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Fünftes Hauptstück

Es war der Tag, an dem die Wahlen stattfinden sollten. Die Stadt war in großer Aufregung. Autos durcheilten die Straßen, Aufrufe wurden verteilt, ein Flieger verstreute von oben her Schriften.

Es wurde allgemein erzählt, daß eine offene Gegnerschaft zwischen Lewandowsky und Hampe ausgebrochen sei, man sagte, daß die Kommunisten für Lewandowsky eingetreten seien.

Hans Werner war nun endlich aus dem Lazarett entlassen. Seine Wunde, an sich ungefährlich, hatte ihn lange an das Bett gefesselt durch den starken Blutverlust, der bei der schlechten Ernährung nicht so schnell wieder ausgeglichen werden konnte, auch hatten die seelischen Erregungen über die Geschehnisse die Heilung verzögert.

Anna erwartete ihn auf dem Bahnhof. Der Zug fauchte an, hielt, die Türen öffneten sich, die Menschen stiegen aus. Langsam, am Stock gebückt, in seinem grauen Mantel, abgemagert und blaß, mit flammenden blauen Augen, kam Hans aus der Tür seines Abteils, hielt sich an den Griffen und gelangte schwerfällig auf den Erdboden. Da stand Anna schon vor ihm, sie schwenkte ihren Muff, umarmte ihn und hing an seinem Hals. »Du hast doch nicht Tante Minna geschrieben, daß du mit diesem Zug ankommst?« fragte sie plötzlich erschreckt. Hans lachte. »Nein, sie erwartet mich heute noch nicht«, erwiderte er.

Sie gingen in dem Menschenstrom aus der Halle. Anna hängte sich an seinen Arm. Hans sagte verlegen: »Ich möchte nicht, daß die Leute uns so sähen – es ist noch nicht so, daß wir uns in der Öffentlichkeit als verlobt zeigen dürfen.«

Anna wurde feuerrot, sie riß ihren Arm aus seinem, ihre Augen standen in Tränen, und sie sagte: »Du hast recht, es steht etwas zwischen uns, dir ist dein Gut genommen.« Sie stockte, sie konnte das andere nicht sagen.

Hans lächelte. »Das ist es nicht«, sagte er. »Ich möchte dich darüber beruhigen. In den Briefen wollte ich es nicht, denn wenn man dergleichen schreibt, so gibt es Mißverständnisse. Ich bin deinem Vater nicht gram. Er hat mit eigener Lebensgefahr meinen Vater aus den feindlichen Kugeln herausgetragen, er hat auch nichts Böses tun wollen, als er meine Anlagen kaufte. Das sind heute so Zeiten; niemand weiß, wie seine Handlungen ausschlagen.«

»Du bist so gut. Ich danke dir«, sagte Anna. »Er ist doch mein Vater.«

»Er ist ein guter und treuer Mann«, sagte Hans. »Aber er ist durch die Zustände in eine Lage gebracht, der er nicht gewachsen ist. Es ist mit ihm nicht anders, als mit den Männern der alten Regierung. Es wäre ja gut, wenn wir in unserm Volk einen Alexander oder Cäsar oder Cromwell oder Friedrich hätten. Aber wir haben ihn nun eben nicht. Gott will wohl, daß wir noch viel leiden sollen.«

Überrascht schaute Anna ihm ins Gesicht. Er sah seltsam reif aus.

Er sagte: »Du wunderst dich wohl über mich. Ich bin viel älter geworden, seit wir uns das letzte Mal sahen. Die langen Wochen auf dem Krankenlager habe ich viel nachgedacht.«

Und weshalb darf ich nicht an deinem Arm gehen?« fragte sie.

