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Der ferne Osten

Chinesische Märchen

(1915)

Von allen Kulturvölkern sind die Chinesen uns am fremdesten. Wir machen uns die Bedeutung der chinesischen Kultur selten klar genug: ungefähr gleichzeitig sind viele Jahrtausende vor Christus an drei Stellen die ersten Anfänge der Kultur entstanden: Zwischen Hoangho und Yangsekian, zwischen Euphrat und Tigris und im Niltal. Der eine Teil der menschlichen Kultur, der, dem wir selber angehören, hat sich auf Babylon und Ägypten aufgebaut, der andere Teil, der chinesische, auf dem Lande zwischen den beiden großen chinesischen Flüssen. Bei uns ging die Kultur von einem Volk zum andern, gingen Staaten, Reiche und Völker zugrunde, waren verschiedene Rassen ihre Träger: wir leben heute von den Gedanken und Gefühlen der Völker von Sumer und Akkad, der Assyrer, Ägypter, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner, Germanen, Italiener, Spanier, Franzosen, Deutschen, Engländer, Amerikaner; bei den Chinesen hat sich in einer Rasse, konzentrisch sich um das älteste Kulturland legend, die Kultur langsam verbreitet. Gewiß war auch hier ein Auf und Nieder, aber doch immer nur innerhalb eines Volkes, und die systematische Weiterbildung wurde wohl gestört, aber nicht verworfen, wenn ein Ausdruck aus der Bergmannssprache erlaubt ist, der mit diesem Wort bezeichnet, wenn ein Gang an einer Stelle plötzlich aufhört und an einer ganz anderen Stelle wieder beginnt. Wenn man allein erwägt, welchen Einfluß die Sprache auf die Kulturentwicklung hat, so muß man schon erwarten, daß die Chinesen etwas geschaffen haben, das sich bei keinem andern Kulturvolk findet.

Es wird, wenigstens für den, der die Sprache der Künste versteht, nie ein besseres Mittel geben, ein Volk kennen zu lernen, wie seine Kunst. Auch hier freilich begegnen uns ungeheure Schwierigkeiten. Die Musik der Chinesen ist uns wohl bis auf weiteres noch ganz unverständlich. Bei der Malerei beginnen wir vielleicht zu verstehen, was sie wollen – zu verstehen, was sie wollen; also wir sind noch weit entfernt, ihre Malerei mitzufühlen. Näher steht uns vielleicht die Plastik, und gewisse Ahnungen beginnen wir von ihrer Architektur zu bekommen. Verhältnismäßig am zugänglichsten wird ja immer die Dichtung sein; und von der Dichtung, da sie am meisten stofflich bedingt ist, die Erzählung; wobei wir uns dann freilich hüten müssen, wenn wir den Inhalt einer Geschichte begriffen haben, zu glauben, daß wir nun ihre eigentümliche Seele, also ihre Kunst, kennen.

Es ist denn so nicht wunderlich, wenn die Männer, die die fremde Sprache beherrschen und uns das fremde Volk nahe bringen wollen, so gern Erzählungen übersetzen. Eine reizende neue Sammlung gibt zu diesen Ausführungen Veranlassung – die Chinesischen Volksmärchen, die Richard Wilhelm übersetzt hat.

Schon das ist sehr merkwürdig. China hat eine entschieden sehr hohe Zivilisation: wie man nach vertrauenswürdigen Schilderungen glauben kann, daß der Durchschnitt kultivierter und gebildeter ist wie bei uns, so kann man auch annehmen, daß die Zivilisation der unsrigen nicht sehr nachsteht. Dennoch hat, trotzdem das Volk von Hause aus sicher prosaischer gesinnt ist wie die meisten Völker unseres Kulturkreises, diese Zivilisation offenbar doch nicht prosaisch machend gewirkt. Es muß das wohl damit zusammenhängen, daß sie so ganz organisch aus dem Volk entstanden ist. Unter Umständen wird sie in der reizendsten Weise persifliert; so zum Beispiel, wenn in der Geisterwelt eine richtige Beamtenhierarchie mit bürokratischen Formen dargestellt wird. Bei uns wird das Märchen sehr selten frühere gesellschaftliche Zustände verlassen, die vor unserer zivilisierten Zeit liegen.

