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Romanische Literatur

Französische Märchen

(1923)

Wer zu lesen versteht, der kann in der Dichtung eines Volkes sein Wesen und sein aus diesem Wesen sich ergebendes Schicksal erkennen: und welche Dichtungsart wäre da wohl geeigneter als das Märchen, das einmal doch von Dichtern geschaffen werden mußte und dann in das Volk eindrang, wo im Laufe der Zeit abfallen mußte, was dem Volke nicht entsprach, und sich verstärkte, was das Wesen des Volkes ausdrückte. In der großen Märchensammlung des Diederichs-Verlages sind zwei Bände «Französische Volksmärchen» erschienen. Deren Inhalt gehört nicht nur dichterisch zu den schönsten Märchen jener Sammlung; er erweckt auch mancherlei Nachdenken über die Art des französischen Geistes und die Möglichkeiten, welche dem französischen Volk heute noch geblieben sind.

Es finden sich alte griechische Märchenstoffe, welche sich seit der Zeit der griechischen Kolonisation gehalten haben, wie die später zum Freiheitssymbol gewordene Schiffermütze von Marseille, und alte griechische Gedichte, welche noch der Vater Tressans aufzeichnen konnte, bretonische Märchenstoffe und germanische; und zu dem Gemisch kam dann noch Byzantinisches, Arabisches und Indisches. Gallien tritt in die Geschichte ein als ein Land, in welchem sich Völker mischen zu einer neuen Einheit, es hat diesen Charakter immer beibehalten durch die griechische, römische und fränkische Zeit, es hat dann am meisten von allen europäischen Ländern jedem fremden Einfluß offengestanden und mit ihm etwas Neues aus sich geschaffen; und heute bereitet sich nun eine neue Volksmischung vor mit außereuropäischem Blut: von Berbern und Arabern, Negern und Anamiten. Man denke, wie rein sich das weltbeherrschende englische Volk von fremden Beimischungen gehalten hat, wenn man sich das Eigenartige der französischen Stellung klarmachen will.

Dem Umstand, daß sie ein Mischvolk sind und es stets verstanden haben, das Fremde sich anzueignen, als ob es das ihrige sei, verdanken die Franzosen ihre bedeutende Stellung im europäischen Geistesleben. Sie haben darin eine Verwandtschaft mit den Juden, nur daß die Juden mehr offenkundige Vermittler find, während die Franzosen oft genug den Eindruck selbständigen geistigen Gebens gemacht haben. Es war das möglich dadurch, daß sie etwas Eigenes dazugaben, etwas, das man als Formung bezeichnen kann, wenn man nicht den höchsten Begriff der Form meint, die schöpferische Form, sondern jene Art der Form, welche die Franzosen selber «Regel» nennen. Zu einer solchen Art von Form muß ein Volk ja gelangen, das nicht aus Eigenem schöpfen kann, weil es kein Organismus ist, nichts Gewachsenes, sondern eine Einheit, die sich zusammengefunden hat aus vielem, das eine Art Generalnenner brauchte. Es ist kein Zufall, daß Frankreich das einzige Land ist, in welchem die Überlieferung der rhetorisch-sophistischen Geisteskultur des ausgehenden Altertums sich gehalten hat: diese Geisteskultur kann eine solche Form abgeben, wie ein Mischvolk mit beständig fremden zu verarbeitenden Einflüssen sie gebrauchen kann.

Eine solche Form muß zu beständig zunehmender Verengerung des Geistes führen. Auch der Laie, der nicht gewohnt ist, Dichtwerke genauer zu untersuchen, kann das an einer oberflächlichen Betrachtung der Sprache merken. Wieviel mehr konnte die französische Sprache noch vor dem großen Jahrhundert Ludwig XIV. ausdrücken als nachher! Wie hat sie seitdem an Ausdrucksfähigkeit weiter verloren bis zum Ende des XVIII. Jahrhunderts, wie hat sie seit der Revolution immer mehr dann auch ihre eigenen Vorzüge eingebüßt, die mit der Armut zusammenhingen, die Genauigkeit und Klarheit des Ausdrucks, bis sie zu der allgemeinen Phrasenhaftigkeit von heute gelangt ist! Ihr Ziel war und mußte sein: nicht die Wiedergabe dessen, was einen bewegt, sondern eine für den ganzen Umkreis der gebildeten Gesellschaft sofort verständliche Mitteilung.

Die Märchen stammen aus der Zeit, da der französische Geist seine größte Weite besaß. Viele von ihnen sind in der Fassung der alten Dichter erhalten, andere stammen aus dem Volksmund. In beiden Fällen hat die Sprache noch eine größere Ausdrucksfähigkeit. Freilich darf man auch die Ausdrucksfähigkeit des alten Französisch nicht überschätzen; nach unseren Begriffen wird hier fast immer nur gesagt und fast nie gedichtet; Verlaine ruft einmal verzweifelt aus, für den Dichter komme es auf « la nuance» an; es ist ihm vielleicht klargeworden, daß « la nuance» im Französischen eben nicht mehr zu erreichen ist; auch in der alten Sprache macht sich das schon bemerkbar. Und ebenso geht es mit der Volkssprache. Auch sie hat keine Sinnlichkeit.

Aber ein reger Verstand, ein kluges Wissen um die Wirkung und daraus sich ergebend ein konstruktives Können – innerhalb der Grenzen der Sprache – erzeugen dennoch immer dichterische Kunstwerkchen, die einen großen Reiz ausüben. Von den europäischen Märchen scheinen mir deshalb neben den deutschen und den griechischen die französischen die schönsten zu sein. Und sie haben noch einen weiteren Wert. Ich würde jungen Dichtern empfehlen, sie zu lesen, um von ihnen zu lernen. Was in den Grimmschen Märchen schön ist, das ist nicht lehrbar; aber die Kunst der französischen Märchen wird immer mit großem Vorteil studiert werden.

Philosophische Unterhaltung

(1910)

Einen «angenehmen Schwätzer» nennt einmal Lichtenberg den ihm recht verwandten Montaigne; nicht herabsetzend in dem Sinn, wie wir das Substantiv heute allein noch verwerten, sondern charakterisierend. Wenn wir in seinem Essay lesen, so ist es, als säßen wir vor einem klugen und erfahrenen alten Mann, dem es Freude macht, sich anmutig mitzuteilen – vor einem «angenehmen Schwätzer». Er erzählt uns wohl kaum Dinge, die wir nicht schon wüßten oder schon wissen könnten: aber ist denn für einen Mann von Verstand der Kreis der wissensmöglichen Dinge so sehr groß? Er hat kaum andere Urteile, als wir sie selbst haben würden, wenn wir mit Umsicht, Ehrenhaftigkeit und ohne Verblendung urteilen würden: aber müssen denn nicht bei allen umsichtigen, ehrenhaften und unverblendeten Menschen alle Urteile gleichlauten? So brechen wir denn nach einem heiteren Zuhören auf: nicht in Tiefen und nicht auf Höhen geführt, aber auch niemals auf die platte Ebene; nicht eigentlich bereichert, aber sicher nicht verarmt; mit dem Wunsch, in einer freien und müßigen Stunde den Alten wieder plaudern zu hören, aber schließlich auch nicht allzutief erschüttert, wenn wir vorher die Nachricht erhielten, daß er unerwartet eines ruhigen Todes gestorben sei. Das mag den Menschen von heute wenig erscheinen, denn heute machen alle Menschen Ansprüche darauf, die Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern; wenn man aber oft genug beobachtet hat, daß die Welt doch ganz ruhig geblieben ist, so schätzt man den alten Montaigne vielleicht höher. Ich möchte ihn recht vielen «modernen» Menschen anempfehlen: er ist gesund und kann gesund machen: selten empfindet man bei einem Schriftsteller ein so heiteres und leichtes Lebensgefühl wie bei ihm. Eigentlich ist seine kristallene, natürliche Prosa nicht zu übersetzen; wenn der Versuch gelingen konnte, so war es in unserem 18. Jahrhundert. Die Übersetzung des bedeutendsten Übersetzers von damals, des Johann Bode, der in seiner tüchtigen braunschweigischen Natur mit dem altfranzösischen Edelmann manches Verwandte hatte, erscheint soeben neugedruckt bei Georg Müller in München.

Rétif de la Bretonne

(Etwa 1913)

Frankreich ist von jeher das klassische Land der Erzähler gewesen: in viel höherem Grade, als man allgemein ahnt, sind alle europäischen Literaturen, mit Ausnahme der spanischen, der französischen Erzählungsliteratur zu Dank verpflichtet. Bei der großen Menge der vorliegenden Werke ist es nicht wunderbar, daß manches Gute vergessen ist, es ist auch nicht wunderbar, daß sich manches Mittelmäßige unter diesen vielen Romanen und Novellen befindet.

Fast immer geschieht es, daß Autoren, die zu ihrer Zeit sehr gelesen und geschätzt waren, von der unmittelbaren Nachwelt verworfen werden; es muß dann eine sogenannte Entdeckung kommen, ein erneutes Interesse der Leute an dem Autor, ein kritisches Untersuchen seiner Werke, welches objektiver ist wie das der Zeitgenossen, da das in ihnen, was nur die Zeit interessierte, nicht mehr wirkt; und allmählich werden dergestalt denn Bücher entweder in den dauernden Besitz der Nationen aufgenommen oder endgültig beiseite gestellt. Diese Tätigkeit ist bei Völkern mit einer ärmeren Literatur naturgemäß leichter wie bei solchen, die über sehr viele Dichter und Dichtungen verfügen; es haben auch einige Völker ein stärkeres Interesse an ihren alten Werken wie andere; mag man es sich nun erklären, wie man will: jedenfalls gibt es bei den Franzosen eine große Menge älterer Dichter, Erzähler und Schriftsteller, die nicht so geschätzt und bekannt sind, wie sie es wohl verdienten.

Zu diesen gehört Rétif de la Bretonne.

Freilich liegen bei ihm die Verhältnisse besonders verwickelt. Erstens war er ein Vielschreiber; er hat mehrere hundert Bände zusammengeschrieben; und wie das dann so geht, kommt da mancher Band vor, der besser nicht geschrieben wäre, und man wird oft sagen müssen, daß Gutes allzu dünn in zu vielen Bänden verstreut ist. Auswahlen sind da nicht immer möglich, gegen stark kürzende Neuausgaben hat man heute eine aus philologischer Akribie kommende Abneigung. Zweitens aber, und das ist das Wichtigste, ist er ein durchaus problematischer Schriftsteller. Seine Qualität liegt in der Darstellung des Wirklichen. Nun ist das Wirkliche in den meisten Fällen uninteressant, und so interessiert uns manches nicht, das doch ganz treue Wirklichkeit ist. Aber weiter: wie jeder, so weiß das auch Rétif; und wie wirkliche Dichter hinter dem Wirklichen das Wahre, hinter der Natürlichkeit die Natur suchen, so sucht auch er. Hier aber versagt nicht sein Talent, sondern seine Persönlichkeit: denn dieses Darstellen des Wahren und der Natur ist Tat der Persönlichkeit, nicht Äußerung des Talents. Er war nach seinem ethischen Wesen eine Mischung von Gemeinheit und Sentimentalität; und indem er sich über sich selbst erheben wollte, kam er nicht zu einer höheren Menschlichkeit, sondern zu einem bürgerlich trivialen Moralismus. Eine Zeitlang scheint die Beurteilung literarischer Werke von einer Art von alten Jungfern geübt zu sein, die das, was sie shocking fanden, als unsittlich bezeichneten; und es kostet uns heute viele Mühe, diese insipiden Urteile, die ja weiter gar nichts aussagen, als daß man nicht jedes Buch einem Backfisch in die Hand geben kann, aus der Welt zu schaffen. Es ist natürlich, daß ein Autor wie Rétif ganz besonders die Zensur der Unsittlichkeit bekam, mit der ja denn alles abgemacht war. Ich habe natürlich bei weitem nicht alles von ihm gelesen, und einige seiner Werke, wie die Anti-Justine und andere scheinen, nach dem, was man von ihnen hört, wirklich pornographisch zu sein. Der weitaus größte Teil seiner Schriften ist so wenig «unsittlich», wie es Shakespeare oder Goethe ist – womit ich ihn natürlich nicht im übrigen mit Shakespeare oder Goethe vergleichen will.

Rétif wurde 1734 in Sacy bei Auxerre als Sohn eines wohlhabenderen Bauern geboren, der durch Bildung, Tüchtigkeit und religiös-sittliches Wesen in seiner Gegend in großem Ansehen stand; er hat das Leben seines Vaters in unangenehm sentimentaler Weise in einem Buch beschrieben. Der frühreife und vielversprechende Knabe wurde zu einem Buchdrucker in die Lehre gegeben, kam nach Paris, erwarb hier eine kleine Druckerei und begann gleichzeitig seine Werke zu verfassen, die er zum Teil selber setzte und druckte. Er starb 1806. Ein sehr großer Teil seiner Werke stellt eigene Erlebnisse dar, und sie sind um so wertvoller, je autobiographischer sie sind; seine Lebensbeschreibung « Monsieur Nicolas» ist demnach sein interessantestes Buch; an zweiter Stelle steht der vierbändige Roman « Le paysan perverti», der zum Teil dieselben Erlebnisse behandelt und so offenkundig und zynisch, daß er noch nicht einmal die Namen verändert.

Rétif hat einige Novellensammlungen herausgegeben, die « Contemporaines» (42 Bände), « Provinciales» (12 Bände), « Parisiennes» (4 Bände) und « Palais-Royal» (3 Bände), die zusammen 400 bis 500 Novellen enthalten. Die wichtigste, und, wie man sieht, umfangreichste dieser Sammlungen, ist die erste. Hier wäre es möglich, durch eine scharfe Auswahl eine Reihe von Stücken zu vereinigen, welche unser Interesse im höchsten Grade erwecken können.

Man würde heute, wo man so leicht geistige Krankheiten sieht, Rétif wahrscheinlich nicht für ganz normal halten; schon zu seiner Zeit nannte man ihn einen Erotomanen. Sein ganzes Interesse ging auf die Liebe und die Frau; und wie das immer geht, wenn jemand sich ganz einer Leidenschaft hingibt, er erlebte in dieser Leidenschaft die merkwürdigsten Dinge, seine Erfahrungen geben ihm ein großes Wissen und einen weiten Blick. Auch diese Novellen gehen alle oder fast alle auf Erlebnisse zurück, die er selber gehabt oder bei andern beobachtet hat; und so können diese Erzählungen wichtig sein für jemanden, der auf die Wirklichkeit neugierig ist – und wer wäre das nicht heute, in dieser Zeit, wo Mensch von Mensch abgeschlossen ist wie noch nie; er muß sich natürlich immer sagen, daß diese Wirklichkeit gesehen ist durch ein besonderes Temperament; aber dieses Temperament ist ja das für diese Wirklichkeit eben geeignete; denn Wirklichkeit ist ja nichts Absolutes, sie entsteht aus der Wechselwirkung zwischen uns und der Welt.

Als Wirklichkeit wurden die Werke Rétifs in unserer klassischen Periode geschätzt. Schiller schreibt einmal an Goethe: «Haben Sie vielleicht das seltsame Buch von Rétif « Coeur humain dévoilé» je gesehen oder davon gehört? Ich habe es nun gelesen, soweit es da ist, und ungeachtet alles Widerwärtigen, Platten und Revoltanten mich sehr daran ergötzt. Denn eine so heftig sinnliche Natur ist mir nicht vorgekommen, und die Mannigfaltigkeit der Gestalten, besonders weiblicher, durch die man geführt wird, das Leben und die Gegenwart der Beschreibung, das Charakteristische der Sitten und die Darstellung des französischen Wesens in einer gewissen Volksklasse muß interessieren. Mir, der so wenig Gelegenheit hat, von außen zu schöpfen und die Menschen im Leben zu studieren, hat ein solches Buch, in welche Klasse ich auch den Cellini rechne, einen unschätzbaren Wert.» Ein dauerndes Andenken an Rétif ist Schillers Gang nach dem Eisenhammer; die Geschichte wird im fünften Band der « Contemporaines» erzählt. Man hat noch immer nicht die französische Erzählung gefunden, auf welcher Goethes reizende Novelle von der irrenden Törin beruht; ich bin fest überzeugt, daß sie in irgendeinem entlegenen Bande von Rétif steht; noch durch Goethes wundervolle Prosa hindurch verspürt man das Wesen des sonderbaren Mannes. Auch Wilhelm von Humboldt schätzte Rétif sehr und sprach ähnlich über ihn wie Schiller. Die Romantiker hatten naturgemäß wenig Sinn für ihn; Bülow bringt einige seiner Novellen in seinem Novellenbuch, indem er sich entschuldigt. In Frankreich hat man seine Bücher lange Zeit fast nur wegen der Bilder geschätzt in den Kreisen der Bücherliebhaber; in den achtziger Jahren hat man dann einiges neu gedruckt (den « Monsieur Nicolas», den « Paysan perverti», eine dreibändige Auswahl aus den « Contemporaines» und einige kleinere Sachen).

Wenn man mehreres von Rétif kennt, so versteht man den Geist der französischen Revolution, man versteht überhaupt durch ihn manches vom französischen Wesen, das uns sonst unbegreiflich scheint.

Ein Romantiker

(1911)

Die französische Literatur ist für uns Deutsche vielleicht fremdartiger wie irgendeine andere der europäischen Literaturen. Ihre Hauptvertreter werden von uns nicht verstanden; wir müssen uns immer verstandesmäßig sagen, daß Männer wie Corneille oder Victor Hugo doch von einem hochgebildeten und hochbegabten Volk als Männer ersten Ranges betrachtet werden, wenn wir überhaupt ein Verhältnis zu ihnen gewinnen wollen. Wie es so geht, finden sich dann aber unter den in ihrer Heimat weniger geschätzten Dichtern manche, die uns, vielleicht weil sie weniger vom spezifisch Französischen haben, besonders vertraut werden können. Zu diesen Dichtern könnte vielleicht der Verfasser des Gaspard de la Nuit gehören, der arme und unglückliche Louis Bertrand.

Bertrand wurde 1807 in Céva im Piemontesischen geboren als Sohn eines napoleonischen Offiziers und in Dijon erzogen. Mit zwanzig Jahren wurde er Redakteur in Dijon, mit einundzwanzig kam er mit seinen Prosagedichten nach Paris, wo er in dem Romantikerkreis, der sich damals um Nodier scharte, mit höchster Achtung aufgenommen wurde; er arbeitete und arbeitete an diesen kleinen Gedichten, verdiente sein Brot kümmerlich mit Zeitungsschreiberei, ging wieder als Journalist nach Dijon zurück, wo er zehn Jahre lang abgeschlossen lebte, kam dann mit dem nunmehr fertigen Band, eben dem Gaspard de la Nuit nach Paris zurück, außerdem einem Drama und einer großen Kiste mit Entwürfen, Fragmenten und Studien; eine kurze Zeit wurde er Privatsekretär bei einem vornehmen Herrn, dann erkrankte er und starb 1841 einsam in einem Pariser Spital. Nur David d'Angers wußte von seinem Tod. Der Gaspard de la Nuit wurde nach seinem Tod durch Sainte-Beuve zum Druck gebracht und damals in zwanzig Exemplaren verkauft; der Rest der Auflage wurde vermakuliert, die anderen Manuskripte sind verschollen.

Die geretteten zwanzig Exemplare erwarben dem toten Dichter im Lauf der Zeit Freunde; 1868 gab d'Asselineau, der feine und kluge Kenner wirklicher Poesie, den Gaspard neu heraus; auch dieser Druck wurde nicht verkauft; erst in den achtziger Jahren kam in größere Kreise ein Verständnis für die wundervolle Kunst Bertrands, aber auch diese größeren Kreise sind in Frankreich immer noch nicht über den Bezirk der Literatur hinausgekommen; dem sogenannten Publikum ist der Dichter noch heute unbekannt.

Vor etwa 15 Jahren kam mir das Buch in die Hand, als ich den, wie ich heute einsehe, gescheiterten Versuch machte, aus dem naiven dichterischen Naturalismus von damals eine Art Impressionismus zu entwickeln. Mit der höchsten Bewunderung habe ich es studiert; ich kenne keine andere moderne Prosa, welche so dichterisch konzentriert ist wie die Bertrands, immer nur das treffende Wort anwendet und umgekehrt aus jedem Wort herausholt, was aus ihm herauszuholen ist. Wer in der Dichtung die Kunst sucht, kann sie nirgends bei den Modernen klarer finden wie bei Bertrand. Ich werde dem Buch immer zu tiefstem Dank verpflichtet sein, ich kann mir kein anderes Buch denken, von dem ein Dichter so viel lernen könnte. Die französischen Franzosen sind alle mehr oder weniger Rhetoren; Bertrands Stil ist sachlich, von jener Nüchternheit, welche den besten Deutschen als das Ideal künstlerischer Sprache erscheint; er steht etwa in der Mitte zwischen dem Stil Mérimées und dem Flauberts. Die französische Romantik ist ja eine merkwürdig vielfältige Bewegung gewesen: für unseren Geschmack sind Männer wie Bertrand und Mérimée eigentlich doch Klassiker; denn die Klassizität ist ja eine Frage des Stils, nicht der Empfindung und des Sujets. Aber er ist klassisch wie ein Cézanne klassisch ist, er gibt nicht Struktur, sondern Oberfläche – dem tiefsten künstlerischen Instinkt folgend; denn zu seiner Zeit konnte man noch nicht Struktur empfinden, erst heute und bei uns Deutschen wird das möglich.

Henri Murger: «Die Boheme»

Ein Nachwort (1911)

Die guten Dichter verstehen es, die Wirklichkeit für das Bewußtsein der Menschen umzuschaffen: alles Traurige und Öde in Vergessenheit zu bringen und Schönheit und Heiterkeit zu erzeugen; in solchem Maße, daß da, wo die Menschen dem Kunstwerk gegenüber nicht die tägliche Kontrolle der Wirklichkeit haben, das von den Dichtern geschaffene Bild sich in ihrem Bewußtsein an Stelle der Wirklichkeit festsetzt.

Es gibt kaum ein schwereres Leben wie das Leben des jungen Künstlers. Alle Kraft wird gebraucht, die Beherrschung der Form zu gewinnen. Aber wie? Wird nicht alle Kraft gebraucht, das Leben bewußt zu leben, um es in der Kunst beherrschen zu können? Nein, das Wertvollste der Kraft muß ja verwendet werden, den gemeinen Lebensunterhalt zu erwerben. Ach! Wieviel Kraft wird vergeudet durch die trivialen Sorgen, durch den Kummer über die Hoffnungslosigkeit des äußern Daseins! Reicht denn der Tag von vierundzwanzig Stunden zu alledem? Warum sieht der junge Künstler schon so alt aus? Weshalb zeigt er diesen schroffen Stolz, diese hochmütige Verachtung aller andern Menschen?

Die lakonische Notiz über Murgers Leben lautet: Henri Murger wurde 1822 in Paris geboren, hatte mit Not und Entbehrungen zu kämpfen und starb 1861 im Hospital, als er eben anfing, mit seinen Schriften einige Erfolge zu haben.

Murger hat selbst ein Bohemienleben geführt, jenes Leben voll Arbeit und Not, Not und Arbeit, jenes Leben ohne Freude, ohne Glück, ohne Hoffnung, in dem jeder andere zerbrechen würde, nur nicht der starke Mensch, welcher ein junger Künstler ist; und er hat es verstanden, dieses Leben als heiter und glücklich darzustellen, als das Leben des freien Menschen, der von nichts abhängig ist, nicht einmal von seinem eigenen Wollen; und so meisterhaft hat er seine Phantasmagorie von jungem Künstlerglück erzählt, daß alle Leute sie nun glauben und die furchtbare Wirklichkeit nicht ahnen; und er hat das nicht durch Lügen oder auch nur Verschleiern der Wirklichkeit zustandegebracht – er erzählt ja alles, wie es in der Wirklichkeit geschieht –, sondern indem er die große Kraft des jungen Künstlers darstellte, seinen heiteren Glauben; indem er das Wirkliche als so bedeutungslos schilderte, wie es für den wertvollen Menschen ja ist, und das Geistige, die Kraft und den Glauben als wichtiger wie die Wirklichkeit. Sein heiteres Buch ist tapfer und edel, und es wird noch viele Menschen erfreuen und durch Freude stärker machen.