Er erwiderte: »Sieh, die ganze Welt stürzt zusammen. Die Revolution ist in Rußland und bei uns, in irgendeiner Form wird sie auch bei den Siegervölkern kommen. Alle Sitte ist zerstört. Wir aber müssen neu aufbauen. Deshalb müssen wir uns in Zucht halten. Meine Eltern sind beide tot, ich bin mein eigener Herr. Aber du kannst nicht über dich verfügen. Ich will dich erst von deinen Eltern erbitten, ehe ich Arm in Arm mit dir auf der Straße gehe.«

Sie neigte den Kopf, errötete und sprach: »Du hast recht. Das hätte ich selber wissen müssen.«

»Mache dir keinen Vorwurf«, sagte er. »Niemand weiß heute mehr, was er darf und nicht darf. Ich wußte es auch nicht. Aber in den langen Wochen habe ich gelernt. Und ich werde dich führen.«

Sie sah dankbar zu ihm auf.

»Ich möchte dir gleich meine Zukunftspläne mitteilen«, fuhr er fort. »Auf dem Krankenlager habe ich viel gelesen. Das erste Buch, das mein Vater druckte, war der Faust, das letzte war der Homer. Ich habe die Bücher wieder gelesen. Der Weltkrieg macht einen Abschnitt. Sie bedeuten mir beide nicht mehr, was sie meinem Vater bedeutet haben müssen. Ich habe in ihnen gesucht und habe nicht gefunden. Mein Vater hatte sein Leben auf das Verbreiten solcher Bücher gestellt. Aber ich weiß, daß ihm in den letzten Zeiten schon Zweifel gekommen sind, ob das richtig war. Ich könnte es nicht mehr. Wir brauchen anderes. Was? Das weiß ich noch nicht. Vielleicht schreibt dann ein Dichter das Buch, das wir brauchen; denn das Buch eines Dichters ist es, das nötig für uns ist. Was sollte ich nun jetzt tun, wenn ich die Anlagen noch hätte? Ich bin viel zu jung dazu, das zu wissen. Ich würde wahrscheinlich nur zerstören, was mein Vater geschaffen hat. Aber darf man zerstören, wenn man nicht weiß, was man neu bauen will? Dein Vater und seine Partei führen in ihrer Art die Gedanken weiter, in denen mein Vater lebte, sie glauben an Bildung und Aufklärung und an das, was sie Kunst und Wissenschaft nennen. Es ist ganz richtig, daß das Unternehmen jetzt in ihre Hand gekommen ist. Sie überschätzen ja die Wirkungen, wie sie mein Vater überschätzte; aber irgendein Segen liegt doch in ihnen. Vielleicht liest von hundert jungen Arbeitern einmal einer den Faust oder den Homer und wird dadurch vor Üblem bewahrt, erhält einen verwirrten Eindruck von Hohem und Schönem, dessen seine umdüsterte Seele sonst nicht fähig wäre. Und das ist doch viel in einer solchen Zeit wie heute, wo die Menschen wie Wölfe gegeneinander stehen.«

»So meinst du, mein Vater soll alles weiterführen?« fragte Anna.

»Unsere Väter waren politische Gegner«, erwiderte Hans. »Aber das kam ihnen ja nur so vor. Im Grunde meinten sie dasselbe. Sie dachten beide nur an den einzelnen Menschen, wie dem zu helfen ist. Es ist ganz in der Ordnung, daß der Sozialdemokrat fortführt, was der Liberale begonnen hat. Wir aber, wir müssen anderes denken. Was das ist, das weiß ich noch nicht. Aber ich weiß, daß meine Aufgabe ist, das zu suchen, was wir denken müssen.«

Anna sah ihn erstaunt, etwas traurig an.