Daraus ergibt sich eine eigentümliche innige Poesie. Das Märchen, als das höchste Poetische, wird nicht in eine ferne Zeit verlegt, in welche wir uns mit sehnsüchtiger Phantasie hineinversetzen müssen, sondern es lebt noch heute mitten unter dem Volk als geschehend: Ein Gelehrter sieht, wie ein Drache als kleiner Wurm aus seinen Büchern kriecht, zwischen denen er überwintert hat; er nimmt ihn auf die Hand, trägt ihn vor die Tür; der Drache schwillt an und entfliegt ihm; ein anderer Gelehrter wird von den Elfen aus den Blumen seines Gartens besucht, die sich bei ihm über ihre bösen Tanten beklagen. Das war gestern und kann morgen wieder sein.

Wo bei uns Überreste früherer poetischer Naturbetrachtung und religiösen Denkens noch im Volk vorhanden sind, da empfinden wir Aberglauben und müssen eben rohe Überbleibsel empfinden, die oft nicht mehr verstanden sind und sicher auf Tiefstand der Bildung deuten; nur bei zurückgebliebenen Teilen des Volkes haben sich solche Glauben erhalten. Die Erzählungen des vorliegenden Buches sind aber mit der höchsten, kultiviertesten Kunst geschrieben; die poetische Gesinnung ist bei den Höchstgebildeten, und zwar nicht in mißverstandenen Bruchstücken, sondern in der schönsten Ausbildung.

Es wird uns schwer, uns das vorzustellen. Aber wenn wir es uns ganz klar machen, daß ein großes gebildetes Volk noch ganz naiv in einer poetischen Welt lebt, dann können wir uns vielleicht manche Unbegreiflichkeiten dieser merkwürdigen Nation erklären, können uns auch erklären, daß ihm das Geistige immer noch eine größere Macht ist wie das Materielle.

Es soll damit natürlich nicht behauptet werden, daß die Märchengestalten etwa den gleichen Grad von Realität für diese Leute haben wie die gewöhnliche Wirklichkeit. Man versteht ja auch den Aberglauben unserer Landleute falsch, wenn man annimmt, ein Holzweiblein sei für sie gleich wahr wie Nachbar Lehmann. Man empfindet verschiedene Stufen der Realität und ist noch nicht bei der trostlosen Weisheit angekommen, daß alles, was man nicht greifen kann, nur eine törichte Einbildung ist. In den exakten Wissenschaften haben ja solche Wesen nichts zu tun; aber leider haben wir vergessen, daß es auch Lebensgebiete gibt, in denen die exakten Wissenschaften nichts zu tun haben.

In einigen der Geschichten spielen Geister von Verstorbenen eine Rolle, die freundlich und freundschaftlich mit den Menschen verkehren und für Menschen gleich den andern gehalten werden. Nichts Düsteres, Unheimliches ist in diesen Märchen; diese Beziehungen sind ruhig und natürlich wie alle anderen Beziehungen. Auch hier sehen wir, wie die Poesie das ganze wirkliche Leben durchtränkt hat und dadurch eine neue Heiterkeit und Leichtigkeit schafft. Menschen, die imstande sind, solche poetischen Vorstellungen vom Tode zu haben, müssen dem Tod doch ruhiger entgegensehen wie wir, müssen dadurch in ihr gesamtes Leben eine große Gleichgültigkeit bringen.

Diese merkwürdigen Märchen sind nun mit einer außerordentlichen Darstellungskraft erzählt, und mit einer Anmut und Grazie, die unübertrefflich ist.

Vielleicht ist auch diese Anmut nicht so einfach zu erklären. Wir finden bei alten Völkern oft, daß sie in ihrer Kunst einen hohen Wert auf die Anmut setzen, wie jugendliche Völker das Gewaltige und Tragische besonders zu lieben pflegen; sollte hier nicht eine hohe menschliche und künstlerische Weisheit verborgen liegen? Man muß an die Entwicklung großer Dichter denken, die, wenn sie ganz zur Reife gelangten, das Furchtbare und Schreckliche heiter darstellen konnten.

Chinesische Weisheit

(1926)

In Zeiten allgemeiner Umbildung aller Verhältnisse und Zustände pflegen Einwirkungen fremder Völker und Verhältnisse sich stärker geltend zu machen als in ruhigen Zeiten. Die Menschheit, die neue Gesetze und Formen sucht, hofft mit Hilfe der fremden Anregungen schaffen zu können, was sie braucht.

