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Viertes Hauptstück

Lewandowsky besuchte Hampe in seiner Druckerei und sagte zu ihm: »Sie wissen, daß ich der Verwalter der Hinterlassenschaft des Kommerzienrats Werner bin. Der junge Werner, der einzige Erbe, liegt zur Zeit verwundet in einem Krankenhaus. Die Arbeiter stellen Forderungen hinsichtlich der Betriebe, die er auch wahrscheinlich nicht erfüllen würde. Als Ministerpräsident habe ich aber zugleich die Verpflichtung, die Produktion aufrechtzuerhalten. Ich habe bereits mit dem Landgerichtspräsidenten Willmar gesprochen und ihm meine Ansicht eröffnet. Er stimmt mir bei. Wenn Sie mir ebenso beistimmen, so können die Schwierigkeiten behoben werden, dem jungen Mann kann sein Vermögen, wenigstens in den möglichen Grenzen, erhalten werden, und wir können die für das Land wichtigen Betriebe weiter führen.

Sie wissen, daß der alte Kommerzienrat Werner zur liberalen Partei gehörte und seine Anstalten so geleitet hat, daß er für seine politischen Ansichten Stimmung machte. Das Proletariat hat nun heute die Macht in der Hand und kann es natürlich nicht dulden, daß so wichtige Unternehmungen, welche das ganze geistige Leben der Nation beeinflussen, in feindlichen Händen bleiben. Es machten sich zunächst Stimmen bemerkbar, die eine Sozialisierung vorschlugen. Ich habe nachgewiesen, daß bei der Eigenart der Unternehmungen eine solche bei den heutigen Verhältnissen verfehlt wäre. Dagegen scheint es angemessen zu sein, daß sie in die Hand einer bewährten Persönlichkeit kommen, bei welcher man erwarten kann, daß sie im neuzeitlichen Sinn, im Interesse des arbeitenden Volkes geleitet werden, Ich habe natürlich zunächst an Sie gedacht.

In Voraussicht des Kommenden habe ich schon vor einigen Monaten eine Abschätzung vornehmen lassen. Diese kann heute, bei den ganz veränderten Verhältnissen, natürlich keine Gültigkeit mehr beanspruchen. Ich denke aber, und Herr Landgerichtspräsident ist da meiner Ansicht, daß ein Drittel der damaligen Schätzung heute der angemessene Preis wäre. Für diesen Preis biete ich Ihnen die Unternehmungen an.«

Lewandowsky schwieg. Unwillig erwiderte ihm Hampe: »Sie wissen, daß ich so gut wie kein Vermögen besitze. Der Preis würde mäßig sein, und ich denke, daß ich auch unter den schweren Verhältnissen heute bei ihm auskommen könnte. Aber womit soll ich ihn denn bezahlen?«

»Ihre Verhältnisse sind mir natürlich nicht unbekannt«, sagte Lewandowsky. »Es ließe sich da aber ein Abkommen treffen. Es handelt sich um Unternehmungen, die wirtschaftlich sowohl, wie ideell die größte Wichtigkeit haben, so daß der Staat berechtigt ist, eine Unterstützung zu leisten. Ich habe bereits mit dem Leiter der Staatsbank gesprochen. Falls Sie sich bereit erklären, erhalten Sie eine erste Hypothek zu dreieinhalb Prozent in der Höhe Ihres Kaufpreises von uns. Sie können also die Betriebe ohne eigenes Kapital erwerben.«

Hampe erhob sich und ging erregt in seiner Schreibstube auf und ab. »Das wäre ...« rief er, »dann hätte ich ja ... Ja, was ist denn das? ...«

»Sie machen sich immer noch nicht klar, Genosse«, sagte lächelnd Lewandowsky, »daß wir eine Revolution haben. Der Bourgeoisie müssen ihre Machtmittel genommen werden. Das Proletariat hat die Regierung erkämpft, es ringt nun auch um alles Übrige. Ich habe es durchgesetzt, daß der Genosse Winter an der Landesuniversität Vorlesungen über die materialistische Geschichtsauffassung hält. Das Proletariat erobert sich die Universitäten. Ist es da wunderbar, wenn es einen Verlag und eine Druckerei haben will?«

»Der Landgerichtspräsident Willmar ist einverstanden?« fragte Hampe.

»Er hat natürlich andere Gesichtspunkte als ich, er vertritt die Interessen seines Mündels. Er sagt sich, daß auf diese Weise, durch einen bürgerlichen Verkauf, dem jungen Mann sein Vermögen gerettet wird.«

Mit rauher Stimme sagte Hampe: »Ich muß es mir überlegen. Wann spätestens brauchen Sie Bescheid?«

Lewandowsky zog seine goldene Uhr und ließ sie schlagen. »In zwei Stunden würde ich gern mit Ihnen zu Willmar fahren. Wir könnten dann alles gleich abmachen. An die Staatsbank brauche ich nur zu telefonieren.«

»Gut. Holen Sie mich in zwei Stunden ab«, erwiderte Hampe. »Und jetzt lassen Sie mich allein.«

Lewandowsky ging. Eine Weile blieb Hampe in seiner Schreibstube; dann setzte er den Hut auf, zog den Mantel an und verließ gleichfalls das Zimmer. Er ging die Bahnhofstraße hinab, dann bog er links ein. Draußen im Feld lagen allein die hohen Gebäude, die zu dem Wernerschen Unternehmen gehörten. Hampe ging auf dem Fahrweg, der zum Fabriktor führte. Da saß der Pförtner; er erkannte ihn und grüßte. Hampe errötete und kehrte um.

Nun ging er mit Lewandowsky zu Willmar. Der empfing sie in seinem Arbeitszimmer und sagte: »Ich weiß schon durch den Herrn Ministerpräsidenten über alles Bescheid. Leicht wird mir der Entschluß ja nicht. Gegenüber dem eigentlichen Werte ist das Angebot ja sehr niedrig. Andrerseits ist in Betracht zu ziehen, daß die unsicheren politischen Umstände den Besitz in der Hand des jungen Werner als fragwürdig erscheinen lassen, wahrend hier eine beträchtliche Barsumme vorliegt, über welche die Vormundschaft frei verfügen kann. Ich habe alles vorbereitet, der Notar ist benachrichtigt. Wenn die Geldsumme morgen zur Verfügung steht, so kann die Verbriefung gegen zehn Uhr stattfinden.«

Der Landgerichtspräsident saß zurückgelehnt in seinem Stuhl. Sein Gesicht sah stark gealtert aus, die Augenbrauen hingen ihm buschig und grau über die tiefliegenden Augen.

»Ich bin krank«, sagte er mit einer müden Handbewegung. »Die Kräfte reichen wohl nicht mehr. Was schematisch zu erledigen geht, das macht ja keine Mühe, aber wo meine Überlegungen nötig sind, da stockt es immer ...« Plötzlich sah er die beiden mißtrauisch an. »Ich habe doch wohl nichts übersehen?« Er blickte in Hampes offenes Gesicht, er schien beruhigt zu werden. »Plötzlich kommen diese schreckenden Erwägungen, daß man etwas vergessen hat. Ich bin ja doch verantwortlich. Der alte Kommerzienrat war zuletzt noch bei mir ... Aber, nicht wahr, die Herren ... es ist ja doch die Regierung«, sagte er wie für sich.

Die beiden standen auf, um sich zu verabschieden. Der Präsident erhob sich gleichfalls. Er schüttelte ihnen die Hand. »Sie müssen verzeihen«, sagte er, »mir ist so viel verloren gegangen. Das trägt sich schwer in meinem Alter. Sie müssen ja nun sehen, daß wieder neu gebaut wird. Worauf wird gebaut werden?« sagte er leise, als spreche er wieder mit sich.

Auf der Treppe sagte Lewandowsky zu Hampe: »Er wird senil. Ich will noch diese Angelegenheit mit ihm zu Ende bringen, aber dann muß er einen Wink bekommen. Wir brauchen junge Kräfte. Ich werde mich nicht an den alten Zopf halten, ich weiß schon einen Nachfolger für ihn, sehr begabter junger Mensch, eingetragenes Mitglied der sozialdemokratischen Partei.«

Hampe fragte: »Seit wann ist er eingetragen?« Lewandowsky beantwortete die Frage nicht; und eine eigene Scheu hinderte Hampe, sie zu wiederholen.

Am andern Vormittag war die Verhandlung in der Bank, dann wurde die Verbriefung beim Notar gemacht.

»Nun sind Sie mehrfacher Millionär, Hampe«, sagte Lewandowsky. »Sie haben's geschafft. Sie können sich jetzt zurückziehen.«

Ein heftiges Wort schwebte Hampe auf der Zunge. Aber es war ihm, als ob ihn jemand hindere, es auszusprechen, und so schwieg er.

Nun richtete Lewandowsky es in der Folgezeit öfters so ein, daß Hampe nicht umhin konnte, ihn mit sich nach Hause zu nehmen. Etwa er brachte ihm ein Päckchen mit. »Eine Liebesgabe aus der Schweiz«, sagte er; »aber was soll ich einzelner damit machen? Nehmen Sie das Paket, es sind ein paar Hühner darin; laden Sie mich ein, damit ich sie mit Ihnen verzehre.«

Bei solchen Gelegenheiten saß Lewandowsky Anna gegenüber. Er versuchte, ihr Höflichkeiten aller Art zu erweisen; sie lehnte sie fast ungezogen ab, so daß einmal, als der Gast gegangen war, ihr Vater ihr Vorstellungen machen mußte. Da brach sie in Tränen aus.

