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Drittes Hauptstück

Die Gattin des Landgerichtspräsidenten Willmar saß in ihrer Wohnung am Fenster. Ihr gegenüber saß ihre Tochter Marie. Die beiden Frauen waren mit Flickarbeiten beschäftigt. Sie waren schwarz gekleidet.

»Alles zerreißt«, sagte die Mutter. »Die Hemden des Vaters sind nun in dem Zustand, daß sie eigentlich nicht mehr zu sticken sind. Ich weiß nicht, was ich anfangen soll, es ist Loch neben Loch. Ich wollte eigentlich neue Hemden kaufen, gerade, als der Krieg ausbrach; damals hat man es aufgeschoben, man dachte, man muß sparen, wie man kann, für die Allgemeinheit; und heute, wenn man auch einen Schein bekommt, man hat doch nicht mehr das Geld, etwas zu kaufen.« Marie sah ernst auf und blickte die Mutter aus blauen Augen an. Ein langes Schweigen war im Zimmer, nur das Geräusch der fleißigen Nadeln.

»Mutter«, sagte Marie. »Ich möchte euch um etwas bitten.«

Erstaunt sah die Mutter sie an.

»Meine Brüder sind doch nun gefallen«, sagte Marie. »Der Vater läßt sich ja nichts aus, aber ich sehe doch, wie es an ihm zehrt. Ich habe das Gefühl, ich sitze hier so und tue nichts. Ich will auch etwas tun.«

»Du bist unser letztes Kind«, sagte die Mutter erschrocken, Tränen standen ihr in den Augen.

Marie warf ihre Arbeit fort, eilte auf ihre Mutter zu, küßte sie und kniete neben ihr. »Laßt mich Krankenpflegerin werden«, sagte sie leise.

Kind, mein Kind, du bist unser letztes Kind«, sagte die Mutter.

Marie kniete neben der Mutter und sah ihr bittend ins Gesicht.

»Das ist ja selbstsüchtig, man denkt nur an sich«, sagte Frau Willmar. »Ich weiß das ja. Wir erziehen die Kinder nicht für uns.«

»Du denkst an allerhand Gefahren,« sprach Marie; sie hatte eine leise und schön klingende Stimme. »Du kannst schon ruhig sein. Diese armen Männer, die da draußen sind, ich weiß doch, wenn die Brüder auf Urlaub kamen, schmutzig und verwildert, und die Mädchen, ich kann mir wohl denken, ein Mann weiß nicht, ob er nicht morgen schon tot ist, und er hat Sehnsucht. Aber sieh, Mutter, so bin ich nicht. Sie tun mir alle so leid. Sie sind doch wie die großen Jungen. Und wozu lebe ich denn?«

»Wozu lebst du?« fragte entsetzt die Mutter.

»Ich habe viel darüber nachgedacht«, sagte Marie. »Siehst du, es bricht doch jetzt alles zusammen, und es war auch schon vor dem Krieg so, daß man nicht leben konnte, nur habe ich das damals noch nicht so gewußt, ich war noch zu jung. Ich habe mich immer geschämt, wenn ich auf einen Ball ging, und die Männer sprachen dann so gleichgültig mit mir und tanzten mit mir, weil der Vater ihr Vorgesetzter ist. Es war mein erster Ball, da belauschte ich zufällig ein Gespräch von zwei jungen Männern über mich. Der eine sagte: ›Nehmen Sie sich in acht, sie ist ein schönes Mädchen, gute Familie, aber keinen Pfennig‹, Und was dann der andere sagte! Weißt du noch, ich wurde damals ohnmächtig, ihr dachtet, das ist von der Hitze. Ich habe es keinem Menschen erzählt. Aber was soll ich denn nur mit meinem Leben machen?«

Die Mutter schwieg, zwei große Tränen rannen ihr die Wangen nieder und tropften auf den glatten, blonden Scheitel der Knienden.

»Als meine Brüder ins Feld zogen, da dachte ich: wenn ich doch ein Mann wäre und mitziehen dürfte«, fuhr Marie fort. »Ich dachte: ›die Brüder könnten doch heiraten und könnten Kinder haben, aber ich bin ganz unnütz. Was liegt denn an mir!‹ – Nun bin ich die ganzen Jahre zu Hause gewesen. Der Vater freut sich ja, wenn er müde nach Hause kommt, und ich begrüße ihn, und du freust dich, daß ich mit im Zimmer bei dir sitze. Ich habe mir auch immer Mühe gegeben, weil ich doch euer Kind bin, daß ich heiter war, damit ihr euch freuen konntet. Aber das ist es nicht. Nun ist das Unglück so groß, viele Eltern haben alle ihre Kinder verloren, und ich weiß nicht, ich schäme mich auch, wenn ich auf die Straße gehe, daß ich noch lebe. Und ich weiß doch auch nicht, wozu. Das ist nicht Lieblosigkeit, liebe Mutter, aber ich bin doch nun jung, und wenn ihr sterbt, was soll ich denn dann? Dann braucht mich niemand mehr. Und ihr seid doch auch zwei. Und wenn ich heiratete, dann würdet ihr mich doch auch gehen lassen.«

»Vier Kinder habe ich gehabt,« sagte die Mutter, »du bist nun die letzte.«

»Und es ist ja auch nicht nötig, daß ich sterbe. Weshalb soll ich denn nicht wiederkommen?« sprach Marie bittend weiter. »Dann bin ich wieder bei dir, und du bist nicht allein. Ich sehe doch, der Vater hat sich zu viel Arbeit aufgeladen, er kann nicht mehr lange so sein; du kannst das nicht mehr lange aushalten, die Arbeit und die Sorgen; wie kann ich denn bei euch sein und das sehen und nichts tragen?«

»Wir müssen mit dem Vater sprechen«, sagte die Mutter, sie weinte in ihr Taschentuch.

Da wurde die äußere Tür geschlossen. Marie ging mit leisen Schritten hinaus, im Gang stand der Vater und legte Hut und Mantel ab. Er umarmte sie und küßte sie auf die Stirn.

»Mein gutes, stilles Kind«, sagte er. Er trug einen schweren Packen Akten unter dem Arm. »Ich muß gleich an die Arbeit; rufe mich, wenn das Essen auf dem Tisch steht, ich möchte die zehn Minuten noch ausnützen«, sagte er und ging in sein Arbeitszimmer.

Die beiden Frauen deckten den Tisch und holten das bereitete Essen aus der Küche. Die Bedienung war schon längst abgeschafft.

Sie hatten für sich Dotschen, in Wasser gekocht. Für den Vater war ein Schüsselchen mit großen Bohnen, in denen ein Stück Speckschwarte lag.

Der Vater zog die Stirn in Falten, als er den Tisch sah. »Du weißt doch, ich will nichts anderes haben, als ihr habt«, sagte er mit leisem Vorwurf zu seiner Frau. »Und woher sind die Bohnen und die Schwarte? Sind sie unrechtmäßig erworben?«

»Die Bohnen sind ein Rest, den ich noch hatte von der Verteilung vor vier Wochen«, sagte die Frau. »Die Speckschwarte habe ich beim Fleischer gekauft, derartige Stücke unterliegen nicht dem Kartenzwang. Und für uns Frauen ist eine solche Speise zu schwer; bei uns nutzt der Körper sie nicht aus. Du weißt, daß ich dergleichen nie vertragen konnte.«

Willmar sah mit hungrigen Augen auf sein Schüsselchen; plötzlich stand er auf, ging um den Tisch und gab den beiden Frauen je ein Drittel der Bohnen, für sich selber behielt er den Rest. Er aß aus dem Schüsselchen. »Entschuldigt,« sagte er, »daß ich aus der Schüssel esse; aber es kommt etwas um, wenn man erst auf den Teller umfüllt.«

Schweigend aßen die Drei. Dann wurde aus der größeren Schüssel das Dotschengericht verteilt.

Als das Essen beendet war sagte Willmar: »In meinem Elternhause war noch Sitte, vor und nach dem Essen ein Gebet zu sprechen. Ich möchte diese Sitte bei uns wieder einführen.« Er erhob sich, die Frauen erhoben sich gleichfalls; alle falteten die Hände und Willmar sprach ein kurzes Dankgebet.

Die Mutter sagte: »Wir möchten dich einen Augenblick stören. Dürfen wir in das Arbeitszimmer kommen?« Willmar nickte und ließ die beiden Frauen voraus in das Zimmer gehen.

Hier teilte ihm die Mutter den Wunsch Mariens mit.

Willmar saß eine Weile schweigend da. Er sah plötzlich sehr alt aus. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Dann sagte er: »Ich darf nichts dagegen sagen. Du weißt, mein Kind, welchen Gefahren ein Mädchen unter den Männern ausgesetzt ist. Ich habe Vertrauen zu dir, du wirst an dich denken, an deine toten Brüder, die in Ehren für das Vaterland gefallen sind, und an uns alte Leute. Ich will auch dich noch hergeben.«

Marie küßte ihm die Hand, welche zitterte. Er strich ihr zärtlich über den blonden Scheitel. –

Es war Frühling. Zwei Reihen Birken standen in der Straße, die Blüten hingen an den zierlichen Zweigen gerade hernieder, sie öffneten sich der frischen Frühlingssonne; die Bienen umsummten sie; die Straße war leer; sauber zog sich der Weg.