Flaubert

(1911 und 1892)

Im folgenden wird ein Essay von mir über Flaubert abgedruckt, der vor nun fast einem Vierteljahrhundert geschrieben ist und dann später in der Sonntagsbeilage der «Vossischen Zeitung» abgedruckt wurde. Derselbe orientiert vielleicht etwas über die merkwürdige Persönlichkeit des Dichters. Ich habe absichtlich nichts an meinen damaligen Ausführungen verändert; als ich sie nach so langer Zeit wieder durchlas, war ich erstaunt darüber, daß ich auch heute noch, als reifer Mann, kaum wesentlich anderes sagen würde wie damals als ahnender Jüngling.

Die damals noch herrschende Epigonenliteratur ist seither verschwunden; ob die heute im Vordergrund stehende Literatur so sehr viel höher steht, wage ich nicht zu sagen. Damals, als jener Artikel geschrieben wurde, war noch alles in Gärung in der jungen Generation, zu der auch ich gehörte; aber manche, die damals viel versprachen, sind früh gestorben, haben sich nicht entwickelt oder haben sich als mittelmäßige Persönlichkeiten herausgestellt. Was mir damals als besonders wichtig erschien, durch den Gegensatz zu der herrschenden Literatur, das Zurückgehen auf die Natur, würde ich heute nicht mehr so hervorheben, denn theoretisch wenigstens erstreben das die heute im Vordergrund des allgemeinen Interesses stehenden Dichter. Die eigentliche Persönlichkeit Flauberts, des desillusionierten Ästheten, der nur lebt, weil er eine Religion in der Kunst und eine Ethik in der Arbeit gefunden hat, habe ich damals merkwürdigerweise mehr verstanden, wie bei einem jungen Menschen anzunehmen gewesen wäre, der sich ein Lebensideal praktisch-politischer Wirksamkeit geschaffen hatte; heute bin ich selber ein solcher einsamer Ästhet, und ich empfinde jetzt manches, was mir damals als Schrullenhaftigkeit erschien, als eine notwendige Art des Lebens für einen Menschen, der in dieser bürgerlichen Gesellschaft sich seine Seele von der Welt unbefleckt erhalten will. Nur meine ich auch heute noch: wer der Kunst dienen will, der muß sich vor dem Hohn und der Verachtung hüten und muß sich zwingen, die Menschen zu lieben. – –

Wenn man Balzac als Kind der großen Revolution auffassen kann, so kann man Flaubert als den Dichter des politischen Katzenjammers betrachten, wie er 1851 zum Ausdruck kam. Der «Doktor der Sozialwissenschaft» gehörte einer Zeit an, wo das Bürgertum, idealistisch hochstrebend, begeistert von seinen eigenen Interessen, die ihm in ideologischer Verkleidung erschienen, die geistige, moralische, politische Leitung des Volkes an sich gerissen hatte. Flaubert, der Dichter von «Salambo» und der «Tentation de Saint-Antoine», der Geschichtsforscher, der sich im Studium der Vergangenheit vergräbt und bis zu der entlegenen Geschichte Karthagos zurückflieht, ist das Produkt der Zeit, welche auch einen Louis Bonaparte hervorbrachte; bei ihm ist das Bürgertum seiner Rolle müde geworden, denn es ist ihr nicht gewachsen, gibt freiwillig seine Herrschaft an den ersten besten Abenteurer, der verspricht, mit Säbel und Muskete zu regieren, hat kein Interesse mehr an der Gegenwart und an ihrer politischen und sozialen Durchforschung und Darstellung; der Idealismus, den es jetzt hervorbringt, wendet sich auf weltfremde Themata, und die «Kunst um der Kunst willen», die «reine Kunst» entsteht wieder, jene Gestalten tauchen wieder auf, die nichts sein wollen als Künstler und empört die Zumutung von sich weisen, daß auch sie nur die Kinder ihrer Zeit sind und ein Produkt ihrer Zeit darstellen und daß ihre Werke nur zeitlichen Wert haben.

Flaubert hat kein großes Publikum gefunden; nur seine Ideen haben ein Publikum, aber man darf aus den schwachen Auflagen seiner Bücher nicht schließen, er wäre nicht mit seiner Zeit in Harmonie gewesen. Dieselben Dinge erscheinen den verschiedenen Individuen verschieden, und dieselben Ursachen haben für verschiedene Individuen verschiedene Folgen; die Stoa ist ein Produkt des Cäsarentums und hat dieselben Ursachen wie die gleichzeitige moralische Verkommenheit; und ebenso kann das Publikum, welches Flaubert halb unbeachtet ließ, von denselben Umständen erzeugt sein wie Flaubert.

Flaubert fühlt sich nur als Dichter; Balzac fühlt sich auch als Dichter; in diesen Unterschieden kommt ihre verschiedene geschichtliche Stellung zum Ausdruck, nicht nur Temperament und Anlage.

Aber Flaubert und Balzac stehen in demselben literargeschichtlichen Zuge; sie sind beide Naturalisten; das ästhetische Prinzip Balzacs hat auch Flaubert, das Prinzip: der Mensch ist das Produkt des Milieus und er muß als dieses Produkt dargestellt werden. Und in demselben Verkennen des Wesentlichen im «Milieu» wie Balzac steckt auch er; auch ihm ist nicht möglich, den Kern von der Schale, die causa princeps von der bunten Reihe ihrer Konsequenzen zu lösen; noch weniger möglich als Balzac, da ihm soziologisch die Augen noch mehr verbunden sind, da er das Prinzip nur noch rein ästhetisch auffaßt.

Aber er weiß zu wirtschaften mit seinem Prinzip. Naturgemäß tritt bei dem Naturalisten die Arbeit beim Dichten in den Vordergrund, namentlich die vorbereitende Arbeit, das Sammeln der Dokumente, der Einzelheiten des Milieus. Und Flaubert hat gearbeitet, gearbeitet, wie wohl selten ein Dichter. Die paar Bände, welche von ihm herrühren, sind die Frucht eines Lebens, das nur ihnen allein gewidmet war; an einem Roman arbeitete er im Durchschnitt sieben Jahre. Jede Kleinigkeit, jedes geringste Detail ist die Frucht langer und mühsamer Studien. Einmal die Grundursache im Milieu, das soziale Element, erkannt, könnte der Naturalist durch einfache Deduktion ans Ziel kommen; aber ist das nicht der Fall, so hat er die unendlich mühsame induktive Methode nötig, muß er alles einzeln sammeln; und Flaubert hat nie betrogen; ehrlich, wie ein Gelehrter, hat er alles selbst gesammelt, studiert und erarbeitet.

Flaubert ist der Erbe des Balzacschen Naturalismus. Aber er selbst fühlte sich nicht als Naturalist; «trotz einer großen Freundschaft für Zola, einer großen Bewunderung für sein mächtiges Talent, das er als genial bezeichnete, verzieh er ihm nicht seinen Naturalismus», erzählt Maupassant von ihm; ja, «er ärgerte sich sehr über die Bezeichnung Realist, die man ihm aufgeklebt hatte, und behauptete, seine ‹Madame Bovary› aus Haß gegen die Schule Champfleurys geschrieben zu haben.»

Flaubert entwickelte sich unter dem Einfluß der Romantik, unter dem Einfluß einer Kunst, der nicht die Naturwahrheit als das Höchste galt, sondern die Lyrik des Ausdrucks, der Klang und die Farbe der Worte; es war die Piloty-Periode der Literatur. Und im ganzen Leben blieb Flaubert in dem romantischen Gefühl befangen, schien ihm die Gewalt und Macht, der Klang und die Tiefe der Worte und Phrasen das Wichtigste zu sein. Zola erzählt, daß ihn einmal Turgenjew gefragt habe, weshalb ihm Mérimée nicht gefalle. «Flaubert las eine Seite aus ‹Colomba›; und bei jeder Zeile hielt er an, indem er die qui und que tadelte oder über Ausdrücke ärgerlich wurde wie ‹prendre les armes› oder ‹prodiguer des baisers›. Die Kakophonie gewisser Silbenzusammenstellungen, die unlogische Interpunktion, die Trockenheit der Satzenden, alles kam vor.»

«Für ihn war die Form das Kunstwerk selbst», sagt Maupassant. Zola erzählt, wie Turgenjew bei Flauberts Ausführungen große Augen macht und den Kopf schüttelt. In der Tat, der russische Dichter, dem es nur darauf ankommt, für die Dinge exakte Bezeichnungen zu finden, und der sich um nichts weiter kümmert, mußte sich sehr verwundern; und wenn auch die deutsche Sprache noch nicht so nonchalant ist wie die russische, wenn auch, namentlich in unserer klassischen Literatur und der Epigonenklassizität, immerhin ein großer Wert auf das schöne Wort gelegt wurde, – diese Begeisterung für die Form erreichen auch wir nicht. In Frankreich ist sie nie ausgestorben; und auch neben den Ausgängen des Naturalismus sogar ist sie noch hergelaufen.

Flaubert fühlte sich als Wortkünstler. Alles andere war nur die notwendige Bedingung, nicht der Zweck seiner künstlerischen Tätigkeit. So muß man seine Arbeitsweise verstehen. Tagelang schrieb er an einer einzigen Seite, verbesserte und korrigierte, strich und veränderte, las die Worte laut, um sie auf ihren Klang zu prüfen, und gab sich nicht eher zufrieden, als bis die Arbeit ganz vollkommen war; er hatte das Bewußtsein, daß es jetzt nicht mehr besser gemacht werden könnte. Wenn man seinen exakten Naturalismus sieht, so denkt man leicht, daß ihm der das erste gewesen sein müsse, aber seiner Lyrik opferte er sogar die Naturwahrheit. Als er die Novelle «Un coeur simple» seinen Freunden vorlas, machten sie ihn darauf aufmerksam, daß an einer Stelle die Darstellung nicht ganz wahr sei; er stutzte und gab es zu; aber die kleine Änderung machte er nicht, um nicht das Klanggefüge seiner Worte zu zerreißen.

Flaubert fühlte sich als Wortkünstler, arbeitete als Wortkünstler. Aber er hatte den Blick des exakten Künstlers; ohne daß er es wußte, war er nicht Romantiker, sondern Naturalist. Und ebenso sorgfältig, wie er am Stil arbeitete, arbeitete er seine Gestalten und Situationen heraus.

Seine Methode in diesem Stück war dieselbe, die schon Balzac befolgte, dieselbe, die auch Zola hat und die er mit einem merkwürdigen Mißverständnis «experimental» nennt; Maupassant, der neben Zola am tiefsten in seine dichterische Werkstätte eingedrungen ist, beschreibt sie folgendermaßen: «Er dachte sich zuerst Typen aus, und indem er deduktiv weiterging, ließ er diese Wesen die charakteristischen Handlungen begehen, die sie notwendig mit absoluter Logik begehen mußten, nach ihrem Temperament.» Aber dieser Deduktion kam von der andern Seite ein enormes induktives Material entgegen; so studierte er alte Zeitungsjahrgänge durch, um die Gefühle und Empfindungen aus der Zeit der «Education sentimentale» genau kennenzulernen, häufte er Berge von Notizen und Noten auf für jede Kleinigkeit, reiste nach Afrika, allein um die Lage des alten Karthago für «Salambo» zu studieren. Zola schildert: «Wenn er sich für eine Szene einen Horizont ausgedacht hat, so macht er sich auf die Suche nach diesem Horizont, bis er einen Winkel entdeckt hat, der ihm ungefähr den gedachten Eindruck vermittelt. Und bei jedem Detail hat er so eine beständige Besorgtheit um das Reale. Er befragt die Stiche, die zeitgenössischen Journale, die Bücher, die Wünschen, die Dinge. Jede Seite kostet ihm für die Kostüme, die historischen Ereignisse, die technischen Fragen, die Dekoration tagelange Studien.»

Aber Flaubert ist nach seinem eigenen Bewußtsein Lyriker, mag er noch so exakt arbeiten; mag er in Wirklichkeit ein Naturalist sein, für ihn war «la vérité une blague, les notes ne servaient à rien, une seule phrase bien faite suffisait à l'immortalité d'un homme.» Es ist natürlich, solch ein Mensch mußte «Salambo» und die «Tentation de Saint-Antoine» schreiben, jene gewaltige Lyrik, jenen Rausch von Dichtung. Aber wie konnte er nur «Madame Bovary» dichten, wie kam es, daß gerade das erste Buch von ihm «Madame Bovary» war! Maupassant sagt von ihr: «la phrase, contrainte à rendre des choses communes, asouvent des élans, des sonorités, du tout au-dessus des sujets, qu'elle exprime.»

Wie erklärt sich diese sonderbare Wahl des Stoffes?

Flaubert wurde am 12. Dezember 1821 in Rouen geboren. Seine Mutter war die Tochter eines Arztes, sein Vater war ein angesehener Chirurg, Dirigent der Klinik in Rouen. Er war rechtschaffen, schlicht und gutmütig und wunderte sich sehr, daß sein Sohn sich der Literatur widmete, die er immer für etwas sehr Überflüssiges hielt. Gustave Flaubert besuchte in Rouen selbst die Schule. Er war kein Wunderkind und lernte erst spät lesen. Später ging er nach Paris, um Jurisprudenz zu studieren. Hier traf er mit Bouilhet wieder zusammen, mit dem er schon in Rouen bekannt gewesen war und der sein Lebensfreund wurde.

Die hervorstechendsten Züge Flauberts waren von Kindheit an seine außerordentliche Naivität und seine Scheu vor jeder körperlichen Tätigkeit. Er blieb sein Leben lang naiv, ein reiner Provinziale, voll unerschütterlichen Glaubens an seine Kunst, welche das Höchste war, wegen der überhaupt die Welt existierte; großmütig, rechtschaffen, edel, ein Weiberfeind und geschworener Junggesell, fleißig bis zum äußersten, voller ernsthafter Schrullen.

Aus seinem Leben ist nichts zu erzählen. Um 1842 hatte sein Vater ein Landhaus in Croisset gekauft, und dort wohnte er jahraus, jahrein, von einem kleinen Vermögen zehrend, bloß mit seiner Arbeit beschäftigt; auf ein paar Monate im Winter kam er nach Paris. 1849 bis 1851 machte er eine große Reise nach dem Orient, den Gegenden seiner romantischen Sehnsucht; und später reiste er einmal nach den Ruinen von Karthago. Das waren die einzigen Unterbrechungen.

Zola schildert das Haus in Croisset und die Wohnung in Paris; und dies Milieu ist zu charakteristisch, um es wegzulassen.

Das Haus war alt und wurde im vorigen Jahrhundert durch einen Anbau vergrößert. Dahinter lag ein kleiner Garten mit großen alten Bäumen. Flaubert versicherte, daß er nicht einmal jährlich bis an das Ende ging. Er bewohnte bloß zwei Zimmer, ein Arbeits- und ein Schlafzimmer. Bilder und Bibelots konnte er nicht leiden. In seiner großen, kahlen Stube, die eine ganze Ecke des Hauses einnahm, standen Bücherregale an den Wänden. Das einzige Besondere waren ein Mumienfuß, eine Platte aus getriebenem Kupfer aus Persien, auf die er seine Federn legte, und ein paar andere derartige Sachen. Zwischen den beiden Fenstern stand die Büste seiner frühverstorbenen Schwester, welche er sehr geliebt hatte. Außerdem noch ein paar Porträts von Freunden an den Wanden. «Aber das Zimmer in seiner Unordnung, seinen abgeschabten Tapeten, seinen alten Lehnstühlen, seinem breiten Sofa, seinem weißen Bärenfell, das schon gelb wurde, hatte den Druck der Arbeit, der erbitterten Kämpfe gegen die widerspenstigen Phrasen.»

Seine Pariser Wohnung bestand aus drei Zimmern, welche mit großgeblümtem Kretonne ausgeschlagen waren. An Kuriositäten befanden sich hier ein arabischer Sessel, den er von der Reise mitgebracht hatte, und eine Buddhafigur aus Pappe, die bei einem Trödler in Rouen gekauft worden war.

Wenn er in Paris war, ging er zuweilen zu dem literarischen Zirkel der Prinzessin Mathilde Bonaparte. In den letzten Jahren besuchten ihn die bedeutenden Schriftsteller jeden Sonntag: Edmond de Goncourt, Zola, Daudet, Maupassant, Turgenjew, Huysmans, Hennique, Céard, Cladel, Emile Bergerat, Hérédia u. a.

Man führte literarische Gespräche, und Flaubert fühlte sich glücklich, eine Gesellschaft um sich zu haben, welche nur für das eine schwärmte und dachte, was ihm wichtig war: die Literatur. Eine solche Gesellschaft war so selten! Er klagt in einem Brief an George Sand: «Kennen Sie in diesem Paris, das so groß ist, ein einziges Haus, wo man von Literatur spricht? Und wenn ein Gespräch darüber angeknüpft wird, so immer bei den untergeordneten und äußerlichen Punkten, wie die Frage des Erfolges, der Moral, der Nützlichkeit. Es scheint mir, daß ich ein fenil werde, ein Wesen ohne Beziehung zu seiner Umgebung.»

Eine wunderbare, schwer vorzustellende Mischung von kindlichster Naivität und junggesellenhaften Schrullen, von idealster Begeisterung für seine Kunst, ein weiter, umfassender Blick, ein klares, ruhiges Verständnis, und dabei eine verblüffende Borniertheit. Die Welt war da, um geschildert zu werden, und außer der Literatur gab es überhaupt nichts.

In «Bouvard et Pécuchet» macht er einmal eine Bemerkung, um so schwerwiegender, als er sonst nie hinter seinem Werk zum Vorschein kommt: «Jetzt entwickelte sich eine traurige Fähigkeit in ihrem Geiste, die Dummheit zu sehen und sie nicht aushalten zu können.»

«Eine traurige Fähigkeit.» Dieses «traurig», nur unbewußt und unbeabsichtigt seiner Feder entschlüpft, redet mehr für seinen Geisteszustand als seine Briefe und die Schilderungen seiner Freunde. «Eine traurige Fähigkeit!»

Man erstaunt oft bei ihm, wie er die menschliche Dummheit aufzuspüren versteht, nicht etwa die außergewöhnliche, nein, die allgemeine, allgemein menschliche Dummheit. Welche Augen, welche Beobachtung, welcher Humor! Aber mit bitterm Lächeln sagt Flaubert: eine traurige Fähigkeit!

Noch ein anderes Mal läßt er sein persönliches Empfinden sprechen, in «Madame Bovary». Dort sagt er, die einzige Möglichkeit, das Leben zu ertragen, sei die, es darzustellen. Das ist keine Phrase bei ihm, wie es bei manchem andern der Fall sein mag, das ist furchtbare, tiefempfundene Wahrheit.

Es mag schwer sein, sich diese verschiedenartigen Züge zu einem Bild zu vereinigen. Man sollte sie sich denken als Oberflächenerscheinungen und als innere Züge; sieht man ihn als Provinzialen, Enthusiasten, Naiven, so erscheint das, was herauskommt, wie es Maupaussant und Zola schildern, oft barock; man bekommt leicht den Eindruck: ein herzensguter Mensch, aber ohne besondere Tiefe, frisch und natürlich, aber ein Pedant und alter Junggeselle. Aber unter dieser Oberfläche liegt der eigentliche Flaubert, nicht der, welcher es als großes Freundschaftszeichen ansah, wenn er jemanden seinen Pfeifenständer benutzen ließ, welcher gegen die qui und que donnerte, und klagte, daß man jetzt gar nicht mehr von Literatur spricht, – sondern der Flaubert, der den furchtbaren «Saint-Antoine» geschrieben hat, « ce comble de l'insanité», wie er an George Sand schreibt, «Bouvard et Pécuchet», eine schreckliche Satire auf das Menschengeschlecht, schrecklicher noch als Gullivers Reisen, «Madame Bovary» und «Education sentimentale», wo wieder die menschliche Lächerlichkeit schonungslos vorgewiesen wird, diese Bücher, welche das Trostloseste darstellen, was je ein Mensch niedergeschrieben hat.

Flaubert verachtete die Menschen, nicht wegen ihrer Schlechtigkeit und Niederträchtigkeit, nicht mit der üblichen Lyrik oder dem bekannten dramatischen Pathos; er verachtete sie wegen ihrer Dummheit. Schon das allein wirkt humoristisch auf den, der anders beschaffen ist; und dazu muß man noch die wunderlich barocke Form nehmen, wie sich diese Verachtung, dieser Haß im Leben äußerte; er hatte sich förmliche Sammlungen zur Geschichte der menschlichen Dummheit angelegt und sie genau und gewissenhaft geordnet; ja, er selbst für sich hatte Angst, in diesen Generalfehler der Menschheit zu verfallen. So fragte er sich: «Welche Form muß man wählen, um seine Meinung über die Dinge dieser Welt auszudrücken, ohne zu riskieren, daß man später für einen Esel gehalten wird?» Und er kommt zu dem Schluß: «Es scheint mir am besten zu sein, wenn man ganz ruhig die Dinge, die einen erbitterten, bloß schildert.»

Man denke sich Vischers «Auch Einer», aber die Figur breiter und höher und mehr in ihrer Tiefe vorhanden; das gäbe eine gewisse Ähnlichkeit mit Flaubert ab.

«Madame Bovary» kam 1856. Flaubert war damals schon fünfunddreißig Jahre alt. Aus seiner früheren Zeit her hatte er den Kultus der Form bewahrt; aber jetzt galt es, aus seiner tiefsten Natur heraus zu schaffen, sein Innerstes zum Ausdruck zu bringen. Seine Menschenverachtung drängte nach Gestaltung, und so schuf er sein Buch, einen naturalistischen Roman in kunstvoll gewählten Worten.

Balzac hatte noch keine Durchschnittsmenschen. Alle Gestalten wuchsen bei ihm ins Grandiose und Kolossale, und man hört bei ihm immer noch den Nachhall der großen Revolution, welche die Menschen auf den Kothurn gestellt hatte. Selbst ein Parfümeriewarenhändler wuchs bei ihm unversehens zu ungeheuren Dimensionen und drohte das enge Milieu zu sprengen, in das er gesetzt war.

In «Madame Bovary» gibt es nur Durchschnittsmenschen; ja, es gibt sogar, vielleicht zum erstenmal in der Literatur, das Durchschnittsweib, das Weib, weder gesehen durch das verkleinernde Glas des Weiberfeindes, noch durch das vergrößernde des Liebhabers, weder gesehen mit den Augen des zynischen Witzboldes des ancien régime, noch mit dem Auge des pathetischen Tugendboldes der Revolution; einfach das Weib, gesehen mit dem Auge des kalten, ruhigen Künstlers, der nur eine einzige Leidenschaft hat, sie zu erforschen und Dokumente zu sammeln.

Dokumente, nur Dokumente! Nirgends psychologische Analysen, Seelenschilderungen, Deduktionen, Avertissements an den Leser, keine Anatomie der Seele, sondern nur einfache Darstellung dessen, was geschieht und gesagt wird. Nicht einmal als Cicerone drangt sich der Künstler auf. Gerade beim Studium der «Madame Bovary» ist es wohl zu verstehen, daß an Flaubert sich Maupassant anschließen konnte, an den Naturalisten der Klassizist; Maupassant brauchte ja nur das Element der Entwicklung auszulassen, und seine ganze Kunst war fertig, sein fröhliches, frisches Cinquecento im 19. Jahrhundert. So berühren sich die Gegensätze.

Es ist schwer, den Inhalt von «Madame Bovary» zu erzählen. Er klingt banal, banal wie irgendeine Geschichte, die irgendwo passiert und von irgendwem erzählt wird.

Bovary ist ein gewöhnlicher Durchschnittsphilister, ein Mensch, der seinen Beruf abtrottet, schläft, trinkt und ißt. Wenig befähigt, arbeitet er sich durch das Gymnasium, studiert dann und macht schließlich mit Ach und Krach sein Examen, um sich als Landarzt in einem kleinen Nest niederzulassen. Seine Mutter, eine rührige Kleinbürgerin, die einen alten Soldaten, einen lockern Zeisig, geheiratet hat, verschafft ihm eine angeblich wohlhabende Alte als Frau, die er ohne Widerspruch annimmt. Nach einiger Zeit wird er auch Witwer, und er verliebt sich jetzt in eine Pächterstochter, die, wie man bei uns sagen würde, «auf der Benehme» gewesen ist. Sie erscheint ihm, der trotz des Aufenthalts auf der Universität ein naiver, plumper Stoffel geblieben ist, als ein Wunder von Feinheit und Bildung, und er ist ganz glücklich, als sie einwilligt, seine Frau zu werden.