»Du bist nun zu alt für ein so kindisches Betragen«, sagte Hampe. »Ich bin dem Doktor sehr zu Dank verpflichtet. Ich will es nicht leugnen, mir war er in früheren Zeiten auch nicht immer ganz angenehm. Aber man darf nicht auf das Äußere sehen. Er ist ein politischer Kopf. Schließlich hat er doch den Staat in der schlimmsten Zeit gehalten.«

Anna verzog den Mund.

»Ich weiß, was du denkst, meine Tochter«, sagte Hampe. »Du bekommst täglich einen Brief von dem jungen Werner. Früher habe ich das für eine Kinderei gehalten. Aber auf die Dauer paßt es mir nicht mehr. Du bist jetzt erwachsen. Was soll denn einmal daraus werden?«

Anna warf den Kopf zurück und schwieg.

»Wir stehen in verschiedenen Lagern«, fuhr der Vater fort. »Da sind Gegensätze, die können nicht überbrückt werden. Sein Vater war ein Ehrenmann, ich habe ihn geachtet. Ich habe auch nichts gegen ihn selber. Aber du gehörst zum arbeitenden Volk.«

»Zum Beispiel zu Lewandowsky«, warf Anna spöttisch ein.

Der Vater wurde verlegen. »Es können nicht alle mit der Hand arbeiten. Es muß auch solche Männer geben. Wir wollen froh sein, daß wir sie haben.«

Anna stellte sich vor ihren Vater hin und sagte: »Weißt du Vater, jedes Buch, von dem Hans mir schrieb, habe ich gelesen. Und wenn ich das nicht gleich verstand, dann habe ich so lange daran auswendig gelernt, bis ich alles wußte. Wenn ich einmal seine Frau bin, dann kann er mit mir über alles sprechen, das hat er mir geschrieben; und das ist die Grundlage der Ehe.«

»Ehe du ans Heiraten denken kannst, da wird noch viel Wasser den Berg herunterlaufen«, sagte der Vater und ging kopfschüttelnd aus dem Zimmer.

Nun gingen die Gerüchte durch die Stadt, daß die Truppen aus dem Feld zurückkämen. Es wurde allerhand gesprochen und gemutmaßt. Der Erbgroßherzog stand an der Spitze der Heeresleitung. Es wurde erzählt, er werde die neuen Minister fortjagen und das Alte wiederherstellen. Man munkelte, daß die Arbeiter sich heimlich Waffen besorgt hatten und den Volksstaat verteidigen wollten. Es stellte sich heraus, daß unter den Arbeitern selber verschiedene Richtungen waren. Die Kommunisten behaupteten, die Sozialdemokratie habe das Proletariat verraten und einen Pakt mit der Bourgeoisie abgeschlossen, den sozialdemokratischen Führern sei es nur darauf angekommen, sich fette Posten zu verschaffen. Schon wurde von Betrug und Korruption gemunkelt; man fragte, wie Hampe plötzlich habe der reichste Mann des Großherzogtums werden können.

An einem Vormittag erklang von weitem auf der Landstraße die kriegerische Musik der Heimkehrenden. Mann neben Mann, Glied hinter Glied, in der Ordnung, wie auf dem Übungsplatz, kamen die Truppen zurück. Die Offiziere ritten neben ihren Abteilungen, mit allen ihren Abzeichen.

Es dröhnte dumpf der feste Takt des Marsches, von den männlichen Klängen der Musik begleitet. Gerade, aufrecht, stramm gehalten marschierten die Männer; sie sahen nicht nach rechts und links, sie sahen grimmig nach vorn. Ihre Gesichter waren grau durch die Entbehrungen und Anstrengungen, tief gefurcht durch Not und Kampf. Die grauen Anzüge waren abgeschabt und vernutzt, tausendfach geflickt und gestopft; aber kein Loch und kein Riß war zu sehen, sauber herausgebürstet war der Schmutz des Krieges, Staub und Blut.

So zog sich die graue Masse durch die Straße, Reihe hinter Reihe, Glied hinter Glied, im gleichen Schritt, im gleichen Ausdruck. Da, wo die Bahnhofstraße in einem stumpfen Winkel auf die Kaiser-Wilhelmstraße stieß, kamen immer neue Reihen um die Ecke, immer neue graue Fluten. Es kamen Trommler, und die Männer schritten zum Takt der Trommel; es kamen Bläser, und die Männer schritten zur Musik der Trompeten.

Aus den Fenstern hingen die schwarzweißroten Fahnen. Auf dem Bürgersteig drängten sich die Menschen. Alte Männer waren da, mit weißen Bärten, hochgewachsen und mager, mit Orden und Ehrenzeichen auf der Brust aus früheren Kriegen. Sie zogen den Hut und ließen den Wind durch die dünnen Haare wehen, um die Heimkehrenden zu ehren. »In tausend Schlachten unbesiegt«, flüsterte ein alter Mann, die Tränen rollten ihm die Wange nieder.

Plötzlich war es, als ob ein Schlag durch alle ginge: die Krieger sangen »Deutschland, Deutschland über alles«. Sie sangen und schritten daher, und die Klänge des Liedes jubelten in der Luft; nun sangen die Leute auf der Straße, die Leute in den Fenstern mit. Tränen flossen, und es wurde gesungen »Deutschland, Deutschland über alles«.

Auf der Treppe seines Schlosses stand der Großherzog. Er war in der Uniform seines Regiments. Neben ihm stand der General und andere Herren. Der Erbgroßherzog führte die Truppen vorbei, er senkte die Degenspitze; der Großherzog grüßte zurück. Kein Gefühl äußerte sich in den Gesichtern. Es war, als wenn eine gewöhnliche Parade stattfand, bei welcher es darauf ankam, daß jeder Mann in seiner Reihe ging, daß seine Sachen in Ordnung waren, der Tornister richtig gepackt und jeder Knopf an seiner Stelle.

Stundenlang stand der Großherzog da. Er war ein alter Mann, und der Hunger, die andern Entbehrungen des Krieges hatten auch ihn geschwächt. Aber er stand unbeweglich, mit scharfem Blick die Männer musternd. Erst als der letzte Krieger vorbeigezogen war, kehrte er um und ging in das Schloß zurück. Er ging schwer und schleppend.

Der Großherzog sagte zu dem General: »Heute Nachmittag verlasse ich das Schloß. Ich wollte noch die Rückkehr der Truppen sehen. Dann gehe ich mit der Großherzogin auf das Land, Sie werden mich hier nicht wieder sehen. Ein abgedankter Monarch ist lächerlich. Er soll sich verbergen.«

Der General wollte etwas erwidern. Der Großherzog schnitt sein Wort ab und fuhr fort:

»Sehen Sie, Exzellenz, als der Lewandowsky mit den beiden andern vor mir stand, da hatte ich eine Pistole in der Tasche. Ich hätte sie ziehen können und den Menschen niederschießen, den beiden andern jedem eine Ohrfeige geben, und dann wäre es gut gewesen, wenigstens zunächst. Ich dachte daran, es zu tun. Meine Familie hat nun seit tausend Jahren hier geherrscht. Sie hatte eine Anzahl anderer Familien unter sich, die großenteils noch heute bestehen. Und dann war das Volk, für das wurde gesorgt, wie es ging. Was hat der polnische Jude hier zu suchen? Mir scheint, daß diese Leute sich verstohlen ins Land drücken, und plötzlich haben sie unser Gut und sind unsere Herren.«

Der General erwiderte, er habe nach Kräften den östlichen Zuzug abgehalten; aber die Hände seien ihm gebunden gewesen.

»Sie meinen, meine Ansichten sind nicht gerade liberal?« fragte der Fürst. »Ja, sehen Sie, ich habe in dem Liberalismus ein Haar gefunden. Mein berühmter Vorfahr aus dem Dreißigjährigen Krieg war nicht liberal, er hätte geschossen und geohrfeigt, und das ging damals. Weshalb habe ich es nicht auch getan? Ich kann ja allein nichts machen, überall in Deutschland sind die Fürsten fort; später wäre es doch so gekommen, wie es jetzt ist; aber nicht das ist es, was mich zurückgehalten hat. Denn schließlich, man tut etwas, weil es recht ist, und nicht, weil es diese und diese Folgen hat.«

Der General sagte verlegen, auch er habe ja wohl oft gedacht, man müsse anders handeln, aber da seien nun eben immer die Vorschriften aus Berlin gekommen, an die er sich habe halten müssen.