So muß man den heutigen Einfluß der chinesischen Kultur auf Europa, besonders auf Deutschland, auffassen. Auch China ist in den allgemeinen Zerstörungswirbel der heutigen Welt hineingezogen. Aber wohl alle, die es genauer kennen, sind überzeugt, daß es wieder zu neuer Ordnung kommt, denn die Grundlagen seines Lebens sind so sicher und fest, daß der nötige Neubau auf ihm keine Schwierigkeiten machen wird. In Europa wird man viel mehr Arbeit gebrauchen, wird viel mehr Zeit vergehen, ehe eine neue Ordnung wieder kommen kann.

Jede Gesellschaft ruht auf einem sittlich-religiösen Ideal. Unsere Feindvölker im Weltkrieg hatten ein solches, das längst zerstört ist, das nur noch als leere Phrase wirkte. Wir selber hatten die protestantisch-kantische Idee der Pflicht, der Entäußerung der Persönlichkeit unter ein objektives Ziel, die dem preußisch-deutschen Reich zugrunde lag. Diese Idee ist die letzte bedeutende geistige Schöpfung Europas gewesen: sie hat sich zu andern Völkern nicht verbreitet, weil sie zu schwer zu verstehen war; und sie hat sich nicht als widerstandsfähig bei der schwersten Probe erwiesen durch einen inneren Fehler: es war nicht festgesetzt, wo nun das objektive Ziel sein sollte; der Inhalt der Pflicht war geschichtlich-zufällig und nicht religiös-ewig.

Die Idee des chinesischen Volks ist uralt: sie hat schon durch Jahrtausende ihren Wert bekundet. Das ist schon viel. Und sie ist natürlicher, als diese deutsche Idee war, sie erfordert nicht diesen Zwang, sie teilt sich von selber andern mit, sie hat Überzeugungskraft durch sich allein, ähnlich wie ihrer Zeit die heute so fadenscheinige Idee der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hatte. Es lohnt sich wohl, sie sich kurz klarzumachen.

Zwei große Gedankenkreise beherrschen das chinesische Volk, die sich scheinbar bekämpfen, in Wirklichkeit sich ergänzen: die Lehre des Konfuzius und die Lehre des Laotse. Wir brauchen sie für unsern Zweck nicht voneinander zu halten: ihre Zusammenwirkung und ihr Kampf sind eben das, was man die «chinesische Idee» nennen kann.

Von allem Anfang war es den Chinesen klar, daß ein Volk nicht eine Anzahl einzelner Menschen ist, sondern ein einheitliches Wesen, das seine eigenen Lebensgesetze hat. Soweit wir in Europa zurücksehen, immer werden wir finden, daß der Denker mit dem einzelnen Menschen beginnt. Soweit wir in China zurücksehen, immer werden wir finden, daß das Leben der Gesamtheit von dem Denker untersucht wird. Das «Buch der Wandlungen» hat einen Ursprung, der über die geschichtliche Erinnerung hinausgeht, es ist also älter als alles, was wir in Europa an Literatur haben. In diesem Buch wird – ich zitiere den Kommentar, da der Text hier unverständlich wäre – etwa gesagt: «Das starre Stehenbleiben beim Hergebrachten hat Verderben zur Folge gehabt. Aber das Verderben ist noch nicht tief eingewurzelt, deshalb kann es noch leicht gebessert werden. Es ist, wie wenn ein Sohn das Verderben, das unter seinem Vater sich eingeschlichen hat, ausgleicht. Da bleibt auf dem Vater kein Makel sitzen. Aber man darf die Fehler nicht übersehen und die Sache zu leicht nehmen. Nur wenn man sich der mit jeder Reform verbundenen Gefahr bewußt ist, geht schließlich alles gut.»

Nicht um Gott und Welt, um Gut und Böse, um Sünde und Erlösung, um Seele und Leib dreht sich das älteste Denken in China, sondern darum: Wie kann ein Volk in Ordnung bleiben? Nie werden wir bei einem Chinesen eine Antwort finden auf die wichtigsten religiösen Fragen, neben denen alle anderen Fragen ja keine Bedeutung haben; aber über die politischen Dinge hat das Volk seit Jahrtausenden nachgedacht. Es weiß, was die Europäer noch nicht wissen, daß es seelische Gesetze des öffentlichen Lebens gibt, die der Mann kennen muß, der herrschen will.