Während er unterwegs ist und seine Patienten besucht, sitzt sie den ganzen Tag zu Hause und hat nichts zu tun. Jetzt kommen ihr natürlich die bekannten Weibergedanken: «Vor der Hochzeit hatte sie fest geglaubt, Liebe zu ihrem Karl zu empfinden. Aber als das Glück, das sie aus dieser Liebe erwartete, ausblieb, da mußte sie sich doch getäuscht haben. So dachte sie. Und sie gab sich Mühe zu ergrübeln, wo eigentlich in der Wirklichkeit all das Schöne sei, das in den Romanen mit den Worten Glückseligkeit, Leidenschaft und Rausch so verlockend geschildert wird.»

Er entspricht immer weniger ihren Romanidealen. Wenn er abends spät müde nach Hause kommt, so muß sie ihm das Essen besorgen, und er ißt erst; dabei zieht er aber den Rock aus und sitzt in Hemdsärmeln da. Dann erzählt er ihr langweilige Geschichten, was es für Kranke heute gegeben, was er für Rezepte geschrieben hat, und so fort. Ihre Schwiegermutter, die sie oft besucht, brummt, daß sie zu hohe Ansprüche macht und nicht genug auf die Wirtschaft achtet.

Sie gibt sich alle Mühe, um ihre Liebe poetischer zu machen. Sie geht mit ihm im Mondschein in den Garten, deklamiert Gedichte, singt, seufzt, – aber das nützt alles nichts, sie bekommt keine anderen Gefühle, und er sitzt steif neben ihr und ändert sich auch nicht.

Und endlich fragt sie sich seufzend: «Mein Gott, weshalb habe ich eigentlich geheiratet!» Sie träumt, was sie für einen Mann hätte bekommen können, erinnert sich an früher und wird immer unglücklicher. Bovary merkt von allem nichts; zufrieden und froh kommt er und geht er; er liebt sie über die Maßen und fühlt sich glücklich und behaglich. Durch Zufall erhalten sie eine Einladung zu einer adeligen großen Familie, welche in der Nachbarschaft wohnt. Hier lernt sie zum erstenmal die höheren Genüsse kennen, welche diese feinen Leute für sich haben; sie ist geblendet von der ungewohnten Pracht; ihre Träume bekommen wieder neue Nahrung.

Und so entwickelt sich der Gegensatz zwischen den beiden immer weiter. Bovary wird immer bequemer, behaglicher, philiströser; sie ergibt sich immer mehr ihren romanhaften Phantasien, welche so gegen die Wirklichkeit kontrastieren, und wird immer unglücklicher. Ja, sie muß sich sogar für ihn schämen. Ein anderer Arzt hat ihn am Krankenbett im Beisein der Verwandten blamiert, und er erzählt ihr das ganz ruhig.

Sie beginnt wieder Klavier zu spielen. Aber die Musik macht ihr keine Freude. Sie putzt sich. Aber auch das wird ihr langweilig. Von allem fühlt sie sich unbefriedigt! Sie läßt Gerichte für sich allein kochen und ißt selbst nichts davon und bekommt allerlei Launen. Bovary verschreibt ihr Baldriantropfen. Schließlich kommt er auf die Idee, ob nicht eine Luftveränderung gut tun würde. So schwer es ihm wird, ihr zuliebe siedelt er nach einem andern Ort über, wo er mit der Praxis erst wieder von vorn anfangen muß.

Wunderbar ist das neue Milieu geschildert: Dieses kleine Städtchen mit seinen Merkwürdigkeiten, die Spießbürgertypen – jedes Wort fast ist bezeichnend, jeder Satz ist ein Dokument. Die prachtvollste Figur ist der Apotheker des Ortes. Er hat eine Denkschrift «Der Apfelwein. Seine Herstellung und seine Wirkung, nebst einigen neuen Betrachtungen hierüber» geschrieben, welche er der Rouener Agronomischen Gesellschaft eingereicht hat. Außerdem ist er Mitarbeiter des «Leuchtturm von Rouen», wo er namentlich seine philosophischen und religionswissenschaftlichen Anschauungen niederlegt. Er ist nämlich ein großer Pfaffenfeind und Anhänger «der großen Ideen von 89». Sein größtes Vergnügen ist, dem Geistlichen des Ortes mit naturwissenschaftlichen Argumenten oder mit Gründen des natürlichen Menschenverstandes nachzuweisen, daß es mit der Religion nichts ist; und er hat es so weit gebracht, daß ihm der arme Mann, dem das eigentlich ganz gleichgültig ist, schon von weitem aus dem Wege geht.

Endlich, hier, findet Emma eine gleichgesinnt Seele, Herrn Leo Dupuis, der setzt als Adjunkt bei dem Notar Guillaumin beschäftigt ist, um sich auf das juristische Studium vorzubereiten. Die beiden führen jetzt miteinander empfindsame Gespräche über das Meer, die Unendlichkeit, das Ideal, die Liebe, die Schweiz und so weiter.

Allmählich entwickelt sich aus diesen Gesprächen bei beiden Liebe; aber sie sind beide zu unschuldig, als daß es zu einer Katastrophe kommen sollte, und so kommen sie denn zuletzt auseinander, weil Leo nach Paris gehen muß, um seine Studien zu vollenden.

Aber jetzt ist der Boden vorbereitet; diese platonische Liebschaft ist die natürliche Vorläuferin einer materialistischen; und es kommt nur auf den geeigneten Mann an, welcher Rücksichtslosigkeit genug besitzt, die reife Frucht zu pflücken.

Gleichzeitig, während sie hier ihrem endgültigen Verderben entgegengeht, beschwört sie noch ein zweites Ungewitter am Himmel herauf. Ihre hysterischen Passionen kosten Geld, und sie läßt sich mit einem Wucherer ein. Lheureux ist wieder ein prachtvoll gezeichneter Typus, der skrupellose kleinstädtische Schacherer, der Heller und Pfennig zusammenkratzt und mit der ehrbarsten Miene Krawatten verfertigt, der verschiedene Kommissionen übernimmt und tolerant ist wie ein Pariser, aber für sich selbst das solideste Leben führt.

Der neue Liebhaber findet sich in einem Gutsbesitzer Rudolf Boulanger; er ist der Kleinstädter, der «die Welt kennengelernt hat», längere Zeit in einer Großstadt gewesen ist und sich auch zuweilen dort wieder aufhält, um zu bummeln; er verbindet die sittliche Vorurteilslosigkeit des Parisers mit der rohen Brutalität des Provinzialen; dort als von der Kultur beleckter Bauerntölpel vielleicht ausgelacht, gilt er hier als der Elegant; und für Emma, die niemals außer auf jenem einen Ball etwas Besseres gesehen, erscheint er natürlich als das Urbild romanhafter Ritterlichkeit, namentlich wenn er in weißen Hosen und hohen Reitstiefeln an ihrem Fenster vorbeireitet. Er überlegt sich kaltblütig: Sie ist ganz hübsch, sagt gerade seinem Geschmack zu – seine Maitresse gefällt ihm nicht mehr – nur wird es schwer sein, sie wieder loszuwerden – nun, aber er wird eine Liebschaft mit ihr anfangen.

Ihre Sentimentalität hält vor seiner rücksichtslosen Brutalität nicht lange stand. Das ist ein anderer Mann als Leo. Bei dem Landwirtschaftsfest erklärt er ihr seine Liebe. Diese Szene ist eine der großartigsten in dem ganzen Buch. Ohne irgendwelche Übertreibung, nur durch die Zusammenstellung der einfachsten Erscheinungen hat Flaubert hier eine Komik geschaffen, wie sie grotesker nicht gedacht werden kann. Die beiden sitzen allein in dem leeren Sitzungssaal des Rathauses. Unten auf dem Marktplatz werden landwirtschaftliche Festreden gehalten, man feiert Ackerbau, Handel, Kunst und Wissenschaft, preist die Regierung, welche das alles unterstützt, neue Pferde, Kultur, Mastvieh, künstlichen Dünger, die Landwirtschaft als Ernährerin aller, das goldene Korn, das blendende Leinen, das Göttergeschenk des Weines und so weiter. Und zwischen die Phrasen hindurch sehen wir die beiden sitzen; sie, geziert, sentimental, mit Klagen, daß sie unverstanden ist, daß sie kein Vogel ist, welcher fortfliegen kann; er, kühn auf sein Ziel lossteuernd, auf ihren Ton halb eingehend, aber immer seinen eigenen Gedanken im Sinn.

Emma liebt nun Rudolf mit der heißesten Leidenschaft, mit der Glut des Weibes, das gesucht und gesucht und immer keine Befriedigung gefunden hat. Es ist mit furchtbarer Gewalt über sie gekommen; jetzt hat sie den Rechten, von dem sie immer geträumt, den sie geahnt hat! Zuerst reißt sie ihn mit sich. Aber er erkaltet bald wieder, und nun wird ihm ihre Leidenschaft lästig und lästiger. Ihre Sentimentalitäten, ihr Romanpathos, ihre Naivität langweilen ihn; er versteht nicht, diese Gewalt der Leidenschaft, diese selbstlose Liebe zu würdigen, die sich unter den oft lächerlichen Äußerungen verbirgt, die sie ihm alles aufopfern läßt. Sie würde ohne Bedenken ihren Mann ermorden, wenn es nötig wäre; ihm ist das unangenehm: er kann den guten Kerl eigentlich ganz gut leiden. So kommt nach einiger Zeit seine rohe und brutale Natur zum Ausdruck; er behandelt sie schlecht, schimpft sie, zeigt ihr sogar seine Gleichgültigkeit. Sie läßt nicht von ihm. Schließlich will er sie auf alle Fälle los sein. Sie hat ihn immer gedrängt, mit ihr zu entfliehen. Er geht darauf ein, läßt sie alles besorgen und schreibt ihr in der letzten Stunde einen Absagebrief.

Sie verfällt in eine schwere und langwierige Krankheit, aus der sie ganz gebrochen wieder aufsteht. Ihr Mann pflegt sie in seiner rührenden Liebe mit täppischer Sorgfalt; sie bekommt eine Art Gewissensbisse, daß sie den guten Mann so betrogen hat; aber ihr inneres Drängen, die Folge des unbefriedigten Geschlechts, übertreibt wieder alles. Ihre Unstetigkeit wirft sich auf die Frömmigkeit, sie liest Gebetbücher, hat Visionen, wird wohltätig – alles wieder übertrieben, hysterisch.

Durch einen Zufall kommt sie wieder mit Leo zusammen. Ihr Mann fährt mit ihr nach Rouen ins Theater, um sie zu zerstreuen, und hier treffen sie Leo, der sich hier bei einem Advokaten aufhält, um zu praktizieren. In den drei Jahren seines Pariser Aufenthaltes ist er männlicher geworden und weniger platonisch; jetzt wacht seine alte Liebe zu Emma wieder auf; auch sie wird wieder ergriffen, und die Folge ist eine neue Liebschaft. Sie fährt jetzt jede Woche nach Rouen, um einen Tag mit Leo zu verbringen. Alles Frühere ist vergessen, ihr Leiden wegen Rudolf, ihre Liebe zu ihm; die neue Leidenschaft hat wieder eine ebenso große Flamme angefacht. Ihrem Mann sagt sie, daß sie Musikunterricht nimmt.

Aber dieser Verkehr mit Leo bedingt große Ausgaben, und obgleich sie heimlich ein Grundstück verkauft, kann sie doch die Schulden nicht decken. In ihrer wahnsinnigen Leidenschaft, in der sie ohne Berechnung wirtschaftet, vergrößert sie das Konto noch immer mehr, bis Lheureux sie weit genug glaubt, um die Schlinge zuzuziehen.

Jetzt naht der Schluß mit einer furchtbaren Dramatik, welche man in dem sauberen, sorgfältigen Buche gar nicht erwartet hätte. Sie läuft zu Lheureux – vergeblich. Sie bittet Leo – er hat nichts; sie fordert ihn auf, die Kasse seines Prinzipals zu bestehlen; aber er bleibt fest und entläßt sie mit einer vagen Hoffnung, daß er einen reichen Bekannten finden wird, der ihm ein paar tausend Franken leiht. Sie geht zu dem Notar, dem ihre Schuld übergeben ist; er macht ihr schamlose Anträge. Ja, sie erniedrigt sich in ihrer Angst sogar, zu Rudolf zu gehen. Rudolf behauptet, er habe kein Geld. Sie glaubt es ihm nicht, und plötzlich erkennt sie die ganze Gemeinheit und Niedertracht dieses Menschen, dem sie alles geopfert hat. Nun ist alles zu Ende. Sie geht zu dem Apotheker hinüber und nimmt Arsenik. Dann geht sie nach Hause und stirbt vor den Augen ihres Mannes, der keine Ahnung davon hat, wie das alles zusammenhängt, und nach ihrem Tode als ein gebrochener Mann zurückbleibt. Zuletzt findet er noch ihre Briefe, welche ihm ihren Ehebruch beweisen; das ist der letzte Schlag, das kann er nicht verwinden, und so stirbt denn auch er.

Es sind alles so triviale und banale Menschen, um welche es sich in dem Roman handelt, und deshalb wird die furchtbare Tragik des Werkes, die entsetzliche Verzweiflung, die es atmet, nicht so empfunden. Die Personen gehen nicht auf rhetorischen Stelzen, das Kunstwerk scheidet nicht die in der Natur nebenherlaufenden Züge aus, welche die Empfindung des Tragischen stören; das Leben wird gebracht, wie es ist, die Tragik in ihrer Komik, das Erhabene als Groteskes, das Ideale als Triviales. Emma – das ist die alte Dido, die vom Kothurn herabgestiegen ist, die jetzt nicht in Hexametern spricht, ihr Leid nicht von aller Erbärmlichkeit und Jämmerlichkeit losgelöst in erhabenen Worten und Gedanken äußert und uns mit der Wucht ihres Geschickes zermalmt; sie ist der gewöhnliche Mensch, der wie tausend andere Menschen lebt und deren Drama sich inmitten der Banalität und Trivialität des wirklichen Lebens abspielt und sich selbst trivial und banal äußert.

Sie weiß nichts vom Leben, kennt nichts als ihre idealen Träume und Phantasien. Ohne daß sie weiß, was sie tut, heiratet sie Bovary. Jetzt kommt sie mit dem Leben in Berührung, das ihr so gering, so niederträchtig erscheint, das dem herrlichen Bild ihrer Sehnsucht, ihrem Traum so gar nicht entspricht. Sie wendet sich von ihm ab, spinnt sich bloß in ihre Phantasien ein, und sucht, sucht voll Qual und Sehnen nach dem ewig Unerreichbaren. Endlich glaubt sie es gefunden zu haben. Sie hat Rudolf, und ohne Besinnung gibt sie sich ihm hin, geht sie auf im Rausch des Schönen und Großen. Sie wird herausgerissen. Aber noch einmal scheint ihr die Wirklichkeit verklärt, und noch einmal glaubt sie, den Himmel zu berühren. Und jetzt wird sie zum zweitenmal aus allem heraus auf den platten Boden geschleudert. Jetzt kann sie nicht mehr kämpfen, die Trivialität, das Gemeine hat gesiegt. Und sie wendet sich vom Leben ...

Das ist Dido, nein, das ist überhaupt der Kampf um das Ideal.

Aber Emma ist ein hysterisches Frauenzimmer, das verrückte Launen hat und ihren dummen Mann zum Hahnrei macht! Ihr Ideal ist ein Gemisch von Romanphrasen, und ihre Gedanken sind alberne irgendwo aufgelesene Redensarten, sie ist die Vertreterin der allgemein menschlichen Dummheit!

Das ist der furchtbarste Kontrast: Die Dinge, losgelöst, abstrakt, und die Dinge in der Erscheinungswelt. Die idealistische Kunst kennt diesen Kontrast nicht, er war erst möglich mit dem Realismus; bei Flaubert ist er die Seele des Kunstwerkes.

Die Desillusionierung ist das Motiv von «Madame Bovary», wie es tiefer und weiter das Motiv der «Education sentimentale», der «Tentation de Saint-Antoine» und von «Bouvard et Pécuchet» sein und wie es nach ihm Maupassant, sein Schüler, so glänzend variieren wird. Die Desillusionierung, doppelt gefaßt: der Person des Stückes und des Lesers; der Person, welcher ihre Ideale eins nach dem andern in Kot und Niedertracht herabgezogen werden; des Lesers, dem die großen Ideale in der gemeinsten, krassesten Dummheit verkörpert erscheinen. Schon einmal war diese doppelte Tragödie gedichtet im «Don Quixote». Aber hier war sie in einen wehmütigen Humor getaucht, und oft versöhnte ein herzliches Lachen die furchtbaren Kontraste, welche der Dichter aufwies. Bei Flaubert ist dieses befreiende Lachen nicht möglich, nur ein bitteres Lächeln könnten seine groteskesten Szenen hervorrufen.

Was mag in dem Geiste des Mannes vorgegangen sein, als er, verhältnismäßig so jung noch, ein solches Buch schrieb!

Aber vor dem Letzten des Pessimismus hat sich Flaubert gerettet; eins gab es immer noch, was ihn ans Leben fesselte, die Kunst. Vielleicht, weil es das Letzte war, klammerte er sich so an sie. Und wenn ihn auch seine bittere Weltauffassung trieb, gegen seine Kunstneigungen, die ihn lieber im Grandiosen schwelgen ließen, die kleinlichen Sitten der Provinz zu schildern, wo sein Talent mit seinen sonoren, wohlklingenden Worten die elendesten und erbärmlichsten Dinge ausdrücken mußte und er nur in der Idee einen erhabenen Kampf schildern konnte, so waren seine Kunstneigungen doch stärker als seine Weltauffassung. In seinem zweiten Buche gibt er sich ohne Rückhalt seinem ästhetischen Menschen hin, läßt er den Philosophen und Menschenverächter zurück; hier schwelgt er in seinem Opium der Kunst.

Was kann besser passen zu diesem Stil, zu diesen gewaltigen rauschenden Worten, diesem festgegliederten, mächtigen Rhythmus, als ein Gesang von Schlachten, prächtigen Gelagen, stolzen Burgen, übermenschlichen Leidenschaften und Leiden und übermenschlichen Menschen und Taten? Flaubert suchte in der ganzen Geschichte nach einem Stoff; späterhin war seine Liebingsidee, die Thermopylenschlacht zu beschreiben; jetzt zog ihn der Verzweiflungskampf Karthagos an, wo er alles fand, was er brauchte, orientalische Pracht und Leidenschaft, einen gewaltigen geschichtlichen und landschaftlichen Hintergrund.

1856 war «Madame Bovary» gedruckt, unter schlimmen Erfahrungen des Dichters. Sein Freund Maxime du Camp schlug ihm vor, den Roman «einem geschickten und geübten Mann» zu überliefern, der « un tas de choses, bien faites, mais inutiles» streichen sollte, die den Roman belasteten; es sollte nur hundert Franken kosten. Und der Staatsanwalt strengte sogar eine Unsittlichkeitsklage gegen ihn an. Das Plaidoyer ist der édition définitive der «Madame Bovary» beigelegt, ein sehr ergötzliches Schriftstück, besonders bei uns in Deutschland mit großem Nutzen zu lesen, wo es ja noch immer derartige Staatsanwälte gibt.

1862 erschien «Salambo». Durch die Erfahrungen mit der «Bovary» hatte sich Flauberts Menschenverachtung noch gesteigert, und er gab das Buch heraus, ohne irgend etwas zu hoffen. Er schrieb in einem Briefe damals, am liebsten möchte er seine Sachen gar nicht drucken lassen.

«Salambo» ist der gewaltige Versuch, ein ganzes großes Volk als Milieu zu benutzen, eine große Epoche der Geschichte als Untergrund für einen Roman zu verwenden. Dadurch hat das Buch eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit dem «historischen Roman» bekommen, und ein besonders scharfsinniger Kritiker hat sogar eine vergleichende Studie geschrieben über «Salambo» und «Uarda» Ein seinerzeit vielgelesener, in Ägypten spielender «Professoren-Roman» von Georg Ebers. Anm. des Herausgebers. .

Als «Salambo» erschien, ging eine große Verwunderung durch das Publikum. Man verlangte eine neue «Madame Bovary»; man lachte über das phönizische Altertum und verspottete den Roman in Karikaturen; Sainte Beuve fand eine « pointe sadique» in dem Roman; ein Gelehrter namens Fröhner bestritt die Echtheit der Dokumente, was Flaubert natürlich sehr kränkte. Das gewünschte ästhetische Verständnis fand Flaubert fast gar nicht.

Noch eine romantische Erbschaft war die Vorliebe für den Orient, den man durch die idealisierende Brille von Mille et une nuit ansah; und selbst die Orientreise, welche Flaubert machte, heilte ihn nicht von seinen Illusionen, sie bestärkte ihn nur; der Orient, der märchenhafte, mit seinen Teppichen, Diamanten, Perlen, Purpurdecken, furchtbaren Leidenschaften, dieses Wunderland der Poesie, das überhaupt nur existiert hatte in den erhitzten Phantasien einiger armer Beduinen, das war es, wonach seine Seele strebte mit dem naiven Glauben des Kindes. Man kann noch so fest auf die «Echtheit» in «Salambo» bauen; aber ob nicht doch in den endlosen Schilderungen von Purpur, Elfenbein, Gold, Silber, Edelsteinen, Perlen die Erinnerung an «Tausendundeine Nacht» durchklingt? Ob Flaubert wirklich diese «orientalische Pracht» in seinen Dokumenten gefunden hat?

Wie ganz entspricht das Buch den Ideen vom «Orientalischen»! Diese gewaltigen Leidenschaften, sind sie so ganz historisch? Freilich, die alten Phönizier werden nicht die Empfindungen der Pleiße-Ägypter von Ebers gehabt haben; aber haben sie deshalb schon die Empfindungen Flauberts gehabt? Diese Liebe, welche die Menschen krank macht, sie mit übermenschlichen Kräften ausstattet und sie im Kampfe gegen Pfeile, Dolche, Schwerter, Elefanten unverwundbar macht, sie ist doch ein wenig zu melodramatisch; und dieser Haß, der mit kalter Berechnung die Vierzigtausend verhungern läßt, die abgefeimte Grausamkeit, welche die besten Freunde aufeinanderhetzt, um die Unglücklichen trotz des Versprechens nachher doch zu töten, diese wilde Wut sogar in der Versammlung der handeltreibenden Alten, diese raffinierte, wahnsinnige Tortur des gefangenen feindlichen Heerführers – das alles scheint doch auf allzu hohen Schrauben zu stehen.

Trotz aller Studien, trotz aller Untersuchung von Inschriften und alles Wälzens von antiken Schriftstellern und aller Reisen an die Trümmerstätte: die Exaktheit, von welcher der Naturalismus träumt, ist unmöglich; das alte Karthago bleibt für den Modernen höchstens ein Phantasieprodukt; freilich ist Flauberts Phantasieprodukt von einer gewaltigen Kraft und Tiefe; freilich ist in ihm alles aufs genaueste und feinste geordnet, stehen alle Erscheinungen im festesten logischen Zusammenhang zueinander, ist es eine wirkliche, ganze, volle Welt, die neu aufgebaut wird, eine Welt mit ihrem ganzen Zubehör, Menschen, Tieren, Häusern, Speisen, Geräten, Gefühlen, Vorstellungen, Religionen, Gewohnheiten, mit allem Zubehör, ohne Geborgtes und Fremdes, – aber Phantasieprodukt bleibt Phantasieprodukt, und diese Welt der Phantasie war niemals Welt der Wirklichkeit.

Was der Dichter geben kann, ist nie das, was wirklich ist, sondern immer nur seine Vorstellung von dem, was wirklich ist, eine Vorstellung, die bedingt wird durch tausend Einflüsse, ehe sie durch die Wirklichkeit bedingt wird; und was ist der Unterschied: ein Bild der gegenwärtigen Welt geben, die man mit eigenen Augen studiert hat, oder ein Bild der vergangenen Welt, das man sich logisch und phantasiemäßig zurechtkonstruiert hat; was ist der Unterschied, wenn man doch in beiden Fällen immer nur Vorstellungen geben kann? Allerdings, im ersten Fall ist die Kontrolle der Vorstellung durch die Wirklichkeit erleichtert, und im zweiten Fall muß die Phantasie sich selbst kontrollieren; aber wenn die Phantasie energisch genug ist, wenn die Arbeitskraft des Vorstellungsvermögens ausreicht, weshalb soll man nicht auch das zweite wählen?