»Das ist es ja, meine liebe Exzellenz«, sagte der Großherzog. »Sie hatten Ihre Vorschriften; Sie waren, gerade herausgesagt, ein Beamter, der auszuführen hat, was man ihm aufträgt. Wer trägt auf? Nun, ein anderer Beamter. Ich war Fürst. Angeblich soll ich nur Gott verantwortlich sein. Tatsächlich aber war da der Landtag, und die Presse, und der Reichstag, und der Kaiser, und der Reichskanzler. Kurz und gut, ich war nicht einmal Beamter, sondern noch etwas Schlimmeres. Ich tat auch nur, was mir ausgetragen wurde. Von wem? Nun, von Leuten, die nichts aufzutragen haben. Sehen Sie, daran sind wir zerbrochen. Wir sind alle bloß Bürger gewesen, es war kein Fürst über uns. Und dieses gute, treue, tapfere Volk, diese Männer, die da eben an uns vorbeizogen, die haben immer gewartet, daß einer oben ist, der ein Fürst ist, der sie führen kann. Sie haben lange gewartet. Wahrhaftig, sie haben Geduld gehabt. Nun, es hat sich eben kein Fürst gefunden. Weshalb nicht? Bin ich etwa feig? Bin ich etwa dumm? Habe ich nicht meine Pflicht getan? Und dennoch: es ist gerecht, daß ich meinen Thron verloren habe.«

Der General sah ihm gerade ins Gesicht: »Wenn Königliche Hoheit so sprechen, dann kann ich nichts dagegen sagen. Ich habe in einem Heer gestanden, welches das ruhmreichste Heer der Welt war, welches von den größten Königen und Feldherren der Weltgeschichte geschaffen war, aus einem Volk, das alle kriegerischen Tugenden vereinigt. Dieses Heer wird jetzt zerschlagen von unseren Feinden, von Völkern, welche die Ehre nicht fühlen können, die bei uns der Geringste hatte, und von – nun, von diesem Lewandowsky. Weshalb habe ich ihn nicht totgeschlagen? Weshalb haben die andern Männer in meinen Stellungen im übrigen Deutschland nicht das Gesindel erledigt, das bei ihnen war? Ich bin ein Beamter gewesen, und ich hätte ein Herr sein müssen, der auf eigene Verantwortung handelt. Der alte York in Tauroggen hat seine Tat auf sich genommen, er hat seinen Eid gebrochen und war bereit, dafür auf dem Sandhaufen vor die Gewehrläufe zu treten, und war bereit, mit dem Meineid auf dem Gewissen vor Gott zu treten. Unter uns ist kein York gewesen.«

»Ja, wir haben immer Siege erkämpft«, sagte der Großherzog. »Wie haben gegen die zehnfache Übermacht gesiegt, und unser siegreiches Volk hat gehungert, es hatte nicht genug Pulver und Blei. Nun haben wir denn so lange gesiegt, bis wir besiegt sind. Vielleicht kann man sagen, durch Hunger, Betrug und Verrat: was nun? Wir, unter denen kein York war, tragen die Verantwortung für das, was kommt. Ein Volk, das sich so furchtbar gemacht hat, wird von den Feinden nicht geschont. Wenn sie können, werden sie uns ausrotten. Schon las ich eine triumphierende Rede eines englischen Generals, daß unser Volk auf Geschlechter hinaus die Leiden tragen wird, die durch den Hunger der Schwangeren und Wöchnerinnen und kleinen Kinder kamen. Schon haben die Feinde erklärt, daß noch ein ganzes Jahr lang der Hunger so über uns verhängt bleibt – wenn sie könnten, nicht ein Deutscher würde am Leben bleiben; und um ihr Verbrechen zu beschönigen, werden sie uns verleumden, wie sie können, daß diese guten Männer, die unten vorbeizogen, Kinder ermordet haben, oder daß wir Leichen verzehren ...« Der alte Mann schlug sich die Hände vor das Gesicht, Tränen glänzten zwischen den schmalen Fingern.

Es machten sich Schritte und Säbelklirren auf dem Gang bemerkbar. Die Tür öffnete sich, der Erbgroßherzog trat ein. Er eilte auf den Oheim zu, der ihm beide Hände reichte; er beugte sich tief auf die alten, welken, tränenfeuchten Hände.

»Ich habe dein Erbe schlecht gehütet«, sagte der alte Herr. Der Erbgroßherzog schüttelte den Kopf. »Ich bitte dich«, sagte er, »mache dir keine Vorwürfe. Es ging über menschliche Kraft. Wir, die wir draußen standen, konnten aushalten, weil die feste Ordnung war, die für uns den Willen und die Kraft hatte. In jedem Augenblick neue Entschlüsse fassen müssen, welche das ganze Lebensverhältnis ändern, das kann kein Mensch. Wir wollen uns nicht über das Vergangene analen, wir wollen unsere Kraft zusammenhalten, um für die Zukunft zu rüsten.«

Der General trat einen Schritt vor: »Die Zukunft, meinen Hoheit?«

Der Erbgroßherzog lachte. »Die Taten werden von den Menschen gemacht, Exzellenz«, sagte er.

Die Abreise des großherzoglichen Paares war festgesetzt. Der Wagen hielt unter der Einfahrt, der Kutscher saß steif auf dem Bock, der Diener stand und hielt den Schlag geöffnet. Es war wie sonst.

Die beiden Herrschaften traten langsam aus der Tür und stiegen in den Wagen, Der Diener schloß die Tür und setzte sich dann zu dem Kutscher. Der Wagen rollte los.

An der eisernen Tür, welche den Hofraum von der Straße trennte, hatte sich ein kleines Häuflein Menschen angesammelt. Alte Herren in weißem Haar und Bart hielten den Hut vor die Brust, alte Frauen verneigten sich.

Die Herrschaften sahen zu beiden Seiten aus dem Wagen und grüßten zum Abschied.

»Das war nun der Abschluß«, sagte der Großherzog zu seiner Gattin. »Diese paar Menschen da haben noch gefühlt, was geschieht; die übrigen fühlen nichts. Was ist das? Ich glaube, daß die Form des deutschen Staates die beste Form war, die es in der Welt gab; was jetzt ist, das ist doch nicht mehr Staat, das ist ein Geschäftsunternehmen von Zeitungsschreibern und Parlamentariern. Der alte Zustand ruhte auf der Treue der Fürsten und der Treue der Untertanen ... Ja, das sage ich so; aber hätte er denn zusammenbrechen können, wenn da wirklich auf beiden Seiten das da war?«

Inzwischen aber entwickelten sich im Hause Hampes die Zustände immer unerquicklicher. Hampe hatte im Ministerium zu tun, in seinem großen Geschäft, er fand kaum Zeit, regelmäßig zu den Mahlzeiten in die Familie zu kommen; dann saß er am Tisch, wortlos, versonnen, vergrübelt; er schlang gedankenlos die Speisen hinunter; wurde er von seiner Frau angeredet, so schrak er zusammen; er mußte sich erst mühsam klar machen, was man von ihm wollte. Zerstreut blickte er auf Frau und Tochter. Früher hatte er sich gefreut, wenn die Mutter ein neues Kleid für Anna vorbereitete, er hatte Anna auf die Backen geklopft und gesagt: »Halte dich hübsch gerade, mein Kind; sieh, das neue Kleid steht dir gut, ich sehe dich gern so, wenn du hübsch und sauber aussiehst.« Nun schwieg er, wenn die Mutter über solche Dinge mit weiblichem Eifer sprach; er sagte: »Besorge im Laden, was du für richtig hältst, es gibt ja jetzt so gute Läden.« Die Mutter weinte oft heimlich. Sie sagte zu Anna: »Was habe ich nun von deinem Vater? Nichts macht ihm mehr Freude! Der Ehrgeiz frißt an ihm. Wozu muß er denn das alles tun? Was fehlte uns denn«

Immer schärfer sonderte sich ein linker Flügel bei den Arbeitern ab. Jüngere Leute, welche bis dahin unbekannt gewesen waren, sprachen in den Volksversammlungen und griffen die alten Führer an. Lewandowsky wurde noch mit einer gewissen Schonung behandelt, aber gegen Hampe gingen sie in der schärfsten Weise vor. Ein kleines Blättchen wurde gedruckt, das sich als Organ der kommunistischen Partei bezeichnete. Es behauptete, daß die Sozialdemokratie mit der Bourgeoisie einen Vertrag geschlossen habe, um das Volk zu betrügen. Es erzählte von Bestechung und Verrat der sozialdemokratischen Führer. Von Hampe wurde mitgeteilt, er habe aus dem Feld große Summen nach Hause geschickt, er habe seiner Tochter einen kostbaren Schmuck gekauft, er habe das große Wernersche Unternehmen durch schlaue Mittel in seine Hand gebracht. Es geschah, das Nummern der Zeitung, welche solche Angriffe enthielten, an Frau Hampe und Anna geschickt wurden.

»Was hat man eigentlich von seiner Familie«, sagte er einmal bei Tisch. »Andere Väter wissen, wem sie ihre Tochter geben; sie bringt ihnen einen Mann ins Haus, der hilft.«

Anna wurde blutrot und sah auf ihren Teller. In der Mutter äußerte sich plötzlich ein wochenlang aufgespeicherter Groll. Sie rief aus:» Dein eigen Fleisch und Blut verkaufst du, wenn es auf dich ankommt. Aber da bin ich noch da. Ich lasse mein Kind nicht unglücklich machen.«

Hampe sprang vom Tisch auf und verließ das Zimmer. Er warf die Tür krachend hinter sich zu. Die Frauen hörten, wie er die Wohnung verließ.

Da konnte Anna sich nicht mehr halten, die Tränen strömten ihr, sie legte den Kopf auf die Arme und weinte herzbrechend. Die Mutter stand neben ihr und tröstete sie; sie beugte sich über sie und strich ihr das Haar. »Sei nur nicht ängstlich, mein Kind«, sagte sie; »ich lasse es nicht zu. Das weiß ich schon lange, daß Lewandowsky hinter dir herschleicht. Nun hat er den Vater verführt zu dem Geschäft mit den Wernerschen Betrieben. Das sollst du nun bezahlen. Wir hatten, was wir brauchten, und waren zufrieden damit. Wie der Versucher ist der an ihn herangekommen.« Anna weinte lange; endlich sagte sie: »Und was denkt denn Hans von Vater! Er schreibt nie ein Wort darüber. Aber ich weiß, was er denkt. Ich sehe es doch dem Vater an, es frißt an ihm, daß er Unrecht getan hat. Wie kann mich denn Hans heiraten, wenn der Vater das getan hat!«

»Siehst du, das verstehst du nun nicht«, sagte die Mutter, »dazu bist du zu jung. Du bist nun ein reiches Mädchen, du erbst einmal alles, und wenn Hans dich heiratet, dann hat er alles wieder.«

Anna schüttelte den Kopf. »Nein, das ist unrechtes Gut«, sagte sie. »Ich wollte mich ja freuen, wenn Hans ganz arm wäre, und ich wäre ganz reich, und ich könnte ihm alles geben. Aber das ist doch unrechtes Gut.«

»Er hat ja doch nun sein Vermögen in bar«, sagte die Mutter. »So schlimm ist es auch nicht, wie du es machst. Es ist ihm doch nichts weggenommen, es ist alles rechtlich und ehrlich hergegangen, da kennst du doch den Vater.«

Anna erwiderte klagend: »Ich fühle es doch, daß es nicht in Ordnung ist. Weshalb ist denn der Vater so anders? Und weshalb will er mich denn mit dem Lewandowsky verheiraten, über den er früher selber gespottet hat? Der Vater hat etwas getan, das nicht recht ist, und nun ist er dem Menschen verfallen, und nun will der uns auch noch haben.«

Die Mutter seufzte. Sie konnte der Tochter nichts entgegenhalten.