Hans Werner hatte eine Stellung draußen im Westen. Sie war zuerst sehr umkämpft gewesen; seit Monaten aber lagen sich nun die feindlichen Linien untätig gegenüber; nur wenige Schüsse wurden täglich gewechselt.

Da war ein Buchenwald, dessen Bäume gänzlich zerschossen waren. Die Stümpfe ragten zersplittert aus der Erde, mannshoch, auch höher; die Wipfel lagen zerrissen und unordentlich auf dem Boden; in den toten Ästen und Zweigen aber rührte sich noch der Saft, die Knospen schwollen an und öffneten sich; Blättchen kamen dürftig hervor, um gleich abzuwelken.

Hans machte einen Gang durch raschelndes Laub, zwischen zerknickten und zerrissenen Ästen und Zweigen. Eine Stelle war, da kamen unter dem gerollten Laub Tausende von Leberblümchen vor. Der Boden sah blau aus, wenn man weiter blickte.

Hans war müde und gleichgültig gegangen. Da war es, als ob der Anblick der zierlichen Blümchen etwas in ihm bewegte. Zierlich standen sie, jedes für sich, unbekümmert. Die Bäume waren zersplittert und zersplissen, die Blümchen aber standen, wie sie jedes Jahr dastanden, unbekümmert. Aus der Ferne rollte der Kanonendonner. Diese Blümchen aber standen unbekümmert.

Ihm war, er müsse ein Blümchen genauer betrachten. Er kniete nieder, bückte sich. Da waren die hellen, leichten Blütenblätter, die Staubgefäße. Er wußte, die Blütenblätter fielen ab, wenn er das Blümchen anrührte. Ihm war, er müßte fragen: »Weshalb bist du da, Blümchen?« Aber er fragte nicht, er lächelte über sich selber. Als Knabe war er einmal mit dem Vater im Wald gegangen. Da war eine Stelle wie diese gewesen. Er hatte die Hand des Vaters losgelassen und war hingelaufen; er hätte gern sich einen Strauß gepflückt, aber er wußte, daß der Vater das nicht liebte. »Ja, Lebendiges zerstören darf man nicht zu seiner Lust, man darf nur zerstören, wenn ein Muß ist«, sagte er bei sich.

Die Bäumchen standen ruhig, unbewegt zierlich hoben sie sich. »Soll ich nicht leben?« fragte es in ihm. Er schämte sich, er sah sich um. Nur die abgebrochenen Stämme, die ausgeschlagenen, vertrockneten Äste und Zweige und abgeknickten Wipfel waren da. Eine Meise, nicht nahe. Hastig faltete er die Hände, die Meise war ja nicht nahe. »Lieber Gott, guter Gott, Dank!« flüsterten leise seine Lippen. »Dank! Dank!« flüsterten sie. Hastig sprang er auf die Füße, lachte verlegen, dann zupfte er seinen Rock glatt und ging weiter.

Er kam zurück. Da saßen die Leute im Kreis, besprachen sich. Einer lag auf dem Rücken, die Mütze auf dem Gesicht, im halben Schlaf. Einer hatte ein Stückchen Holz und schnitzte. »Der Boden ist gut hier. Man könnte viel mehr herauswirtschaften«, sagte einer.

»Man muß die Verhältnisse kennen«, warf ein anderer ein. »Das ist in der Landwirtschaft überall anders.«

»Der Franzose ist faul«, erwiderte der erste. »Die Bildung fehlt auch. Wenn ich die Leute schon in ihren Holzschuhen sehe, dann habe ich genug. Ehe so einer sich umdreht!«

plötzlich sprangen alle auf und liefen auseinander. Ein Singen und Sausen war in der Luft, dann war ein Klatsch, da drehte es sich vor Hans schwarz im Boden wie ein Kreisel, warf Erde und Steinchen ringsum aus.

»Was ist denn das?« dachte er. »Ja, das Leben vergeht schnell, eine Minute ist es nur«, dachte er. Da fühlte er einen Schlag. »Nun will ich fallen«, dachte er. Er lag auf der Erde, im trocken braunen Gras, ein Käferchen kletterte da auf einem Grashalm. »Nun muß ich doch einmal hinfassen«, dachte er. Er faßte an den Leib, da war die Hand voller Blut. »Bin ich denn verwundet?« fragte er sich erstaunt. »Ja, das war ja eine Granate.«

Es stürzten zwei von seinen Leuten herbei; er erkannte sie nicht. Sie rissen ihn hoch; er hörte, wie er stöhnte; sie trugen ihn fort. Nun lag er im Unterstand.

Der Arzt zog ihm den Rock aus, entfernte das Hemd. Das Blut strömte stark. Der Arzt bückte sich über die Wunde, so daß Hans seinen Kopf nahe vor den Augen hatte. Ziemlich grauhaarig war der Arzt schon. »Nicht gefährlich. Fleischwunde, aber groß«, sagte der Arzt; da wurde es Hans dunkel vor den Augen. Er fühlte noch, daß etwas mit ihm geschah, wahrscheinlich wurde die Wunde verbunden. Nun war es ihm auch, als höre er starken Kanonendonner. Es konnte aber auch sein, daß er das träumte.

Er wachte auf, er lag allein in seinem alten, bekannten Raum. Er sah die Bretter oben an der Decke, an einer Stelle waren sie geschwärzt vom Lampenruß. Er schlief auch wohl wieder ein. Es war auch ein Schrinnen in der Wunde. »Das ist das Heilen«, dachte er.

Er wurde auch wohl fortgetragen. »Großer Blutverlust«, hörte er im Schlaf. »Das bin ich, den sie da meinen«, dachte er. »Wenn sie etwas sagen, das mich angeht, das höre ich. Das andere höre ich nicht.«

Nun lag er im Lazarett. Rechts und links waren Betten. Eine Pflegerin ging vorüber, weiße Haube, weiße Schürze, blau und weiß gestreiftes Kattunkleid. Sie ging geschäftig. Er schloß die Augen wieder.

Neben ihm lag ein Mann, der ihn plötzlich anredete: »Hat's dich sehr gepackt?«

Hans antwortete: »Nicht gefährlich. Fleischwunde. Blutverlust.«

Der Mann sagte: »Das ist nicht schlimm. Da hast du nachher keine Beschwerde in deinem Geschäft. Mir hat's ein Bein weggerissen.

Ich bin Müllkutscher. Sie sagen ja, man kriegt ein künstliches Bein, das ist dann so gut wie das richtige. Na, man muß sehen. Ich komme nun bald nach Hause. Das ist auch was wert. Aber zu Hause soll es mit der Verpflegung noch schlechter sein, wie hier draußen. Hast du was davon gehört?«

Hans antwortete nicht; er hörte die Stimme wie aus ganz weiter Ferne. Er wußte, daß der Mann neben ihm lag, er wollte ihm antworten, aber seine Sinne umnebelten sich wieder.

Der Arzt sagte ihm, als er ihn behandelte, man habe ihn hierher gebracht, weil die kleinen Zimmer besetzt seien; er werde bald umgebettet sein. Er antwortete, ihm sei es recht so, er halte die Bevorzugung nicht für richtig. Zwölf Betten waren in dem Raum. Die Pflegerinnen gingen mit leisen Schritten.

»Ich heiße Kraus«, sagte sein Nachbar. »Wie heißt du denn?« Hans nannte seinen Namen. »Du kannst von Glück sagen, daß du hierher gekommen bist«, erzählte Kraus. »Zuerst waren sie grob, die Ärzte und die Schwestern; ich habe einmal gesagt, da war einer, der lag im Sterben, ›das ist doch kein Stück Vieh‹, habe ich gesagt. ›Wenn Ihr mich so anfaßt‹, habe ich gesagt, ›ich kann es vertragen, aber der Mann, das müßt Ihr doch sehen, der macht es doch nicht mehr lange‹. Nun, natürlich, man kann es sich ja denken, das Personal hat viel zu tun, da kann nicht immer mit Handschuhen zugegriffen werden, und die Leute sind ja auch manchmal unvernünftig und wissen nicht, was sie verlangen sollen. Man muß immer beide Teile hören. Ich sage: seit die Schwester Marie da ist, ist es besser geworden. Die hörst du nie schimpfen. Wenn die dich anfaßt, dann ist es, als ob dich ein kühles Rosenblatt berührt. Die ist nämlich von hohem Stand, die meisten Schwestern, die stammen ja nur von gewöhnlichen Leuten her, na, und dann weiß man doch schon, die jungen Offiziere, und so, was da so ist. Aber die Schwester Marie – nichts. Die braucht einen bloß anzusehen mit ihren Augen, dann gucken sie alle weg. Da schämen sie sich, vor der.«

Die Schwester Marie trat an das Bett von Hans. Hans erkannte sie. »Fräulein Willmar!« rief er und streckte ihr die Hand hin. Es huschte freundlich über ihr Gesicht, sie drückte seine Hand und sagte: »Liegen Sie recht still, ich freue mich, daß ich Sie zu pflegen habe.« Sie nickte auch Kraus zu, der sie verklärt ansah; sie sagte ihm: »Wir stammen aus derselben Stadt.« – »Ja, das kommt vor« erwiderte der, »da trifft man zuweilen Leute wieder, die man seit zehn Jahren nicht gesehen hat.«

Als sie ging, sah ihr Kraus glücklich nach. »Kannst du das sehen?« fragte er Hans, »wie die geht? Das kann man mit den andern doch gar nicht vergleichen!« Plötzlich seufzte er auf: »Ja, das sieht man nun so, und wenn man denkt, wie roh man selber ist! Davon weiß so eine ja gar nichts.« Er hörte, daß Hans Offizier war; plötzlich wurde er schweigsam. Der Nachbar auf der andern Seite schlief fast immer, Hans hatte mit ihm nur einige Worte wechseln können.

