sicht wie durch die Beziehung des Stoffes zu Ernsts eigenem Schaffen, so zu «Manfred und Beatrice», bemerkenswert ist, erschien zuerst in der Düsseldorfer Theaterzeitschrift «Die Masken». An gleicher Stelle auch die hier nicht abgedruckte Einführung zur «Komödie der Liebe», welche in der alten Ausgabe (1911) von «Ein Credo» S. 46 zu finden ist. – In der Betrachtung «Nach dem Ibsenjubiläum» ist S. 373 oben ein Selbstzitat von Paul Ernst aus dem Ibsen-Essay von 1905 (S. 329/30) fortgelassen: anschließend fährt Ernst fort: «Die lächerliche Geschichte, daß der Pastor seiner Gemeinde etwas auf dem Berge zu ungelegener Zeit vorpredigen will, was er ihr ebensogut auch in der Kirche zu passender Zeit sagen kann, und daß die Leute verständigerweise fortlaufen, weil gerade die Heringe angezogen kommen, von deren Fang sie leben: diese lächerliche Geschichte wiederholt sich als angeblich tragischer Konflikt in allen Dramen Ibsens.» – Über die geistesgeschichtliche Stellung der nordischen Dramen erklärte Ernst in einem Vortrag 1923 folgendes: «Nur in Deutschland hat man um die Tragödie gekämpft: und wenn etwa im Gesellschaftsstück der nordischen Völker, bei Ibsen und bei Strindberg sich Elemente der Tragödie finden, so geht das über Sören Kierkegaard auf deutsche Ideen zurück: etwa Ibsen wäre einzureihen, der sich pietistisch kleinbürgerlich abgezweigt hätte, als es von Lessing in die Höhe ging zu Schiller und Goethe, und Strindberg wäre sein bohemienmäßiger Gegner.»

Skandinavische Reise: Aus den vorwiegend politisch eingestellten Reiseberichten, die Ernst in den «Münchner Neuesten Nachrichten» (Nr. 403, 412, 427, 438, 449 und 460) veröffentlichte, sind hier einige allgemeinere und die literarischen Teile herausgelöst.


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