Nach einer Weile sagte sie, und da kam zu Tage, was sie seit Jahren gedacht und gefühlt hatte: »Ich mag mit der ganzen Sozialdemokratie nichts zu tun haben. Meine Mutter ist Kammerjungfer bei der alten Frau Großherzogin gewesen. Ich sage: sorge jeder für sich. Wer fleißig ist und sparsam, der kommt auch zu was. Und die Faulen und Schlechten sollen unten bleiben, das ist recht so, und das ist vom lieben Gott so angeordnet. Der Vater hat sich selbständig gemacht, er hätte ein Kreisblatt drucken können, da hatte er sein sicheres Brot und brauchte vor keinem Parteigenossen einen krummen Buckel zu machen. Was hat er denn jetzt? Schimpf und Schande sagen sie ihm in den Zeitungen. Sie sagen ihm nach, daß er gestohlen hat. Und uns bewerfen sie auch mit ihrem Schmutz. Dafür ist er nun die ganzen Nächte immer aufgewesen und hat gearbeitet. Pfui! Man muß sich schämen, man kann sich ja nicht mehr auf der Straße sehen lassen!« –

Am Nachmittag saß Hampe in der Schreibstube der großen Wernerschen Druckerei. Er rechnete und rechnete. Es ging nicht mehr, er mußte die Preise für die Bücher erhöhen.

Ein junger Setzer stand vor ihm. »Es ist ein neuer Lohntarif in Berlin ausgearbeitet«, sagte er und veränderte das Gesicht nicht.

»Sie sehen doch«, erwiderte Hampe, »daß es nicht geht. Dann muß ich die Bücher teurer ansetzen. Wer soll sie dann noch kaufen? Sie sind doch für das Volk.«

»Darunter kann der Schriftsetzer nicht leiden«, sagte der andere.

Reichardt trat ein, der alte Faktor, der schon zu den Zeiten des Kommerzienrats Werner dagewesen war. Er trug Papiere in der Hand und blickte unter buschigen Augenbrauen über die Brillengläser weg den jungen Setzer an.

»Na, ausgeschlafen?« fragte er ironisch.

»Bekümmern Sie sich um Ihre Sachen, und andere Leute lassen Sie zufrieden«, erwiderte der junge Mann grob. »Ich brauche kein Kindermädchen mehr.«

Reichardt lachte verschmitzt, der andere verließ wütend das Zimmer.

»Setzen Sie sich, Herr Reichardt«, sagte Hampe. »Sie sehen mich in großen Sorgen. Ich muß den Preis unserer Bändchen erhöhen, es geht nicht anders.«

Reichardt zuckte mit den Achseln. »Ja, alles ist teurer geworden: Papier, Löhne, Druckerschwärze – wo soll es denn hinaus!«

»Das geht ja doch aber nicht. Wir steuern dem Abgrund zu«, rief Hampe verzweifelt.

Reichardt schaute ihn scharf an. »Die Organisationen schrauben«, sagte er. »Bei den jetzigen Löhnen können die Leute gut auskommen. Ja, die Gewerkschaftsführer müssen doch zeigen, daß sie ihr Gehalt nicht umsonst bekommen!«

»Aber was soll denn das werden?« fragte Hampe.

»Ich dachte, das wissen der Herr Minister besser als ich«, erwiderte ihm Reichardt mit leichtem Hohn.

»Reichardt, lassen Sie das«, sagte Hampe. »Es ist zu ernst. Wir sind zusammen in der Lehre gewesen. Sie haben manchmal das Frühstück mit mir geteilt. Glauben Sie mir, mir ist nicht schön zu Mute. Wenn ich könnte, ich tauschte mit Ihnen, lieber heute als morgen.«

»Glaube ich Ihnen, glaube ich Ihnen«, sagte Reichardt. »Man ist ja doch auch nicht blind. Ich sehe doch, wie es an Ihnen frißt. Wissen Sie, Hampe, mich hat Gott behütet, ich habe ja auch meinen Ehrgeiz gehabt, aber da habe ich mir gesagt: werde ein guter Drucker, das ist auch etwas wert. Ich will Ihnen nicht wehe tun, ich sehe doch, wie es bei Ihnen steht. Wer weiß, ich hätte auch so in die Politik hineinkommen können, und dann wächst es einem über den Kopf. Ich beneide die Großen nicht. Wie oft habe ich hier gestanden, und wo Sie jetzt sitzen, da saß der selige Kommerzienrat; wie oft habe ich mir gesagt: der Mann hat ja das schönste Essen, das er haben will, aber was hat er davon? Und Sie, Hampe, mit Ihnen ist das noch viel schlimmer. Hier!« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Brust; »hier! Da muß es ruhig sein. Und da ist es bei Ihnen nicht ruhig.«

Hampe zog die Stirn in Falten. Reichardt aber nahm ruhig seine Schnupftabaksdose aus der Tasche, klopfte auf den Deckel und reichte sie Hampe. Zögernd nahm Hampe eine Prise, dann schnupfte auch Reichardt.

»Sehen Sie, dem Gewissen macht man nichts vor«, sagte Reichardt. »Sie haben hier ehrlich gekauft, billig genug, das ist ja wohl wahr; aber das sind nun einmal so die schlechten Zeiten; wer weiß, wann einmal wieder ein Ertrag herausspringt. Das ist es nicht. Aber das weiß doch jeder: wer einen Sachwert hat, der behält ihn doch heute, der gibt ihn nicht fort für ein paar Papierlappen. Der alte Landgerichtspräsident ist nicht auf seiner Höhe, in seinen jüngeren Jahren hätte er so etwas nicht getan. Und er ist ein Ehrenmann. Na, Lewandowsky? Der hat doch die jungen Kerls bei uns erst aufgehetzt, daß sie die Sozialisierung verlangen sollen, daß er zu dem alten Mann gehen kann und kann ihm etwas vorschwatzen. Nun hat der junge Werner sein Geld, und Sie haben das Geschäft. Wissen Sie, damals, als Sie ihm das Geld gaben, zahlte der Schweizer noch sechzig Rappen für die Mark, heute zahlt er noch vierundzwanzig. Denken Sie an mich, Hampe: es kommt noch dahin, da kann sich der junge Werner für seine Erbschaft nicht eine Briefmarke kaufen, aber Sie, Hampe, Sie sind der große Mann. Ihnen gehört alles. Und wer will etwas gegen Sie sagen? Alles nach Recht vor sich gegangen! Alles nach Recht! Seit wir die Revolution haben, da haben wir nun eben so ein Recht.«

Hampe biß sich auf die Lippen und beugte den Kopf vor. »Das habe ich nicht vorher wissen können«, sagte er heiser. »Nein, natürlich nicht«, erwiderte Reichardt. »Lewandowsky hat auch nicht vorher wissen können, daß er einmal Ministerpräsident wird. Aber es ist nun eben so gekommen.«

»Was würden denn Sie tun an meiner Stelle, Reichardt? fragte Hampe unvermittelt.

Reichardt wich wie erschreckt etwas zurück. Dann sagte er: »Wir sind alle Menschen, Hampe. Ich danke Gott, daß er mich nicht in eine solche Versuchung geführt hat. Ich weiß nicht, was ich getan hätte oder jetzt täte. Sie müssen selber wissen, was Sie zu tun haben.«

»Ja, das muß ich selber wissen«, sagte Hampe düster. –

Lewandowsky hatte die Gewohnheit, eine Nachmittagsstunde bei Edith zu verbringen. Hier konnte er von allem sprechen, was ihn bedrückte, was er sonst immer mehr in sich verschließen mußte, je deutlicher sich die Entwicklung zeigte: der schnelle Verfall der revolutionären Mächte und die gegenseitigen Feindschaften, und das allmähliche Besinnen der Kreise, die überrumpelt waren.

Edith hatte ihr Tischchen sauber gedeckt. Die Teemaschine summte; sie goß mit zierlicher Hand ein, reichte dem Gast die silberne Schale mit Gebäck. Lewandowsky nahm zerstreut an, aß und trank.

»Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen«, sagte er. »Die Wahlen stehen vor der Tür. Ich sehe kommen, daß Hampe Ministerpräsident wird. Er nimmt mich nicht in das Ministerium auf. Dann kann ich wieder kleiner Literat sein, Versammlungsberichte schreiben, Straßenunfälle erzählen. Ich bin müde. Ich kann nicht mehr. An eine Pension ist natürlich nicht zu denken. Ich habe das Land befreit, ich habe ihm über die Wochen des Zusammenbruchs hinweggeholfen, nun habe ich meine Schuldigkeit getan.«

»Du siehst zu schwarz«, erwiderte Edith. »Ich halte das für ausgeschlossen, daß Hampe gegen dich intrigiert.«

»Hampe und intrigieren!« sagte lachend Lewandowsky. »Nein, dazu ist er zu dumm. Aber diesen Leuten fällt es eben von selber in den Schoß, ohne intrigieren. Er ist nun eben einmal der Deutsche, ich bin der polnische Jude. Er ist derselbe Spießer, wie die andern, das ist das Geheimnis. Ich bin ihnen unangenehm; ich verlange, daß sie denken sollen, ich verlange, daß sie frei sein sollen. Der Mensch will nun eben einmal nicht denken, er will nicht frei sein.«

»Du hast das Geschehen doch längst vorausgesehen«, sagte Edith.

»Freilich habe ich das, ich habe auch meine Maßnahmen ergriffen«, rief Lewandowsky. »Aber das ist es ja, was einen rasend machen kann. Es ist so gut berechnet, aber da ist immer ein Fehler in der Rechnung, die Dummheit bringt man nicht mit in Anschlag. Denkst du, ich habe dem Hammel die Wernerschen Betriebe wegen seiner schönen Augen verschafft? Noch während des Krieges wurde mir klar, da ist etwas zu machen, da steckt ein Geschäft, es kommt nur darauf an, wie man es dem alten Willmar vorstellt; wenn es dem in irgendeinen juristischen Gedankengang paßt, der bei ihm eingefahren ist, dann geht es. Ich konnte die Betriebe doch nicht selber kaufen! Deshalb schiebe ich Hampe vor, der eben aus dem Schützengraben kommt, der ein Fachmann ist, das Vertrauen der Arbeiter hat, na, und so fort. Daß das hier mit der Präsidentenschaft nicht lange Bestand haben kann, das war mir doch klar, da muß man die Deutschen kennen! Nun, ich denke, dem Hampe wird es ungemütlich, er braucht Anschluß, der Mann kann ja doch nicht auf eigenen Füßen stehen. Dann sage ich: So und so, ich heirate Ihre Tochter und trete bei Ihnen ins Geschäft ein.«

Edith erblaßte. »Du wolltest die Tochter von Hampe heiraten?« fragte sie stockend.

»Ja, natürlich«, erwiderte er. »Wozu habe ich denn sonst das Ganze angedreht? Denkst du, damit sich die Arbeiterburschen ihren Homer weiterhin billig kaufen können? Was gehen die mich an? Ich will heraus aus dem Dreck! Wäre ich doch nach Rußland gegangen! Da können sie einen brauchen, wie ich bin. Hier gehe ich vor die Hunde!«

»So, du wolltest Fräulein Hampe heiraten«, wiederholte Edith mechanisch ... »Und du meinst, das hat sich zerschlagen?«

»Zerschlagen! Wie kann sich etwas zerschlagen, das noch nicht ganz gewesen ist!« rief Lewandowsky wütend. »Hampe merkt überhaupt nichts. Er ahnt gar nicht, daß alles wackelt. Er denkt, nun wird er gewählt, und ich schreibe meine Versammlungsberichte, und er sitzt im Bratenrock in seiner Schreibstube und regiert seine Untertanen und schreibt seine Rechnungen an die Buchhändler.«

»Wäre denn nicht – das – zu teuer bezahlt gewesen?« fragte Edith stockend. »Du kannst das Mädchen doch nicht lieben, du kannst ...« sie schwieg.

»Ein Gänschen, na, ja, was denke ich mir dabei!« sagte Lewandowsky. »Blaue Augen und blondes Haar, wirtschaftlich und häuslich, und wird ihren Mann ›Schatzi‹ nennen.«

»Hast du denn nicht auch Verpflichtungen gegen mich?« fragte Edith zaghaft.

»Verpflichtungen?« fragte Lewandowsky verwundert. »Habe ich dir je so etwas gesagt?«

Edith schwieg, ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Jetzt auch noch eine Heulszene!« schrie er. »Das kann ich nicht aushalten. Hier will ich mich erholen, da soll ich eine Heulerei mit anhören!«

»Ich weine ja nicht«, sagte Edith. »Mir kam so etwas in die Augen. Ich weiß ja, du hast keine Verpflichtungen, wir sind freie Menschen.«

»Das mußt du doch verstehen«, erklärte ihr Lewandowsky. »Das ist doch die dickste bürgerliche Gesellschaft bei Hampe. Was ist mir denn das Standesamt? Aber dazu ist es doch nun eben nötig!«

»Ja, dazu ist es eben nötig«, seufzte Edith. »Das sehe ich ja wohl ein. Ja, die bürgerliche Ehe ist ja wohl etwas anderes ...« Sie schwieg abgebrochen.

»Als die freie Liebe, nicht wahr?« ergänzte sie Lewandowsky. »Und dir wäre sie wohl auch lieber, ja?«

Edith schwieg.

Das hättest du dir vorher überlegen müssen«, sagte Lewandowsky. »Es kann eben nicht jeder die Freiheit aushalten. Es weht einem ein verdammt kalter Wind um die Nase auf den Höhen der Menschheit.«

»Ich habe ja dich«, sagte sie, stand auf und legte die Arme um seinen Hals. »Wir lieben uns doch, nicht wahr, wir lieben uns doch? Und die bürgerliche Ehe – ach, ich habe ja selber genug gesehen, welche Prostitution sie ist!«

Er löste ihren Arm vom Hals und hieß sie sich setzen. Dann ging er im Zimmer auf und ab.

»Weshalb muß denn auf mir die Last liegen!« rief er aus. »Ich habe in der Welt gesucht, um einen Menschen zu finden, den ich achten konnte, ich habe keinen gefunden. Ich habe gesucht, wo vernünftige, natürliche Verhältnisse sind, ich habe sie nirgends gesehen. Weshalb muß ich denn die Augen haben, daß ich all das Unglück, das Leid, die Torheit, die Gemeinheit durchschauen muß? Weshalb kann ich denn nicht so glücklich sein wie die Blinden, die dahinleben, ohne etwas zu erkennen von Welt und Menschen! Und wenn nur die Tränlein eines einzigen Kindes fließen, dann kann ja die Welt nicht bestehen, dann darf sie ja nicht bestehen, dann ist es besser, wenn alles zugrunde geht!«

Es klopfte. Die Zimmerwirtin Ediths trat ein. Sie wischte sich mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang, dann machte sie mit beiden Händen eine waschende Bewegung. Sie begann: »Weil ich nämlich eine Bitte an den Herrn Doktor hätte, das Fräulein weiß, wie ich immer für ihn gesprochen habe. ›Hinter dem steckt etwas‹, habe ich immer gesagt, ›der wird denen noch etwas zu raten geben‹. Und richtig, nämlich der alte Zopf soll doch nun abgeschnitten werden, es ist nämlich für meinen Sohn ...«

Lewandowsky unterbrach sie und fragte: »Um was handelt es sich, was wollen Sie?«

Es stellte sich heraus, daß der Sohn eine gute Handschrift schrieb, aber »die« wollten ihn nicht hochkommen lassen, »die« ließen den kleinen Mann überhaupt nicht hochkommen, und er wollte gern in ein Ministerium, er war jetzt bei einem Rechtsanwalt, aber was hatte er denn da für Aussichten für die Zukunft?

Lewandowsky wurde ärgerlich. Er nannte der Frau den Namen eines Beamten, bei dem sollte sich der junge Mann vorstellen.

Die Frau dankte wortreich, aber sie entfernte sich nicht. »Was ist denn noch?« fragte Lewandowsky.

Nun stellte sich heraus, daß die Frau einen Zettel für den Beamten wollte, zwei Zeilen brauchten es nur zu sein, damit der Mann sah, daß ihr Sohn nicht allein stand in der Welt, daß sie nicht Holz auf ihm hacken konnten.

»Er soll sagen, daß ich ihn schicke«, erklärte Lewandowsky unwirsch; die Frau merkte, daß sie nicht mehr erreichte, und zog sich mit tiefen Ehrfurchtsbezeugungen zurück.

»Das sind nun die Menschen«, sagte Lewandowsky, als sie sich entfernt hatte.

Bald darauf verließ er Edith. Als er durch den dunklen Flur ging, öffnete die Wirtin ihre Küchentür und redete ihn noch einmal an: »Herr Doktor, das müssen Sie mir auch doch zugeben, ich habe Ihnen niemals etwas in den Weg gelegt, und bei dem Fräulein da habe ich immer für Sie geredet.« Sie wollte erzählen, was sie alles gesagt hatte, aber er winkte ärgerlich mit der Hand ab und ging.

Edith bedachte lange das Gespräch. Dann setzte sie sich, holte Briefpapier und Schreibzeug und schrieb einen Brief. Sie schrieb mit fester Hand. Es war eine Bitte an Anna, sie zu besuchen. Sie schrieb, daß es sich um Wichtiges handle, das ihr Leben bestimmen könne; und es sei nicht möglich, daß sie selber komme, denn sie müsse mit ihr allein besprechen, ohne Zeugen, was sie ihr zu sagen habe.

Anna las den Brief mit großer Verwunderung. Sie wußte, wer Edith von Eyb war, denn Lewandowskys Verhältnisse wurden natürlich in der Stadt besprochen. Es wurde auch erzählt, daß Lewandowsky nicht gut zu ihr war. In der Dämmerstunde machte sich Anna auf den Weg. Sie stieg rasch die Treppe hoch und klingelte; Edith öffnete ihr selber, denn die Wirtin war nicht zu Hause.

