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Bild: Richard Scholz

Von toten und lebendigen Puppen

Bild: Richard Scholz

Auf einer meiner Reisen in Thüringen kaufte ich für meine sämtlichen Töchter Puppen, ließ sie in eine Kiste packen (die Puppen natürlich) und nach meinem Wohnort abgehen. Aber gleichzeitig schrieb ich nach Hause, daß die Kiste nicht geöffnet werden dürfe, bevor ich selber daheim wäre. Ich bin nun einmal ein Genüßling und will die lustig-goldenen Geister sehen, die beim leisesten Aufheben des Deckels aus der Kiste flattern. Überdies war die Sendung der Kiste eine Selbstlosigkeit, die ihren Lohn verdiente. Wenn ich ohne Kiste nach Hause komme, so weiß ich, daß die Kinder sich über mein Erscheinen freuen; komm ich mit einer Kiste, so ist das ganze Fest der Heimkehr eine Ellipse mit zwei Brennpunkten, und ich weiß nicht, in welchem Brennpunkt sich die meisten Strahlen sammeln. Ich kann nicht anders sagen, als daß der Empfang auch diesmal sehr warm und herzlich war; aber als eine gewisse (nicht geringe, o bewahre!) Zahl von Umhalsungen und Händedrücken absolviert war, da glaubte ich doch in den Gesichtern so etwas zu lesen wie: »Nun aber die Kiste!« Und als ich sie fragte: »Worüber freut ihr euch nun mehr, über mich oder über die Kiste?« da war zu meiner großen Freude nicht eines darunter, das da sagte: »Über dich.« Sie lächelten verlegen und errötend und sagten: »Gott, Vater –!« Nur eine Diplomatin unter ihnen sagte: »Über beides gleich.« Ich bin überzeugt: für die Dauer bin ich ihnen ja lieber und auch unentbehrlicher; aber für den Augenblick stellt eine Kiste mich in den Schatten; das ist das Los aller Geber.

»Na, dann wollen wir mal an die Öffnung der Kiste gehen!«

Es ist schwer, eine solche Kiste zu öffnen, wenn vier Mädels und ein Junge dabeistehen. Man muß fortwährend auf der Hut sein, daß man keine Fingerchen zwischen die Kneifzange und keine Nasen unter den Hammer kriegt. Zudem ist es, als ob der liebe Gott auch seinen Spaß an der Ungeduld der Harrenden hätte und sich oben auf die Kiste setzte, um sie noch ein bißchen zuzuhalten. Aber endlich gibt er nach, und die Scheintoten steigen ans Licht und schlagen die Augen auf.

Puppen!

Es ist merkwürdig, daß ich als Kind, auch als kleines, an solchen Puppen niemals Gefallen fand, ja daß sie mir vielmehr abstoßend erschienen. Oder es ist auch nicht merkwürdig. Die Puppen meines Theaters nahm ich ernst, obwohl sie, aus Bilderbogen geschnitten und auf Pappe geklebt, den Menschen nur in zwei Dimensionen darstellten; aber wenn auch nur eine unvollkommene Kunst an ihnen gewirkt hatte, es war doch immerhin so viel Zeichnung in ihnen, daß ich sie für Menschen nehmen konnte. Aber diese Puppen der Mädchen, obwohl sie anspruchsvoll in drei Dimensionen auftraten, waren mir bei all ihrer Körperlichkeit nicht realistisch genug; sie blickten mich aus ihren Gesichtern dumm und leblos an, und ihre aus Aufgedunsenheit und Abzehrung zusammengesetzten Leiber schienen mir keine glaubwürdige Nachahmung des Menschen. Erst seitdem ich den lehrreichen Beruf des Vaters ergriffen habe, ist mir ein Licht über das wundersame Leben dieser unbeholfenen Gebilde aufgegangen.

Es ist kein Zweifel mehr: ich habe Nachkommen wie Abraham, der »Vater der Menge«. Denn alle die unzähligen Puppen Appelschnuts sind ihre Kinder. Sie hat ihrer so viele, daß sie sich schon ein »Motizbuch« verschafft hat, und in dieses »Motizbuch« hat sie die Namen ihrer Kinder eingetragen. Da sie beabsichtigt, ihren Spielkameraden Hermann Reimers zu heiraten, so bucht sie ihre Kinder schon jetzt auf seinen Namen:

Anni Reimers,
Walter Reimers,
Wolfgang Reimers (heißt so nach Mozart),
Helmy Reimers (nach der Großmutter, meiner Frau),
Johanna Reimers (nach der Jungfrau von Orleans),
Hulda Reimers (nach einer Schneiderin),
Roswitha Reimers
      usw. usw.