Und die Phantasie reicht aus. Dieser bis ins feinste Detail ausgearbeitete Traum ist so in sich zusammenhängend, so in sich eins, daß man nirgends aus dieser scheinenden Welt herausgerissen wird, daß man völlig unter dem Bann der Phantasmagorie steht, alles so leicht und begreiflich und natürlich findet, diese erträumten Menschen aus ihrer erträumten Umgebung herauswachsen sieht, sie in ihrer erträumten Umgebung handeln sieht, eine wirkliche Welt alles in allem, wie die Welt der Wirklichkeit.

Der Inhalt der «Salambo», die Fabel, ist wieder von einer erstaunlichen Einfachheit; und natürlich bei einem so rein naturalistischen Werk gibt sie gar kein Bild von dem eigentlichen Roman, dessen Hauptsache gerade die Schilderung des Milieus ist, des Drum und Dran, des An und Bei der Personen; des Milieus im weiteren Sinne gefaßt, der ganzen Welt der Handelnden.

Der Roman schildert den Söldnerkrieg, der unmittelbar nach dem ersten Punischen Kriege Karthago an den Rand des Unterganges brachte. Hamilkar hatte seine Truppen nach Afrika zurückgeschickt, damit sie in Karthago ihren rückständigen Sold bekommen sollten. Die Stadt aber, zu geizig, um die ungeheuren Summen zu bezahlen, schob unter allerhand Vorwänden die Erfüllung ihrer Verpflichtungen immer weiter hinaus.

Der Roman beginnt mit der Schilderung eines Gelages, welches die Alten dem Heer in dem Hause des Hamilkar geben. Zunächst suchen sie durch das Gelage das Heer vorläufig zu befriedigen, und zweitens genügen sie dadurch auch dem Groll, den sie gegen den überlegenen Hamilkar hegen; durch die ihm zugeschobene Bewirtung wird sein Hausstand auf das empfindlichste geschädigt. Die trunkenen Soldaten verüben außerdem allerhand Unfug, verwüsten den Park, töten die Elefanten, vernichten kostbares Gerät und so fort.

Die Schilderung des Gelages ist gleich in jenem «Orientalismus» gehalten; eine ungeheure Reihe von Speisen wird aufgeführt; Platten und Schüsseln, die mit Edelsteinen inkrustiert sind, silberne Mischkrüge, goldene Spatel, elfenbeinerne Fußbänke, kampanische Vasen, silberne Schüsseln, Körbe aus Goldfiligran, Platten von Bernstein – das kommt alles auf einer einzigen Seite vor!

Salambo, die Tochter Hamilkars, gerät unter die Soldaten. Ein Söldner, Matho, sieht sie und wird sofort von heftiger Liebe zu ihr erfaßt.

Durch allerhand Versprechen bewegt man das Heer schließlich, die Stadt zu verlassen; aber als es merkt, daß es betrogen worden, kehrt es wieder zurück und lagert sich unter den Mauern von Karthago. Die Bürger sind auf das äußerste erschrocken und wollen seine Forderungen erfüllen; sie senden Gisko zu ihnen, welcher, als Anhänger der Partei des Hamilkar, schon immer geraten hat, den Söldnern ihr Recht zu gewähren. Aber während Gisko den Sold auszahlt, in dem Tumult und dem Aufruhr, welche dabei entstehen, brechen die Barbaren plötzlich los, plündern die Kasse, setzen Gisko und seine Begleiter gefangen und beginnen die Stadt zu belagern, um auch noch die übrigen Reichtümer zu bekommen, welche in Karthago liegen.

Mit Hilfe der Wasserleitung gelingt es Matho, in die Stadt zu kommen; dort bricht er im Tempel der Tanit ein und raubt das Palladium, den alten Schleier der Tanit, mit welchem die Macht der Göttin verbunden ist. In den Schleier gehüllt, eilt er zu Salambo und zeigt sich ihr; und als er von ihr geschreckt wird, geht er unter dem Schutz des Schleiers ruhig durch die Straßen bis zum Tor und kommt ins Lager zurück, denn niemand wagt, ihn in dem Schleier anzugreifen. Durch den Raub ist der Mut der Karthager gesunken und der des Heeres noch gewachsen.

Matho ist jetzt einer der Oberbefehlshaber des Heeres geworden, das plünderungslustig vor der Stadt liegt. Allein so leicht ist Karthago nicht einzunehmen; erst muß man Utika und Hippo Zarytos in der Hand haben, und so marschiert man denn zunächst zur Belagerung der beiden Städte ab.

Während dieser Zeit ist Hamilkar zurückgekehrt; er reorganisiert die gänzlich aufgelöste Stadt und rückt den Barbaren entgegen; nachdem er einen ersten Sieg errungen hat, kommt er jedoch mit seiner schwachen Mannschaft in eine ungünstige Stellung den Barbaren gegenüber; er verschanzt sich zwar, allein, da er auf Hilfe von der Stadt nicht hoffen kann, so gibt er sich schon verloren.

Unterdessen hat Salambo den Plan gefaßt, den Schleier der Göttin von Matho zurückzuholen; sie geht in das Lager der Barbaren, läßt sich in Mathos Zelt führen, und nachdem sie seine Liebkosungen ertragen hat, raubt sie den Schleier. Unterdessen hat Hamilkar in seiner Verzweiflung einen Überrumpelungsangriff auf die Barbaren gemacht. Salambo begibt sich unter die karthagischen Soldaten und ermutigt sie durch die Gegenwart des Schleiers, während die Barbaren, durch sein Fehlen bestürzt, geschlagen werden. Hamilkar, welcher seine Tochter von den Barbaren entehrt glaubt, verspricht sie einem Bundesgenossen zur Frau.

Es folgen jetzt eine Reihe von Kriegszügen und Schlachten, welche stets verhängnisvoll für die Barbaren ausfallen; eine Belagerung Karthagos durch die Barbaren; durch Kinderopfer, welche dem Moloch dargebracht werden, versöhnen die Bürger die Götter; das belagernde Heer wird geschlagen, vierzigtausend Feinde werden in einen Engpaß gelockt, der hinter ihnen abgesperrt wird und in dem sie verhungern; der Rest wird in einer wütenden Schlacht vernichtet, bis auf den einzigen Matho, welchen man lebendig fängt. Zur Hochzeit Salambos läßt man ihn los und treibt ihn durch die Straßen, damit die Bürger ihre Wut an ihm kühlen können, indem sie ihn langsam zu Tode martern. Bis zu der Stelle, wo Salambo neben ihrem Bräutigam sitzt, dringt er, vor ihr fällt er tot nieder. Durch die Aufregung wird auch sie getötet.

Von dem Charakter Salambos bekommt man nur eine dürftige Vorstellung – «Charakter» natürlich im naturalistischen Sinne genommen; ihre Psychologie macht oft den Eindruck des Konstruierten, namentlich, was ihre monotone, einzige Empfindung gegen Matho betrifft; monoton ist auch oft die Psychologie der übrigen Personen; es zeigen sich eben die Folgen der fehlenden Kontrolle der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit hat Nuancen, Abstufungen, Verschiedenheiten – oder was wir so nennen; bei vorhandener Kontrolle der Wirklichkeit kann man diese Nuancen, Abstufungen, Verschiedenheiten in dem Kunstwerk wiedergeben; bei logischer Phantasiekonstruktion ist natürlich nur eine logisch konstruierte Monotonie möglich. In der Wirklichkeit sind tausend Ursachen tätig, die alle auf einen Punkt wirken; im Verstande kann man eine solche Menge nicht umfassen, man muß sich mit einer Hauptursache begnügen.

Dieser jedenfalls ungewollte Umstand verstärkt aber das gewollte «orientalische» Moment der starken, alles überwiegenden Leidenschaftlichkeit; er wird dadurch auch teilweise verdeckt. Wollte man einen Modernen so konstruieren, so würde der Mangel sehr bald klarwerden.

«Salambo» ist ein lyrisches Gedicht von dem berauschenden Zauber und der üppigen, starren Pracht der Romantik, gewaltsam konstruiert wie alle Romantik; aber konstruiert doch von einem Naturalisten.

«Bovary» und «Salambo» sind die beiden Pole von Flauberts Schaffen, entsprechend den beiden Seelen, die in ihm wohnten: der romantischen Künstlerseele und der naturalistischen Skeptikerseele. Beide sind nicht so durchaus Gegensätze, daß in dem einen nichts vom anderen wäre; aber die Mischung ist so ungleich, das eine ist immer in so geringer Quantität vorhanden, daß man es erst heraussuchen muß.

Der nächste Roman ist wieder in der Art der «Bovary»; die «Education sentimentale» spielt wieder in der Gegenwart des Dichters; die Personen sind wieder die Alltagsfiguren; und das schmerzliche Motiv ist wieder dasselbe: das Zerfallen der idealistischen Illusionen vor der gemeinen Kleinlichkeit und Dummheit des Lebens.

«L'éducation sentimentale» ist wohl der tiefste Roman Flauberts, freilich auch der am schwersten zu verstehende. Für den oberflächlichen Blick wirken diese einförmigen, monotonen Szenen, diese weichen, unbestimmten Charaktere ohne Einheit und Festigkeit; diese unendliche, ziellose und zwecklose Handlung, dieser ganze graue, nichtssagende Ausschnitt aus dem grauen, nichtssagenden Leben, – alles das wirkt ermüdend wie ein Gang durch eine meilenweite, ebene, gerade Chaussee mit Pappeln zur Seite, die durch eine monotone Landschaft führt. Aber das ist das Leben, wie es ist, ohne Begeisterung und Erhebung, nur ein tödliches, langweiliges Einerlei; das ist das Furchtbare, Schreckliche des Lebens, über das man sich so sehr täuscht, wenn man vor ihm steht, und dessen Lauf weiter nichts darstellt, als eine immer grausamere Aufklärung über diese Täuschung.

Mag es Manschen geben, welche glücklich genug sind, ihre Illusionen mit ins Grab zu nehmen; sie bieten keinen Stoff für Flaubert; in der Novelle «Un coeur simple» schildert er einen derartigen Menschen; aber es ist doch ein wehmütiges Lächeln, zu dem ihn die Arme im Geiste zwingt, die er hier dargestellt hat; für ihn bietet ihre Geschichte keinen Trost, denn er durchschaut den Mechanismus ihrer Gedanken und Gefühle.

«L'éducation sentimentale» schildert die Gefühlsentwicklung eines Menschen von der Zeit an, wo er mit jugendlichem Idealismus in das Leben hinaustritt, bis zu der Zeit, wo er zu einem wunschlosen Skeptizismus gekommen ist; auch hier bildet eine tragische Pointe den Schluß: die Geliebte seiner Jugend, auf die er hat verzichten müssen, tritt ihm zuletzt wieder gegenüber, und er könnte sie jetzt besitzen; aber er verzichtet; er sieht den Nimbus, mit dem er sie selbst umgeben, nicht mehr, und so ist sie eine andere geworden. Da ist ihm seine Erinnerung mehr wert als ihr Besitz. Parallel läuft die gleiche Entwicklung seines Freundes, die aber mehr im Hintergrunde steht. Der Drang Flauberts, sozusagen enzyklopädisch zu dichten, der am klarsten im «Saint-Antoine» und in «Bouvard et Pécuchet» hervortritt, macht sich auch hier bemerkbar: die beiden ergänzen sich; der eine wird im Innenleben enttäuscht, der andere im Außenleben, und ihrer beider Geschichte bildet gewissermaßen eine Enzyklopädie der Enttäuschungen im Paris von 1840 bis 1867.

Die beiden Freunde Frédéric und Charles sind Schulgenossen in der Provinzialstadt und schon als Kinder intim. Frédéric mit seinem beweglichen Geist erwärmt sich für Kunst, Literatur, das Schöne und so fort. Charles, nüchtern, halb Fanatiker, treibt Philosophie und beschäftigt sich mit der Frage des allgemeinen Wohls und dergleichen. Frédéric ist reich, sein Freund ist arm; aber er wird ihn in Paris unterstützen, wenn sie studieren, und sie werden ihre Stube und ihr Brot teilen.

Frédéric verliebt sich in die Frau eines Kunsthändlers, durch die er mit einem ganzen Bohemienkreis bekannt wird. Er steht ihr mit den schönsten und zartesten Gefühlen des Jünglings gegenüber, und auch sie bleibt auf der Höhe des Ideals, wo er sie erblickt. Aber nun schwelgt er ganz in diesen Gefühlen. Er kommt von der ernsthaften Arbeit immer mehr ab und wechselt nur zwischen dem Verkehr mit ihr und mit den Bohemiens. Der Mann macht ihn mit seiner Mätresse bekannt, und auch für diese empfindet er Neigung. Es beginnt jetzt ein Gegensatz von Gefühlen in ihm, wie ihn auch unser Jean Paul öfters geschildert hat; nur geschildert freilich in einer ganz anderen Technik.

So lebt er ohne Ziel und Zweck dahin, ohne Plan und Vorsatz. Charles, der sich unterdessen der sozialistischen Bewegung angeschlossen hat, weiß ihn zu bereden, Geld für eine Zeitung herzugeben, welche er mit seinen Freunden gründen will; Frédéric leiht es dem Kunsthändler. Die beiden Freunde trennen sich. Frédéric wird der Liebhaber der Mätresse seines Freundes; er verlobt sich mit einem reichen Mädchen in seiner Heimat, das in ihn verliebt ist, aber er heiratet es nicht, weil die Liebe zu Frau Arnoux wieder dazwischenkommt; er fängt ein Verhältnis mit der Frau eines reichen Bankiers an, die er heiraten will, als ihr Mann plötzlich stirbt; er versucht, Frau Arnoux zur Erfüllung seiner Wünsche zu bewegen. Sein Freund scheitert unterdessen mit seinen politischen Idealen, während er selbst in den Revolutionstagen sich mit der Mätresse amüsiert; dann sucht Charles Geld zu erschnappen, bei der Bankierfrau anzukommen, heiratet die verlassene Braut, die ihm nachher davonläuft, – auch er streift den Idealismus Stück für Stück ab.

Am Schluß finden sich die alten Freunde wieder zusammen. Sie sitzen und philosophieren über ihr Leben: «So hatten es beide verfehlt, der, welcher von Liebe geträumt hatte, und der, der von Macht» – sie suchen nach Gründen, aber sie finden keinen stichhaltigen Grund.

Und da, in der Misere und in der trüben Stimmung über ihr verfehltes Leben, erinnern sie sich an ihre Jugend, als der eine einen großen historischen Roman aus dem Mittelalter und der andere eine Geschichte der Philosophie schreiben wollte. – «Erinnerst du dich – erinnerst du dich? Ach, damals waren wir glücklich.»

Und ihre Jugend taucht wieder auf vor ihren Blicken, die schöne glückliche Zeit der ungetrübten Illusionen, des ungebrochenen Idealismus. Und da fällt ihnen eine Geschichte ein, wie sie so ganz naiv – aber diese Geschichte kann man im Deutschen nicht erzählen, das wäre «unsittlich»; dieses wunderbare kleine humoristische Genrebild, das so melancholisch das Ganze schließt, muß man schon im Original lesen.

«C'est là ce que nous avons eu de meilleur!» dit Frédéric.

«Oui, peut-être bien? C'est 1à ce que nous avons eu de meilleur!» dit Deslauriers.

Die Inhaltsangabe zeigt, daß nichts als einfache, ganz gewöhnliche Erlebnisse dargestellt sind; keine Spur von Außerordentlichem, keine Verwicklung, keine Intrige, gar nichts – une vie, la simple vérité, wie Maupassant einen seiner schönsten Romane genannt hat. Aber dieses monotone Einerlei wirkt wie das einförmige Geräusch eines Wassers, das vorbeirauscht, es lullt die Seele ein, es umspinnt die Sinne und hinterläßt keinen deutlichen Eindruck, nur ein furchtbares niederdrückendes Gefühl. Mag man zuerst auch durch die wunderbare Kunst des Dichters abgelenkt werden, dessen klares Auge für das Typische und Charakteristische des Ausdrucks und der Form man bewundert, dessen Mäßigkeit und Enthaltsamkeit der Phantasie man anstaunt, – zuletzt kann man das nicht mehr festhalten; die rein ästhetische Freude verschwindet, und das Buch wirkt einfach hypnotisierend. Mehr oder weniger ist das auch bei den anderen Schriften Flauberts der Fall; am meisten aber in diesem Bande.

Das Bisherige ist fast als Nebenarbeit zu bezeichnen im Vergleich zu den beiden Lebenswerken des Dichters, zur «Tentation de Saint-Antoine» und «Bouvard et Pécuchet». An diesen beiden Büchern hat er gedacht, beobachtet, gesammelt, während er die andern schrieb; das sind die beiden Enzyklopädien, die Ideale, welche ihm beständig vorgeschwebt haben; von jetzt an läßt er sich nicht mehr auf andere größere Arbeiten ein; nur der entzückende Novellenband «Trois contes» fällt noch zwischen die beiden Bücher; um die Besprechung derselben nicht zu zerreißen, will ich diesen Band gleich jetzt betrachten.

Die drei Novellen sind: «Un coeur simple», «La légende de Saint-Julien l'hospitalier» und «Herodias» – den drei Zeitperioden entnommen, in denen seine übrigen Werke spielen: der Gegenwart, der Zeit des ersten Christentums und dem semitischen Altertum.

«Un coeur simple» ist die Geschichte einer Dienstmagd, die zu ihrer Herrin kommt, wie sie ganz jung ist, arbeitet und sich abmüht, für die Herrin sorgt und denkt, älter wird und nach dem Tode der Frau noch einige Zeit von einem kleinen Legat lebt, bis auch sie stirbt. Erlebt hat sie gar nichts, rein gar nichts, sie hat keine Stürme durchgemacht, weder des Glücks, noch des Unglücks, sie hat bloß gearbeitet, nichts wie gearbeitet. Wie sie jung gewesen ist, hat sie einen Burschen geliebt, der eine andere geheiratet hat; dann hat sie ihren Neffen in ihr Herz geschlossen, der Matrose wird und unterwegs stirbt; zuletzt hat sie ihre Liebe an einen Papagei gehängt, den man ihr geschenkt hat, weil er so unausstehlich war; ihre Liebe reicht noch über seinen Tod hinaus, wo sie ihn ausgestopft besitzt; – und dann die Frau und ihre Kinder, das sind noch die Gegenstände ihrer Gefühle; aber das ist alles, was je durch ihr Herz gegangen ist. Ein verklärender, wehmütiger Hauch liegt über der Novelle; es ist, als ob der Dichter, welcher alle Höhen und Tiefen durchforscht hat, seufzend spricht: «Mit wie wenig ist der Mensch glücklich, – aber das Glück wird nur den geistig Armen zuteil!» Eine wunderbare Ruhe atmet aus dieser Novelle, während alle übrigen Romane voll sind von nervöser, zuckender Bewegung. Es ist wohl glaublich, daß ihm die Arbeit an ihr Freude machte, daß er sie als Erholung betrachtete von seinen faustischen Plänen einer universalen Satire, wie Maupassant erzählt; während seine Briefe zeigen, wie quälend und peinigend ihm die Arbeit an den anderen Büchern war, so daß er einmal ausruft: «Bin ich verrückt, einen solchen Stoff zu wählen!»

«La légende de Saint-Julien l'hospitalier» ist gleichfalls eine Perle von liebenswürdiger Erzählerkunst, «es ist die Geschichte, ungefähr so, wie man sie bei mir zu Hause in einer Kirche auf einem Glasgemälde findet», – eine richtige Legende, aber mit der höchsten Kunst unseres Jahrhunderts erzählt. Freilich, man merkt heraus, daß es nicht fromme Naivität ist, die hier spricht, wie sie etwa Tolstoi in seinen Volkserzählungen besitzt oder wenigstens zu besitzen scheint; der Ton hat auch keine Ähnlichkeit etwa mit den Legenden unseres Gottfried Keller und ihrer schalkhaft-ehrpusseligen Art; man merkt etwas Pikantes heraus, man bekommt den Eindruck etwa eines archaistischen Götterbildes, wo das äußerste technische Raffinement benutzt ist zur Nachahmung der alten, ungeschickten treuherzigen Kunst – um des pikanten Gegensatzes willen. Es mag das ein rein persönlicher Eindruck sein; aber gerade trotz der auffälligen Ähnlichkeit des Stils mit «Salambo» scheint mir doch dieser Grundton durchzugehen, während «Salambo» noch ganz ehrlich und ohne Nebengedanken geschrieben ist, ein reines Schwelgen in Lyrik und Romantik. Freilich würde eine solche Annahme nicht zu dem Bild Flauberts stimmen, wie es uns Zola gibt; allein der gute Zola, der sich selbst offenbar viel gescheiter vorkommt wie Flaubert und ihn immer etwas von oben herab als eine Art großes Kind darstellt, scheint sich wohl überhaupt haben von den äußeren Allüren täuschen lassen; und der Flaubert, der uns aus seinen Büchern entgegentritt, hatte natürlich keine Ursache, diese Anschauung zu berichtigen.

«Herodias» ist die Geschichte der Ermordung Johannes des Täufers; den Hauptraum nimmt die Schilderung der Umgebung des Antipas ein. Von dieser Novelle ist nichts Eigentümliches zu sagen, was nicht schon früher vorgekommen wäre.

Aus äußeren Gründen füge ich hier auch gleich noch die Besprechung der dramatischen Tätigkeit bei.

Außer einer Feerie schrieb Flaubert noch ein Lustspiel «Le Candidat». Es wurde 1874 auf dem Vaudevilletheater viermal aufgeführt, und nach diesem entschiedenen Mißerfolg hat er sich nicht wieder an die dramatische Produktion gemacht. Auch als Buch hat das Drama kein Glück gehabt, denn trotzdem Flaubert jetzt in Mode gekommen ist, hat immer noch keine neue Auflage erscheinen können.

Ein Urteil über ein nur gelesenes Drama ist natürlich unvollständig, und so kann ich meine Meinung nur mit Vorbehalt äußern.

Der Stoff ist eine Zusammenfassung von Intrigen bei einer Abgeordnetenwahl: der Kandidat, der überhaupt keine Ahnung von Politik, Parteien usw. hat, wünscht aus Ehrgeiz, Deputierter zu werden, und so stellen sich ihm denn allerhand Intriganten zur Verfügung, die ihm helfen, wenn er ihnen seine Tochter zur Frau gibt oder ihnen Geld leiht oder sich zum Hahnrei machen läßt.

Die ganze Menschenverachtung des Dichters kommt zum Ausdruck, verbunden mit jenem politischen Skeptizismus, welcher dem damaligen intelligenten Franzosen natürlich ist. Vielleicht ist es gerade diese furchtbare Satire auf die Dummheit und Niedertracht gewesen, welche das Stück unmöglich gemacht hat; denn man geht doch nicht ins Theater, um sich solche Wahrheiten sagen zu lassen! Bei seinen übrigen Werken hat die Satire nicht so schädlich gewirkt, weil sie nicht gemerkt wurde: es ist ja unglaublich, was man den Leuten sagen kann, ohne daß sie es merken. Das war die Folge der naturalistischen Technik, welche ein Hervorheben der Pointen, ein schärferes Betonen des im Sinn des Dichters Charakteristischen unmöglich macht und so den Hohn verdeckt werben ließ. In dem Lustspiel ist Flaubert aber nicht Naturalist; hier hat er im großen ganzen die alte Technik beibehalten; er hat hier die «wesentlichen» Züge losgelöst und die «unwesentlichen» ausgelassen: und so ist denn nur die unmißverständliche Verhöhnung übriggeblieben.

Im Sinn der alten Kunst ist «Le Candidat» jedenfalls ein geradezu vorzügliches Stück. Die Intrige ist nicht von außen den Charakteren aufgezwängt, sondern entwickelt sich naturnotwendig aus ihnen; ja, man kann sogar sagen, daß das Intrigenstück sich schon aufzulösen beginnt zur Darstellung des Wirklichen. Die Steigerung ist prachtvoll, die Katastrophe von entzückender Bosheit, und die Charaktere, wenn auch naturgemäß etwas grob gezeichnet, doch konsequent durchgeführt. Freilich, für das Publikum des Sardon und Dumas mußte sie unverständlich bleiben.