»Die Herren Offiziere haben doch ihre Stuben für sich, da liegt immer nur einer?« fragte er mißtrauisch.

»Es war gerade kein Platz, und ich möchte nun auch gern hier bei den andern bleiben«, erwiderte Hans.

»Ja, das ist ja denn nicht so langweilig«, sagte Kraus. »Aber die kriegen da immer etwas Besonderes zugesteckt. Für die Mannschaften ist nichts da.«

Hans suchte zu entschuldigen: »Sie müssen immer bedenken, wir sind alle Menschen. Es soll ja nicht sein. Und der Offizier soll ein Vorbild geben. Aber wenn da nun einmal etwas vorkommt, bei den Mannschaften ist auch nicht immer alles so, wie es sein sollte.«

»Das sage ich ja«, erwiderte Kraus, »Und Disziplin muß sein, sonst geht es nicht. Aber sehen Sie, Herr Leutnant, nicht wahr, ich kann offen sprechen, und ich werde ja nun auch entlassen, wenn ich transportiert werden kann. Wir kamen aus dem Graben in Ruhestellung, Sie wissen, wie man da aussieht, und wie einem da zu Mute ist, da ist so ein Fräulein in einem Laden, da heißt es, es werden Liebesgaben verteilt. Ich, rein. ›Na, was habt Ihr denn da?‹ – ›Nichts. Wir haben ja gar nichts mehr. Alles weggegeben. Gehen Sie nur hinaus. Sie riechen‹. Mit meinen eigenen Augen habe ich gesehen, wie ein Leutnant herausgegangen ist mit zwei Flaschen Sekt unterm Arm. Sehen Sie, Herr Leutnant, das wurmt. Und der hat den Schützengraben vielleicht nicht zu sehen gekriegt.«

»Sie haben recht«, erwiderte Hans. »Das wird aber doch auch jeder anständige Mensch verurteilen.«

»Sie, ja, das glaube ich wohl«, sagte Kraus. »Ich sage auch immer: Nicht allgemein urteilen. Es gibt auch unter den Offizieren gute Männer. Unser Hauptmann, für den wären wir durchs Feuer gegangen. Streng war er, aber gerecht. Und überhaupt, die früheren Offiziere, die Berufsoffiziere. Aber die sind ja nun alle tot, die sind gleich in den ersten Wochen gefallen, weil sie sich nicht geschont haben. Ja, die waren ein Vorbild, da konnte man stolz sein.«

»Wie haben Sie denn Ihre Verwundung bekommen?« fragte Hans.

»Schau, das will ich dir sagen«, erzählte zutraulich Kraus. »Wir haben einen Abschnitt gehabt, der ist wochenlang ruhig. Nun, da muß wohl gegenüber ein neuer Offizier gekommen sein, der will etwas vorstellen, mit einem Mal geht es los. Wir haben da uns schöne Räume ausgegraben gehabt, ganz bequem, da sitzen wir zusammen, da kratzt sich der Hauptmann hinterm Ohr und sagt: ›Kinder, was machen wir nun? Wir haben nicht genug Munition mehr. Wer will Munition holen? Gefährlich ist es. Aber wenn die nun einen Sturmangriff machen, dann sitzen wir da‹. Na, kannst dir denken, nach so was drängt sich keiner. Da sind so ein paar, die gucken mich an. ›Na‹, denke ich, ›die meinen ja wohl, ich soll vor?‹ Also, ich stehe auf und stehe stramm und sage: ›Zu Befehl, Herr Hauptmann, ich, Herr Hauptmann‹. Da lacht der Hauptmann über das ganze Gesicht und haut mir auf die Schulter und spricht: ›Das ist recht. Kraus, Sie sind mein bester Mann‹ – das hat er gesagt – ›Sie lassen die Kompanie nicht im Stich.‹ Ich habe mich ordentlich geschämt, wie er das gesagt hat. Na, also nun los. Aus dem Graben herausgeklettert, und dann die Beine in die Hand genommen. Na, so gelaufen bin ich nie in meinem Leben. Rechts und links: Huit, Huit, Klatsch, Klatsch! Na, da war ein Hohlweg, da war ich ja nun gerettet. Also ich komme gut an. So und so, Meldung, gut, abgemacht. Die Pakete auf den Wagen geladen, angespannt. Das waren zwei schöne Gäule! Schwarz, kein weißes Haar, das waren ehrliche Pferde, die sahen mich so an, ich klopfte sie, sie reiben sich noch die Nase an mir, die Tränen sind mir gekommen, ich sage mir: ›Ihr werdet ja wohl nicht zurückkehren!‹ Also ich aufgesetzt und nun los! Die Gäule laufen wie der Teufel, die waren gewiß von einer feinen Herrschaft, die waren immer gut gehalten, kein Falsch war in denen. Hohlweg, gut; dann das freie Feld. Ich habe einen schönen Buckel gemacht! Und die Gäule! Wie verrückt! Richtig, wir kommen an den Graben, ich fahre hart an den Rand, rufe hinein: ›Aufgepaßt!‹ rufe ich; ich hebe das Seitenbrett hoch, und immer mit beiden Händen die Pakete hinuntergeschaufelt in den Graben. Die Gäule zitterten, das pfiff nur so um uns, der Schaum stand ihnen in den Weichen vor Angst, aber wie aus Stein! Keinen Ruck! Mit einem Mal eine Granate, gerade zwischen die Gäule, alles geht hoch, einen Ruck, ich schlage hin, wie ich wieder zusehe, meine Gäule sind fort, Deichsel fort. Ein Hinterbein lag da, das war alles. Aber nun schnell weiter, die Patronen in den Graben! Da sind noch ein paar Päckchen, die schiebe ich mit dem Fuß zusammen; mit einem Mal schmeißt mich's um. ›Nanu‹, denke ich, und greife neben mich. Ja, da fasse ich doch mein Bein! Wie mit dem Messer abgeschnitten! Aber gefühlt habe ich nichts. »Nun kaltes Blut!« sage ich mir. ›Jetzt gehst du auf den Händen‹. Patronen waren nicht mehr im Wagen. Ich krieche nach vorn und lasse mich herunter, da war der schräge Haufen Patronen, auf dem rutsche ich in den Graben. Nun, da haben sie mich im Graben. Dann sind sie aber besorgt gewesen. Gleich hineingetragen und verbunden. Und so ist es denn gekommen. Nur nachher, wenn sie einem die Haut über den Stummel ziehen, das schrimmt. Da hört man die Engel im Himmel pfeifen.«

Hans hörte der Erzählung zu. Sie floß, stockend manchmal, dann schneller; Kraus sprach mit halblauter Stimme; ein Verwundeter weiter hinten ächzte; ein Mann schnarchte; ein anderer Mann erzählte seinem Nachbarn; manche lagen wohl halbträumend, ruhig und still.

Nun ging ihm die Erzählung in Halbtraum über; er wußte nicht mehr recht, wie alles war: Bett und Schützengraben. »Ich habe doch wohl viel Blutverlust gehabt«, dachte er. Nach einer Weile wurde ihm klar, daß Kraus schwieg.

Dann sah er, wie die Schwester Marie zwischen seinem und des Andern Bett stand. Sie hatte ihm den Rücken zugewendet, sie sprach mit Kraus. Aber er konnte nicht verstehen, was sie sprach. »Das geht mich ja auch nichts an«, dachte er. »Wie schön ist die Müdigkeit«, dachte er. Eine Fliege summte.

Nun ging die Schwester fort. Langsam sah er zur Seite, da lag Kraus, er nickte nachdenklich mit dem Kopf. »Hast du gehört?« fragte er. »Ich komme morgen fort. Das hat sie mir gesagt.«

Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ja, wenn ich nicht ein Krüppel wäre, und hätte Bildung, und hätte Geld, dann wüßte ich schon, was ich täte. So ein Mädchen gibt's nicht wieder, mit der kann ein Mann zu etwas kommen.«

Hans hatte von der Verwundung nicht nach Haus geschrieben, er bekam seine Briefe ins Lazarett nachgeschickt. Dadurch war eine Verspätung; nun erhielt er mit einem Mal mehrere zusammen.