Etwas über zwanzig Kinder hat sie – von armlangen hinunter bis zur »kleinsten Puppe der Welt«, die nicht größer ist als eine kleine Bohne, und alle am Leben! Appelschnut nimmt solch einen Erdenkloß her und bläst ihm ihren lebendigen Odem ein, und allsogleich wird der Kloß eine lebendige Seele. Sie hat ja so viel Leben, daß sie allen davon abgeben kann; auch ihrem Dackel haucht sie eine menschliche Seele ein. Wenn ich diesen ehrenwerten Melancholiker und Schinkengauner gescholten habe, geht sie heimlich mit ihm in die Ecke und tröstet ihn, damit er sich den Affront nicht zu sehr zu Herzen nehme. Sie umarmt ihn und sagt: »Sei man nich traurig, mein Männe! Vater meint es nich so schlimm; du mußt das aber auch nich wieder tun!« Und ihrem Schaukelpferd, dem leider beide Augen herausgefallen sind, hat sie um die leeren Augenhöhlen ein Taschentuch gebunden, nicht, um es zu heilen, nein, weil sie den Anblick nicht ertrug. Es erweckte ihr einen Schauder, wenn das treue Tier, der Genosse fröhlicher Tage, sie mit toten Augen ansah.

Bild: Richard Scholz

O Tage der ganzen, der vollkommenen Illusion, wohin seid ihr entronnen! Jüngst war ich mit Appelschnut im Theater. (Walter hatte durchaus mitsollen, und ich hatte ihr erst bedeuten müssen, daß das Stück für ihn noch zu schwer sei.) Damit sie besser sehen könne, hatte ich sie auf meine Knie genommen, ich hielt sie mit meinem rechten Arm, und meine Hand lag gerade auf ihrem Herzen. Es wurde »Rübezahl« von Löwenberg gegeben. Da will der finstere Berggeist den schreienden Buben seiner Mutter entreißen. O, wie es da klopfte, wie es da pochte unter meiner Hand! Hier könnt' ich den »innern Erfolg« eines Stückes feststellen. Und hier klang das Herz des Dramas. Handlung, meine Herren, Handlung! Eine Gefahr! Ein Bangen um ein Schicksal! Ein Kampf! Ihr könnt es zehnmal »Theater« schimpfen; es bleibt eben doch das Herz des Dramas. Dies Hämmern eines kleinen Herzens spricht eine ganze Ästhetik. Nachher gab es ein Ballett, so eins, von dem die Bühnenleiter glauben, es sei »was für die Kinder«, eins mit Flittern und Pracht und farbigen Lichtern. Mitten darin wandte sich Appelschnut nach mir um und flüsterte: »Kommt nu bald wieder Rübezahl und der kleine Junge?« Das Schicksal des Kleinen war ihr Schicksal, sein Bangen war ihr Bangen geworden. Und als ein andermal der Wolf das Rotkäppchen bis hinter die Kulissen verfolgte, um es zu verschlingen, da fragte sie mit Bezug auf die Schauspieler: »Das sind doch keine wirklichen Menschen, nich?« Da der Wolf das Mädchen zweifellos verschlang, so wollte sie lieber, daß das Rotkäppchen kein Mensch wäre.

Bild: Richard Scholz

Die Illusion der Kinder bevölkert stundenweite Einsamkeiten. Stundenlang kann Appelschnut alleinsein mit ihren Puppen, Häusern und Bäumen. Städte und Gehöfte, Äcker und Gärten, Wege und Wälder erstehen, wo vorher öde Leere war, und verschwinden spurlos wieder in leere Luft. Spurlos nicht. In der Erinnerung der Kinder glänzen hundert Städte und Gärten, die sie selber gebaut, in denen sie selig gewandelt und gewohnt haben und die ihnen noch in späten Jahren mit klingenden Glocken wieder emporsteigen wie Rungholt und Vineta aus Meeresgründen.