»Du denkst vielleicht, ich bin ein Schwärmer?« fragte Hans lächelnd. »Jeder Narr gibt sich heute in seiner Narrheit; ich wundere mich nicht, wenn du besorgt bist. Ich habe dich lieb wegen deiner Nüchternheit, mir ist der Überschwang verhaßt. Aber fürchte nichts für dein und unserer künftigen Kinder Schicksal, denn es ist mir noch anderes Vermögen geblieben, das sicher steht, mit dem das freie Leben möglich ist, das ich führen muß, auch wenn die Steuergesetze sich auswirken, welche ja möglichst jedem Menschen die Unabhängigkeit nehmen und ihn zum Proletarier oder Angestellten machen wollen. Und fürchte nichts für mich und meine Arbeit: ich werde schon finden, was ich tun muß.«

Die beiden waren in der belebten Bahnhofstraße nebeneinander gegangen. Nun bogen sie in die Kaiser-Wilhelmstraße. Da sagte Anna: »Wir haben nun besprochen, was wir tun wollen. Du mußt dir nun bedenken, wann du zu meinem Vater gehst. Jetzt möchte ich mich von dir trennen, damit es nicht auffällt, wenn wir so lange nebeneinander gehen.« Hans lächelte; die beiden gaben sich die Hand, dann gingen sie auseinander. –

Die Aufregung der Wahl wurde immer größer im Laufe des Tages. Gerüchte schwirrten durch die Luft über den voraussichtlichen Ausfall. In das Ministerium hasteten Boten, telefonische Gespräche gingen beständig.

Lewandowsky saß im Ministerium vor seinem Schreibtisch. Zur Rechten stand ihm das Telefon, das er häufig benutzte. Er durchlas Akten, machte Bemerkungen an den Rand. Zuweilen saß er regungslos da, blaß und müde. Er blieb in seinem Schreibzimmer bis in den Abend hinein. Schon wurden ihm einzelne Zahlen der Wahlergebnisse telefoniert; es war kein Zweifel mehr, daß Hampe zum Präsidenten gewählt war.

Schwerfällig stand er auf und ging aus der Tür. Im Vorzimmer stürzte der Diener herbei, brachte ihm den Wintermantel und half ihm hinein. Er nahm seinen Stock und ging humpelnd die breite Treppe hinunter, durch den Flur, am Pförtner vorbei, der dienstbeflissen das Tor geöffnet hielt, auf die Straße.

Da war abendliches Leben, Licht aus den Fenstern der Geschäfte, die Straßenlaternen, Drängen der Menschen, Sprechen. Er ging hindurch, den Zylinder auf dem langen Haupthaar, in dem schon einzelne graue Fäden sich zeigten.

Er ging zu seinem Hause, stieg die Treppe hoch und öffnete die Tür seiner Wohnung. Es war im Zimmer dunkel, von unten drang verlorner Lichtschein der Straße und dumpfer Lärm von elektrischen Bahnen, Wagen und vielen Menschen. Nun drehte er das Licht an. Da sah er auf einem Stuhl vor dem runden Tisch, in abgeschabtem Überzieher, die Reisetasche neben sich auf dem Boden stehend, den fettigen Hut auf dem Tisch neben sich, einen alten Juden mit langem weißen Bart und überhängend buschigen Augenbrauen.

»Vater!« rief er aus.

»Ja, mein Sohn, ich bin es«, sagte der Alte. »Ich habe mich auf die Reise gemacht, um dich in deinem Ruhm zu sehen, nun komme ich gerade recht zu deinem Unglück.«

Lewandowsky warf sich auf das Sofa und schlug die Hände vor das Gesicht. Er schluchzte.

»Du bist doch immer ein kluger Mensch gewesen, Aron«, sagte der Vater, »wie hast du denn nur glauben können, daß so etwas standhält? Wie wird denn ein christliches Volk einen Juden als Herrn behalten? Sei doch froh, wenn nichts Schlimmeres kommt, als daß sie dich fortjagen mit Schimpf und Schande.«