Die beiden Bücher, welche das eigentliche Lebenswerk Flauberts bedeuten, welche das Ganze seiner Philosophie und Kunst enthalten, sind die «Tentation de Saint-Antoine» und «Bouvard et Pécuchet.» Flaubert ist weit entfernt von dem Hochmut der «Denkerkünstler», welche das Kunstwerk als Darstellung der «höchsten Ideen» auffassen oder die Entwicklung des Menschengeschlechtes malen. Flaubert ist ein Kind der modernen Zeit, welche den Zusammenbruch der Spekulation und mit ihr der philosophischen Kraft erlebt hat, welche vor jeder Deduktion erschrickt und nur noch die solideste und sicherste Induktion wagt. Er ist so sehr das Kind dieser modernen Zeit, daß er jenen Ausspruch tun kann: das einzige Mittel, sich vor der Nachwelt nicht lächerlich zu machen, ist, einfach auf jede Äußerung eigener Auffassung zu verzichten und bloß das Wirkliche wiederzugeben.

Aber die Unpersönlichkeit ist ein Ideal, das natürlich nie zu erreichen ist. Man sieht doch immer mit seinen Augen, hört mit seinen Ohren, denkt mit seinen Vorstellungen, Erinnerungen, Vorurteilen, Temperament, Gewohnheiten – und je höher man geistig steht, je selbständiger man also in allem gegenüber der Masse ist und je mehr man sich von der Masse unterscheidet, desto weniger Wirklichkeit wird das Bild behalten, wenn man «Wirklichkeit» auffaßt als die Vorstellung, welche die durchschnittlichen Menschen haben. Ein Bogen weißes Papier ist ein Bogen weißes Papier, und die gewöhnlichen Sinne sehen nichts weiter. Aber ein höher organisierter Mensch wird tausend Sensationen haben, welche die anderen nicht ahnen. Er wird auf der weißen Fläche matte Stellen, funkelnde Punkte, dunkle Partien sehen; er wird es verschieden empfinden, ob die Sonne auf das Papier scheint und quälende, zerrende Nervenschwingungen hervorgerufen werden; oder wenn es bei bewölktem Himmel betrachtet wird und einen unangenehmen, trivialen, trägen Eindruck weckt – und so fort. Viel komplizierter wird das natürlich bei so zusammengesetzten Erscheinungen, wie sie fast durchgängig zu schildern sind.

Man kann nicht die Flut der Eindrücke bewältigen, welche auf einen einströmen; unbewußt nehmen wir eine Sichtung vor, welche Eindrücke wir in unser Bewußtsein aufnehmen sollen und welche wir auslassen. Bei dieser Sichtung spielt das, was ich Weltauffassung nennen möchte, eine Hauptrolle. Aus demselben außer ihm liegenden Dinge nimmt der eine dies, der andere das in sein Bewußtsein auf. Was die gewöhnlichen Menschen aufnehmen, ist ziemlich gleichlautend, weil sie alle eine ziemlich gleiche Weltauffassung haben, namentlich gleiche Vorurteile; Unterscheidungen sind hier nur möglich durch Klassenbildung. Was die höherstehenden Menschen aufnehmen, da es sich ebenfalls nach ihrer Weltauffassung richtet, ist individuell verschieden. Es begegnet ihnen aber meistens der allgemein menschliche Irrtum, daß sie ihre ausgesiebten Vorstellungskomplexe für der Wirklichkeit genau entsprechend halten; und indem sie in Wirklichkeit ihr Ich auf die Außenwelt projizieren und diese nach ihrem Maß zuschneiden, bilden sie sich ein, die in Wahrheit doch ganz ungreifbare Außenwelt gefaßt zu haben.

Die Gedankenkünstler begehen diesen Irrtum der menschlichen Naivität nicht; sie wissen genau, was sie tun; Kinder einer Zeit, welche metaphysisch dasselbe gigantische Streben betätigte, arbeiten sie bewußt die Außenwelt so lange um, bis sie zu der «Idee», das heißt zu ihrer Weltauffassung paßt.

Flaubert ist naiv; seine Zeit belächelt diese Leute; und er will auf jeden Fall ihrem Fehler entgehen. Aber da passiert ihm eben das Geschilderte; im guten Glauben, nicht mit Absicht, läßt auch er die Außenwelt sich nach seiner «Idee» richten; und so sind denn, in geringerem Maße seine anderen Werke, vollständig aber diese beiden, Gedankendichtungen.

Es sind die Epen der menschlichen Dummheit, die wir vor uns haben; der menschlichen Dummheit, welche sich gleichbleibt unter allen wechselnden Formen der Jahrhunderte, gleich unter dem strahlenden, blauen Himmel der Thebaide und unter dem nüchternen Blau des Pariser Himmels; gleich im 5. wie im 19. Jahrhundert, gleich in der Religion wie in der Wissenschaft.

« Rien n'est épuisant comme de creuser la bêtise humaine» seufzt er: aber einen solchen Haß, eine solche Wut hat er gegen diese Dummheit, diese Banalität, diese gewöhnliche, niederträchtige Trivialität, daß er mit wahrer Virtuosität sie überall entdeckt, sie aus allen Schlupfwinkeln herauszieht, sie unter jeder Verkleidung errät, und so erscheint ihm diese ganze Welt als eine Verkettung von Dummheit, so daß er, gegen seinen Willen selbst, obgleich es ihn erschöpft und nervös macht, das Epos der Dummheit schreiben muß; es ist eben nichts weiter da.

«Es ist in der Thebaide, auf dem Gipfel eines Berges, auf einer halbmondförmig abgerundeten Plattform, welche durch dicke Steine eingeschlossen wird.» Hier steht die Hütte des heiligen Antonius. Die Sonne geht unter, und während Antonius sich seinen Betrachtungen hingeben will, steigen die Erinnerungen an die vergangene Zeit in ihm auf. Er schlägt die Bibel auf und liest aufs Geratewohl. Die Landschaft verändert sich mit der hereinbrechenden Dunkelheit, die Schatten kommen, und seine Angst beginnt. Dann kommen ihm wieder allerhand triviale Haushaltsgedanken; die Lüste regen sich; er denkt an Fleisch; es kommen ihm hochmütige Gedanken.

Die Versuchungen fangen an. Stimmen versprechen und locken, die Gegenstände um ihn nehmen andere Formen an, allerhand Bilder ziehen vor ihm vorüber.

Mit schneller Steigerung werden die Erscheinungen immer wüster und wüster: der Teufel erscheint, reizende Weiber, ein besetzter Tisch, Gold und Edelstein auf dem Boden; die Königin von Saba kommt, ihm leidenschaftliche Liebeserklärungen zu machen, und bietet ihm ihre Pracht an. Ein anderer Geist kommt als Hilarion, sein früherer Schüler, und versucht, ihn mit häretischen Lehren im Glauben wanken zu machen; er führt ihm die häretischen Denker vor: Antonius sieht eine ungeheure Basilika vor sich; das Licht fällt von oben auf eine unzählbare Menge Menschen, welche sich mit allen möglichen religiösen Verrichtungen im Schiff der Kirche drangen. Die Gnostiker, Mani, Saturninus, Kerdon, Markion, Bardesanes, die Hernianer und Priscillianer, Valentinus, Clemens von Alexandrien – alle treten auf und erklären die wahnwitzigsten Systeme; Origines, die Karpokratianer, Nicolaiten, Markosianer und so fort, der ganze Hexensabbat der Sekten der ersten Jahrhunderte entrollt sich; es ist unmöglich, alle die Namen aufzuzählen, bei denen sich der Nichteingeweihte ja doch nur ein wüstes Durcheinander von Christentum, Fetischismus, Spekulation und heidnischem Volksglauben denkt. Es folgt ein Gesicht, welches den Märtyrertod von Christen in der Arena zeigt. In einem neuen Gesicht sieht er Hinterbliebene von Märtyrern klagen. Dann wird er nach Indien versetzt, und ein Gymnosophist erklärt ihm seine Lehre; und zuletzt tritt ihm Apollonius von Tyana entgegen, um ihm sein Leben und seine Weisheit zu erzählen.

Apollonius hat ihm erklärt, daß ein Einheitliches hinter all den verschiedenen Formen existiert, daß auch die Götter nur Formen sind, hinter denen sich die wahre Welt, die Welt der Ideen, verbirgt. Und nun erscheinen alle diese ungeheuerlichen und furchtbaren Götterformen; die Götter der Inder, der Chaldäer, Babylonier, Perser, Syrer und so fort treten auf; ägyptische, griechische, römische Gottheiten mit ihren Attributen und in ihren eigentümlichen Gestalten ziehen vor ihm vorüber. Zuletzt ertönt die Stimme des israelitischen Gottes. Dann erscheint der Teufel, ergreift ihn und fliegt mit ihm in die Höhe bis zu den Gestirnen.

Am Himmel beginnt der Morgen aufzusteigen. Seine Mutter erscheint und will ihn zum Selbstmord verführen; ein Geist, ähnlich seiner früheren Geliebten, will ihn zur Lust verlocken. Was sie sagen, wird dann von zwei allegorischen Figuren wiederholt, dem Tod und der Luxuria. Sphinx und Chimära wenden die Gedanken wieder anders.

Zuletzt erscheinen phantastische Völker, Tiere und Pflanzen. Antonius gerät in die höchste Ekstase inmitten des ihn umgebenden Gewühls. Aber da geht die Sonne auf, und mitten in der Sonnenscheibe erscheint das Gesicht Christi. Antonius bekreuzigt sich und beginnt zu beten.

Zuweilen scheint ein logischer Zusammenhang zwischen den einzelnen Bildern zu bestehen, aber wenn man glaubt, man habe ihn erfaßt, so entgeht er einem wieder; und so wird wohl, außer dem allgemeinen Fortschritt zum immer Abstruseren, dem ganzen Taumel kein einheitlicher Gedanke zugrunde liegen.

Flaubert hat mit dem Forscherfleiß eines Wissenschaftlers sein Material zusammengetragen; allein er steht ihm ohne Verständnis gegenüber; er sieht nur die barocken Gestalten, und mit wunderbarem Scharfsinn hat er alles in seinem Sinn Charakteristische herausgefunden, um dann den wüstesten Hexensabbat vor uns aufzuführen. Aber das ist doch alles nur äußerlich erfaßt. Es ist ja freilich nicht zu erwarten, daß Flaubert schon die wissenschaftliche Religionsgeschichte kannte, wie sie sich eben jetzt erst entwickelt und die allein einen Führer in diesem Labyrinth abgeben kann. Allein auch ohne diese Kenntnisse, die er sich damals noch nicht aneignen konnte, wenn er selbst Gefühl für Religion gehabt hatte, so müßte er tiefer in seinen Stoff eindringen; freilich wäre ihm sein Material dann auch wohl nicht als « comble de l'insanité» erschienen.

Sollte aber hier nicht vielleicht der Faden zu finden sein, welcher durch die verschlungenen Irrwege in der Begabung dieses Mannes hindurchführt?

Das « tout comprendre c'est tout pardonner», das man oft so leichtfertig und gedankenlos zitiert, ist gewiß eins der tiefsten Worte und wäre wert, in einer Art Predigt auseinandergelegt zu werden. Dieser Haß gegen die menschliche Dummheit, würde er nicht auch verschwinden, wenn man alles begriffe? Während des ganzen Buches kam mir immer eine kurze Stelle aus Dostojewskijs «Raskolnikow» in den Sinn; jene Stelle, wo Sonja dem Raskolnikow erklärt, weshalb sie glaubt: «Denn sonst könnte ich nicht leben.» Mag Dostojewskij in anderer Weise wieder borniert sein, die Religion hat er jedenfalls begriffen, denn er war selbst ein tiefreligiöser Mensch. «Ich könnte sonst nicht leben»; diese einfache, schlichte, tiefe Erklärung wirft den ganzen comble c'est l'insanité über den Haufen.

Flaubert ist ein tiefer und feiner Psycholog; niemand schildert wie er die feinen Regungen, beobachtet das unbemerkte Mienenspiel der Liebe; und wenn er als großer Künstler sich stets bescheiden im Hintergrunde hält, niemals analysiert, sondern uns die Psychologie immer nur aus den Handlungen der Personen erraten läßt, so erkennt der Kritiker doch immer noch aus zufällig stehengebliebenen Resten des psychologischen Gerüstes die Arbeit des Künstlers.

Man denke sich den naiven Provinzialen, der abgeschlossen von jeder Gesellschaft auf seinem Landhäuschen lebt oder in Paris mit seinen schriftstellernden Freunden über Literatur spricht; diesen Dichter, der nichts kennt als die Kunst und der nichts weiß, als an seinem Kunstwerk zu feilen und zu arbeiten; diesen alten Junggesellen, durch nichts verbunden mit der Welt, die ihn umgibt! Bei jedem andern würde sich praktisch ein gewisses Taktgefühl herausbilden, durch den Umgang würden die Kontraste in ihm abgeschliffen werden. Aber bei diesem einsamen Mann mußten die ungelösten Fragen sich immer schroffer zuspitzen; und so mußte dieser so gutmütige, joviale, kindliche Mensch zu seiner verbissenen Philosophie kommen von der allgemeinen Dummheit, der kränkenden, öden Banalität des Lebens; und als Künstler fand er natürlich seine Rettung, seine «Religion» in dem Sinne Sonjas, in der Kunst.

So verändert sich das Problem von Flauberts Gedankendichtungen. Es heißt nicht mehr: Darstellung der bêtise humaine, sondern es ist die Tragödie eines Menschen, der nach Erkenntnis des Lebens ringt, ohne sie zu finden, und der nun seine Enttäuschung auf die Welt projiziert. « Illusions perdues», dieser Balzacsche Titel ist der Titel aller Bücher Flauberts; er ist das Motto für das Denken des Dichters selbst, der die «göttliche Ordnung» in der Welt gesucht hatte und statt ihrer ein Chaos fand.

Man mag bei dem heiligen Antonius noch im Zweifel sein; «Bouvard et Pécuchet» machen die Richtigkeit dieser Auffassung gewiß. Hier ist bloß das Symbol des unverstandenen Lebens; und mag Flaubert sich noch so sehr Mühe geben; mag er im ganzen Lande herumreisen, bis er endlich die Gegend findet, wo er seine Leute hinbringt; mag er jede Wissenschaft studieren und tausend Werke ausziehen, um ganz präzis zu sein: ehe er sich's versieht, unter der Hand, verflüchtigt sich die naturalistische Dichtung und wird zur symbolischen. Flaubert ist mit dem Roman nicht mehr fertig geworden, er starb mitten in der Arbeit, und der Roman ist erst aus seinem Nachlaß veröffentlicht.

Zwei Spießbürger treffen sich zufällig in Paris auf einer Bank; sie sind Schreiber, Bouvard in einem Geschäft und Pécuchet im Büro eines Ministeriums; sie sind beide siebenundvierzig Jahre alt, und der eine ist Junggeselle, der andere Witwer. Indem sie die Vorsehung bewundern, welche sie, die so gut füreinander passen, so sichtbarlich hier zusammengeführt hat, unterhalten sie sich über verschiedene gelehrte und ungelehrte Themata und finden eine wunderbare Übereinstimmung ihrer Anlagen, Wünsche und Anschauungen. Sie sind jeder eines jener Genies, die nicht zur Entfaltung kommen können wegen der ungünstigen äußeren Verhältnisse, sie sehnen sich beide nach dem Landleben, und sie haben auch jeder einen Freund: Pécuchet einen Privatgelehrten, welcher nachgewiesen hat, daß Thiers in seinem Geschichtswerk große Fehler macht, und eine «Kunst, sein Gedächtnis zu stärken» verfaßt hat, und Bouvard einen Commis Voyageur, welcher ein großer Patriot und galanter Schwerenöter ist. Aber jeder findet, daß sie beide viel besser zueinander passen als zu ihren Freunden.

Das Wunder geschieht, Bouvard macht eine reiche Erbschaft von einem «Onkel», der eigentlich in näherer Beziehung zu ihm steht. Die beiden können nun ihr Ideal erreichen: sich der Wissenschaft und dem Landleben zu widmen. Sie kaufen sich ein kleines Gütchen mit einem Landhaus und fangen ihr neues Leben an.

Ganz überglücklich beginnen sie ein Tolstoisches Landleben. Sie schwören, daß sie nur ihren selbstgebauten Kohl essen wollen. Aber da sie vom Landbau nichts verstehen und als echte Pariser, die niemals etwas anderes von der Natur gesehen haben als den Bois de Boulogne, haben sie nicht die geringste Ahnung von allen diesen Dingen und scheitern deshalb mit allen Unternehmungen: Gartenbau, Obstzucht, Düngerproduktion, Viehzucht und so fort.

Sie fangen die Sache natürlich systematisch an und befragen über alles die einschlägigen Bücher, von denen ihnen das eine dies erzählt, das andere jenes, und über deren Weisheit sich die dumme, unwissenschaftliche Wirklichkeit amüsiert. Aber diese Widersprüche bringen diese beiden Leute zur Verzweiflung, welche so ernsthaft an ihre Bücherweisheit glauben; und wenn sie gar keinen Ausweg mehr finden aus den Widersprüchen ihrer Gelehrten untereinander und mit dem Leben, so fangen sie etwas anderes an, lassen das alte liegen, und mit immer erneuter Hoffnung beginnen sie irgend etwas, auf das sie der Zufall führt. Auf diese Weise durchackern sie die ganze Wissenschaft, von der Theorie des Düngers bis zur Erkenntnistheorie, von der Versteinerungskunde bis zur Analyse der Gottesvorstellungen; Chemie, Medizin, Altertumskunde, Geschichte, Philosophie, Ästhetik, Kunst, nichts bleibt ihnen fremd, alles versuchen sie, und alles mißglückt ihnen. Ja, sie gehen noch über den Kreis des bloßen Wissens hinaus und suchen Erfahrungen zu machen in der Liebe; aber sie werden in einer Weise enttäuscht, daß es für einen deutschen Leser geradezu unanständig wäre, wenn man das beschreiben wollte; sie adoptieren zwei Kinder und wollen wenigstens die kindliche Liebe kennenlernen, und auch hier geht es ihnen genau so. Alles, alles ist elend und erbärmlich, alles ist widerspruchsvoll und dumm, niederträchtig und gemein; und so kommen sie denn am Ende des Feldzuges, unternommen, um für zwei Idealisten das Glück zu finden, zu dem Ergebnis: am schönsten war es doch, wie wir in unseren Schreiberstuben saßen und abschrieben. Sie lassen sich ein Doppelpult machen und fangen ihre alte Tätigkeit wieder an.

Bis hierher geht das Fragment. Wie Maupassant erzählt, sollte die Fortsetzung folgendermaßen werden: «Als Bouvard und Pécuchet, von allem angewidert, sich wieder ans Abschreiben machten, öffneten sie natürlich die Bücher, welche sie gelesen hatten, und indem sie die natürliche Ordnung ihrer Studien wieder aufnahmen, schrieben sie ausgewählte Stücke aus ihren Büchern sorgfältig ab. Da begann denn eine erschreckende Reihe von Dummheiten, Beweisen der Unwissenheit, offenbaren und ungeheuerlichen Widersprüchen, riesigen Irrtümern, scheußlichen Behauptungen, unbegreiflichen Schwächen der erhabensten Geister, der bedeutendsten Köpfe. Wer nur über irgend etwas geschrieben hat, hat einmal irgendeine Dummheit gesagt. Diese Dummheit, Flaubert fand sie unfehlbar und merkte sie an, und indem er sie sammelte und notierte, hatte er eine schreckliche zusammengebracht, die alle Glaubwürdigkeit übertrifft.» Maupassant erzählt dann weiter, daß diese Sammlung von Geistesblitzen ordentlich und systematisch geordnet war. Eine Vorstellung von ihnen kann man sich aus den Proben machen, welche Maupassant gibt. Das sollte gewissermaßen die Dokumentensammlung zu dem Roman vorstellen, « les pièces justificatives». Um die Sammlung trotz des Kuriositätsinteresses doch nicht zu langweilig zu machen, sollten zwei oder drei Novellen dazwischen kommen, welche die beiden gleichfalls abschrieben.

In diesem Buch zeigt sich also wieder das alte Porträt Flauberts mit seinen widersprechenden Zügen: der tiefe, melancholische Gedanke von der Nichtigkeit von allem, allem, was es gibt, und seine schrullenhafte, barock-junggesellenhafte Ausführung; die tiefe, schwermütige Einsicht in den Geist des Menschen, in die Art, wie Hoffnungen und Enttäuschungen, Ideale und Desillusionierung (ich finde kein deutsches Wort dafür; «Enttäuschung» ist etwas ganz anderes) sich gestalten, und ein wunderliches, kindliches Nichtverstehen des Einfachsten von allem, was er darstellt und was er doch offenbar scharfsinnig analysiert und durchdrungen hat.

Das ist ein Mensch, sieht man, der immer mit seinen Gedanken allein lebte und deshalb jede Kontrolle entbehrte, die ihn die falschen Wege von den richtigen hätte unterscheiden gelehrt und ihn zurückgeführt hätte, wo er achtlos an wichtigen Punkten vorübergegangen war; das ist ein Mensch, der Angst hatte vor jeder Bewegung und immer nur in seinem Stuhle hockte, und dessen Gedanken sich nicht ausbreiteten, sondern bohrten.

Hier scheint mir das tragische Moment in dem Denken dieses Menschen zu liegen, und daß ein solches tragisches Moment bei ihm vorhanden sein muß, ist ja offenbar: trotzdem er den Menschen so vorzüglich verstanden hat, hat er ihn doch nicht verstanden. Das scheint ein Galimathias; aber die Sache ist schwer auszudrücken. Es ist immer nur der Künstler Flaubert, der versteht, nicht der Mensch. Sobald er Künstler ist, drängt er sein Selbst, sein Temperament, sein Ich, das Produkt eines gewissen Milieus, zurück mit Aufbietung aller Kräfte und geht mit dem redlichen Willen an die Arbeit, nichts zu geben, nichts als die Außenwelt, die er sorgfältig analysiert und durchforscht hat, – aber durchforscht mit dem kalten Auge des Künstlers. Dieses Zurückdrängen des Ich ist aber nur bis zu einem gewissen Grade möglich, seine Weltanschauung bricht doch immer durch; in geringerem Maße bei «Bovary», «Salambo» und «Education sentimentale», in höherem beim «Saint-Antoine» und «Bouvard et Pécuchet»; ist sie dort nur bemerkbar in dem leisen Hauch des müden Pessimismus, der über den Werken schwebt, so tritt der Pessimismus hier als ein grimmiger Kämpfer mit im Buch selbst auf – der Pessimismus aus Mißverständnis.

Der große Erfolg, den Zola hatte – wohl nicht so sehr aus rein literarischen Gründen – ließ in Frankreich die naturalistische Schule durchschlagen; und nachdem sich der erste Zola-Sturm gelegt hatte, kam auch Flaubert zu seinem Recht. Vielleicht noch bedeutender denn als Künstler kann er als Erzieher für Künstler wirken, und offenbar verdankt ihm die jüngere französische Literatur sehr viel. Sollte er bei uns in Deutschland zu einem ähnlichen Einfluß gelangen, wie ihn Zola hat und gehabt hat, so wäre das sicher von ungemeinem Vorteil für uns. Vielleicht sind die Russen als Beobachter der Seelenzustände der Menschen bedeutender, als Schilderer der Milieus ziemlich gleichwertig; aber das sind ganze Naturen, bei denen alles eins ist, und sie kann man höchstens nachahmen. Flaubert ist zerrissen, bei ihm besteht ein Zwiespalt zwischen Mensch und Dichter, und seine Werke sind nicht Äußerungen einer Natur, sondern eines Künstlers. Deshalb kann man von ihm lernen – und das Lernen tut unserer jungen, Ungewissen, tastenden Literatur ja so not!