Es weiß also auch, daß Herrschen nötig ist. Herrschen aber nicht in der kindlichen Weise, wie wir es in Europa noch immer auffassen, sondern als Lenken der Bewegungen der Gesamtheit nach Erkenntnis von deren Gesetzen. Nicht der würde im chinesischen Sinn ein Staatsmann sein, der an irgendeine Parteilehre glaubt, gar irgendwelche Interessen einer Klasse in der Gesellschaft, die in Klassen zersplittert ist, vertritt, sondern der, welcher die Gier der Einzelnen und der Klassen überwunden hat, der überhaupt nicht mehr inhaltlich irgendwie festgelegt ist, sondern für den die politische Bewegung ein reines Formproblem geworden ist. Er ist der Mann, der in den Übersetzungen «der Edle» genannt zu werden pflegt.

Was hier gemeint ist, das ist schwer für uns zu verstehen. Am ersten mag man es sich klarmachen, wenn man an die entsprechende Bewegung in der Kunst denkt. Für den wirklichen Künstler gibt es keine Inhalte mehr, gibt es nur Formaufgaben; alles was auf einem niedrigeren Standpunkt als Inhalt erscheint, das ist für ihn Form geworden. Man versteht, daß bei einer solchen Anschauung alle europäische Staatskunst als roher Naturalismus erscheinen muß.

Auch der Grundsatz der Pflicht, auf dem unser deutsches Staatswesen aufgebaut war, hatte formalen Charakter. Aber das war nur Schein. Die Pflicht brauchte immer einen Inhalt, der von außen hinzukam, der dann als selbstverständlich erschien, wie etwa in der alten Kantischen Formulierung die allgemeine Bürgerlichkeit. Die Idee des chinesischen Edlen ist wirklich rein formal. Sie ist deshalb auch an keine Nation gebunden, sie ist übernational, wie es etwa die Lehren der Mathematik sind.

Es ist selbstverständlich, daß heute, da chinesisches Denken fast eine Modesache geworden ist, viel Mißverständnis aufkommt. Es ist sehr schwer zu verstehen, denn es setzt voraus, daß man alle europäischen Vorstellungen über diese Dinge, ja, selbst die Art des Denkens in Europa, vergißt. Besonders wird mit Laotse viel Unfug getrieben. Wer sich unterrichten will, der wird immer am besten tun, wenn er sich an die alten Meister selber wendet; und am ersten wird er sich hineindenken, wenn er nicht mit den ganz großen beginnt, sondern etwa mit Dschuang-Dsi und Liä-Dsi.

Chinesische Lyrik

(1929)

In einer kalten Herbstnacht ging Theophile Gautier aus einer Freundesgesellschaft nach Hause. Er mußte eine Seinebrücke überschreiten. Da hörte er unter sich ein leises Klagen. Er schaute nach und fand einen Mann unten zusammengekrümmt, der sich die geschützte Stelle als Nachtlager ausgesucht hatte. Der Mann war ein Chinese, mit seinem schwarzen Zopf, dem Käppchen, dem dünnen blauen Kittelchen.

Der gute Theophile zog den klappernden Mann vor und befragte ihn. Damals hatte ein berühmter Gelehrter in Paris gelebt, der Bücher über die chinesischen Verhältnisse geschrieben hatte. Da er aber nicht selber Chinesisch konnte, so hatte er sich einen unberühmten chinesischen Gelehrten mitgebracht, der ihm den Inhalt für seine Werke liefern mußte. Dieser unberühmte chinesische Gelehrte war so ein unpraktischer Mensch, daß er die ganzen Jahre in dem Haus des berühmten französischen Gelehrten in einem Hinterstübchen zwischen seinen Büchern lebte, niemals auf die Straße ging, nichts von Paris sah und keinen Menschen kennenlernte. Als der berühmte französische Gelehrte starb, da kamen die Erben und fanden ihn vor, und da sie keine wissenschaftlichen Werke über China schreiben wollten, so sagten sie ihm, er könne gehen und sich ein anderes Unterkommen suchen.