Lewandowsky wollte auffahren. Aber der Alte legte ihm die Hand auf den Arm und sagte: »Hast du das von deinem Vater gelernt und von deinem Großvater? Hat dir das der Rabbiner gesagt, wie du bei ihm in die Schule gegangen bist? Das Volk ist dumm und läßt sich von jedem beschwatzen. Dazu braucht einer nicht so klug zu sein, wie du bist, dazu braucht einer nur schlecht zu sein. Was hast du gemacht? Du lebst in einem fremden Land, wo die Leute dich freundlich aufgenommen haben, und haben dir Arbeit gegeben, daß du leben konntest und heiraten und deine Kinder zu ordentlichen Menschen erziehen und sie etwas lernen lassen, und du hast sie gegeneinander aufgehetzt. Was meinst du, werden die Christen nun mit deinen Glaubensgenossen tun, wenn sie erst wieder zu Verstand kommen? Ich bin auf meiner Reise in einer Stadt gewesen und habe mit dem Vorsteher der jüdischen Kultusgemeinde gesprochen, der hat mir gesagt: ‹Wir nehmen keinen Zuzug mehr an aus Galizien und Polen, denn die Juden, die von da gekommen sind, haben Revolution gemacht und haben Wucher getrieben, und schließlich kommt das auf unser Haupt, denn dann heißt es: ›Ein Jude ist ein Jude‹. – ›Recht haben Sie‹, habe ich ihm gesagt. ›Und ich habe auch so einen Sohn, der Revolution gemacht hat‹, habe ich ihm gesagt.

Der Herr hat Reiche geschaffen und hat Arme geschaffen, und Kluge und Dumme, und wenn ein großes Unglück ist, dann lassen sich die Dummen leicht beschwatzen. Brauchst ihnen ja nur zu versprechen! Was ist das für ein Kunststück! Wer weißt du nicht, daß Gott den Reichtum gegeben hat, damit der Reiche dem Armen helfen soll mit Geld, und den Verstand, damit der Kluge dem Dummen beisteht mit Rat? Wenn die Christen dümmer sind wie du und du nützt das für dich aus, meinst du, daß sie das nicht am Ende merken?

Du weißt, ich bin immer ein armer Jude gewesen, ich habe meine Geschäfte betrieben und habe gelernt und ich habe mir gesagt: das Geschäft habe ich, weil ich euch ernähren muß, aber wenn ihr satt seid, dann kann ich an meine Bücher gehen. Deshalb haben die Leute mich geachtet, und sogar die Christen haben mich geachtet, und es ist mancher zu mir gekommen und hat mich um Rat gefragt. Glaubst du, daß die Leute dich achten?

Wir Juden wohnen nicht mehr in unserm Lande, das uns unser Gott gegeben hat, wir wohnen unter fremden Völkern. Hast du denn nie bedacht, daß wir da klug sein müssen? Du bist immer ein Fremder für die Deutschen. Wenn du arm bist, so verachten sie dich und verspotten dich, und wenn du reich bist, so hassen sie dich.«

»Ja, das weiß ich«, sagte Lewandowsky. »Und ich habe mich gefragt: Weshalb hat mich Gott als Juden lassen geboren werden, daß die andern mich verachten und hassen, wo ich doch allen Leuten nur Gutes tun und ihnen helfen will.«

»Ob du den Leuten hast Gutes tun wollen, das wollen wir nicht bereden«, sagte der Alte. »Ich kenne dich doch, du bist nicht einer von denen, die schenken. Aber ich will dir auf das andere antworten. Wir leben in der Verbannung seit zweitausend Jahren, und da leben wir, und wir haben unsere Frauen lieb, und unsere Kinder wachsen auf, wie wir sind, denn wir haben unsern Gott, der uns hält in der Fremde. Unser Gott hat uns lieb, deshalb hat er uns in das Elend geschickt. Sieh dich um, wie viele Völker hat es gegeben in den zweitausend Jahren, nichts ist übriggeblieben von ihnen. Weshalb? Weil sie mächtig waren und reich. Sieh dich um bei den Juden, wenn sie reich werden und verlieren ihren Gott, was bleibt von ihnen? Ihre Töchter werden Dirnen und ihre Söhne werden Betrüger, und Enkel bekommen sie nicht, die sie auf ihren Knien schaukeln können.«