Maupassant

(1905)

Die französische Literatur der Gegenwart weist eine große Reihe hervorragender Personen auf; sie hat eine Blüte, die sich an Bedeutsamkeit und Wirkung in einer Hinsicht vielleicht der klassischen Blütezeit an die Seite stellen kann. Wenn man sich aber die Frage vorlegt: was wird von diesen mit der höchsten Anstrengung, dem größten Verständnis, dem vorzüglichsten Talent geschaffenen Werken noch in späteren Zeiten Wirkung ausüben, so muß man doch antworten, daß es nur wenige Bücher sein werden, welche die Probe der Zeit bestehen würden. Und, es sei nochmals betont: Nicht ein Mangel inneren Wertes ist es, der diese Bücher für unsere Nachkommen ungenießbar machen wird, denn selten ist so viel schwere und harte Kunstarbeit geleistet, wie von ihren Verfassern; die Ursachen sind vielmehr, in dem einen Falle, daß die beliebte Form des Romans nicht jenes erzwang, welches ein Hauptmittel der Dauer eines Werkes ist: die Verdichtung; und in dem anderen Fall, daß im Gegensatz zu der Schule, welche bewußt wieder auf Natur und Natürlichkeit zurückging und dabei zu Ergebnissen kam, die für manche feinere Natur verletzend waren, gerade solche feineren und daher für den Reiz der künstlerischen Form Empfindlicheren auf seltene, krankhafte oder konstruierte Empfindungen, Ideen und Stimmungen kamen, die ihrerseits gleichfalls nur von der Zeit gewürdigt werden können, die sie hat entstehen sehen.

So nimmt schon heute Maupassant eine überragende Stellung ein, und nach hundert Jahren wird wohl nichts mehr übriggeblieben sein von der heutigen französischen Literatur als einige kleine Gedichte von Verlaine und der ganze Maupassant, dessen Figur alsdann ins Gigantische gewachsen sein wird, in den man zu den tausend Dingen, welche er bereits umfaßt, noch tausend Dinge hineinlegen wird, um so unsere ganze Zeit aus ihm zu ahnen.

Maupassant ist früh gestorben, zwar nach einer geistigen Erkrankung, die ihn aber doch gütig vor schlimmeren Stunden bewahrt hat, welche er mit Bewußtsein und in langsamem Verfall hätte durchleben müssen. In seinen letzten klaren Stunden muß er gewußt haben, daß sein Ruhm im frischesten Aufstieg war. Hätte er langer gelebt, so hätte er noch viel Schönes geschaffen, aber wohl nichts Besseres oder der Art nach Verschiedenes. Und so kann man doch sagen, daß, wie sein Schaffen von einem seltenen Glück begleitet war, so auch sein Leben.

Bei der besonderen Art der Stoffe, welche er behandelt hat, und bei der Weltanschauung, welche seiner Kunst zugrunde zu liegen scheint, kann es nicht wundernehmen, daß sich sehr bald eine eigene Legende über sein Leben bildete: er wäre ein etwas blasierter Roué gewesen und ein Pessimist. Wer die Beziehungen zwischen Kunstwerk und Persönlichkeit des Künstlers genauer zu betrachten pflegt, wird sich zwar bald sagen, daß diese Legende gänzlich grundlos sein muß; trotzdem aber erhielt sie sich hartnäckig, eben weil sie den populärsten Anschauungen entspricht; und doch ist kaum eines Dichters Leben so klar und einfach für einen menschenkennenden und künstlerkundigen Ästhetiker aus seinen Schriften zu ersehen, wie das Maupassants. Von Freunden und Verehrern sind in der letzten Zeit vereinzelte Nachrichten in Essays und Notizen an die Öffentlichkeit gekommen, mit deren Hilfe hier das Nötige gegeben sein mag.

Für Persönlichkeit, Talent und Entwicklung der Begabung des Dichters scheint die Mutter und die mütterliche Vorfahrenreihe wichtiger zu sein wie der Vater. Die Mutter war eine geborene Le Poittevin; die Familie gehörte dem guten Bürgertum der Normandie an, und ihre Glieder waren als Beamte oder in gelehrten Berufen tätig; eine Vorfahrin war ihrer Zeit als Dichterin bekannt. Ein Bruder der Mutter war Alfred Le Poittevin, der Jugendfreund Flauberts, der den Lesern von Flauberts Briefwechsel bekannt ist. Er starb jung und soll nach dem Urteil der Freunde eine hervorragende künstlerische Begabung gehabt haben. Noch sehr spät, als er schon seit langen Jahren auf dem Gipfel des Ruhmes stand, schreibt Flaubert einmal, er habe doch nun die ersten und bedeutendsten Männer seiner Zeit intim kennengelernt; aber wenn er sie mit seinem jung gestorbenen und namenlos gebliebenen Alfred vergleiche, so finde er, daß dieser sie doch weit überragt haben würde. Flaubert bewahrte seine Liebe für die Schwester, die Mutter Maupassants, und für diesen selbst, wie wir später sehen werden. Die Mutter, Laura, wurde mit diesem Bruder, der acht Jahre älter war, und auch von ihm erzogen; sie hat offenbar zu einem ursprünglich seinen und gebildeten Geist die frühen Einflüsse hoher geistiger, besonders ästhetischer Kultur empfangen; wie sie nach den Berichten erscheint, war sie die wahre Mutter eines Dichters, in der Art etwa wie die Frau Rat, vielleicht nicht mit dieser überaus reichen Natur und Frische ausgestattet, aber dafür von größerer Bildung, sicher aber von derselben Klugheit, Güte und Vorurteilslosigkeit. Ihr Mann, Gustave de Maupassant, entstammte väterlicherseits einer alten lothringischen Familie.

Wem es Freude macht, die Einflüsse des Blutes in der literarischen Persönlichkeit zu verfolgen, der mag bei Maupassant wie bei Flaubert etwas schwer Germanisches durch ihre normannische Herkunft entdecken. Gewiß ist Maupassant Romane in seinem starken, formal künstlerischen Gefühl, der Geschlossenheit seiner Komposition, dem künstlerischen Aufbau, dem nie fehlenden Bewußtsein, daß vor allen Dingen die Wirkung erstrebt werden müsse; aber sein Humor, so weit entfernt einerseits von dem « grand rire» des Rabelais und anderseits von der bloßen Laszivität, sein zartes Naturgefühl, sein treffendes Mitempfinden mit den einfachen Fischern und Bauern, so ganz verschieden von der konstruierten Art Zolas und der Naturalisten mit ihren Dokumenten, und seine schlichte Sprache machen ihn doch auch unserer Art so vertraut, daß er oft wie einer der Unseren erscheinen mag.

Guy wurde geboren am 3. August 1850. Die Eltern wohnten einige Monate in Paris, in der Hauptsache aber lebten sie in der Heimat der Mutter auf dem Lande, so daß Guy nicht als losgelöster Pariser aufwuchs, sondern von der früheren Kindheit an auf das engste verbunden mit seiner ganz besonderen Heimat und deren Menschen. Die Mutter hatte ein kleines Schlößchen bei Etretat, nahe am Meer gelegen, mitten im freien Felde, in einem wundervollen Garten, aber ganz einfach und schlicht, ohne alle Prätentionen. Alte Sagen knüpften sich an das Haus, wie sich eine Sage an die mütterliche Familie knüpfte, deren Geschick mit einem anderen Besitztum verbunden sein sollte, nach der Prophezeiung eines Gespenstes an den Großvater in einer Spukkammer.

Der Mutter Traum war, daß Guy ein Dichter werden sollte, wie der verstorbene Bruder oder Freund Flaubert. Von seiner Kindheit an erzog sie ihn zu diesem Ende, und die Schwester von Flauberts Freund wußte wohl, worauf es bei solcher Erziehung ankam: sie lehrte ihn sehen und beobachten. Und dazu konnte sie ihm bis zu seinem dreizehnten Jahre die Einflüsse der Schule ersparen; sie selbst und ein benachbarter Geistlicher unterrichteten ihn bis dahin, und in diesen für die Entwicklung des Künstlerkindes so wichtigen Jahren war er nicht die schönsten Stunden in kahle Schulräume gesperrt, sondern er konnte im Garten, auf den Feldern, im Walde streifen und mit den Schiffern, seinen Freunden, auf die See fahren. Eine Anzahl seiner schönsten Geschichten sind dem Leben der Bauern und Schiffer entnommen; in diesen Kinderjahren machte er dazu die Studien, denn der Erwachsene bekommt ja die Menschen einer anderen Gesellschaftsklasse nicht mehr in ihrer Naivität zu sehen. Und nicht allein sein Naturgefühl entwickelte sich damals in dieser Freiheit und bei dieser Anleitung: Tausend Dinge, welche der stumpfe Blick des Erwachsenen nicht mehr sieht, das schon so viel versuchte Herz nicht mehr fühlt, hat er damals in sich aufgenommen. Es gilt das natürlich auch für die späteren Jahre, wo Maupassant das Gymnasium zu Rouen besuchte und nur noch die Ferien hier verbrachte. Es wird berichtet, daß er sich von den übrigen Schülern zurückgehalten habe; dafür besuchte er häufig Louis Bonilhet, den Dichter, den dritten des Freundschaftskleeblattes seines Oheims und Flauberts, und erhielt von diesem Unterweisungen im Technischen der Lyrik.

Nach beendeten Studien ging Maupassant nach Paris und trat in das Marineministerium, später in das Ministerium des öffentlichen Unterrichts als Beamter ein. Wiewohl er schon längst seine literarischen Wünsche und Strebungen hatte, erfüllte er doch gewissenhaft seine Pflichten; wie Flaubert gehörte er zu dem Schlage von Künstlern, die nicht für das Bohemienleben geschaffen sind: ernsthafte und tüchtige Leute, welche genau wissen, daß man vor allen Dingen für alles im Leben festen Boden unter den Füßen haben muß. Kann man nicht durch seine Kunst eine entsprechende Stellung erlangen, so muß man das als Beamter. Der Einfluß Flauberts wird um diese Zeit auf den Gereifteren stärker; er wird gewissermaßen der Schüler des Meisters, im Leben wie im Dichten. Die paar Briefe an Maupassant in Flauberts Briefwechsel geben ein rührendes Zeugnis für die Liebe, Zärtlichkeit und Treue des alten Mannes:

«Du beklagst dich über die Weiber, daß sie ‹langweilig› sind. Es gibt ein einfaches Mittel dagegen: laß sie laufen. ‹Es ist immer dasselbe.› Das ist eine realistische Klage, und was weißt du von der Wirklichkeit? Soll man sie näher betrachten? Hast du jemals an die Existenz der Dinge geglaubt, ist nicht alles Illusion? Es gibt nichts Wahres als die ‹Beziehungen›, das heißt, die Art, wie wir die Dinge wahrnehmen. ‹Die Laster sind ledern.› Alles ist ledern. ‹Die Sprache hat nicht genug Wendungen.› Suche, so wirst du finden. Kurz, mein Freund, mir scheint, du hast dich verbiestert, und deine Schmerzen dauern mich, denn du könntest deine Zeit besser anwenden. Arbeiten, Freundchen, arbeiten, weiter nichts! Ich glaube, du bist ein bißchen verbummelt! Zu viel Frauenzimmer! Zu viel Rudern! Zu viel Sport! Jawohl! Der Kulturmensch braucht nicht so viel Bewegung, wie die Herren Ärzte behaupten. Du bist geboren, um Verse zu machen, setze dich hin und mache welche! ‹Der Rest ist eitel›, einschließlich deiner Vergnügungen und deiner Gesundheit. Pfeife darauf! Übrigens wirst du viel gesünder sein, wenn du deinem Berufe folgst. Das ist eine Bemerkung ans der Tiefe der Philosophie oder vielmehr Gesundheitslehre. Du lebst in einer Dreckhölle, das weiß ich, und das tut mir von ganzem Herzen leid. Aber von 5 Uhr nachmittags bis 10 Uhr morgens kannst du deine ganze Zeit der Muse weihen, und die ist doch das beste Mädchen. Vorwärts, Kopf hoch! Es nutzt nichts, seinem Kummer nachzuhängen. Man muß sich vorstellen, daß man Courage hat, dann bekommt man sie. Etwas mehr Stolz, sapperlot! Als Junge hattest du mehr Mut! Was dir fehlt, das sind ‹die Grundsätze›. Lache nur, man muß welche haben, fragt sich natürlich, was für welche. Für einen Künstler gibt es bloß eins: Alles der Kunst opfern. Er muß das Leben als Mittel betrachten, nicht als mehr, und der Mensch, der ihm am meisten schnuppe sein muß, ist er selber ... Ich wiederhole, lieber Guy: Hüte dich vor der Traurigkeit! Sie ist ein Laster! Man verliebt sich in seine Schwermut, aber wenn die Schwermut vorüber ist, so hat sie kostbare Kräfte verbraucht, man wird matt durch sie. Dann ärgert man sich, aber es ist zu spät. Glaube der Erfahrung eines Scheichs, dem keine Übertreibung fremd ist.»

Flaubert war ein unerbittlicher Schulmeister: immer und immer wieder mußte Maupassant seine Arbeiten umarbeiten; er gestattete ihm nichts zu veröffentlichen; er gestattete ihm und seiner Mutter nicht, daß er seine Stellung im Ministerium aufgab, obwohl schon starke Proben seines Talentes vorlagen; endlich beförderte er ein Gedicht zum Druck und dann, in den « Soirées de Médan» die meisterhafte Erzählung « Boule de suif» – «Schmalzbombe» hat das wunderbare Wort einmal jemand genial übersetzt – über welche er an die Mutter schrieb: «Dein Junge wird doch einmal ein Kerl; Schmalzbombe ist ein wunderbares Werk.» Der Erfolg war auch so groß, daß Maupassant endlich den Dienst aufgeben durfte.

In der Vorrede zu « Pierre et Jean» hat Maupassant einige ästhetische Bemerkungen über den Roman gegeben, die wohl das enthalten, was er von Flaubert überkommen oder von ihm sich angeeignet hat. Er definiert hier das Kunstwerk als «etwas Schönes in der Form, welche dem Künstler nach seinem Temperament am meisten liegt.» Die Ausführungen geben manche Erklärung von Maupassants künstlerischem Wesen, und es mögen daher einige Gedanken aus ihnen folgen:

«Nach den Schulen, welche uns eine zurechtgemachte, übermenschliche, poetische, rührende, reizende oder erhabene Vorstellung vom Leben geben wollten, ist eine realistische oder naturalistische Schule gekommen, welche behauptete, sie werde uns die Wahrheit zeigen, nichts als die Wahrheit, und die ganze Wahrheit. Man muß diese so verschiedenen ästhetischen Theorien gleichmäßig gelten lassen und die Werke, welche sie hervorbringen, einzig nach dem Gesichtspunkt ihres künstlerischen Wertes beurteilen, indem man von vornherein die allgemeinen Ideen zugibt, aus denen sie entstanden sind. Das Recht eines Schriftstellers bestreiten, ein poetisches oder realistisches Werk zu machen, heißt ihn zwingen wollen, sein Temperament zu ändern, ihm seine Originalität vorwerfen, ihm nicht erlauben, das Auge und den Geist zu brauchen, welche ihm die Natur gegeben hat. Ihm vorwerfen, daß er die Dinge schön oder häßlich sieht, klein oder episch, zierlich oder finster, heißt ihm vorwerfen, daß er so oder so von Natur beschaffen ist und die Dinge nicht so sieht wie wir. Lassen wir ihm die Freiheit, zu begreifen, zu beobachten und zu empfangen, wie es ihm gefällt, wenn er nur ein Künstler ist.» Nach einer Gegenüberstellung des idealen und realistischen Romans, von denen der erste die Keime des Lebens und Höhepunkte der Seele, der zweite ihren normalen Zustand erzählt, fährt er fort: «Welche Kinderei übrigens, an die Realität zu glauben, da wir jeder die unsere für uns, in unserem Geist und unseren Sinnen tragen! Unsere verschiedenen Augen, Ohren, Nasen, Zungen schaffen so viel Wahrheiten, wie es Menschen auf der Erde gibt. Und unsere Seelen, welche die Wahrnehmungen dieser Sinne erhalten und verschiedenartig beeindruckt werden, begreifen, untersuchen und beurteilen, wie wenn jeder von uns einer anderen Rasse angehörte. Jeder von uns macht sich eben ganz einfach eine Illusion von der Welt, eine poetische, sentimentale, fröhliche, melancholische, schmutzige oder traurige Illusion, nach seiner Natur. Und der Schriftsteller hat keine andere Aufgabe, wie diese Illusion getreulich nachzubilden mit allen Mitteln der Kunst, welche er gelernt hat, und über die er verfügen kann. Illusion des Schönen, welche eine menschliche Konvention ist! Illusion des Häßlichen, welche eine wechselnde Meinung ist! Illusion des Wahren, das ewig unwandelbar bleibt! Illusion des Gemeinen, das so viele Wesen anzieht! Die großen Künstler sind die, welche der Menschheit ihre besondere Illusion auferlegen.» Am Schluß erzählt er von seiner Lehrzeit, erst bei Bouilhet und dann bei Flaubert: «Ich wagte ihm einige Versuche zu unterbreiten. Er las sie mit Güte und antwortete mir: ‹Ich weiß nicht, ob Sie Talent haben. Was Sie mir bringen, zeugt von einer gewissen Intelligenz, aber vergessen Sie nicht, junger Mann, daß das Talent – nach dem Wort Chateaubriands – nur eine zähe Geduld ist. Arbeiten Sie ...› Sieben Jahre lang machte ich Gedichte, machte ich Erzählungen in Versen, machte ich Novellen, ich machte sogar ein gräßliches Drama. Nichts davon ist übriggeblieben. Der Meister las alles, dann, am nächsten Sonntag, beim Frühstück, kritisierte er und flößte mir allmählich zwei oder drei Grundsätze ein, welche die Zusammenfassung seines langen und geduldigen Unterrichts sind: ‹Wenn man eine Originalität hat, so muß man sie vor allem frei machen, wenn man keine hat, so muß man eine erwerben.› ‹Das Talent ist eine zähe Geduld.› ‹Man muß alles, was man ausdrücken will, lange genug und mit genügender Aufmerksamkeit ansehen, um ein Moment daran zu entdecken, das noch niemand gesehen oder beschrieben hat. Überall gibt es Unerforschtes, weil wir gewöhnt sind, unsere Augen immer nur mit der Erinnerung an das vor uns Gedachte zu benutzen. Das Geringste enthält etwas Unbekanntes. Das müssen wir finden. Um ein flammendes Feuer oder einen Baum in einer Ebene zu beschreiben, müssen wir uns vor das Feuer oder den Baum stellen, bis sie für uns keinem anderen Feuer, keinem anderen Baum mehr gleichen ... Was man auch sagen will, es gibt nur ein Wort, das auszudrücken, ein Verbum, es zu beleben, und ein Adjektiv, es zu bezeichnen. Deshalb muß man suchen, bis man die Worte entdeckt hat, Substantiv, Adjektiv und Verbum, und sich nie mit einem Ungefähr begnügen, keine Kniffe anwenden, seien sie auch noch so glücklich, keine Sprachverrenkungen, um die Schwierigkeit zu vermeiden.›»

Das ist alles echter Flaubert. Heute, wo dieses Ringen der Vergangenheit angehört und wir seine schönen Erfolge mühelos genießen, finden wir, daß in diesem Programm eins fehlt: diese Gedanken beziehen sich alle nur auf den Ausdruck irgendeiner in der Wirklichkeit vorkommenden Sache; an die Komposition dieser Sätze zu einer Novelle, einem Roman denkt Flaubert nicht mit derselben Energie und Selbständigkeit, hier ließ er sich treiben. Zwar hinderte ihn sein Instinkt, ins Uferlose zu gehen; aber daß auch hier ästhetische Gesetze befolgt werden müssen, war ihm doch nicht so deutlich bewußt. Gerade hier aber geht Maupassant weit über seinen Lehrer hinaus; einer seiner größten Reize ist die wundervolle Geschlossenheit seiner Werke. Schon in seinen Romanen zeigt sich dies; man vergleiche nur Flauberts « Education sentimentale» mit Maupassants « Une vie». In beiden Fällen wird eine Lebensgeschichte erzählt; aber wie ist bei Maupassant alles auf einen Punkt konzentriert, wie fließt bei Flaubert alles auseinander; die Grundstimmung beider Bücher ist dieselbe melancholisch-pessimistische; aber während man bei Flaubert immer den Eindruck eines ermüdenden Watens durch den Sand hat, ohne einen Zweck, ohne ein Ziel, haben wir bei Maupassant das Interesse immer rege und frisch. Was man von «Überwindung des Naturalismus» bei uns wie seinerzeit in Frankreich spricht, ist bei Maupassant wirklich geschehen: nicht durch die Rückkehr zu alten Ausdrucksweisen, die durch überlangen Gebrauch banal geworden waren und nur künstlich durch allerhand Kniffe und Exzentrizitäten noch interessant gemacht werden können, sondern durch Beibehalten der Errungenschaften des näheren Anschlusses an die Natur und Herausbilden der vom Naturalismus verkannten und vernachlässigten Komposition.

Fast immer wird der Roman Halbkunst bleiben, weil in ihm keine Nötigung zum straffen Zusammenhalt liegt. Die Möglichkeit eines Buches wie Tristram Shandy beweist die Unmöglichkeit für den Roman, die höchsten Ziele der Kunst zu erreichen. Deshalb hat Maupassant, dessen Bedeutung im Kompositionellen liegt, sein Bestes auch nicht in den Romanen geschaffen, so ausgezeichnet sie sein mögen; was ihm sein Fortleben verlängert, sind seine Novellen.

Die Novelle ist, wie das Drama, eine klassische Kunstform: sie muß in einer weit größeren Entfernung von der «Wirklichkeit» stehen wie etwa der Roman; sie ist abstrakter und hat notwendig mehr Stil. Was wir «moderne Ideen» nennen, ist dieser Art von Kunst sicherlich sehr feindlich. Maupassant war durchaus ein Mensch der modernen Ideen; er glaubte so treu wie nur einer an Milieu und Vererbung und alle jene Gedanken, welche den Menschen als unfreies Produkt außer ihm liegender Faktoren hinstellen und so das dramatische Moment aus der Betrachtung des Lebens ausschließen, nur das lyrische übrig lassend, und zwar auch nur das der pessimistischen Färbung. Trotzdem gelang es ihm, seine wundervollen Novellen zu schreiben.

Es ist wohl überhaupt für jeden, der mit einem Dichter nicht auf das intimste befreundet war, unmöglich, solche Dinge zu erklären. Das sind Vorgänge rein seelischer Natur, Sympathien und Antipathien, die sich bis ins Physiologische verlieren mögen, zerstreute und an sich unsinnige Gedanken, Wünsche, Strebungen: und das Allerinnerste, Allergeheimste, das kein Mensch verrät, etwa der Wunsch eines Frauenverächters, eine starke Liebe zu empfinden, oder das Sehnen nach Ruhe und Natur eines Mannes, der in der rauschenden großen Welt sich eitel tummelt. Aber wie das sich verknüpft und schöpferisch wirkt, darüber kann man nur mäßige Vermutungen aussprechen.

Ein sehr wichtiges Moment, das offenkundig auf der Hand liegt, ist der starke sozialkritische Zug, welcher der gesamten naturalistischen Schule innewohnt: die Gegnerschaft, sei es gegen die Bourgeoisie in ihren ökonomischen Funktionen, sei es gegen die Äußerungen auf geistigem Gebiet: Konvention der Sittlichkeit, der Geselligkeit und so fort; und die Liebe für die unteren Schichten, die man für naiver, kräftiger, ehrlicher, aber für unterdrückt hält. Hier entspringt ein Pathos, welches bei Zola etwa direkt zum Ausdruck kommt, bei einem Maupassant indirekt als Humor oder scharfe Betonung der brutalen Wirklichkeit. Der Grund ist das sittliche Ideal der Gerechtigkeit. So sehr das auch der eigenen Theorie widerstreiten mag, ist es doch das psychisch stark Reizende bei der ganzen Dichterschule; und auch bei Maupassant tritt es meistens an die Stelle, die sonst das eigentliche sittliche Problem ausfüllen müßte.

Eine Novelle möge als Beispiel dienen.

Zwei Herren, die etwa in den Fünfzigern sind, stehen im Frühling unter einem Blütenbaum, von welchem der gelbe Blütenstaub in einem Wirbel weggetrieben wird, irgendwohin, zu irgendeinem andern Baum, an dem dann Früchte wachsen. In der Stimmung dieser Gedanken erzählt der eine ein Erlebnis: Als junger Mensch hält er sich einmal in einem ländlichen Wirtshaus auf und bringt eine hübsche junge Aufwärterin fast mit Gewalt zu seinem Willen. Dann reist er ab, und erst jetzt ist er wieder in die Gegend gekommen. Dort erfährt er, daß das Mädchen, welches sonst den allerbesten Ruf gehabt hatte, plötzlich einen Sohn gebar, wobei sie starb; dieser Sohn ist erwachsen und ein halber Idiot. Um sich nicht zu verraten und dann Erpressungen ausgesetzt zu sein, darf er sich nur gering um diesen Sohn bekümmern und muß mit gequältem Herzen dessen Verkommenheit zusehen.