Was sollte Tin-Tun-Ling, so hieß der Chinese, nun machen? Er irrte traurig durch die Straßen der großen Stadt, in welcher niemand ihn kannte und zu einem bescheidenen Essen einlud; es hungerte ihn, und der Abend kam herauf; die Laternen wurden angesteckt, und es fand sich noch immer niemand, der ihn mit sich nehmen wollte; die Straßen wurden leerer, und er wurde müde; so suchte er denn unter der Brücke ein Plätzchen, wo er sich hinkauern konnte, um vielleicht ein paar Stunden zu schlafen, bis am nächsten Morgen Milchwagen und Bäckerjungen kamen.

Theophile war ein Dichter; ganz gewiß kein guter; man kann vielleicht sagen: ein recht schwacher; aber immerhin, er war ein Dichter, jedenfalls hatte er den leichten Sinn und die Gutmütigkeit des Dichters. Und auch Tin-Tun-Ling war ein Dichter, außer, daß er ein Gelehrter war; die beiden Männer erkannten sich, Theophile nahm Tin-Tun-Ling unter den Arm und brachte ihn mit nach Hause.

Da hatte er ihn nun und wurde ihn natürlich nicht wieder los. Tin-Tun-Ling lebte bei ihm, er las seine chinesischen Bücher, er spielte mit den Kindern und erzählte ihnen Geschichten, er hütete das Haus und hatte ein Auge auf die Dienstboten, kurz und gut, er war unentbehrlich.

Die begabte Judith, das Töchterchen Gautiers, hatte er besonders in sein Herz geschlossen. Er hielt das Kind auf den Knien und sprach ihm von dem, was seinem Herzen das Nächste, seinem Geist das Wichtigste war, von den chinesischen Dichtern, und übersetzte die chinesischen Verse in unbeholfene französische Sätze.

Die chinesische Dichtung hat sehr strenge Formen, die wir unmöglich nachbilden können, weil die Sprache eine ganz andere Natur hat. Aber durch die gestotterte und gestammelte Prosaübersetzung der chinesischen Worte hindurch fühlte Judith den großen Geist dieser Dichtung, sie nahm von ihr auf, was der Nicht-Chinese von ihr aufnehmen kann. Und als sie ein junges Mädchen war, da setzte sie sich mit Tin-Tun-Ling zusammen, ließ sich eine Reihe von Gedichten, welche ihm die schönsten schienen, wörtlich übersetzt vorsagen und bildete sie in französische Prosasätze um. Sie ließ ein dünnes Büchlein von 172 Seiten von ihnen drucken, in kleiner Auflage auf schönem Papier: « Le livre de Jade par Judith Walter, Paris, Alphonse Lemerre 1867», und gab es in die Welt. Das Büchlein war bald vergriffen und wurde nicht wieder gedruckt; aber alle Leute, welche Dichtung lieben, kannten und lasen es, und gewiß hat jedes der Exemplare, welche gedruckt wurden, schon viele Menschen erfreut und beglückt.

Etwa fünfunddreißig Jahre mögen es her sein, daß ich durch einen französischen Freund, einen nun auch längst verstorbenen Dichter, von dem Buch hörte. Ich ruhte nicht, bis ich es mir verschafft hatte; ich mußte für meine Verhältnisse viel Geld dafür ausgeben, aber dann war es auch ein Bändchen, wie es sein mußte: in roten Maroquin gebunden und schön verziert. Als ich es las, da wurde mir zum erstenmal klar, was Lyrik sein kann.

Es ist wohl so, daß Dichter die allgemeinen Bewegungen der Völker früher fühlen als die anderen. Schon lange hatte ich die Ahnung, daß in der chinesischen Kultur manche Aufgaben gelöst sind, um welche wir heute uns bemühen müssen, und so habe ich manches Entlegene über China und Chinesisches gelesen. Heute, wo der Zusammenbruch Europas offenkundig ist und hier und da auch schon die Einsicht in die letzten Ursachen dieses Zusammenbruches beginnt, wird immer mehr übersetzt und zugänglich gemacht. Auch von chinesischer Lyrik, von der mir damals nur die Straußische Übersetzung des Schiking und ein älteres französisches Buch, eine Auswahl von Gedichten aus der Tang-Zeit d'Hervey-Saint-Denys «Poésies de l'époque des Thang». Paris 1852 (Anm. des Herausgebers) , in die Hand kam, ist nun noch manches bekannt geworden. An mein altes Livre de Jade mußte ich denken, als ich das zierliche Bändchen in die Hand bekam, das Verse von Po-Chü-i in Übersetzung enthält (Lieder eines chinesischen Dichters und Trinkers, übertragen von L. Woitsch, Verlag der Asia major, Leipzig). Ich möchte es auf das wärmste empfehlen.