Er las die Briefe von Anna. Sie schrieb ihm, was sie gelesen hatte auf seinen Wunsch und erzählte, wie es zu Hause ging; sie schrieb, daß sie noch reichlich zu essen hätten und daß sie sich nicht zu sorgen brauchten. Er wußte, daß das nicht wahr sein konnte, er hatte ja beim letzten Urlaub gesehen, wie knapp alles war, wie mager, verhungert alle Menschen aussahen, wie zart und schmächtig Anna selber geworden war. Die Tränen traten ihm in die Augen; seit er hier lag, war er viel weicher geworden; »das macht der Blutverlust«, dachte er.

»Da hast du wohl was Liebes zu Haus?« fragte ihn Kraus. »Ja, das sieht man wohl schon. Ja, für euch ist das auch schwer. Da habt ihr nun euer gutes Essen und Trinken, aber das allein macht es auch nicht. Es hat ein jeder sein Päckchen zu tragen. Ich habe ja keinen zu Hause. Ich bin ein uneheliches Kind, meine Mutter ist tot, mich hat die Gemeinde aufgezogen, na weißt du, die Bauern tun das ja nicht gern, wenn sie den Beutel ziehen müssen für fremde Kinder, verdenken kann man es ihnen ja nicht, denen wird es auch nicht leicht.«

Der Nachbar auf der anderen Seite war wach. Er begann zu erzählen: »Ich bin auch einmal fein gewesen. Da hättet ihr mich sehen sollen. Ich habe ein Glas im Auge gehabt, und feine Handschuhe, und dann bin ich gegangen und habe mit feinen Leuten Billard gespielt. Das sieht man mir jetzt nicht an, vollends wo ich hier liege.«

Er hatte ein breites, gutmütiges Gesicht mit langen roten Bartstoppeln, die von der Oberlippe bis zu den Nasenflügeln gingen. Über die Nase zog sich ein Streifen Sommersprossen.

»Arbeiten tue ich nicht mehr, wenn ich nach Hause komme«, fuhr er fort. »Meine Rente muß mir werden. Ich habe noch meinen feinen Anzug und den Zylinder, da gehe ich nachmittags zwischen vier und fünf auf der Promenade spazieren und sehe mir die Schaufenster an.«

Kraus lachte: »Dir werden sie es schon zeigen«, sagte er. Er erklärte Hans: »Der sucht nämlich immer den Menschen, der die Arbeit erfunden hat. Aber dem geht's schlecht, wenn er ihn findet!«

»Wieso denn?« fragte der andere. »Wenn sich mir eine Arbeit bot, habe ich sie genommen. Im Frühjahr habe ich für die Herrschaften die Vorgärten zurecht gemacht. Dann hatte ich auch einen Blumenhandel. Auch Kammerjäger bin ich. Ich weiß ein Mittel, da bringe ich alle Wanzen weg, die rennen nur so, wenn sie das riechen. Für zwanzig Pfennige kriege ich eine große Düte voll, daraus mache ich zehn Päckchen, für jedes Päckchen bezahlen mir die Herrschaften zwei Mark. Das ist ein sehr gutes Geschäft. Ich hatte auch eine Vertretung für eine große Gold- und Silberwarenfabrik, da verkaufte ich viel an die Dienstmädchen. Ich habe manchmal meine dreißig, vierzig Mark die Woche verdient.«

Er stöhnte und legte sich seufzend auf die andere Seite.

Am andern Morgen wurden für Kraus die Kleider gebracht; eine Krücke stand da am Bett. Er zog sich an, er drückte Hans die Hand; dann ging er zu den andern Betten und nahm Abschied.

An der Tür stand Schwester Marie. Er wurde rot, als er zu ihr trat, er wollte ihr etwas sagen, aber es kam kein richtiges Wort heraus. Er reichte ihr die Hand, sie nahm sie und sagte ihm Wünsche. »Ja, das sagt man so«, erwiderte er.

Nun nestelte er an seiner Weste, da zog er ein Geldstück heraus, das mit einer Öse an einem Band ihm um den Hals hing. Er riß das Band ab und reichte ihr das Geldstück. Es war ein altes bayrisches Zehnkreuzerstück mit der heiligen Jungfrau.

»Schwester, das nehmen Sie und hängen es um den Hals. Ich brauche es nicht mehr«, sagte er, »ich komme nun nach Haus. Es beschützt, und mich hat es ja auch immer beschützt. Es ist noch von meiner Mutter, weiter habe ich nichts von ihr geerbt, das hat mir der Schulze gegeben, wie ich gefirmt wurde.«

»Ich bin ja Protestantin«, sagte sie zögernd.

»Das macht nichts. Die heilige Jungfrau geht nicht nach der Konfession, aufs Herz sieht sie«, erwiderte er.

Sie sah ihn voll an und reichte ihm noch einmal die Hand. »Ich danke Ihnen von Herzen«, sagte sie. »Ich werde die Münze tragen.« Er machte eine abwehrende Handbewegung, dann humpelte er aus der Tür. –

Bei dem Landgerichtspräsidenten humpelte er die Treppe hinauf und klingelte. Es war an einem Sonntagnachmittag. Willmar saß in seinem Ammer und arbeitete; Frau Willmar saß in einer Ecke des Sofas und strickte.

Sie stand auf, ging hinaus und öffnete die Tür. Ein junger Mann im Sonntagsanzug, groß gewachsen, mit offenem, hübschem Gesicht, blond, stand vor ihr. Er hatte nur ein Bein und ging an der Krücke. Er nahm den Hut ab und behielt ihn verlegen in der Hand. »Ich wollte mit der Herrschaft sprechen«, sagte er. Sie erwiderte: »Ich bin Frau Willmar. Was wünschen Sie?« Dem jungen Mann flog ein Freudenschein über das Gesicht. Er streckte ihr die Hand entgegen und rief: »Grüß Gott!« Frau Willmar legte ihre Hand etwas zögernd in die dargebotene Rechte, dann sagte sie: »Wollen Sie nicht in das Zimmer kommen?«

Der Besucher war Kraus. Er humpelte in den Flurgang, hängte seinen Hut an den Kleiderhaken, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und folgte der Frau in das Wohnzimmer. Frau Willmar setzte sich und wies ihm einen Stuhl an, auf dem er sich schwerfällig niederließ.

»Ich komme nämlich aus dem Lazarett«, sagte er. »Da war ein Leutnant, der lag neben mir, der hat mir gesagt, wie Sie heißen und wo Sie wohnen. Das war ein Leutnant Werner.« »Ach, Hans Werner«, rief Frau Willmar aus. »Ist er denn verwundet? Wir wissen ja gar nichts, doch nicht schlimm?«

»Nicht gefährlich«, erwiderte Kraus.

»Einen Augenblick, ich will nur meinen Mann rufen«, sagte Frau Willmar und eilte in das Nebenzimmer. Der Landgerichtspräsident erhob sich und folgte ihr. Er begrüßte Kraus, er winkte dem Verstümmelten, sitzen zu bleiben, und setzte sich selber. »Wie geht es denn meinem Mündel?« fragte er. »Wir haben seit drei Wochen keine Nachricht.« »O, so weit ganz gut«, erwiderte Kraus.

»Was ist denn das für eine Verwundung?« fragte Frau Willmar. »Man hört so viel schreckliche Geschichten.« »Hier an der Seite, da hat es ihm einen tiefen Riß gemacht. Aber bis auf den Knochen ist es nicht gekommen«, sagte Kraus. »Sie haben es ihm genäht, die Fäden sind schon wieder herausgezogen. Er wird wohl bald Urlaub haben.«

»Sie sind wohl erst seit kurzem zurück?«

»Vorigen Dienstag entlassen«, erwiderte Kraus. »Wie das in meinem Geschäft so ist. Ich kann überall ankommen. So, habe ich mir gedacht, gehst du nach hier, lernst du einmal eine andere Stadt kennen. Schöne Stadt! Schöne Häuser! Alles neu!«

»Was haben Sie denn für ein Geschäft?« fragte Frau Willmar.

»Ich bin bei den Pferden«, erwiderte Kraus.

»Da finden Sie eine Stellung hier?« fragte der Landgerichtspräsident.

»Freilich«, lachte Kraus. »Ich muß nur erst mein neues Bein haben«.

»Ach, du könntest dem Herrn – wie heißen Sie doch?« fragte der Landgerichtspräsident.

»Musketier Kraus, Xaver Kraus«, erwiderte der Mann.

»Du könntest Herrn Kraus eine Tasse Kaffee bringen, Frau – Sie müssen entschuldigen, wir haben schon getrunken ...« Frau Willmar erhob sich. Kraus errötete. »Ach, meinetwegen solche Umstände! deswegen bin ich doch nicht gekommen«, sagte er.