»Sie haben mir geschrieben«, sagte Anna befangen; sie blieb stehen, als Edith ihr einen Stuhl anbot.

»Sie haben vielleicht recht. Sie mögen sich bei mir nicht setzen«, sagte Edith, Da schoß es Anna rot ins Gesicht, sie setzte sich, sie schob ihre Hände tief in ihren Muff.

»Ich muß Ihnen erst über mich sprechen«, sagte Edith. »Mein Vater ist ein hoher Beamter. Ich ... stamme aus einer sehr vornehmen Familie. Ich ... hätte nicht gedacht, daß ich einmal so sprechen würde ...«

Sie schwieg, Anna wurde befangen, der Muff fiel ihr an seiner Kette an die Seite, sie faltete die Hände und sah Edith an.

»Sie sind ein gutes Kind«, sagte Edith. »So habe ich mir Sie gedacht, wie Sie sind ... Sie wissen nicht, wie es in unsern Kreisen hergeht. Nach außen, als ob man reich ist ... es wird an nichts anderes gedacht, als wie man den Stand wahrt, und... an meiner Mutter habe ich keine Stütze gehabt, ich habe ihr nie etwas sagen können ... und mein Vater war immer abgearbeitet, versorgt, er sagte immer ›Ein andermal, Kind, laß mich, jetzt habe ich keine Minute Zeit‹. Sehen Sie, so ist das denn gekommen.«

Anna wollte ihr etwas sagen, aber sie fand kein Wort. Ihre Augen waren ängstlich, groß auf Edith gerichtet.

»Das waren ja alles keine Menschen«, fuhr Edith fort. »Die jungen Leute tanzten mit mir, keinen Tanz ließ ich aus, weil ich die Tochter ihres Vorgesetzten war. Da war ich noch ganz jung, im ersten Jahr, als ich ausging, da hörte ich ein Gespräch von zwei Regierungsassessoren über mich. Sie ahnten nicht, daß ich sie belauschte. Nehmen Sie sich in acht, sie ist verdammt hübsch', sagte der eine, ›der Alte kann Ihnen auch behilflich sein, aber gehen Sie nicht zu weit, daß Sie gleich wieder zurück können, Vermögen ist nicht da‹.« Edith faßte krampfhaft Annas Hand. »Damals war ich noch jünger als Sie«, sagte sie. »Damals wußte ich noch nichts von der Welt. Ich las viel. Am liebsten las ich Hölderlin. Darüber spotteten die andern denn. Nun machte ich die Augen auf. Im ersten Jahr verlobten sich von meinen Freundinnen alle, die reiche Eltern hatten. Ich sah die älteren Mädchen an, die noch unverlobt waren. Das waren alles Mädchen, deren Eltern in unseren Verhältnissen waren. Einmal sprach eine zu mir, sie war wohl schon achtundzwanzig. Sie sagte mir: ›Dieses Jahr werde ich noch zum Verkauf ausgestellt. Wenn ich jetzt nicht losgeschlagen werde, dann werde ich Schwester‹. Ein ältlicher Regierungsrat war da, wohl an vierzig, kahlköpfig, mit einem Bauch, und so frechem Gesicht. ›Der könnte mich vielleicht nehmen‹, sagte sie, ›aber das wird natürlich auch wieder nichts. Wenn er ohne Geld heiraten will, dann kann er auch eine Junge bekommen, wie Sie sind‹. Da schrie ich auf vor Schreck. Sie sagte ›pst!‹ und dann lachte sie, und dann sagte sie: ›Ja, so war ich auch einmal, das ist lange her, zehn Jahre oder mehr; zehn Jahre Angeln, das hat »Einfluß auf den Menschen‹.«

»Können Sie sich denken, wie ich den Doktor kennen lernte?« fuhr Edith fort. »Da habe ich zum ersten Mal mit einem Menschen gesprochen. Er sagte mir, daß das alles lächerlich ist und verächtlich, unser ganzes Leben; daß es Lüge ist, Lüge.« Sie riß an ihrem Taschentuch. »Lüge ist es, Lüge. Wenn mein armer Vater nach Hause kam, müde, dann fiel die Mutter über ihn her, mit einer Einladung, oder einer Gesellschaft, oder einem Kleid für uns, und dann wurde gerechnet, und mein Vater fuhr sich immer mit der Hand so müde über die Stirn.« Sie faßte Annas Hände fest: »Wissen Sie, Fräulein, den Doktor kennt kein Mensch, er kennt sich selber nicht, er verleumdet sich selber, er spricht oft so ... er verachtet die Menschen, und nun will er, daß es nicht aussieht, als ob er selber nur im Kleinsten unwahr ist ... aber er ist ein Heiland! Er ist zu den Menschen gekommen, um ihnen zu helfen! Er ist ein Heiland!«

Wie irr sahen Ediths Augen aus. Anna blickte sie verwundert an. Aber plötzlich wurde sie rot, ihre Augen wurden weich, als sie den verzückten Ausdruck Ediths sah.

»Liebes Fräulein, ich habe eine große Bitte an Sie«, fuhr Edith fort. »Ich selber scheide aus. Ich kann immer nur ein Werkzeug sein; wenn ich nicht gebraucht werde, dann stellt man mich fort. Ich bin ja so glücklich, daß ich eine Zeitlang gebraucht werden konnte. Da habe ich doch einen Zweck für mein Leben gehabt. Und wenn nun alles gut wird, wo die alten Zustände zerschlagen sind, und wenn eine neue, bessere Menschheit kommt, dann habe ich auch eine Kleinigkeit mitgeholfen, ich habe dem Helden, der die Schlachten geschlagen hat, den Schweiß von der Stirne trocknen dürfen.«

Anna hatte wieder einen verwunderten Ausdruck. »Das scheint Ihnen übertrieben, was ich da sage?« sprach Edith. »Ach, wir müssen jedes Wort daraufhin ansehen, wer es spricht. Sie werden nun wohl solche Worte nicht sprechen können. Aber ich muß sie sprechen. Ich habe in der Wüste gelebt, er hat mich in einen Blütengarten geführt.«

»Ich bin ein Werkzeug gewesen«, fuhr sie fort. »Ich spüre, daß ich jetzt nicht mehr gebraucht werde. Gut, er soll mich fortstellen. Ich werde nicht klagen, ich werde ihm danken für das, was gewesen ist, das er mir gegeben hat. Das habe ich, niemand kann es mir nehmen, und es reicht aus für mein Leben, auch wenn ich noch sechzig Jahre lebe. Aber ihm muß geholfen werden.«

Geschäftig setzte sie nun Anna alles auseinander: die engen, dürftigen Verhältnisse, in denen Lewandowsky immer gelebt, die seinen Geist unterdrückt hatten; wie er nun, da er in der Macht war, nie an sich gedacht hatte; sein Gehalt, das er selber bestimmt, betrug nur die Hälfte von dem, das sein Vorgänger in der monarchischen Zeit bezogen hatte; sie sagte: »Was soll werden, wenn er verdrängt wird? Er kann nicht an diese kleinen Dinge denken, sein Geist ist mit anderem beschäftigt ...«

Plötzlich stockte sie, sie wurde verlegen. Annas Augen sahen sie kalt an. »Sie meinen, er hat meinem Vater dieses große Vermögen verschafft, und nun soll ich ihn heiraten, damit er sorgenlos leben kann? Ich danke ihm nicht, was er meinem Vater getan hat. Er hat uns alle dadurch unglücklich gemacht. Und ...«

Nun stockte sie selber ihrerseits. Sie sah den entsetzten Blick Ediths. Sie fühlte: Edith fürchtete, daß sie hart, böse über Lewandowsky sprechen wollte. Da schlossen sich ihr die Lippen. Sie konnte die Worte nicht sagen, die sie hatte sagen wollen: »Ich verabscheue ihn.« Sie stockte, und ihre Blicke irrten im Zimmer umher. Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen, sie zog das Taschentuch vor und hielt es vor das Gesicht, dann schluchzte sie: »Ich liebe Hans Werner, und dem hat mein Vater nun seinen Besitz weggenommen. Was wird Hans von mir denken!« Sie schluchzte und weinte.

Starr sah Edith auf sie hin. Sie sagte: »Ja ... so ... das ahnte ich ja nicht ... ja ... so ...« Dann wurden ihre Züge entspannt. Plötzlich setzte sie sich neben Anna und nahm ihren Kopf in die Hand, legte ihn sich an die Schulter und sagte: »Weine, Kind, weine dich aus; das tut gut, wenn man sich ausweint; die Tränen vergiften, die ins Herz zurückfließen; weine dich aus!«

Anna schlug die Arme um Edith und weinte; sie weinte wie ein Kind, mit Stoßen und Schlucken. Edith strich ihr die Haare zärtlich, auch ihr wurden die Augen feucht. Sie sagte: »Ja, das ist alles ganz anders, das ist ein Kind.«

Eine lange Weile saßen sie so in der Dämmerung. Plötzlich sagte Edith mit tiefer Stimme: »Und was bin ich denn? Bin ich denn noch ein Mensch? Was habe ich denn gefühlt? War das denn alles richtig?«

Verwundert machte sich Anna frei. Edith sah vor sich hin und sprach weiter.