Der Alte nahm seinen alten, fettigen Hut und stand von seinem Stuhl auf. Er knöpfte den abgeschabten Überzieher zu und sagte: »Ich bin nicht gekommen, um bei dir zu wohnen. Ich will nichts von deinem Reichtum. Ich reise heute wieder ab. Nur das wollte ich dir sagen, was ich dir eben gesagt habe; vielleicht daß du noch auf andere Gedanken kommst; denn du bist ja wohl klug, aber ich bin noch klüger wie du, und habe auch mehr gesehen vom Leben wie du, denn du bist nur immer durchs Leben gegangen wie ein Blinder und hast nichts gesehen. Ich bin in Berlin gewesen und habe gehört von den Leuten von deiner Partei, das sind Arbeiter, und Zeitungsschreiber und Juden, die beherrschen nun die Deutschen, und werden reich, indessen die Deutschen arm werden. Kannst du denn glauben, daß das lange anhält, daß die Deutschen sich so von euch betrügen lassen? Daß sie dich heute absetzen, das ist der erste Schritt. Auf wen wird sich der erste Haß wenden, wenn sie aufwachen? Auf uns Juden. Und da wird der Unschuldige leiden müssen mit dem Schuldigen. Und wenn es so weit ist, daß die Christen aufstehen und schlagen die Juden tot, dann kannst du sagen: ›Ich bin mit schuld daran, daß das geschieht, und auf mein Haupt kommt das viele unschuldige Blut, das nun vergossen wird.‹«

Der Alte stand an der Tür. Einen Augenblick wartete er noch auf eine Antwort. Aber der Sohn schwieg. Da drückte er auf die Klinke, öffnete und ging hinaus. Lewandowsky blieb allein zurück. Er trat ans Fenster und sah durch die Scheiben auf die Straße. Dann trat er zurück. »Ich gehe nach Rußland«, sagte er vor sich hin. –

Die Straßen waren hell durch das Licht der Schaufenster und Laternen. Die Menschen drängten und schoben sich, es war Aufregung und Bewegung.

Hans war aus seiner Wohnung gegangen, um im Freien und beim Gehen sich manches zu bedenken. Er ging durch die halbdunklen Straßen der Villenstadt, die menschenleer waren; er ging weiter hinaus, wo der kleine Fluß unhörbar dahineilte. Eine Brücke führte hinüber, an deren beiden Enden Laternen standen. Im Halbdunkel sah er auf der Brücke einen Mann stehen, der sich über das Geländer beugte und nachdenklich in das dunkel eilende Wasser hineinsah. Ein Schreck überfiel ihn, er eilte auf den Mann zu. Es war Hampe. »Herr Hampe!« rief er ihn an.

Hampe wendete sich zu ihm. »Ach, Herr Werner, Sie sind es«, sagte er mit gezwungener Gleichgültigkeit. »Ich war noch einmal ins Freie gegangen, um Luft zu schöpfen.« Der junge Mann sah den Älteren an, welcher sein Vater hätte sein können, welcher der Vater seiner Geliebten war. Stockend sagte er zu ihm: »Das dürfen Sie nicht«. Hampe schwieg und sah in das dunkle Wasser unten. Hans Werner stand neben ihm.

Hans sagte: »Da es so ist, muß ich mit Ihnen sprechen. Ich weiß, daß Sie nicht schuldig sind.«

Hampe erwiderte: »Die Männer, mit denen ich zusammen jahrzehntelang für das gekämpft habe, was wir für richtig hielten, haben nun überall die Herrschaft. Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal der Leiter dieses Staates werden könnte. Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal ein reicher Mann werden könnte. Nun, bei den andern ist es auch so. Ich bin in Berlin gewesen und habe mit ihnen gesprochen. Herr Werner, ich habe meine Ehre. Ich will aus dem Leben gehen.«