Es entstand eine Pause, während der sich Kraus im Zimmer umsah. Endlich sagte er: »Da ist ein Klavier, auf dem hat Schwester Marie gewiß gespielt.«

»Kennen Sie denn meine Tochter?« fragte Willmar erstaunt. »Freilich«, erwiderte Kraus. »Die hat doch in unserm Saal gepflegt! Wie ich hinkam – na, ich will nichts sagen, die Leute haben ja auch ihre Last. An einem Morgen ist sie da. Der Arzt kommt zu mir: ›Wenden Sie sich um‹, schnauzt er mich an. Ich versuche, versuche. Da kommt die Schwester Marie. ›Vielleicht treten wir auf die andere Seite, Herr Doktor‹, sagte sie. Und wissen Sie, wenn die so etwas sagte, dann mußte man das schon tun, das half nichts. Und dann nahm sie mich, die hat Kräfte! So eine zarte Person, das sollte man nicht denken! Ich habe gar nichts gespürt, wie der Doktor den Verband gewechselt hat.« Eben trat Frau Willmar mit dem Kaffee ein. »Du, denke dir, Herr Kraus ist von Marie gepflegt«, rief der Präsident. Die Tasse zitterte in Frau Willmars Hand. Sie setzte sich und sah Kraus fragend an.

»Ja, sie sagt nur, ›vielleicht treten wir auf die andere Seite, Herr Doktor‹, und dann, wissen Sie, wenn die so etwas sagte, dann mußte man das schon tun«, erzählte Kraus noch einmal.

Frau Willmar wendete das Gesicht nicht von Kraus und schob ihm die Tasse zu. Er errötete und zog sie an sich: »Ich danke auch. Aber das war gar nicht nötig.«

»Nun erzählen Sie doch, was hat sie denn alles zu tun?« fragte Frau Willmar.

Kraus verstummte. Um die Pause auszufüllen, ergriff er die Tasse, sagte, »ich bin so frei« und trank, indem er die Schale unterhielt.

»Es ist bloß Malzkaffee«, sagte der Präsident lächelnd.

»Freilich«, erwiderte lächelnd Kraus. »Der richtige Kaffee, der ist heutzutage nur für die feinen Leute.«

»Wie sieht sie denn aus?« fragte Frau Willmar. »Sieht sie denn blaß aus?«

»O nein«, erwiderte Kraus. »Ganz munter. So ernst ist sie immer. Aber gut, sehr gut.«

Der Präsident erhob sich. »Ich muß mich entschuldigen. Ich habe eine dringende Arbeit für eine Verhandlung morgen.« Er gab Kraus die Hand, forderte ihn auf, seinen Besuch zu wiederholen, und ging in sein Zimmer.

Kraus wollte auch gehen. »Aber Sie müssen doch erst ihren Kaffee austrinken«, sagte Frau Willmar. Er setzte sich und trank.

»Wie gefällt Ihnen denn unsere Stadt?« fragte sie.

»Schön, sehr schön, und die Anlagen, und das Schloß, alles sehr schön«, sagte Kraus. »Wenn man von draußen kommt! Da merkt man erst, was man früher so gar nicht beachtet hat.«

Es entstand wieder eine Pause. Dann sagte er zutraulich: »Gnädige Frau, muß denn der Herr am Sonntag Nachmittag auch immer arbeiten?«

Frau Willmar seufzte. »Ich mache mir ja Sorgen, er überanstrengt sich. Das geht Sonntag wie Alltag. Keine Nacht kommt er vor eins ins Bett.«

Kraus schüttelte verwundert den Kopf. »Und da denkt man nun immer, das sind feine Herrschaften, und die brauchen nicht zu arbeiten, die können ins Theater gehen und in die Vergnügungen, ja es hat wohl jeder seine Last!«

Kraus wohnte bei einem alten Ehepaar. Der Mann war Tischler. Er hatte früher einen Gesellen gehabt, dessen Bett stand noch in einem kleinen Verschlag hinter der Werkstatt; in dem schlief nun Kraus. Aber so lange er noch nicht in Arbeit war, hielt er sich in der Werkstatt bei dem Mann auf, oder in der Küche bei der alten Frau. Die alten Leute waren verärgert, »Wenn ich mein Geld ehrlich verdiene, und dann kann ich mir dafür nicht kaufen, was ich will!« sagte der Mann. »Das sind bloß die Reichen, die wollen nicht aufhören mit dem Krieg. Was hat denn das Volk davon? Jeden Tag Dotschen. Ich kann sie schon nicht mehr riechen! Da, die ganze Schublade habe ich voll Geld! Was mache ich denn mit den Lappen!«

Die Frau klagte über den Kaffee. Sie konnte den Malzkaffee nicht vertragen. Er machte ihr Magenbeschwerden. Um dreißig Pfund hatte sie abgenommen. »Ja, wenn die da oben nicht Frieden machen können, dann muß es das Volk in die Hand nehmen, dann macht das Volk den Frieden«, sagte sie.

Kraus stimmte ihnen bei. Er fand, daß die Großen nicht wüßten, wie es im Volk aussah. Im Feld draußen war es schon schlimm gewesen mit der Verpflegung, aber hier zu Hause war es ja noch schlimmer.

Die Arbeiter der Munitionsfabrik streikten. Es war eine Versammlung der Streikenden angekündigt, aber die wurde verboten. Ein Anschlag vom Generalkommando kam mit Androhungen im Falle von Zusammenrottungen.

Zwei Munitionsarbeiter, junge Burschen von sechzehn, siebzehn Jahren, saßen in den Anlagen, die Hände tief in den Taschen, die Mütze hinten auf dem Kopf, mit welken, frechen Gesichtern. Der eine gähnte.

»Mein Vater hat wieder geschrieben. Er sitzt nun schon zwei Jahre im Schützengraben und kommt nicht raus. Ich soll sparen, schreibt er. Wozu denn?«

»So blau«, sagte der andere.

»Wenn meine Mutter nicht aufhört, dann ziehe ich fort. Für das Geld, das ich ihr gebe, kriege ich überall eine Schlafstelle, und da denken die Leute nicht, daß sie was sagen dürfen, wenn ich einmal mit einem Mädel gehe.«

Der andere zog aus der Jackentasche mit faulen Bewegungen ein Stück Brot und ein Ende Wurst, hielt es ihm vor das Gesicht und sagte lachend: »Der Staat sorgt doch für uns. Wie vorgestern der Geheimrat durchging, da sah er mich frühstücken. Die Augen!« Nun zog er das Taschenmesser vor, schnitt vom Brot ab, höhlte die Wurstschale aus, und aß. Auch der erste holte sein Frühstück aus der Tasche. Er sagte: »Wenn das Volksblatt schreiben dürfte, wie es wollte! Da wird's den Obern gesagt!«

»Ich lese keine Zeitung«, erwiderte der andere kauend. »Ich bezahle mein Geld an die Organisation, damit gut.«

»Es gibt jetzt neue Anzüge, ohne Karten, aus Papierstoff. Piekfein!« begann der erste. Der andere antwortete nicht, er kaute gleichmütig weiter.

Allerhand Gerüchte durchschwirrten die Stadt. Es hieß, daß ein Durchbruch gelungen sei. Auf den Straßen war eine freudige Erregung. Es war, als ob die Menschen plötzlich anders aussahen, als ob andere Menschen auf den Straßen waren: abgemagerte alte Männer in weißem Bart, sauber angezogen, die gerade und aufrecht gingen, Jungens mit fröhlichen Mienen in den blassen Gesichtern, verhärmte Frauen in abgetragenen Kleidern, die ordentlich instand gehalten waren.

Lewandowsky ging zum Generalkommando. Er wurde zum General vorgelassen.

»Sie werden sich denken, Exzellenz, weshalb ich komme«, sagte er. »In der Arbeiterschaft gärt es. Ich bekomme auch Botschaft ...« er stockte.

»Sie wollen sagen: aus der Kaserne?« warf der General ein. »Das wissen wir.«

»Ich frage Sie: haben Sie die Mittel in der Hand, die Ordnung aufrechtzuhalten, oder müssen wir eingreifen?« fragte Lewandowsky.

Der General strich den weißen Schnurrbart. Er erwiderte: »Ich habe keine Veranlassung, Ihre Frage zu beantworten.«

Lewandowsky schwieg eine Weile, dann sagte er: »Gut. Wir werden wissen, was wir zu tun haben.« Er grüßte und entfernte sich.

»Diese Nacht geht es los«, sagte der General zu dem Offizier, der in seinem Zimmer war. »Wir können nichts machen. In der Kaserne ist nicht ein zuverlässiger Mann. Hätte ich fünfhundert Leute, dann wäre alles in Ordnung. Aber die guten Leute sind alle draußen.«

»Was gedenken Exzellenz zu tun?«

»Den Großherzog benachrichtigen, und dann abwarten.«

»Nehmen Sie an, daß Gefahren sein werden?«

»Für unsere Familie nicht. Für uns vielleicht. Die Leute sind auf die Offiziere erbittert. Wir wollen sie nicht reizen, natürlich hat alles seine Grenzen. Auf alle Fälle ...« er zog eine Pistole halb aus der Tasche vor und zeigte sie.