Die Chinesen haben eine organische Kultur. Dichtung wird bei ihnen also nicht wie bei uns Literatur, und Malerei wird nicht Kunstausstellung und Museum; sondern die Kunst ist Ausdruck des gelebten Lebens, ist selber Leben. Und diese Kultur, als organische, hat sich ohne Bruch in Jahrtausenden entwickelt; es ist bei ihr nicht so wie bei uns, wo immer «überwunden» wird, sondern Generation von Dichtern und Künstlern folgt auf Generation, nimmt die einmal geschaffene Form auf und erfüllt sie. Das Bündchen von Po-Chü-i ist dadurch besonders lehrreich, daß man ein ganz persönlich-zufälliges Leben sieht, das doch durch die lyrische Darstellung dichterische Notwendigkeit bekommen hat. Bei unserer Lyrik ist das Erreichbare ein viel engerer Umkreis als hier, wo denn schließlich alle Lebensmöglichkeiten dichterisch geformt werden können. Man vergleiche das lyrische Lebenswerk Goethes, der ja doch auch ein alter Mann wurde, mit dem des chinesischen Dichters. Der Deutsche ist, wenn er seine Gefühle formen will, an eine Konvention des Allgemein-Menschlichen gebunden, bei dem Chinesen ergibt sich das Allgemein-Menschliche von selber aus seiner zufällig persönlichen Lage. Man denke etwa daran, daß die Liebesgedichte des alten Goethe nie die Liebe des alten Mannes zu dem jungen weiblichen Wesen darstellen, sondern die Liebe des Mannes zum Weib; bei dem Chinesen sehen wir das persönliche Erleben des Achtundfünfzigjährigen, dem der erste Sohn geboren wird. Eine Dichtung muß reif sein, in der das möglich ist. Die Griechen sind uns immer Vorbilder der Klassizität gewesen; aber Klassizität ist kein fester Punkt, sondern ein Weg; die chinesische Lyrik ist klassischer als die griechische.

Indische Lyrik

(1911)

Das deutsche Volk hat immer ein starkes Interesse für die Literatur anderer Nationen gehabt: nicht stets zu seinem Vorteil, denn nur zu oft haben wir uns selber vergessen, und von dem schönen und den Geist erweiternden Verstehen fremder Art sind wir zu einem törichten Nachahmen übergegangen; fast könnte man die Perioden unserer Dichtung nach den verschiedenen Nationen bezeichnen, die unsere Muster waren. Aber vielleicht ist diese Schwäche notwendig gewesen für unsere Stärke, und entwickelt sich aus dem Fremden unser Eigenes: wenigstens scheint heute die deutsche Literatur am meisten Hoffnungen zu versprechen. So mag denn auch ein neuerwachtes Interesse für die Literaturen des Orients willkommen sein; ihm verdanken wir ein reizendes Buch, das dem Kalidasa zugeschriebene Gedicht «Die Jahreszeiten» Ritu Sanhara, d. h. ‹Die Jahreszeiten›, Indisches Gedicht, übersetzt von Otto Fischer, München 1911 . Der Übersetzer schildert die Art indischer Lyrik in sehr hübschen Worten seiner Einleitung: «Die Dichtungen der Inder scheinen uns verschlungenen Gärten ähnlich, in denen die Äste der Bäume zu Boden sinken und wieder aufsteigen, von Girlanden rankender Pflanzen umkränzt, voll großer, seltsam blühender Blumen, voll Gesängen bunter Vögel und durchweht von immer wechselnden schweren Gerüchen.» Eine unendliche Reihe reizender Bilder werden uns vorgeführt, die einfachsten, sinnlichen Empfindungen in ihrem naivsten Ausdruck, und das alles so aneinandergereiht wie Perlen an einer Schnur: ohne Anfang, ohne Mitte, ohne Ende. Es scheint ja manches interpoliert zu sein, aber der Charakter des Ganzen muß von Anfang an so gewesen sein, wie er uns heute vorliegt, und die Verse, die als Interpolationen erscheinen, haben genau denselben Charakter wie die anderen. Höchst merkwürdig, wie anti-intellektuell diese Lyrik ist, die Lyrik eines so leidenschaftlich intellektualistischen Volkes; man trifft hier wieder die Spannweite des indischen Geistes an, die immer und überall uns überrascht; sie ist in diesen Dingen nicht geringer als die so frappierende von äußerster Aszese und äußerster sinnlicher Ausschweifung. Zwei Strophen aus dem Frühling mögen eine kleine Probe sein:

Berauscht vom Honig sät im Mangobaum
Der Kuckuck Küsse auf die Blüten nieder,
Die Bienen überm Lotus summen schwärmend
Und taumeln trunken tief in den Geliebten.
Die Mango-Blütenzweige schwanken tief,
Die rötlichen, von Blumentrauben schwer;
Ein sanfter Wind bewegt sie und bewegt
Der Frauen Sinn zu lauter Liebeslust.

Das letzte Geheimnis fremder Lyrik wird ja niemand erraten, denn das liegt in der Sprache verborgen, und die schönste Übersetzung kann immer nur eine Ahnung von ihm geben, etwa wie die Photographie von einem Bilde. Aber auch so gewährt das zierliche Heft eine reine dichterische Freude und einen schönen, klaren Genuß.

Buddhas Wandel

(1921)

Einem zweifachen Bedürfnis entspricht das kleine Epos, das soeben in freier Übertragung von Carl Cappeller im Verlag von Eugen Diederichs erschienen ist: einem religiösen und einem dichterischen. Das Epos ist die früheste dichterische Darstellung von Buddhas Leben. Was in den andern frühbuddhistischen Schriften fast nur als Gedanke wirkt, das ist hier menschliches Erleben geworden, und wohl kaum ein Stück der alten buddhistischen Literatur als Ganzes hat deshalb solche Ähnlichkeit mit unsern Evangelien, wie dieses kleine Werk. Die buddhistischen Gedanken bekommen dadurch eine größere Tiefe; allerdings tritt auch ihre Bedingtheit viel klarer hervor, als etwa in den Reden Buddhas; es ist ein verarmtes, sich verarmendes Leben, das sich hier darstellt, und gerade durch die äußere Ähnlichkeit tritt die ungeheure geistige Gewalt der christlichen Evangelien um so stärker hervor. Aber man hängt dann auch dem Gedanken nach: welches Glück wäre es für die christliche Welt gewesen und wäre es noch, wenn in der frühen christlichen Zeit eine ähnliche Dichtung über das Leben Jesu hätte geschaffen werden können; sie würde mit Zungen sprechen, die noch manches Ohr erreichten, das für die Sprache der Heiligen Schrift taub ist. Ich möchte gerade Gebildeten, welche unserm Glauben gleichgültig gegenüberstehen, das Lesen der kleinen Gedichte empfehlen; vielleicht, wenn sie sähen, wie hoch schon diese buddhistische Lehre steht, würden sie eine Ahnung von den Tiefen unserer eigenen Religion bekommen. Ich möchte den Unterschied durch den Vergleich mit zwei Dichtungsarten ausdrücken: das indische Gedicht ist ein Idyll eines geistig ganz hochstehenden Menschen, dem aber das letzte Erleben fehlt, der deshalb immer nur zu einer Art Mittelmäßigkeit – man versteht: der allerhöchste Maßstab ist angelegt – gelangen kann. Unser Glaube steht auf einer geistig noch weit höheren Stufe und ist nur möglich bei dem leidenschaftlich tiefsten Erleben.

Dichterisch bringt das Werkchen eine Überraschung. Die anderen indischen kleinen Epen, welche bei uns bekannt sind, stammen aus einer späten Zeit einer sehr gebildeten, sehr zarten, sehr duftigen höfischen Poesie, immerhin einer höfischen Poesie. Dieses ist ein Werk aus früheren Zeiten, wo man einfacher, unmittelbarer und in unserem Sinn wahrer fühlte und darstellte. Was früher als spezifisch indisch erschien, stellt sich jetzt als zeitgemäß bedingt heraus, und die indische Dichtung rückt durch dieses Werkchen unserem Verständnis näher.


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