In dieser Novelle, ganz abgesehen von der Darstellung und dem Ausdruck, ist eine Komposition von wunderbarer Kunst, welche ihr einen tiefen und bleibenden Eindruck sichert. Aber der ethische Punkt, um welchen sie sich bewegt, liegt nicht in der Novelle, sondern er wird durch sie in dem Gemüt des Lesers erzeugt; der dann für sich die Geschichte um ihn neu gruppiert.

Wir entrüsten uns über die soziale Ungerechtigkeit, daß das arme Mädchen als ein fast schuldloses Opfer zugrunde geht, ein elender Mensch in die Welt gesetzt wird, und der Urheber all des Unheils doch nur ein peinliches Gefühl als Strafe hat. Aber das ist nur das Plumpe. Der Blütenstaub des Apfelbaumes fliegt durch die Luft im Sonnenschein und findet seine Blüten, die ihn erwarten, und ohne Schuld und Unglück geschieht hier zu einem erfreulichen und natürlichen Ende derselbe Vorgang, der vorher so entsetzliche Folgen hatte; dieser selbst aber – war er denn im Grunde etwas anderes wie dieses Fliegen des Blütenstaubes? War er nicht ebenso blind und in seiner Blindheit unschuldig, war nicht das anfängliche Sträuben des Mädchens ein Sträuben gegen ihren eigenen Drang, der doch so natürlich und unschuldig an sich ist wie jenes Blühen und Fruchttragen?

Man hat wohl immer ein unangenehmes Gefühl, wenn man solche Werke auf ihren geistigen Inhalt zurückführt, daß man aus einem reizenden Kunstwerk eine Plattheit macht; denn der gedankliche Inhalt eines Kunstwerkes ist seiner Natur nach nie originell, sondern allgemein bekannt; möge daher der Leser verzeihen, wenn die Analyse nicht sehr geistreich aussieht.

Man versteht jetzt vielleicht, woher das skeptische und pessimistische Element in Maupassant rührt. Maupassant sowohl wie Flaubert waren als Menschen sicher so glücklich, wie geistige Menschen überhaupt nur sein können, und waren im Leben nichts weniger als skeptisch, sondern so naiv, wie nur Künstler und Kinder sind. Ihr so ganz von dem Charakter des Lebens verschiedener literarischer Charakter rührt daher, daß durch ihre Weltanschauung, welche den einzelnen Menschen zu einer Funktion der Gesellschaft macht, keine eigentlichen Konflikte, welche immer ethischer Natur sind, möglich werden. An deren Stelle tritt – die eigene Art, wie Flaubert sich rettete, sei hier unberührt – bei Maupassant der Hauptsache nach das verletzte Gerechtigkeitsgefühl. Aber das ist nur eine Instinktäußerung; als Denkender wie als Dichtender weiß er, wie gering dessen wirkliche Bedeutung außerhalb der agitatorischen Phrase ist; und so erfährt das Problem sofort eine skeptische Umbiegung.

Wenn nun das Gerechtigkeitsgefühl im Instinktleben solche große Rolle spielt, so muß man annehmen, daß es in dem Menschen ein sehr hohes Ideal der Menschheit erzeugt. Die Liebe findet sich mit den Menschen ab, wie sie sind, sie verlangt nicht mehr von ihnen; die herrische Gerechtigkeit türmt ein hohes Musterbild auf, und was sich nach ihm nicht richtet, wird in Bausch und Bogen verworfen. Nun ist es höchst merkwürdig zu sehen, wie sich das in einer Künstlerseele wie der Maupassants äußert.

Maupassant ist ein Kind der frischen Luft, des Meeres, der bräunenden Sonne. Alles physische Wohlbehagen genießt er hier. Und ein Abglanz dessen, was ihn hier glücklich macht, ist die Liebe, die er zu den Schiffern und Bauern hat. Er erzählt uns ihren Geiz, ihre Sinnlichkeit, ihre Niedertracht: aber immer mit jenem behaglichen Humor, welcher das alles versteht, im Grunde das alles nicht so schlimm findet, denn so leben nun einmal die Menschen in ihrer Art; und welcher das greulichste Zeug uns in verklärtem Lichte zeigt; man denke nur an die verbissene Art, wie Zola den Bauern schildert – Zolas Liebe ist der Kohlenarbeiter. Und jenen behaglichen und verzeihenden Humor breitet er auch über die Heldinnen der Art von « Pain maudit» aus: sie leben gutmütig und anständig dem Laster und sind in ihrer Art so brav wie die verschmitzten Bauern und Fischer. Aber ein ganz anderes Gesicht macht er gegen die Mitglieder der höheren Klassen, vorzüglich die aus ihnen gewählten Heldinnen, die vornehmen, nichtstuenden und ihre Männer betrügenden Frauen. Hier wird sein Humor plötzlich scharf und schneidend; während er dort linderte, ätzt er hier.

Es wird immer eine Sache der Gefühle sein, ob man diesen Unterschied des Humors findet oder nicht. Zwei Novellen mögen gegenübergestellt werden: « Le signe» und « Le petit fut».

Eine Dame der ganzen Welt sitzt gelangweilt an ihrem Fenster und beobachtet eine gegenüberwohnende Dame der halben; Herren gehen vorüber, sehen sie verständnisvoll an und verschwinden im Haus. Nach langem Hinsehen entdeckt sie, daß die Dame eine eigentümliche Bewegung mit dem Kopf macht. Aus Neugierde, ob es ihr wohl gelingen werde, macht sie dieselbe Bewegung, und siehe da, ein Herr tritt ins Haus und kommt bis in ihr Zimmer. Was soll sie tun? Um Himmelswillen darf doch kein Aufsehen gemacht werden. Beim Scheiden hinterläßt der Herr ein Goldstück. Sie fährt sofort zu ihrer Freundin, erzählt ihr die Geschichte und fragt, was sie mit dem Geld machen solle, denn das drückt sie am meisten. Diese denkt einen Augenblick nach, dann sagt sie: dafür mußt du deinem Mann etwas Schönes schenken, das ist gerecht.

In der anderen Geschichte hofft ein junger Bauer auf die Erbschaft einer alten Tante, die gar nicht sterben will. Um ihr Ende zu beschleunigen, verfällt er darauf, ihr eine Flasche schönen Likörs mitzubringen; vielleicht gewöhnt sich die alte Frau daraufhin das Trinken an und stirbt früher. Die eine Hälfte des Anschlags gelingt wirklich; aber, weit entfernt, schwächer zu werden, fühlt sich die Tante ganz wunderbar gestärkt durch ihre Tropfen, lebt noch lange und verbraucht ihr ganzes Geld für Alkohol.

Eine heitere Menschenverachtung spricht aus beiden Erzählungen; aber in der zweiten schließt sie doch die Liebe nicht aus, jene, die ein Mann meint, von dem man den Ausspruch nicht erwarten sollte, nämlich Jean Paul: «Man muß die Menschen verachten, um sie zu lieben»; in der ersten fehlt ein solches Gefühl gänzlich, hier ist dem Dichter an der Dummheit, Gedankenlosigkeit, Lüsternheit und Instinktentartung der vornehmen Dame nichts sympathisch. Maupassant war zu sehr vernünftiger Normanne, als der er ja auch allein seine wenig angenehme Beamtenstellung behielt, bis er genau wußte, daß er eine gute Existenz durch seine Feder haben würde, um nicht ein tiefes Verständnis für den braven Bauern mit seiner Literflasche zu haben.

Maupassant war, wie alle weichen und zärtlichen Menschen, sehr zurückhaltend mit seiner Persönlichkeit; um so mehr konnte sich aus seinen Schriften die Vorstellung bilden von einem pessimistischen und zynischen starken Geist, der keinen Menschen liebte, der Welt nicht herzlich, sondern nur vernunftmäßig gegenüberstehe und mit Verachtung aller seelischen Triebe an das weibliche Geschlecht nur ganz sinnlich denke.

In Wirklichkeit war er ein Sohn, der bis zuletzt die zärtlichste Liebe und Verehrung für seine Mutter hegte, mit ihr alles teilte, ihr seine Sachen vorlas und sie um Rat und Urteil befragte; ein Mann, der zwar ein robuster und nicht sentimentaler Schürzenjäger war, der wußte, wie man sich zum Typus « Boule de suif» zu stellen hat, und ohne sonderliche Skrupel verführte, wo der Wunsch, verführt zu werden, vorhanden war; aber der in der tiefsten Seele ein unbefriedigtes Sehnen nach wahrer Liebe zu echter Weiblichkeit von der Art seiner Mutter hatte, und vielleicht zugrunde ging, weil diese Sehnsucht nicht erfüllt oder grausam getäuscht wurde; der gar nicht sinnlich war, einmal selbst erklärte, daß er eine gebratene Pute der schönsten Helena vorziehe, und galante Abenteuer mehr aus Lust am Komischen und aus Verachtung des weiblichen Geschlechtes durchmachte; und dessen ganze, große Leidenschaftlichkeit sich auf eins sammelte: die Kunst.

Es gibt eine Stelle in einem Bande Maupassants, die ausnahmsweise ganz persönlich ist und das ausdrückt; aber durch die Übersetzung würde sie eine ganz andere Bedeutung gewinnen, weil in dem hier geschilderten physisch-psychischen Zwischenwesen französische und deutsche Worte sich nicht decken, wie sich auch die Gefühle nicht decken; mögen jene oben gesagten Sätze als deutscher Ausdruck dafür gelten.

Im Grunde war das Unglück Maupassants doch, daß er ein frischer, gesunder Mensch war, in der Natur aufgewachsen und zwischen edlen Menschen, und nun in einer entartenden und mesquinen Gesellschaft lebte. Immerhin noch der beste Teil der Pariser Gesellschaft waren die Künstler gewesen, wiewohl sich vom Standpunkt eines gesunden und braven Mannes sehr viel gegen Künstlergesellschaft sagen läßt. Aber Maupassant gab den Verkehr mit der Zeit ganz auf und beschränkte sich auf den Umgang mit der zweifelhaften Aristokratie und hohen Finanz; denn das Wenige von echter Aristokratie, was in Frankreich noch vorhanden ist, schließt sich ängstlich gegen alles Neue und Moderne ab.

Ein geringerer Dichter, Huysmans, hat in seinen Werken Dokumente gegeben über die Bedeutung, welche die Nichtbefriedigung der tiefsten und wichtigsten Triebe für den Künstler hat: in deren Punkt liegt das Verständnis für so manche Künstlertragödie; heute, wo die Gesellschaft so eigenartig zu ungunsten des Künstlers differenziert ist, daß er in den meisten Fällen nicht denjenigen Frauentypus erreichen kann, der für ihn bestimmt ist, sind diese Tragödien besonders häufig; von Tassos Schicksal wissen wir in der großzügigen Art klassischer Betrachtung; das kleine Detail im Leben moderner Dichter entgeht uns, obwohl im Grunde dasselbe Schicksal vorhanden ist.

Der stolze Maupassant hat nicht nur Selbstbekenntnisse vermieden, sondern mit seltenen Ausnahmen auch Motive, deren Art oder Behandlung ihn hätte auf solche führen können. Kommt er auf solche Dinge, so werden sie ängstlich nur ganz äußerlich dargestellt. Von der Art ist das Bekenntnis, das er einen Helden ablegen läßt, wie ihn das Alleinleben der Verzweiflung nahe bringt durch die bloße physische Angst der Einsamkeit; schon kommen hier halb krankhafte Gefühle vor, Gedanken, daß fremde Wesen im dunklen Schlafzimmer sind, und ähnliches. Seinen stärksten Ausdruck findet das in der Novelle « Le Horla»; der lustige Dichter von Bauernschnurren und Dirnenkomik, von Philisterlächerlichkeit und vornehmer Degeneration ist hier ein Schilderer der entsetzlichen Angst eines Mannes, der an Verfolgungswahn leidet, in seiner Einsamkeit sich mit mathematischer und naturwissenschaftlicher Phantasie die Gestalt eines vierdimensionalen Wesens ausbrütet, das ihn verfolgt. Wer dieses entsetzliche Stück liest, begreift, daß der Wahnsinn für den Mann ein Glück war, denn er behütete ihn vor dem Schicksal, sich zu beugen und in grauenvolle Stücke zu splittern. Auch dies ist ein Zeichen für die große Gesundheit des Mannes. Der von Anfang an kranke Strindberg, Huysmans, der sich überschraubte und nie im Zentrum seiner Persönlichkeit lebte, der schwache Hansson, die exzentrische Marholm, sie alle konnten den Sprung ins katholische Lager machen und versuchen, hier Ruhe, Sicherheit, Halt, Trost und Ersatz für das fehlende Wesentliche ihres Lebens zu finden: Maupassant wurde wahnsinnig, wie Nietzsche wahnsinnig wurde; der eine war zu gesund, den andern hatte ein übermenschliches Wollen aufgerieben.

Ein Freund, der ihn in der letzten Zeit einmal besuchte, fand in seinem Vorzimmer nur ein einziges Buch: den Almanach de Gotha. Mit der ängstlichen Sorge eines armen Rotüriers suchte er die Allüren der frivolen und hohlen Gesellschaft nachzuahmen, in welcher er verkehrte, der die Konferenz mit dem Schneider die wichtigste Tagesleistung ist; natürlich machte sich diese Gesellschaft über den naiven Dichter lustig. Es wird dann eine dunkle Geschichte erzählt von einer sehr vornehmen Dame, zu welcher er eine tiefe Neigung gehabt habe und die sich den Anschein gegeben habe, als erwidere sie seine Gefühle, um ihn in eine lächerliche Situation hineinzulocken; von ihr soll er dann plötzlich wahnsinnig zurückgekehrt sein.

Vielleicht erfahren wir noch einmal etwas durch die noch lebende Mutter oder aus Briefen, wenn diese veröffentlicht werden; aber das wäre nur ein Stück zufälliger Wirklichkeit; an dem wesentlichen Bilde der Persönlichkeit, wie es jetzt nach vereinzelten Äußerungen ihm Nahestehender feststeht, wird sich kaum noch etwas ändern.

Und fest steht auch bereits seine literarische Bedeutung. Will man sie in einen Satz zusammenfassen, so kann man sagen: er ist ein Klassiker, welcher aus dem Naturalismus entstanden ist. Wenn man in künftigen Jahrhunderten große Novellisten nennt, so wird man zu Boccaccios Namen gleich den von Maupassant hinzufügen; für Boccaccio war die Natur noch gegeben durch die Naivität der Frühlingszeit Europas, für Maupassant war sie wieder erworben durch die mühevolle und entsagende Kunstarbeit der großen Naturalisten; was sie damit gemacht haben, das ist bei beiden eigenstes Werk: bei Boccaccio künstlerische Entwicklung aus der kurzen Anekdote, wie sie noch der Typus der Cento novelle antiche ist; bei Maupassant die künstlerische Verdichtung aus dem weitschweifigen naturalistischen Roman. Möge Maupassant ein Anfang sein, wie es Boccaccio war: unsere Wissenschaft der Natur und Geschichte und unsere verfeinerte Lebenskunde stellen uns tausend lockende Aufgaben, wie sie den Boccaccio-Nachfolgern die durch die Renaissance befreite Welt stellte.

Verlaine

(1911)

Mit eigener Rührung las ich die Gedichte wieder, die vor wohl zwanzig Jahren mich das erstemal erschütterten. Verlaine ist ein Schüler der deutschen Lyriker, und er hat seiner Sprache Klänge und Töne abgezwungen, die bis dahin nur uns Deutschen bekannt waren; aber sein Empfindungsleben ist intensiver als das unserige, vielleicht nur dadurch, daß ihm gewisse Hemmungen fehlen, die wir haben. So wirken seine Verse echter und wahrer als die meisten seiner deutschen Vorbilder und machen auch den Eindruck stärkerer Leidenschaft. Seine dichterischen Qualitäten haben ihm sein bürgerliches Leben zerstört, wie denn gerade am Lyriker jenes Wort vom Kainszeichen des Genies sich am leichtesten bewährt. Dichtung ist ja ausgelebtes Leben, und gerade bei den ganz Großen trifft das am meisten zu; glaubt doch Goethe, daß die Lieder des Hafis nur aus dem Phantasieleben des Dichters, nicht aus seiner realen Existenz entsprungen seien. Aber diese weise Ökonomie: keine Kraft an das Leben abzugeben und sein Dasein nur bürgerlich zu führen, um für die Dichtung alles zu behalten, haben jene großen Begabungen zweiten Ranges wie Verlaine nicht – vielleicht eben dadurch sind sie nur zweiten Ranges; sie gebrauchen für ihre Dichtung das wirkliche Erleben mit all seinem Verschwenden; bei der größeren Begabung, bei Rimbaud, sieht man deutlich den starken Willen zu jener weisen Ökonomie, und gewiß hätte Rimbaud noch Großes geleistet, wenn er nicht zu früh gestorben wäre. Man muß Verlaines Leben kennen, um seine schöne Poesie mit voller Rührung zu genießen, und freilich darf man seine oft sehr schlimmen Taten weder mit dem früher bei uns üblichen Philisterurteil, noch mit der heute modischen Übermenschenmoral betrachten: er war ein Dichter, der sich in keine Gesellschaft fügen konnte, und am wenigsten natürlich in die heutige bürgerliche.

Der Satanismus und die Kunst

(1899)

In den verschiedenen Artikeln, die anläßlich des Todes von Félicien Rops erschienen, wurde auch die Frage erörtert, mit welcher Gesinnung eigentlich Rops seine wüsten Sachen radiert habe. Von den meisten Kritikern wurde er dabei in sehr wenig komplizierter Weise als ein Mann hingestellt, der sozusagen die besten Absichten von der Welt hatte und den Leuten bloß zeigen wollte, wie niederträchtig, gemein und häßlich «die Sünde» sei.

Wer den Sinn der furchtbaren Blätter, welche uns Rops hinterlassen hat, tiefer zu erfassen sucht, wird auf eine ganz andere Meinung kommen; an ihnen kann man vielleicht merkwürdige und wohl meistens übersehene Dinge erkennen, die für die Kunst von großer Wichtigkeit sind.

Wie für so manches psychische Problem, finden wir auch hier die beste Aufklärung im Mittelalter. Wir Modernen sind bei all unserer Nervosität viel zu philisterhaft, als daß wir an uns die tiefsten und letzten Regungen der Seele – heute gewöhnlich als perverse und krankhafte bezeichnet – studieren könnten.

Das gewöhnliche Leben des Mittelalters ist viel typischer als das unserige und bietet individueller Entfaltung keinen Raum. So hat man sogar glauben können, daß der Gang der Geschichte bis zur Neuzeit durch zunehmende Individualisierung bezeichnet sei. Man kann aber im allgemeinen annehmen, daß die Tendenzen auf Typisierung und Individualisierung sich immer das Gegengewicht halten, und wenn große Gebiete des Lebens typisch sind, so ist die Tendenz vorhanden, auf anderen großen Gebieten die individuellen Neigungen zu integrieren. Im Mittelalter ist das vor allem mit gewissen Trieben der Fall, die mit den sittlichen und religiösen Dingen zusammenhängen. Heute haben wir keine Heiligen mehr und keine Satanisten, obwohl die Anlage zu beiden wahrscheinlich auch heute noch bei Menschen zu finden ist.

Für den weißen Mystiker sind entscheidend die Neigungen nach Ruhe, Schönheit, Glück; der schwarze Mystiker hat ebenso stark die Neigungen nach allem Häßlichen, Unseligen und Unbefriedigten, Beide bringen die größten Opfer, die gewöhnliche Menschen bringen können. Unter Umständen gehen gewisse Züge durcheinander; so findet sich die Neigung zum Schmutz und zum Ekelhaften nicht selten auch bei Heiligen, nicht nur bei den Satanisten, wo ja Gestank, Mist und allerlei verwesendes Zeug eine Hauptanziehungskraft ausüben. Im allgemeinen aber erstreben die Heiligen eine innere Seelenharmonie und Freudigkeit, entstanden durch Überwindung sinnlicher Triebe, durch Suggestionen aller Art, durch sinnige Freude an der Natur und das Bewußtsein unerschütterlicher Ruhe in Gott. Die Satanisten suchen nach beständiger Enttäuschung, nach Verzweiflung und Unrast. Während die einen selbst ganz natürliche Begierden zurückdrängen, suchen die anderen nach neuen, künstlichen Genüssen, insbesondere narkotischen, mit dem Bewußtsein, daß deren Hauptwirkung eine furchtbare Enttäuschung sein wird. Dazu muß man nehmen, daß die Erscheinungen, welche bei den einen durch Askese, bei den anderen durch Narkotika und wüste Überreizung der Nerven kamen, für reale Dinge gehalten wurden, daß die Satanisten glaubten, sie küßten wirklich einem Bock den Hintern und tränken Urin aus den Hufen gefallener Pferde, genau wie eine Heilige etwa Erdbeeren wirklich zu riechen glaubte bei einer Erscheinung; und daß die einen nach dem Tode ein seliges Leben sicher erwarteten, die anderen die furchtbarsten Martern, für die sie doch hier auf der Erde nicht den geringsten Genuß eingetauscht hatten, außer, daß sie ihre Bosheit und Zerstörungswut hatten befriedigen können.

Alle solche psychischen Erscheinungen hingen mit den sexuellen Verhältnissen zusammen. Bei den Satanisten ist ja die Verknüpfung mit einer eigenartigen Sexualität überall zu sehen.

Während im allgemeinen heute die Tendenz auf seelische Anpassung vorherrscht und der Individualisierungsprozeß sich auf andere Gebiete als die rein seelischen, namentlich auf die des bewußten Geisteslebens, gewendet hat, haben wir doch noch eine Klasse von Menschen, bei denen dieses mittelalterliche Integrationsstreben stark ist; das sind die Künstler. Wer schaffen will, der hat vor allen Dingen einen ganz außerordentlich starken Trieb, das, was er als sein Eigentum fühlt und das im Unbewußten ist, rund und geschlossen zum Ausdruck zu bringen; denn jede Kunst ist ja doch schließlich nur Selbstporträtierung der Seele. Nur sind wir heute so unwissend über den wirklichen Weg, den das gehen würde, und deshalb kommen moderne Künstler so sehr selten zu dem wirklich klassischen Ausdruck dessen, was ihre Seele erstrebt. Vielleicht der bei weitem größte Teil aller Karikaturisten sind Menschen von satanistischer Anlage: mit Freude am Häßlichen und Gemeinen, an eigener seelischer Qual, am Unbefriedigtsein. Es ist sehr bezeichnend, daß Rops angefangen hat wie ein gewöhnlicher Karikaturist und erst durch seine gründlichen, historischen Studien und den Umgang mit Leuten wie namentlich Baudelaire, der ja Bescheid wußte, auf sein eigentliches Genre kam.

Bekanntlich findet man außen an mittelalterlichen Kirchen nicht nur die wüstesten Teufelsfratzen dargestellt, sondern direkt satanische Praktiken, bis zum Inkubat und Sukkubat. Die Manier ist dieselbe wie bei den Gestalten in der Kirche: scharfe, eckige Falten, übercharakteristische Züge; es wäre sehr interessant, wenn man einmal die Proportionen solcher Figuren gegenüber den frommen Figuren untersuchte; ich glaube, daß sie gedrungener sind, und das würde ein bezeichnendes Gegenstück abgeben zur Neigung frommer Spiritualisten, ihre Figuren schlanker zu malen. Als die Renaissance kommt, welche so manche Dinge, die früher Sünde waren, als irrelevant auffaßt und so die Seelen von manchem Druck befreit, verschwindet die Tendenz zum Übercharakteristischen, Scharfen und Eckigen zugunsten eines Strebens nach schöner Darstellung, und man sucht die natürlichen Proportionen nachzubilden. Der Teufelsdienst sinkt zum niederen Volk herab und verursacht die Hexenverfolgungen; die Künstler wenden sich der Karikatur zu, die jetzt plötzlich aufblüht; und wenn sie sich etwa einmal an satanistische Darstellungen machen, so haben diese durchaus nichts Charakteristisches; man denke nur an Hans Baldung Grien.