»Ja gewiß«, sagte der Offizier. »Ich habe mich auch vorgesehen. Es ist nicht leicht. Schließlich tut einem das arme Volk doch leid.«

Der General zuckte die Achseln: »Ja, wer hat schuld! Dieser Mensch da eben doch im Grunde auch nicht, der ist doch nur ein Stiefelputzer. Die Maschine ist überanstrengt, die Lager sind ausgeleiert, die Räder greifen nicht mehr ineinander, sie ist nur noch altes Eisen. Und weiter ist nichts da. Das nennt man also Revolution. Gut. Erlebe ich also auch eine Revolution. Bleiben Sie hier. Ich werfe mich in die Galauniform und gehe zur Königlichen Hoheit.« Er grüßte und ging.

Der Großherzog erwartete den General im großen Saal. Der alte Mann stand in Uniform, in gerader Haltung. »Nun, meine liebe Exzellenz«, fragte er, »was haben Sie mir zu berichten? Im Feld alles gut? Die höchste Bewunderung für unsere Heeresleitung und für die sittlichen Kräfte im Volk.«

»Königliche Hoheit«, erwiderte der General, »der Geist der Truppen ist derselbe wie immer. Auch im guten Teil des Volkes ist noch die alte Stimmung.«

»Habe ich das nicht immer gesagt?« rief der Großherzog aus. »In diesem Krieg wird das Volk den Sieg davontragen, in dem der Glaube an Gott am lebendigsten ist.«

»Es sieht nicht so gut aus, wie Königliche Hoheit denken«, sagte der General. »In der Kaserne habe ich nur lauter junge Mannschaften, die älteren sind sämtlich draußen im Feld. Wenn Unruhen ausbrechen, so habe ich keine Kräfte in der Hand.«

»Wie? Exzellenz?« fragte der Großherzog. Er sah den General erstaunt, erschreckt an. Der schlug die Augen nieder.

»Wie«, fuhr er fort, »das befürchten Sie?« Er schwieg lange.

Mit veränderter Stimme fragte er: »Und was hatten Sie mir Besonderes zu berichten?«

»Ich würde es für richtig halten, wenn Königliche Hoheit mit der großherzoglichen Familie für einige Zeit Ihren Aufenthalt aus der Hauptstadt verlegten«, sagte der General.

Der Großherzog schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Exzellenz glauben, daß Sie für meine Sicherheit und die Sicherheit meiner Familie verantwortlich sind. Ich danke Ihnen. Sie werden aber gewiß verstehen, wenn ich selber über den Punkt anders denke. Das soll nicht etwa ein Vorwurf gegen Sie sein, Sie stehen an Ihrem Platz und müssen Ihre Pflicht tun. Ich möchte, daß die Großherzogin unserm Gespräch beiwohnt.«

Die beiden Herren begaben sich zu den Gemächern der Großherzogin.

»Meine Liebe«, begann der Großherzog, »Exzellenz bringt mir eben die Nachricht, daß er nicht mehr für unsere Sicherheit bürgen kann.«

Die Großherzogin sah den General erschrocken an, ihre hellblauen, alten Augen wurden groß und rund, die Brauen zogen sich hoch.

»Mir scheint, wir haben nicht ganz richtige Vorstellungen von allem gehabt«, sagte der Großherzog zu ihr. »Nun muß die Entscheidung getroffen werden. Ich möchte dir meine Ansicht zur Begutachtung vorlegen. Deinem klugen Rat habe ich viel zu verdanken. Ich denke, wir sind zwei alte Leute. Ich habe immer gemeint, daß wir ein Leben geführt haben, auf dem kein Vorwurf lastet. Wir haben keine Kinder. Sollen wir uns der Nachrede aussehen, daß wir geflohen sind? Unseres Lebens Ziel wäre ohnehin in ein paar Jahren erreicht, die Erschütterung wird auch die noch abkürzen. Eine Aufgabe haben wir nicht mehr zu erfüllen, denn wenn das möglich ist, daß Exzellenz für unsere Sicherheit besorgt ist, was können wir dann noch tun? Ich würde dir vorschlagen, daß wir bleiben.«

Die Großherzogin trat neben ihn, nahm seinen Arm und sagte zu dem General: »Ich richte mich natürlich nach der Ansicht des Großherzogs. Für Ihre pflichttreue Wachsamkeit sage ich Ihnen meinen Dank.«

Der General verbeugte sich. Er sagte mit gepreßter Stimme: »Was jetzt geschieht. Königliche Hoheit, das wird für Jahrhunderte bestimmend sein.«

»Das weiß ich«, erwiderte der Großherzog. »Wir gehören nicht uns. Gehen Sie mit Gott.« Er reichte ihm mit einem gnädigen Lächeln die Hand, der General beugte sich tief über sie und küßte sie; eine Träne fiel auf die Hand.

»Was haben Sie!« rief der Großherzog erschrocken, »was haben Sie! Sie sind noch ein junger Mann. Alte Leute hängen nicht mehr am Leben. Und denken Sie nicht, daß ich ein Beispiel für Sie sein muß. Sie können vielleicht später einmal gebraucht werden. Setzen Sie sich wenigstens nicht nutzlos aus. Mit uns ist das etwas anderes.«

In der Stadt liefen allerhand Gerüchte um. Es hieß, daß in der Munitionsfabrik und bei Werner Arbeiterräte gebildet seien. Auf den Straßen zeigte sich kein Soldat; es hieß, daß die Kaserne geschlossen sei. In den letzten Wochen waren allerlei fremde Menschen zugezogen von auffälligem Aussehen; es war, als ob deren viel mehr seien, als sie in Wirklichkeit waren; man sah sie immer auf der Straße eilig gehen, mit wichtigen Geschäften, wie es schien. Lewandowsky fuhr im Auto verschiedentlich die Hauptstraße entlang. Man erzählte sich, daß die telefonische und telegrafische Verbindung abgeschnitten sei. Die Dämmerung zog herauf; die Straßenlaternen brannten; es wirkte unheimlich, wie sie in der Dämmerung in ihrer Reihe standen.

Es waren wohl etwas mehr Menschen auf der Straße als sonst; vor allem eine andere Art von Menschen. Viele junge Arbeiter waren da, welche in kleinen Trupps zu zwei oder drei gingen, die Hände in den Hosentaschen, unschlüssig, was tun, neugierig ein Schaufenster betrachtend, indessen der Ladenbesitzer ängstlich auf der Schwelle stand. Sie warfen sich wohl Zurufe zu. Es kam wohl auch einmal eine Reihe Fabrikmädchen, welche sich untergefaßt hielten und die ganze Straßenbreite einnahmen. Sie riefen: »Platz da!« und die Leute wichen ihnen meistens aus; die jungen Burschen riefen ihnen höhnische Bemerkungen nach, pfiffen; es war auch wohl einmal ein Aufkreischen. Dann machten sich offenkundige Strolche bemerkbar: Gestalten in zerknitterten Hosen, aufgebogenen Stiefeln, in zugeknöpftem Sommerüberzieher, unter dem offenbar weder Jacke noch Weste, noch Hemd sich befand. Sie schlurften argwöhnisch, vorsichtig an den Seiten. So ein Mann bückte sich dann wohl, um einen fortgeworfenen Zigarrenstummel aufzuheben und in die Tasche zu stecken.

In der Schriftleitung des Volksblatts waren bei Lewandowsky eine Anzahl Männer versammelt, meistens junge Leute. Lewandowsky saß auf dem Stuhl, die andern standen an den Wanden.

»Wir haben also nun die Minister der Revolutionsregierung«, sagte er. »Als Präsidenten schlage ich mich selber vor.«

»Gut«, sagte einer. »Jawohl«. – »Zugestimmt«, erklärten andere. »Noch einmal die ganze Liste vorlesen«, wurde gerufen. Lewandowsky erhob sich und begann zu lesen: »Ministerpräsident: Dr. Lewandowsky, Redakteur. Minister für Soziales: Auer, Wilhelm, Arbeiter ...« so las er weiter. Nach jedem Namen erklärte der Betreffende seine Zustimmung.

»Um Blutvergießen zu verhüten, meine Herren«, sagte Lewandowsky, »schlage ich vor, daß wir zunächst zur Kaserne fahren.«

Ein junger Mensch sagte: »Wenn die aber nun ...« er wurde verlegen, sah sich um, und beendete seinen Satz nicht.

»Keine Angst, meine Herren. Es ist für alles vorgesorgt«, rief Lewandowsky.

Die Männer gingen die Treppe hinunter. Auf der Straße standen Autos. Lewandowsky stieg in das erste Auto, schlug die Tür zu und befahl dem Lenker. Er fuhr vor der Kaserne vor. Lewandowsky stieg aus. Da stand ein Posten. Er nickte ihm zu, der Mann grüßte. Dann ging er in das Gebäude.

Auf der Straße vor der Kaserne versammelten sich Menschen. In einem Auto stand plötzlich ein Mann auf und sprach von oben herab: »Die Republik ist erklärt. Die Republik ist erklärt.« Die Leute herum schwiegen.

»Ja, was sollen wir denn nun tun?« sagte einer. Es entstand ein Schweigen, einige lachten bereits. Da kam ein Ruf aus der Menge: »Die Gefangenen befreien!« –

»Zum Gefängnis«, rief der Mann vom Auto herab, die Masse setzte sich in Bewegung.