»Ich dachte, meine Leute zu Hause haben in einer Lüge gelebt. Da habe ich auch wohl recht. Aber vielleicht habe ich selber jetzt hier auch in einer Lüge gelebt? War das denn alles richtig, was ich sagte? Habe ich es mir nicht vielleicht bloß vorgelogen? Durfte ich denn so sprechen, wie ich gesprochen habe? Das durfte ich doch gar nicht! Ich habe dich doch gehaßt, weil ich dachte, er liebt dich! Und das habe ich mir vorgelogen.«

Sie ging auf und ab im Zimmer und rang die Hände. »Das Leben ist zu schwer«, sagte sie. »Ich kann es nicht tragen. Es ist zu schwer. So viel sollte einem nicht auferlegt werden. Wenn ich doch beten könnte! Wenn es doch einen Gott gäbe! Aber es gibt keinen Gott, und wie soll ich beten, wenn es keinen Gott gibt!«

Sie ging auf und ab und sagte: »Vielleicht werde ich wahnsinnig. Dann ist es gut. Dann brauche ich wohl nicht mehr zu denken. Und es gibt ja auch einen religiösen Wahnsinn. Vielleicht, daß einer da Ruhe findet. Und Menschen, denen die Tränen fließen, die haben eine Erleichterung.«

Anna war aufgesprungen und starrte sie an. Nun eilte sie auf Edith zu, umarmte sie heftig und küßte sie; sie legte ihre nasse Wange an ihre trocken fiebrige. Sie sagte: »Sie tun mir leid.« Ganz leise sagte sie das. Dann lief sie aus dem Zimmer. –

Bei dem Landgerichtspräsidenten Willmar klingelte es an einem Nachmittag. Frau Willmar öffnete. Da stand in ihrer Schwesterntracht, ein Handköfferchen in der Hand, Marie vor ihr.

Die alte Frau schlug vor Freude die Hände zusammen und zog die Tochter in den Flur. Da umarmte sie und küßte sie ihr Kind, das schlank, hochgewachsen und still sich vor ihr hielt. Sie zog Marien in die Stube und beschaute sie bei Licht. »Wie blaß du geworden bist«, sagte sie, »du siehst durchsichtig aus.« Marie lächelte. Sie sagte: »Ich fühle mich sehr gesund.«

Der Vater hatte seit Wochen den Dienst verlassen. Er kam aus seiner Stube herbei; er ging gebückt, seine Augen schienen etwas zu suchen. Ein Freudenschein flog über sein Gesicht, seine Tochter lag an seiner Brust, und er küßte sie auf die Stirn.

Geschäftig eilte die Mutter, um aus der Küche Essen zu besorgen. Sie brachte ein Stückchen Brot, ein Töpfchen Schweineschmalz, zwei Äpfel. »Sieh nur, welche Menge Fett wir haben«, sagte sie zu Marien, »ich habe eine gute Bauernfrau, die mir zuweilen etwas bringt. Iß, wir haben, du siehst es, auch das Brot hat immer für uns gereicht; wir sind ja alte Leute, wir essen nicht viel.«

Marie sah sich in der alten Stube um. Da stand das Sofa mit der geschweiften Nußbaumlehne, mit braunem Rips bezogen, zwei gehäkelte Deckchen sauber und ordentlich an den beiden Seiten. Der runde Tisch stand da, mit brauner Decke, über der noch einmal eine gehäkelte Decke lag, um ihn standen die Stühle. Da sah sie das Klavier, auf dem sie geübt, als sie Kind war, am Fenster war die Nähmaschine. Liebevoll blickte sie die Eltern an, die erwartungsvoll sie anblickten.

Sie legte die Hand auf der Mutter Hand und sagte: »Laß mich, liebe Mutter. Ich habe keinen Hunger. Ich esse sehr wenig.« – »Aber du mußt doch ...« warf die Mutter ein. »Ich bitte dich schön«, sagte sie hastig, »laß mich jetzt. Die Reise, die Freude haben mich überwältigt. Nun bin ich wieder bei euch.«

»Ja, ich habe nun den Abschied genommen«, sagte der alte Herr. »Es wurde mir zu viel, ich hatte einen Nervenzusammenbruch. Ich kann mich auch nicht an die neuen Zustände gewöhnen. Es ist doch alles anders. Wir leben nicht mehr in einem Rechtsstaat. Ich will nicht urteilen und verwerfen, es ist eine neue Zeit. Aber ich kann nicht so denken, wie heute gedacht wird.«

Er war unruhig geworden und ging im Zimmer auf und ab. Marie warf heimlich einen besorgten Blick auf die Mutter. Die erwiderte ihn.

»Man muß sich nun die Frage stellen: war die Art richtig, wie man gelebt und gehandelt hat?« sagte der Präsident, als ob er mit sich selber spräche. »Ich dachte immer: hier sind die Gesetze. Ich habe sie nicht gemacht, ich bin nicht für sie verantwortlich. Ich kann mich um ihre Weiterentwicklung bemühen durch Untersuchungen, die ich in der ›Juristischen Zeitschrift‹ veröffentliche; aber das ist eine Sache für sich; die bestehenden Gesetze sind für mich vorhandene Tatsachen. Auf der andern Seite ist die Handlung, welche ich zu richten habe. Ich muß sie durch logische Tätigkeit auf einen allgemeinen Begriff bringen, bis ich sie unter eines der bestehenden Gesetze unterordnen kann. Dann kommen die Nebendinge, wie erschwerende und erleichternde Umstände und dergleichen, das ist alles herkömmlich festgelegt. Dann bestimmt man die Strafe. Durch das Gesetz sind gewisse Grenzen gesteckt, innerhalb deren man zu bestimmen hat, aber auch da ist man herkömmlich gebunden. Ich dachte, wenn man das alles ohne Ansehen der Person, ohne Haß und Zuneigung, rein logisch betreibt, dann tut man seine Pflicht ...«

»Du hast deine Pflicht getan«, sagte bekümmert die alte Frau.

»Ich habe getan, was ich für meine Pflicht hielt«, erwiderte der Präsident. »Aber wie, wenn sich herausstellt, daß das nur Vorgänge in einer gänzlich unwirklichen Welt waren, die man sich lediglich für diese rechtlichen Bedürfnisse gebaut hat, daß sie nun aber auf die wirkliche Welt einwirkten, die ganz anders war, daß sie hier zerstörten, vernichteten, schadeten ... den Rechtsstaat gibt es nicht mehr seit der Revolution; es bildet sich eine andere Art von Staat; aber war der Rechtsstaat ein sittliches Gebilde, wie ich immer geglaubt habe? Und habe ich meine Lebensarbeit nicht vielleicht auf etwas Unsittliches verwendet?«

Marie sah ihren Vater mit großen Augen an. »Auch du, Vater?« rief sie aus.

»Kind, was ist dir?« fragte erschrocken die Mutter.

»Nichts, nichts«, sagte Marie, indem sie abwehrte. »Mir kamen so Gedanken. Vielleicht habe ich den Vater falsch verstanden.«

»Nein, es ist dir etwas. Weshalb ißt du nichts?« fragte die Mutter.

Lächelnd sah Marie ihrer Mutter ins Gesicht. Sie sagte: »Ich will es dir gestehen, als ich pflegte, da sah ich, wie die jungen Leute, die nun in der Genesung waren, oft hungern mußten. Sie sind doch meistens wie die Kinder, sie wissen nicht, wozu das alles ist. Da habe ich ihnen dann wohl von meinem Essen gegeben, und so habe ich mir zuletzt das Essen eigentlich abgewöhnt – es wäre mir lieb, wenn du mir erlaubtest, daß ich alles in die Küche bringe, es ist mir ein unangenehmes Gefühl, wenn ich es vor mir habe.«

Die Mutter ergriff die Hand ihrer Tochter, sie sah den dünnen, fast fleischlosen Arm. »Mein Gott«, rief sie aus, »du hast gehungert, du bist ja ...« Sie redete nicht zu Ende, ihre alten, umrunzelten Augen füllten sich mit Tränen.

Marie streichelte die Hand der Mutter. »Laß nur«, sagte sie. »Das ist alles nicht wichtig. Ich weiß jetzt, was wichtig ist.« »Du bist mein letztes Kind«, sagte die Mutter. »Deine drei Brüder habe ich verloren. Wie dein Vater ist, siehst du selber.«

Der alte Präsident ging nachdenklich im Zimmer auf und ab, nun sprach er wieder:

»Ich habe das sozialdemokratische Programm studiert«, sagte er. »Es ist von ungebildeten Leuten gefaßt; die Grundlage sind die Ansichten von Marx, die mir alle falsch zu sein scheinen; trotzdem hat mich das Programm seltsam bewegt. Was jetzt in Deutschland geschieht, das ist die Durchführung dieses Programms. Mag es noch so kindisch sein, es ruht auf einem anderen Lebensgefühl. Und dieses Lebensgefühl beherrscht heute die Menschen. Aber ich, was bin denn ich?« Er sah Marien an und fuhr fort: »Entweder ich war mein ganzes Leben lang ein Verbrecher oder alles, was jetzt geschieht, ist ein Verbrechen. Aber das ist doch nicht möglich. Ich habe in Übereinstimmung mit der Gesellschaft gelebt. Und die ganze Gesellschaft kann nicht verbrecherisch sein. Die alte Gesellschaft kann es nicht gewesen sein, und es ist doch auch nicht möglich, daß es die neue ist, obwohl ... ja, Ehre, Gewissen, Treue, wo sind sie? ... Aber sind Ehre, Gewissen, Treue wirkliche Tugenden? Waren wir nicht vielleicht bloß feig, und verbargen uns die wirkliche Welt durch ein Gespinst von Begriffen, die wir uns selber gewoben?«

»Vater, so kannst du nicht leben, wenn du solche Gedanken hast«, rief Marie.