»Ändern Sie dadurch etwas?« fragte ihn Hans. »Sie und die andern haben geglaubt, die Männer an der Spitze sind Betrüger. Nun sind Sie selber an die Spitze gekommen. Sie waren nicht imstande, zu verstehen, was herrschen bedeutet, deshalb haben Sie die Männer an der Spitze falsch verstanden und haben sich von allerhand Gesindel aufhetzen lassen. Nun sind Sie selber oben und fühlen, daß Sie nicht herrschen können. Auch ich weiß einiges aus Berlin. Es wurde mir von dem Mann erzählt, der jetzt Reichskanzler ist, daß er sich einmal von einem galizischen Juden durch tausend holländische Gulden hat bestechen lassen. Der Mann weiß gar nicht, was er getan hat; er hat sich eingebildet, der Mann schenkt ihm die tausend Gulden, und er erweist ihm dafür eine Gefälligkeit, die gar nichts bedeutet.«

»Aber die Ehre, die Ehre«, sagte Hampe, indem er sich die Hände vor das Gesicht schlug. »Ich habe heute Ihr Vermögen, und Sie sind verarmt.«

»Ich bin nicht verarmt«, erwiderte ihm Hans. »Und Sie haben nicht schlimmer gehandelt wie jener Mann, der heute Reichskanzler ist, und der früher wahrscheinlich Trinkgelder bekommen hat und gar nicht begreift, daß man als Reichskanzler keine Trinkgelder nehmen darf.«

»Ich kenne den Reichskanzler«, sagte Hampe. »Er ist kein schlechter Mensch. Aber da kommen ja nun auch die Ansprüche und die Ausgaben ...«

Hans lachte. »Ich liebe Ihre Tochter, das wissen Sie. Ich würde die Tochter eines Mannes nicht lieben, der nicht in seiner Art achtenswert wäre. Sie sind an eine falsche Stelle gekommen ...«

»Da haben Sie recht«, unterbrach ihn Hampe eilig. »Da haben Sie recht. Ich gehöre nicht an die Stelle.« »Nun, das ist eben das Unglück, daß die Menschen nicht an der richtigen Stelle stehen«, sagte Hans. »Das müssen alle tragen, die, welche zu niedrig gestellt sind, wie die, welche zu hoch gestellt sind. Wer hat denn schuld an der Revolution? Sie nicht, aber auch Lewandowsky nicht.«

»Ich habe nicht schuld, ich war gegen die Revolution«, sagte Hampe.

Hans schob seinen Arm unter den Arm Hampes und führte ihn fort. Er sagte: »Es geschieht nun eben in Zeiten des Unglücks, daß die Menschen an falschen Stellen stehen. Wir können das nicht bessern, wenn wir aus dem Leben fliehen. Auch Sie sind nur von Gott dahin gestellt, wo Sie heute stehen, und Gott hat damit seine Absichten. Übernehmen Sie Ihr Amt und tun Sie Ihre Wicht. Wenn Sie das Leben verlassen, dann tritt ein Schlimmerer an Ihre Stelle.«

»Das ist schwer«, murmelte Hampe, »das ist sehr schwer.« Die beiden Männer gingen in Hampes Wohnung. Sie traten ein und trafen die beiden Frauen.

»Frau Hampe«, sagte Hans, »ich habe bei Ihrem Mann um die Hand Ihrer Tochter angehalten. Ich frage auch Sie.«

Frau Hampe sah ihn an, Anna errötete und trat hinter ihre Mutter. Da reichte ihm Frau Hampe die Hand und sagte: »Ich freue mich, ich gebe Ihnen mein Kind gern, wenn Sie auch beide noch jung sind.«

Da trat Hans auf Anna zu, sie sah zur Erde, ihre Hände hingen schlapp an ihr nieder. Er nahm sie zärtlich vorsichtig in den Arm; sie blickte zu ihm auf, und in ihrem Blick lag zärtliche und hingebende Liebe; ihre Augen füllten sich mit Tränen.

 

Ende

 

 

 

 

 

 

Geschrieben
Im Jahre 1923.


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