»Mensch, kannst du denn nicht im Tritt marschieren!« sagte wütend ein Mann zu seinem Nachbarn.

Die Autos mit den Revolutionsministern fuhren beim Staatsministerium vor. Die Tür war geschlossen, der alte Pförtner sah aus seinem Fenster. Man merkte ihm an, er war ein Unteroffizier. Nun trug er einen langen, weißen Bart.

»Das ist meine Tür. Die mache ich nicht auf«, erklärte er.

»Wir sind das neue Ministerium. Ich bin der Ministerpräsident«, rief Lewandowsky. »Schließen Sie auf. Wir müssen in den Sitzungssaal.«

»Das neue Ministerium?« fragte der Mann verblüfft. Dann kratzte er sich den Kopf, nahm den Schlüssel vom Nagel und öffnete. Er bückte sich tief, als die Minister hineingingen.

Während der Nacht eilten Boten, wurde telefoniert, Autos rasten durch die Straßen. Früh am andern Morgen wurden Zettel an die Straßenecken geklebt. Viele von den Bürgern wußten nicht, was geschehen war. Sie lasen, daß die Monarchie gestürzt und der Volksstaat erklärt war.

Lewandowsky fuhr mit zweien der Minister zum Schloß. Die Männer wurden von einem Diener in einen Saal geführt, dort wurde ihnen bedeutet, zu warten. Sie warteten, wischten sich die Stirn, den Hals und Nacken mit dem Taschentuch. Es war ein großer und hoher Saal.

Der Großherzog trat ein und ging in gerader Haltung auf die Männer zu. Die zwei Minister verneigten sich tief; Lewandowsky blieb ruhig stehen, dann verneigte er sich plötzlich gleichfalls. Eine Pause entstand.

»Was wünschen die Herren?« fragte der Großherzog.

Lewandowsky trat vor. »Das Volk hat die Zügel in die Hand genommen. Die Republik ist erklärt. Ich bin der Ministerpräsident«, sagte er.

»Ihr Name?« fragte kühl der Großherzog.

Lewandowsky errötete: »Doktor Lewandowsky, Redakteur des Volksblatts«, antwortete er.

»So«, sagte der Großherzog und schwieg.

Eine Pause entstand. Lewandowsky räusperte sich, aber er sagte nichts. Die beiden Andern stießen sich verstohlen an.

»Und ... was wünschen Sie noch?« fragte endlich der Großherzog.

Lewandowsky zog geschäftig ein Papier aus der Tasche. »Hier habe ich die Abdankungsurkunde. Wenn Königliche Hoheit vielleicht ... ein Federzug ...« Er sah sich um. »Ist denn keine Tinte da?«

Ein Minister ging zur Tür, um einen Diener zu rufen.

»Behalten Sie Ihr Schriftstück. Ich unterzeichne es nicht«, sagte der Großherzog.

»Ja, aber ...« stotterte Lewandowsky verlegen.

»Ich kann Ihnen keinen Widerstand entgegensetzen. Ich habe keine Leute mehr zur Verfügung«, sagte der Großherzog. »Ich muß Ihnen überlassen, was Sie zu tun gedenken.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Die Großherzogin trat ein und schritt durch den Saal, um sich neben den Großherzog zu stellen. Sie war eine alte Dame, schwer und breit; ruhig blickte sie auf die drei Männer.

»Das sind die Herren, welche mir die Mitteilung machen«, sagte der Großherzog zu ihr. Die Drei sahen verlegen zu Boden, als die Großherzogin sie anblickte.

»Ja, was soll ich denn da tun?« fragte Lewandowsky beunruhigt.

Ein leichtes Lächeln flog über die Züge des Großherzogs. »Ich kann leider diese Frage nicht beantworten.«

»Königliche Hoheit, der Umschwung ist ohne Blutvergießen vor sich gegangen«, sagte Lewandowsky. »Ich bürge, daß Königliche Hoheit sicher sind. Auch die Geldfrage wird in vornehmster Weise geregelt werden. Wollen Königliche Hoheit nicht die Folgerungen ziehen?« Er reichte ihm nochmals das Schriftstück hin. Ein Diener brachte Tintenfaß und Feder.

»Ich habe meine Krone nicht von Menschen erhalten, sondern von Gott«, erwiderte der Großherzog. »Bei der Begründung des deutschen Reiches habe ich auf einen Teil ihrer Rechte verzichtet, weil ich mich dazu für berechtigt hielt. Zu diesem von Ihnen geforderten Verzicht halte ich mich nicht für berechtigt. Ich kann Ihnen keinen Widerstand entgegensehen. Ich will meine Beamten ihrer Eide entbinden; aber nur unter dem Druck der Umstände, die ich nicht für rechtlich gültig halte, also nur gezwungen, und nur für so lange, als es mir richtig erscheint, also auf Widerruf.«

Lewandowsky flüsterte den beiden Andern ein paar Worte zu. Dann sagte er: »Für unsere Zwecke wurde das zunächst genügen. Ich werde das Schriftstück aufsetzen und Königlicher Hoheit zugehen lassen.«

»Ich danke Ihnen«, sagte der Großherzog mit einer Handbewegung.

Die Drei gingen. Im Vorzimmer sagte der eine der Minister: »Na, ich bin froh, daß ich wieder heraus bin.«

Lewandowsky zuckte verächtlich die Achseln. »Komödie!« rief er aus.» Was denken Sie, Genosse, das ist ja alles, was diese Leute gelernt haben, daß sie sich darstellen.«

In den Straßen war in der Nacht Marschieren, Schießen und Rufen gewesen. Die ordentlichen Bürger hatten sich im Haus gehalten, allerhand Gesindel hatte sich herumgetrieben, und man erzählte, daß Plünderungen stattgefunden hatten, in einem Delikatessengeschäft, bei einem großen Schneidermeister.

Kraus klingelte am frühen Vormittag bei dem Landgerichtspräsidenten. Das Ehepaar war zusammen in der Wohnung, er wurde in das Zimmer geführt und auf einen Stuhl gesetzt.

»Aber was sagen Sie denn zu dem allen, ist das denn nicht schrecklich!« rief die Frau und rang die Hände. »Die ganze Nacht waren Schüsse.«

»Ja, schrecklich«, sagte Kraus nickend,

»Und geplündert haben sie auch!«

»Freilich haben sie geplündert«, bestätigte Kraus. »Ich bin ja doch dabei gewesen. Zwanzig Flaschen Wein habe ich an die Seite gestellt. ›Die sind für den Herrn Präsidenten‹, habe ich gesagt. ›Die bringe ich ihm morgen früh in die Wohnung.‹ Die haben sie mir auch ausgesoffen.«

»Ja, sind Sie denn dabei gewesen?« fragte die Frau.

»Freilich«, erwiderte Kraus. »Das sind doch alles diese Schieber, wir sind draußen gewesen im Schützengraben, da hat man seine gesunden Glieder aufs Spiel gesetzt und inzwischen haben die geschoben.«

Der Präsident lächelte, als er das Entsetzen seiner Frau bemerkte. »Es sind ja wohl nur ein paar Läden gewesen«, sagte er.

»Bloß ein paar«, bestätigte Kraus. »Aber wenn erst einmal so eine Unordnung ist, dann kann man sich auf nichts mehr verlassen. Über die zwanzig Flaschen habe ich mich schön geärgert. Die Taugenichtse habe ich verwünscht, die sie ausgesoffen haben. Lauter so junge Burschen, noch nicht trocken hinter den Ohren. ›Was braucht ihr Revolution zu machen‹, habe ich ihnen gesagt, ›ihr habt eure hohen Löhne gehabt.‹ Eins, zwei, dem einen habe ich's ins Gesicht gegeben, der denkt daran.«

»Na, eine Tasse Kaffee trinkt Herr Kraus doch«, sagte der Präsident zu seiner Gattin, »wenn wir nun auch um den Wein gekommen sind.« Seufzend und kopfschüttelnd erhob sich seine Gattin und ging in die Küche. –

Im Feld waren unterdessen überall Soldatenräte gewählt. Hampe und Müller waren mit noch einem dritten, einem Kandidaten der Theologie, Soldatenräte.

Hampe sagte zu den beiden andern: »Gebt mir sofort Urlaub. Ich muß gleich nach Hause, damit Lewandowsky keine Schweinereien macht.« Der Zettel wurde ihm geschrieben, er ging ab. Sein Hauptmann drückte ihm zum Abschied die Hand und sprach: »Sehen Sie zu, ob Sie noch etwas retten können. Wir können nichts mehr machen.«

Da war die zerschossene Landstraße, auf der strömten Soldaten, ohne Gewehre, in zusammengesuchten Uniformstücken, bepackt mit allerhand Eßwaren, die sie aus den Eisenbahnwagen geraubt hatten. »Das ist die Etappe«, sagte Hampe zu sich. »Die war unser Unglück.« Ein Kerl sprach ihn an, schleppte unter beiden Armen schwere Pakete. »Hast du dich auch selber freigemacht?« fragte er ihn. Hampe holte aus und gab ihm eine Ohrfeige. Der Mann blieb verdutzt stehen und sah ihm nach. Die Männer in der Nähe lachten, dann begann er zu schimpfen.