Es wird erzählt, daß selbst Atheisten und Materialisten heute in Paris an den teuflischen Zusammenkünften teilnehmen. Das ist sehr interessant und beweist, wie tief unter allen Plattheiten des bewußten Denkens die Triebe sitzen; aber es zeigt doch auch, daß man die Phänomene heute nicht mehr in ihrer völligen Reinheit erlangen kann, denn dazu gehört doch der feste Glaube an die Existenz Gottes. Gerade die tiefste Wollust wird doch erst in der Blasphemie gekostet, in der Schändung der geweihten Hostie und ähnlichem, mit der Aussicht auf ewige Höllenpein. Auch bei den modernen Künstlern des Satanismus findet man die störenden Nebenzüge. So ist Rops gelegentlich nur pornographisch und von oberflächlicher Eleganz; so ist Huysmans, der, wie « Â Rebours» zeigt, tiefe Züge zum Satanistischen hat, ein haltlos Schwankender, bei dem zuletzt eigentlich bloß die Sensation übrigbleibt. Auch Ibsen hat starke Verwandtschaft mit den dunklen Dingen; aber das scheint ihm nicht zum Bewußtsein gekommen zu sein und vermengt sich mit allerhand Epigonenromantik seiner ersten und Radikalismusplattheiten seiner zweiten Periode.

Und doch könnten uns solche verstreuten Momente zeigen, was eigentlich Kunst ist, uns, die wir heute eigentlich gar nichts mehr wissen von Kunst.

Die klassische Kunst war die letzte Weltanschauungskunst gewesen. Nach ihr verebbte sich alles immer mehr. An Stelle der Weltanschauung traten Parteimeinungen, dann wissenschaftliche Meinungen und zuletzt kunsthandwerkliche. Kunst ist aber mehr als ein bloßes Darstellen und Können; sie ist der Schrei aus der Seele des Künstlers, der Widerhall sucht in der Seele eines Beschauers.

Was drängt denn den Künstler zum Bilden, und zwar, was man nie vergessen sollte, zu einem Bilden mit der Rücksicht der Wirkung auf andere?

Jenseits des rein Vernünftigen in uns sind die dunklen Energien vorhanden, deren Kampf als Resultat unsere Persönlichkeit hat. Bei den gewöhnlichen Menschen von heute, den «Normalen», werden Äußerungen des Kampfes, soweit sie blind sind, völlig zurückgedrängt, und soweit sie sich in bewußten Gedanken und klaren Neigungen symbolisieren, nur soweit durchgelassen, als diese Gedanken und Neigungen mit denen der Menge übereinstimmen. Es sind Ausnahmenaturen, welche diese Äußerungen nicht derart zurückdrängen; und die Grade der «Anormalität» sind verschieden von bloß schwächerer Abwehr bis zu ihrer tatsächlichen Wirkung und Integrierung. Zu einer Zeit, wo man die Kunst noch nicht so handwerksmäßig auffaßte wie heute, sprach man von einem «Kainsmal» des Dichters. Der Phrase lag eine richtige Erkenntnis zugrunde: jenes Abschwächen des Irrationalen bei den Gewöhnlichen und das Abglimmen des Selbst auf die Umwelt bei ihnen entspringt einem Selbsterhaltungstrieb; der Integrationsprozeß des Persönlichen bei den Anderen hat eine beständige Reibung mit der übrigen Welt zur Folge. Was in jenem Prozeß gesucht wird, das ist schließlich doch unser transzendentales Subjekt, die Idee unseres Ichs, von der unsere empirische Persönlichkeit nur ein unzureichender und unzuverlässiger Schein ist. Was Nietzsche das typische Erlebnis eines Menschen nennt, das ist das Stoßen dieser Idee gegen die Wand der banalen Wirklichkeit; und das typische Erlebnis im höchsten Sinne und im erhabensten und reinsten Fall ist das Schicksal der Menschen. Deshalb können die gewöhnlichen Menschen gar kein Schicksal haben; ihr Leben ist lediglich ein einfaches Rechenexempel, trotzdem es sich darstellt als Resultat einer Unendlichkeit von wirkenden Faktoren: kennte man sie alle, so würde man sie in eine Formel zusammenstellen, und indem man diese ausrechnete, hätte man das Leben dieser Menschen. Diese Menschen sind nicht nur selbst zur produktiven Kunst unfähig, sie bieten auch keinen Gegenstand für den Künstler.

Wir haben uns daran gewöhnt, in der Welt keine unvermittelten konträren Gegensätze zu sehen; indem wir an eine allgemeine Entwicklung glauben und uns von der Natur sagen lassen, daß sie für sich keine Sprünge macht, finden wir überall nur eine Reihe kontradiktorischer Gegensätze, die vom Näheren zum immer Ferneren bis zum Konträren fortläuft. Wenn man aus den kärglichen Symbolen, dem dürftigen Schein, welchen wir von diesen Dingen in unser vernünftiges Leben bekommen, schließen könnte, gibt es nun aber in der hinter der vernünftigen liegenden intelligiblen Welt nur Licht und Nacht, Heiliges und Teuflisches. Der Mensch gehört entweder Ormuzd oder Ahriman.

Der satanistische Künstler ist ein Teil der nächtlichen Gewalten. Noch viel stärker als auf seinem Gegenspiel lastet auf ihm die sittliche Konvention der Gesellschaft, wird sein Integrationsstreben durch die Feindseligkeit und den psychischen Einfluß der dem bloßen Selbsterhaltungstrieb Unterliegenden gehemmt. Je mehr in Atome zersplittert die Gesellschaft ist, je schwächer der Einfluß der allgemeinen Sittlichkeit wird, oder auch je mehr er sich aus allen Banden, etwa der Familie, Nation, Gesellschaft, Klasse, befreit hat, desto eher wird er sich entfalten können. Für seine Entwicklung gelten die gleichen Voraussetzungen wie für die der sexuell Anormalen; daß diese heute zu größerem Selbstbewußtsein kommen und Aufhebung des auf ihnen lastenden Druckes verlangen, ist eben so ein Zeichen der Zersetzung unserer Gesellschaft. Genau wie bei dem edlen Künstler ist bei dem schlechten die Kunst ein Ruf an die Seele der Gleichgestimmten.

Wenn man erst einmal wieder die Ästhetik betrachtet von dem Standpunkt der Wirkung des Kunstwerkes auf den Aufnehmenden, an die Psychologie des Genießenden denkt und nicht mehr bloß dem Künstler ins Handwerk guckt, indem man Ästhetik betrachtet als Untersuchung über das Technische der Kunst, so wird man vielleicht die Gesetze entdecken, welche die Kunst der Satanisten zur Voraussetzung hat; wie die edle Kunst auf die Freude und das Glück sittlicher Erhebung, ästhetischer Reinheit und Freiheit und menschlicher Würde rechnet, so die satanische auf alles, was dem entgegengesetzt ist.

Es ist allgemein moderne Art, die Dinge nur verstehen zu wollen und keine Werturteile abzugeben. Der modernste Kritiker und Ästhetiker ist der, welcher psychologisch und historisch die Entstehung des Kunstwerks erklärt. Vielleicht kommt man später einmal dahin, daß es uns doch ganz gleich sein kann, ob wir von so etwas wissen oder nicht, und daß solche wie viele andere Erkenntnis, auf welche die moderne Wissenschaft und wir selbst mit ihr so stolz sind, selbst wenn sie erreicht würde, doch ganz sinnlos und zwecklos wäre. Da die Kunst sich doch an die Menschen richtet, so ist es sicher viel notwendiger, zu untersuchen, welchen Wert sie für die Menschen hat. Alsdann können wir die scheinbare Weitherzigkeit beurteilen, welche sich mit dem bloßen Verstehen des psychologischen Prozesses begnügt und allen verschiedenen Wallungen der verschiedenen Künstler das gleiche ästhetische Interesse entgegenbringt. Die Ästhetik ist doch genau so eine Wissenschaft von Beziehungen der Menschen untereinander wie die Ethik, und alles psychologische und soziologische Erkennen kann doch in beiden Wissenschaften nicht hindern, daß in ihnen Normen aufgestellt werden, deren Befolgung absolut notwendig ist.

Unsere Seelen sind gefangen in dieser Welt und streben heraus aus diesem Gefängnis. Sowohl die weiße wie die schwarze Mystik führt zu einer Negation des irdischen Seins. Das ist der tiefe Sinn der Tragödie, daß der Held untergehen muß; das ist derselbe Lebenssinn, der die Buddhisten in die Wälder trieb und die christlichen Frommen in ihre Einsiedeleien und die Guten von heute zur Abschließung, und der teuflische Sekten zur Selbstentmannung und zum Mord treibt, zu Zaubereien und böser Fernwirkung wie zur allmählichen Selbstverbrennung in wüstem Ausschweifen und Leiden. Nur der Unterschied ist, daß der lebensfeindliche Zug bei den einen aus Freudigkeit, Glück und Güte kommt, bei den anderen aus Bosheit und Unrast; man halte nur die beiden abgeschwächten Modernen, Tolstoi und Rops, gegeneinander.

Dieser unwiderstehliche Drang kann doch nur den einen Sinn haben, daß durch die Negation des Irdischen die Geister frei werden wollen; dann aber, wenn die Hemmnisse irdischer Bedürftigkeit gefallen sind, muß doch zwischen den beiden Feinden von Anfang her ein furchtbarer Kampf entbrennen, wie ihn etwa die Mythen der Gnostiker ahnen lassen. Die Gegensätze in der Kunst sind nur ein Vorspiel dazu. Darum muß alles, was sich zum Guten rechnet, sich schon hier gegen das Schlechte kehren. Als man noch an einen persönlichen Teufel glaubte, schrieb man ihm die Beherrschung aller Listen zu: das Teuflische in der Kunst ist die gefährlichste dieser Listen.

Altitaliänische Novellen

Aus einer Selbstanzeige (1902)

Die italienische Novellenliteratur hat eine lange Blüte gehabt; vier Jahrhunderte hindurch hat sie klassische Werke hervorgebracht. Der Grund ist: gleich bei ihrem Beginn schuf der große Künstler Boccaccio, als er aus der Anekdote die Novelle entwickelte, technisch so vollendete Beispiele, daß selbst der aristotelische Gesetzgeber der Novelle, Francesco Bonciani, in seiner viel späteren Zeit doch in keinem Stück theoretisch über seine Praxis hinauskommen konnte. Das gesunde Stilgefühl der Italiener und die hohe Verehrung, die Boccaccio neben Dante und Petrarca als Sprachschöpfer genoß, verhinderten die Novellisten lange, von diesem großen Beispiel abzuweichen; auch zur Zeit des Schwulstes wurden immer noch Stücke im klassischen Stil geschrieben, und endgültig abgeschlossen wurde die gute Zeit erst unter dem englischen Einfluß, der in anderen Ländern ja umgekehrt zu Natur und Einfachheit zurückgeführt hat. Sogar der Kreis der Motive und Stoffe ward von den Nachfolgern Boccaccios kaum erweitert: immer wieder werden Taten ritterlicher Großmut, naiver und edler jugendlicher Liebe, pfäffischer Schlauheit, weiblicher List und übermütiger Fopperei der Dummen erzählt. Der Deutsche, der ein Hauptgewicht auf die Charaktere der handelnden Personen legt, wundert sich über die ewige Wiederholung der selben Typen: der sinnliche, geriebene Pfaffe, die verliebte, nie um Auskunft verlegene Frau, der unerschrockene Liebhaber, der betrogene Ehemann, der angeführte Dummkopf, die edle, kindliche, tapfere Jungfrau, der vornehme, hochgesittete Jüngling, der weise und stolze Herr und so weiter, das ganze Personal der alten französischen Versschwänke, die Italien die meisten Motive geliefert haben. Und was noch merkwürdiger ist, bis zum Ende (wenn man die Richtung des Schwulstes ausnimmt) ohne jeden Einfluß der inzwischen doch sehr veränderten Zeitverhältnisse: noch im 18. Jahrhundert herrscht in der italienischen Literatur dieselbe ritterliche und höfische Gesinnung wie in Frankreich im zwölften und die Gefühle wurden noch nach den Ständen scharf unterschieden. Wenn man die französische Prosadichtung einmal genauer untersuchte, die ja sehr mühsam zu erforschen ist, weil in ihr die langausholenden Romane überwiegen, so würde man auch da bis zum Durchdringen des englischen Einflusses die höfische Gesinnung vorwiegend finden; nur hat sie hier keine klassischen Werke geschaffen, denn die stereotype Psychologie macht die Romane ungenießbar, weil wir hier größere Mannigfaltigkeit verlangen, während sie für die Novelle ganz vorteilhaft ist, denn diese will nur einen Vorgang erzählen und erspart, genau wie das Lustspiel, durch Verwendung feststehender Typen dem Leser viel Kraft für ihren wesentlichen Zweck. Aus dieser Andeutung kann man sich auch erklären, weshalb heute die Novelle in Verfall geraten ist und an ihre Stelle der Roman tritt, für den bis jetzt doch noch keine feste Kunstform gefunden ist und der vielleicht immer nur Halbkunst bleiben wird.

Bunte Welt (1920)

Man stelle sich eine kluge und hochgebildete Gesellschaft vor, welche alles vereint, was durch Geist, Begabung, Stellung, Macht und Reichtum oben steht; welche ganz frei von Vorurteilen ist und das Herkommen richtig einzuschätzen weiß als eine Form, nicht als einen Gehalt; welche in einem Volk lebt, das selber natürlich und wahr empfindet, auch in seinen untersten Schichten klug und begabt ist und immer in vernünftigen menschlichen Beziehungen zu der obern Schicht steht: also weder von ihr unterdrückt wird, noch sie haßt, und vor dem Geist immer die gebührende Achtung hat; und in einem Lande, das durch seine herrliche Natur und bedeutende Geschichte immer Veranlassung gibt zu geistiger Betätigung. Man stelle sich vor, daß in einer solchen Gesellschaft die Kunstform der Novelle lebendig ist, die von einem großen Geist dieses Volkes geschaffen wurde, so, daß ihre begabtesten Mitglieder die Geschehnisse sofort in Novellenform empfinden: also das Zufällige auf das Urbildliche zurückzuführen verstehen, nicht an Klatsch denken, sondern an den Menschen; und so, daß es eine Art gesellschaftlicher Unterhaltung ist, sich Begebnisse in Novellenform zu erzählen: bewußt also das Erlebte in der Erzählung gleich zum Kunstwerk umzubilden. Man stelle sich in dieser Gesellschaft einen klugen Mann vor, der wohl nicht gerade ein Dichter ist, aber doch dichterisch begabt, der einer alten Familie angehört, also durch Bildung und Herkunft teil an der Gesellschaft hat, aber nicht sehr bemittelt ist und deshalb das Wohlwollen der Vornehmen und Mächtigen des Kreises bewahren muß. Dieser Mann zeichne die Novellen auf, welche er in seinem Kreis gehört hat, in der Absicht, seine mächtigen Gönner zu erfreuen, und in seinem langen Leben sammle er solcher Aufzeichnungen eine große Menge, die er dann herausgebe. In den Bänden dieser Sammlung wird man dann, von einer gesellschaftlichen und menschlichen Höhe gesehen, welche durchaus der Höhe des Dichters entspricht, eine ganze Welt vor sich aufgerollt finden.

Das ist der Fall des Novellisten Bandello.

Bandello war Geistlicher und starb als Bistumsverweser von Agen um 1562. Die Deutschen haben zu den Männern seiner Art noch immer nicht das richtige Verhältnis gefunden und sehen sie immer noch durch die Brille, welche die Reformation ihnen aufgesetzt hat. Die Reformation war ja gewiß eine bedeutende Leistung; aber es gehört zu ihr, daß sie solche Erscheinungen mißverstand. Es erscheint jetzt eine vollständige deutsche Übersetzung seiner Novellen; ich wünschte, daß sie rechten Einfluß bei uns bekäme, denn sie würde gewiß zur Entwicklung unserer Gesittung viel beitragen.

Wir haben heute die Form des Romans für die künstlerische Mitteilung eines größeren und weiteren Weltbildes. Die Form hat ihre künstlerischen Schwächen, denn es mangelt ihr die Geschlossenheit, welche allein das wirkliche Kunstwerk bilden kann, und sie wird darin von der Einzelnovelle übertroffen, welche eine solche Geschlossenheit haben kann, daß in ihr jeder Satz zum mindesten, vielleicht sogar jedes Wort seine formale Notwendigkeit hat. Die Form hat auch ihre Schwächen als Mitteilung des Weltbildes, denn sie enthält zuviel Unbedeutendes, Nebensächliches und dem Zeitgeschmack Unterliegendes. Eine Novellensammlung gibt gleichfalls ein Bild der Welt. Aber hier ist alles auf den Menschen bezogen und um ihn geordnet, es ist ein Weltbild rein menschlicher Art, das nie Überflüssiges enthalten kann und, wenn es gut geschrieben ist, dem Zeitgeschmack nicht unterliegt. Die Novellensammlung Bandellos gibt uns ein Bild der bunten Welt, immer abgezogen auf den Menschen, seine Leidenschaften und Handlungen, wie es leichter und heiterer nicht zu denken ist: da sind Edelmut und Gemeinheit, Narrheit und Klugheit, Liebe und Laster, Sinnlichkeit und Sitte, Ehre und Schamlosigkeit, Tugend, Vernunft, Unvernunft, Natur, Unnatur – alles, was den Menschen ausmacht und ausmachen kann.

Die Renaissance ist ja Mode gewesen – gewesen, denn man «überwindet» sie ja jetzt. Mag die Modetorheit schwinden und damit alles nur zeitlich Bedingte, das sie hatte, wieder aus unserem Gesichtskreis zurücktreten; das wäre zu wünschen, daß durch diese Mode solche Bücher wie der Bandello unser geistiges Eigentum würden; wir können die Bildung durch sie sehr gebrauchen.

«Die Geschichte der Bürgerkriege von Granada»

Ein Vorwort (1913)

Die älteren und wertvollen Ritterromane sind Prosaauflösungen noch früherer Versromane – mit Unrecht würde man diese Dichtungen als «Epen» bezeichnen – und die ältesten und wertvollsten von diesen sind wieder entstanden aus noch älteren Balladen und Romanzen. Man muß bei diesen Werken der mittelalterlichen Dichtung sehr streng zwischen den alten echten Büchern und den späteren Nachahmungen unterscheiden, die meistens als Fortsetzungen oder als Erzählungen von den Söhnen, Enkeln und Urenkeln des ursprünglichen Helden bezeichnet werden. Denn so schön die alten Bücher sind, so elend sind meistens die Nachahmungen; und das durchaus unverdiente Schicksal der Vergessenheit, welches diese Werke getroffen hat, ist durch die Albernheit dieser Nachahmungen erzeugt, welche zuletzt die echten Werke fast ganz verdrängt hatten: wie ja wohl immer in der Kunst das Schlechte das Gute verdrängt, dem es ähnlich ist.

Die Guerras civiles de Granada nehmen unter diesen Romanen eine besondere Stelle ein.

Schon Friedrich Schlegel hat darauf hingewiesen, daß in Spanien die mittelalterliche Literatur sich am spätesten entwickelt und am längsten gehalten hat, und daß man die große Menge der älteren spanischen Lyriker mit den Troubadours und Minnesängern zusammenstellen müsse. Die Guerras civiles sind sehr spät geschrieben; ein Gines Pérez de Hita, der im 16. Jahrhundert lebte, wird als Verfasser genannt. Der erste Druck des ersten Buches stammt von 1588; das zweite Buch, das man vielleicht mit jenen oben charakterisierten Nachahmungen vergleichen kann und das mir persönlich einen andern Verfasser zu haben scheint, erschien zuerst 1604. Der grundlegende Unterschied von allen andern Ritterromanen ist, daß die Erzählung nicht die Prosaauflösung eines Versromanes ist, sondern unmittelbar nach den alten Romanzen ausgearbeitet wurde. Die Ausarbeitung hält sich sehr treu an die Originale, die sie häufig selbst anführt. So haben wir in dem Werk ein Stück Volkspoesie vor uns, wenn man den Ausdruck Volkspoesie in dem einzig richtigen Sinn nehmen will, nämlich als Dichtung, die zwar von Einzelnen geschaffen wurde, die aber unbekannt geblieben sind und so im gemeinsamen Geiste des Volkes dichteten, daß ihre Werke sogleich vom ganzen Volk aufgenommen wurden. Es liegen den einzelnen Stücken nicht nur historische Vorgänge zugrunde, sondern die ganze Erzählung hält sich auch streng an den historischen Vorgang, der freilich so geglaubt wird, wie ihn das Volk sich nach kurzer Zeit erzählt, nicht wie er in schriftlichen Aufzeichnungen von Beobachtern festgelegt oder aus gleichzeitigen Aktenstücken von Gelehrten kombiniert ist. Dadurch ist der bloße Stoff bereits poetisch geworden, vor allem indem an die Stelle der staatlichen Beweggründe allgemein menschliche getreten sind und durch das mündliche Erzählen, so getreu es auch das Geschehene berichten will und auch wirklich berichtet, bereits in Gliederung und Aufbau ein künstlerischer Rhythmus sich entwickelt hat. So sind denn die alten Romanzen ganz sachlich, ohne Phrase, ohne falsche Gefühlstöne. Der Verfasser, besonders der des ersten Buches, hat diese edle und schöne Einfalt in seiner reinen und klaren Prosa beibehalten. Die Vorgänge selbst, der Stoff des Buches, sind so schön und ergreifend, so bedeutend und groß, daß durch dieses glückliche Zusammentreffen eines der vorzüglichsten Bücher der Weltliteratur geschaffen ist.

Die Spanier haben in ganz kurzer Zeit eine erstaunliche Höhe der Literatur erreicht: von den modernen Völkern haben sie wohl die schönste und reichste Dichtung. Ein Zusammenwirken verschiedener Ursachen hat diese Dichtung bei ihnen selber sehr zurückgedrängt und durch die Nachahmung fremder Vorbilder lange die dichterische Kraft brachgelegt. Die Abgeschlossenheit der Nation kam dazu, das übrige Europa in Unkenntnis über ihre herrlichen Schätze zu halten, und die langjährigen literarischen Hauptvermittler zwischen Spanien und den übrigen Ländern, die Franzosen, waren gerade die ungeeignetsten, die man für dieses Geschäft hätte finden können. So konnte es geschehen, daß nicht nur das vorliegende Werk, sondern vieles andere Herrliche und Schöne aus Spanien jahrhundertelang fast unbekannt blieb. Erscheint doch erst jetzt eine Gesamtausgabe des größten spanischen Dichters, des Lope de Vega, nachdem seine Werke, vor allem seine Dramen, jahrhundertelang in ungenauen und dazu fast unauffindbaren alten Ausgaben – von der gedruckten Sammlung der Dramen sollen nur zwei vollständige Exemplare bekannt sein – vorlagen und ein großer Teil seiner Arbeiten überhaupt nie im Druck erschienen war.

Von den Guerras civiles wird wohl die letzte Ausgabe die in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Paris in der Sammlung der Autores españoles erschienene Ausgabe sein, die auch schon längst vergriffen ist. Dieser gegenwärtigen Übersetzung liegt ein alter Brüsseler Druck von Verdussen zugrunde, der eine häufig fragwürdige Erklärung schwieriger Worte in französischer Sprache enthält. Am zugänglichsten war das Buch wohl bis jetzt in der nicht sehr selten vorkommenden französischen Übersetzung von Sané, die 1809 in Paris in zwei großen Quartbänden erschien. Sie ist sehr frei, wie die französischen Übersetzungen häufig, und versüßlicht den alten Autor in recht unangenehmer Weise. Nach dieser sehr wenig empfehlenswerten Übersetzung wurde eine deutsche Bearbeitung gemacht, deren Verfasser zu ihr ungefähr in dem Verhältnis steht, wie Sané zu dem Original. Ein Fragment ist aus dem Original übersetzt im ersten Band von Bertuchs «Magazin der spanischen und portugiesischen Literatur 1780». Diese, wohl von Bertuch selbst herrührende Arbeit ist sehr gut und treu, aber sie ist eben auch nur Fragment.

Die vorliegende Übersetzung ist auf meine Anregung von Paul Weiland gemacht. Der hochbegabte, noch nicht dreißigjährige Mann wurde, als er die Arbeit noch nicht ganz vollendet hatte, der Literatur, seinen Eltern und Freunden durch einen plötzlichen Tod entrissen. Möge dieses Buch, an welches er seine ganze schöne Kraft und seinen edlen Willen setzte, seinen Namen erhalten, den er, wäre ihm ein längeres Leben vergönnt gewesen, mit einem größeren Ruhme geschmückt hätte.


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