»Du hast recht. So kann ich nicht leben«, sagte der Präsident. »Ich habe an Ehre, Gewissen und Treue geglaubt, sonst hätte ich nicht leben können. Aber das ist es nun eben. Ich weiß nicht, ob ich noch an sie glauben darf. Und freilich, dann kann ich nicht leben. Aber was soll ich denn tun? Der Selbstmord ist doch ein Verbrechen. Ich war immer dafür, daß man ihn bestrafen soll; das englische Gesetz ist da folgerichtiger wie unseres.«

»So spricht er nun immer, so spricht er den ganzen Tag«, rief die Mutter, die Hände ringend. »Er hört keinen Einwand. Er hört nur, was in seine Gedanken paßt, es ist, als ob er für alle anderen Worte taub ist.«

»Du weißt, mein liebes Kind, daß ich die Unternehmungen meines gefallenen Freundes Werner verkauft habe«, sagte der Präsident. »Ich dachte, daß ich so am besten für den jungen Werner sorgte; der Käufer ist einer der Führer der hiesigen Sozialdemokratie. Nun sinkt die Mark immer mehr im Wert. Mir sind die Hände gebunden, ich mußte die Beträge in mündelsicheren Papieren anlegen. Wie kann denn der Staat plötzlich bestimmen, daß die Mark nur noch zehn Pfennige wert ist? Aber er bestimmt es. Und ich habe den jungen Werner um sein Vermögen gebracht. Sein Vater hat mir alles anvertraut, als er ins Feld ging. Welche Rechenschaft werde ich ablegen können? Ich hätte das wissen müssen. Ich hätte an die französische Revolution denken müssen, an den amerikanischen Freiheitskrieg. Ich wußte doch, wie es in Rußland herging. Die Revolution war doch schon gewesen, als ich verkaufte. Ich habe keine Entschuldigung. Ich hätte wissen müssen, daß jede Revolution durch Papiergelddrucken die Barvermögen entwertet. Aber ich habe nur als Jurist gedacht, ich habe gedacht; ›Es ist doch unmöglich, daß eine Mark nicht eine Mark ist‹. Und nun sagt der Staat: ›Eine Mark ist zehn Pfennige‹. Morgen sagt er: ›sie ist ein Pfennig‹. Und das ist Recht. Ja, es ist Recht, wenn es der Staat sagt. Aber wie kann das denn Recht sein? Das ist doch Raub!«

Er ging im Zimmer auf und ab und schlug sich an die Brust. »Aber was ist nicht Raub? Man sagt, daß man heute sozial denkt. Deshalb soll der Mieter eine niedrige Miete bezahlen; aber dann ist der Vermieter seines Besitzes beraubt. Es heißt, daß meine Wohnung für mich zu groß ist, deshalb werden mir Zimmer genommen. Aber wie? Wenn ich früher den Mieter, der nicht zahlen konnte, pfänden ließ, wenn sein ganzer, mühselig erarbeiteter Besitz verschleudert wurde, um ein paar Monate Miete zu bezahlen, war das denn nicht Raub? ... Ich habe immer gedacht, ich bin ein Richter, und ein Richter spricht, dachte ich, nach Gerechtigkeit. Aber Gerechtigkeit gibt es nicht. Ich sehe sie nirgends.« »Vater, so kannst du nicht leben, wenn du solche Gedanken hast«, sagte Marie.

»Du hast recht. So kann ich nicht leben«, erwiderte der Präsident. »So kann ich nicht leben.«

Die Mutter hatte sich über den Tisch gelegt und ihr Gesicht weinend in ihren Händen verborgen.

»Hast du nie daran gedacht, daß alle Widersprüche sich in Gott lösen müssen, Vater?« fragte Marie.

»In Gott, sagst du? In Gott?« fragte der Präsident zerstreut. Ja, das wäre ein Gedankengang, den man einmal verfolgen müßte.«

»Dein Leben«, sagte Marie, »war eingerichtet auf einen bestehenden Zustand, der als rechtlich und sittlich galt. Dieser Zustand ist aufgehoben. Es gibt noch keine neue Rechtlichkeit und Sittlichkeit. Nun stehst du ohne Schutz Gott gegenüber.«

»Ohne Schutz Gott gegenüber?« fragte der Vater erstaunt.

»Dem Gott gegenüber, der seine Absichten mit der Menschheit hat, die du nicht ahnst, der Krieg und Hungersnot schickt, Aufruhr und Zerstörung, wie sein göttlicher Wille ist, damit seine Ziele erreicht werden, und damit jeder einzelne von uns in die Knie sinkt und betet: ›Nicht mein Wille geschehe, sondern dein Wille.‹«

Marie hatte sich aufgerichtet und stand ihrem Vater gegenüber. Der ergriff ihre Hand, Tränen überströmten sein Gesicht, er rief: »Nicht mein Wille geschehe, sondern dein Wille! Das ist wahr, das ist wahr. Wer bin ich denn, daß ich geklagt habe? Ich war ein Diener, der Aufträge ausübte. Nun bin ich unzufrieden darüber, daß andere Aufträge an andere Leute verteilt werden – und mein Gewissen? Ich habe doch nicht unrecht gehandelt an Hans Werner, ich wollte doch das Beste, ich wußte doch damals nicht, was ich jetzt weiß!«

»Niemand kann seiner Länge eine Elle zusetzen, ob er gleich darum sorget«, sagte feierlich Marie.

»Könnte ich wieder frei werden, könnte ich Menschen wieder ins Gesicht sehen?« fragte der Präsident.

Marie wankte. Die Mutter sprang auf, der Vater stand bestürzt, dann eilte er hinzu. »Was hast du, Kind?« rief die Mutter. Maries Lippen waren weiß. »Du bist schwach, du kannst dich nicht halten«, rief die Mutter.

»Ja, ich möchte mich wohl legen«, sagte Marie mit müdem Lächeln.

Marie wurde ins Bett gebracht, sie lag schwach da und müde, sie konnte nur wenig sprechen, leise, nur abgebrochene Worte.

Der Arzt kam. Es zeigte sich, daß sie seit langer Zeit sehr wenig, seit zwei Wochen gar nichts gegessen hatte. Sie schüttelte den Kopf, da von Essen gesprochen wurde. Der Arzt schrieb Bescheinigungen, die Mutter eilte mit ihnen in die Geschäfte und kaufte ein; sie kaufte hastig, was sie auf die ärztliche Bescheinigung bekam: Fleisch, ein Ei, Weißbrot. Sie eilte nach Haus und kochte das Fleisch, sie brachte die Tasse mit der Brühe zu Marie. Sie hob das Kopfkissen mit dem bleichen Kopf hoch und führte die Tasse an die weißen Lippen. »Ich kann nicht, Mutter«, flehte Marie, »Laß mich, ich kann nicht.« Sie preßte die Lippen zusammen.

Die Mutter kniete am Bett und flehte: »Stirb mir nicht, du bist mein letztes Kind, sieh, wie schön ist die Fleischbrühe; du wirst sehen, du kannst sie genießen.«

Die Kranke sah auf die flehende Frau, mit Anstrengung sagte sie: »Gib. Gib sehr vorsichtig.«

Die Mutter brachte ihr nochmals die Tasse zum Mund. Marie öffnete die Lippen und versuchte, einen kleinen Schluck zu nehmen. Da kam ein furchtbares Würgen, kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, Leib und Brust hoben sich ihr in Krämpfen. Die Mutter stellte die Tasse fort und nahm sie an ihre Brust. »Da hast du als Kind gelegen«, sagte sie. Der Präsident stand an der Seite, er stand stumm.

»Mutter, laß mich liegen«, bat Marie leise.

Die Mutter legte sie sorgsam auf das Kissen.

»Mutter, falte mir die Hände«, bat Marie leise.

Die Mutter nahm ihre Hände und faltete sie. Sie waren steif, sie fühlten sich kühl an.

»Mutter, Vater, ich habe euch oft Kummer gemacht. Verzeiht. Ich habe an mich gedacht, nicht an euch. Ihr verzeiht mir. Ich ... gehe.« Das sagte sie, da war es, daß die Augen begannen zu brechen.

Die alten Leute knieten zu beiden Seiten des Bettes. Der Präsident sagte: »Wir wollen beten.« Und er begann das Vaterunser, und seine alte Frau vereinigte ihre Worte mit den seinigen. So beteten sie, bis sie zu dem Schluß gelangten: »denn dein ist das Reich, und die Kraft, und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen!« Da sagte der alte Mann: »Nun wollen wir ihr die Augen zudrücken.«

Der Tod Mariens wurde in der Stadt bekannt, und es wurde bekannt, daß sie gestorben war, weil sie ihr Essen den Kranken gegeben hatte. Als nun die Leiche aus dem Hause gebracht wurde zum Gottesacker, da standen die Leute auf der Straße, welche dem Sarg folgen wollten. Da standen Handwerker in ihrem schwarzen Sonntagsanzug, und entlassene Soldaten in ihrer grauen Gewandung, viele Leute aus den vornehmen Ständen waren da, viele Frauen und Mädchen. Und immer mehr Menschen kamen in die Straße und schlössen sich an den Leichenzug an. Ein langer Zug wurde es; schon war der Wagen vor dem Kirchhofstor, da reihten sich noch die Letzten vor dem elterlichen Hause an. Die elektrischen Bahnen hielten in den Straßen, oft stiegen Leute aus ihnen aus und traten in eine Reihe der Folgenden. Geschäftsleute traten in ihre Ladentür, dann liefen sie eilig in ihre Wohnung und kamen zurück im schwarzen Feiertagskleid, mit den andern der Toten das Geleit zu geben.

In einer Gruppe von graumäntligen entlassenen Soldaten ging Kraus. Er schluchzte laut, die Tränen liefen ihm die Wangen hinab, und er wischte sie nicht fort.


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