Vor einem Wirtshaus hielt ein Auto. Ein Mann stieg aus, glatt rasiert, rund, vergnügt und rot. Er rieb die Hände und fragte den Wirt: »Haben Sie etwas Gutes zu essen?« – »Staatsminister Erzberger«, stellte er sich vor. »Holen Sie her, was Sie haben. Jetzt geht es an die Unterhandlungen.«

Ein Zug fuhr los, Hampe konnte sich noch auf das Trittbrett schwingen.

Es fuhren in dem Zuge fast nur junge Leute. Eine Ersatzabteilung, die zu Hause gebildet und nach vorn geschickt war, hatte sich, ohne an den Ort ihrer Bestimmung zu gehen, des Zuges bemächtigt und fuhr nun wieder zurück in die Heimat. Die Abteile waren dicht gefüllt; die Gänge waren vollgestopft; auf den Trittbrettern draußen saßen sie; die Zugbeamten waren machtlos, ihre Anordnungen wurden gutmütig belacht.

»Nun geht es wieder nach Hause zu Muttern«, rief ein junger Mensch. »Die wird eine Freude haben, daß ihr Junge ganz wieder nach Hause kommt.«

»Da wird gleich ein Kuchen gebacken«, ließ sich ein anderer stichelnd vernehmen.

»Wovon denn?« fragte der erste. »Ihr denkt immer, wir Bauern haben's.«

Die andern lachten. Einer rief: »Na, das sieht man dir an, daß du noch keine Not gelitten hast.«

Die Jünglinge lachten. Aber wenn auch die Augen gedankenlos glücklich blickten, die scharfen Linien um den Mund, die graue Gesichtsfarbe, die eingefallenen Wangen zeigten deutlich genug die ausgestandenen Entbehrungen an.

»Wenn jetzt ein Flieger über den Zug käme, der könnte eine Arbeit machen«, sagte einer.

»Das läßt der Wilson doch nicht mehr zu«, rief ein anderer. »Der macht jetzt den Frieden. Das hat er ja gesagt, deshalb haben die Amerikaner bloß eingegriffen, daß Frieden wird. Bei uns die Obern haben den Frieden nicht machen können.«

»Bei den Franzosen geht es ebenso her, wie bei uns«, erzählte ein junger Mann. »Hinter der Linie geht alles nach Hause. Na, dann gehen wir also auseinander, und dann bleibt alles so, wie es war.«

In der Nähe Hampes saßen ein paar andere Soldaten aus der Front, die mit Urlaubsschein unterwegs waren. Sie blickten finster auf die lärmenden, lustigen Burschen.

»Wenn die Amerikaner nicht mehr gekommen wären, dann hätten wir es doch wohl geschafft«, sagte der eine. »Aber das war zu viel. Wir haben einmal einen amerikanischen Graben erobert. Was die da an Eßwaren hatten! Unsere Leute haben sich gleich draufgestürzt und gegessen. Und die Stiefel! Lauter neue Stiefel, so dicke Sohlen!«

Sein Nachbar lachte und zeigte seine Stiefel vor. »Das sind Amerikaner!« sagte er. »Gestern früh machen wir einen Sturmangriff, kommen in den Graben, da sitzen die Amerikaner drin und frühstücken, sind vorgestern erst frisch ausgeladen. Ich, gleich einen an der Binde: ›Amerika, du mußt mit‹, sage ich ihm. Der hat Augen gemacht! Und wie ich die Stiefel sehe! ›Na, nu erst mal die Stiefel her‹, sage ich. Er hat sich gleich die Stiefel ausziehen müssen; ich gab ihm meine dafür, aber die hat er gar nicht erst angeguckt, da hat er in Strümpfen mitgemußt.«

Ein Mann seufzte: »Auf einen Flieger von uns haben die zehn. Da war nichts mehr zu machen.«

Der Zug rollte durch das Land. Es war Spätherbst, die Bäume standen entlaubt, die Äcker waren abgeerntet, in Pfützen spiegelte sich trüber Himmel.

»Ich bin von Anfang an dabei gewesen«, sagte Hampe zu den andern. »Da sah es anders aus, als wir loszogen. Wer hätte das gedacht, daß es so kommen würde.«

Vom Nachbarabteil drang lustiges Raufen, Knuffen und Schimpfen herüber. »Wie die Kinder«, sagte Hampe.

»Es hätte ja doch nichts mehr genutzt«, erwiderte finster ein Alter. »Laß ihnen ihre Freude. Sie werden das Unglück noch früh genug merken.«

Der Zug hielt oft an, es fehlte an Kohle, die Lokomotive war nicht in Ordnung. So dauerte die Fahrt lange. Der Tag verging, der Abend kam, Müdigkeit überfiel alle. Die Männer schliefen, wie sie saßen, kauerten und standen. In dem dürftigen Licht der Lampe zeichneten sich die verarbeiteten, verhungerten, vergrämten Gesichter mit tiefen, schwarzen Zügen. Einer hatte den Kopf nach hinten gebogen und schlief mit offenem Mund; wie ein Toter sah er aus. Tiefe Seufzer wurden auch im Schlaf ausgestoßen. Einer träumte, er bildete undeutlich ein Wort »Brot«, sein Gesicht verklärte sich, und es war, als ob die Nachbarn im Schlaf von seinem Glück spürten, auch ihre Gesichter verklärten sich.

Ein grauer Morgen dämmerte. Schwer, müde öffnete einer die Augen, reckte sich, suchte sich in seiner Enge irgendeine Bewegung zu machen. Andere erwachten. Einer brachte ein verschimmeltes Stück Brot zum Vorschein und aß es knackend, die andern sahen ihm gierig zu.

Ein junger Mann, er mochte wohl eben sechzehn Jahre alt sein, begann plötzlich zu weinen. »Nein, das ist doch zu schwer«, sagte er. »Ich hatte gedacht, im Krieg, nun, da ist Krieg, da wird man totgeschossen, nun, das ist gut. Aber das, das ist zu schwer.«

Es hellte sich weiter auf, die Lampen in den Abteilen erloschen. Draußen rieselte ein dünner Regen vom Himmel. Der Zug fuhr über einen Bahnhof, da stand ein kleiner Kellner und hatte die Hand in der Hosentasche. Dann wieder Felder, Felder, Telegrafenstangen; graue Wolken hingen tief.

Als der Zug am Bahnhof von O. hielt, sprang Hampe heraus. Da stand eine Wache. Er zeigte seinen Urlauberschein vor und sagte: »Sieh, sieh, ist hier doch noch Ordnung.« Die Wache grüßte ihn und ließ ihn durch. Nun ging er auf die Straße.

Er ging gerade die Bahnhofstraße hinunter; da fuhr eine elektrische Bahn, auf die sprang er. Er fuhr bis zum Ministerium, da stieg er ab und ging durch die Tür. Der Pförtner wollte ihn anreden. »Wo sind die Herren?« fragte er ihn kurz. Der Pförtner gab ihm verschüchtert Bescheid. Nun stampfte Hampe mit seinen schweren Stiefeln die Treppe hoch; da war ein Vorzimmer, in dem ein Diener saß; an dem ging er vorbei; er ließ sich nicht aufhalten und öffnete die Tür zum Sitzungssaal.

In dem großen Raum verloren, an einem langen Tisch saßen die neuen Minister, an ihrer Spitze Lewandowsky. Sie hatten schwarze Gehröcke an, die zugeknöpft waren, mit Klappkragen und fertiger Krawatte.

Hampe trat ein in seinen schweren, beschlagenen Stiefeln, bespritzt, in denen die Hosen steckten, in dem plumpen Mantel, der Feuchtigkeit gezogen hatte und in steifen Falten an ihm niederhing; er hatte keine Urlaubermütze, er trug den grauen Stahlhelm. Tiefe Linien durchfurchten das Gesicht, der Staub lag grau in ihnen; der Bart buschte sich grau, seine Äugen waren klein und tiefliegend. Er übersah die überraschte Versammlung, ohne ein Wort zu sprechen. Dann trat er langsam an den Tisch und sagte: »Ich gehöre hier wohl auch hin?«

Die Männer standen verlegen auf. Lewandowsky humpelte auf ihn zu, machte einige Begrüßungsworte und wollte ihm die Hand reichen.

Es schien, als bemerkte Hampe das nicht. Er sah die Männer an, einen nach dem andern, dann setzte er sich und stützte den Kopf schwer, müde in beide Arme.

»Wir haben für Sie das Ministerium für soziale Fürsorge behalten«, sagte Lewandowsky. »Sie können gleich Ihr Urteil abgeben – es handelt sich um eine Frage –«

Hampe sah ihn an; wie in einem Nebel erschienen ihm die Männer.

»Ich muß erst nach Hause«, sagte er. »Ich kann jetzt nicht mehr, ich muß schlafen.«


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