Natürlich: zu Puppen gehören Läufer, Kirchen und Bäume; darum, als Roswitha-Appelschnut einmal im Bette lag und krank war – sie hatte richtige Leibschmerzen – und als sie hörte, daß ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen und daß sie bald eine Stadt bekommen werde, da warf sie alle Kissen zum Bett hinaus, sprang siebenmal auf und ab und rief: »Ich bin kerngesund!« Und da war sie wirklich gesund. Und am nächsten Sonntag baute sie von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends und gründete aus Tischen, Stühlen, Flügel, Schrank und Fußboden ein ganzes deutsches Fürstentum.

Bild: Richard Scholz

Kinder, die gern allein spielen, – Menschen, die gern allein sind, – glückliche Menschen! Sie können niemals verarmen.

Ich öffne eines Tages die Tür zum Wohnzimmer, wo Hertha und Roswitha, umrankt von den tanzenden Blätterschatten der Linde, mit ihren Puppen spielen.

»Vater!« ruft die Kleinere entrüsteten Tones. »Hulda is so ungezogen; sie is oben auf die elektische Krone raufgeklettert – das is doch wirklich ungezogen nich? – 'n Kind von fünf Jahren!«

Wahrhaftig: Hulda reitet oben auf einem Arm der elektrischen Lampe, und Mutter Appelschnut ist ernstlich erzürnt über den Balg, obwohl sie ihn doch selbst hinaufgesetzt hat. So weit geht die Illusion dieser Poeten, daß sie nicht einmal die Drähte sehen, die sie selber ziehen.

Hulda ist überhaupt das schwarze Schaf der Familie. Alles, was an Untaten erforderlich ist, muß sie ausfressen. Auch Kinder sind nicht gerecht, wenn sie Götter werden. Bei Hulda muß ich immer an Determinismus und Prädestination denken, nach welcher liebenswürdigen Lehre es bekanntlich fest angestellte Bösewichte gibt, die schon vor der Geburt als Rekruten des Satans ausgehoben werden.

Ich stelle Appelschnut die Härte dieses Prinzips vor.

»Immer hackt ihr auf Hulda herum! Eure anderen Kinder sind jedenfalls auch nicht immer artig! Aber bestraft wird immer nur Hulda. Das muß eine Mutter doch nicht tun!«

Sofort wendet sich Roswithens Herz. Sie ruft zur Lampe hinauf: »Na wills du jetz wieder artig sein?« Und mit einer leisen, kläglichen Stimme antwortet sie selber: ›Ja.‹«

»Na, denn komm'!« spricht sie mit der verzeihenden Milde eines Heilandes, klettert auf den Tisch und holt die Sünderin Hulda herunter. Hulda klappert mir dankbar mit den Augen zu.

Walter dagegen wird auf die unerhörteste Weise verzogen. Natürlich, er war eine lange Zeit hindurch einziger Junge, und wie es mit den Herren einzigen Jungen geht, das weiß man schon.

»Wo ist denn Walter?« frage ich.

»Och, er langweiligte sich so, da hab ich ihn in den Garten geschickt.«

Bild: Richard Scholz

Ich sehe in den Garten hinaus, da steht Walter, mit der Nase tief in eine Rose versunken, deren Duft er ununterbrochen und unersättlich einzieht.

»Er mag so gern Rosen riechen,« erklärt die Mutter.

»Warum ist er denn nicht in der Schule?«

»Och, er geht nur von Kaffeetrinken bis Frühstück zur Schule; er is ja noch so klein. Wenn er da noch länger sitzen muß, kriegt er Heimweh.«

Wenn aus dem Jungen was wird, sag' ich auch nichts.

»Du verwöhnst den Bengel ganz entschieden. Wie alt ist er denn jetzt?«

»Er wird am September acht.«

»Na also!«

»Ja, er is aber auch immer so krank gewesen.«

»So? Was fehlt ihm denn?«

»Er hat immer solche Drüsen, un denn kann er nich lernen.«

Aha, die Drüsen kenn' ich.

»Was kocht ihr denn heute?«

»Pudding.«

Na, natürlich. Diese Welt kennt nur ein Menu, und das heißt Pudding. Achtet einmal darauf! Wenn Kinder ein Menu herzählen, fangen sie immer bei der süßen Speise an, und wenn Backfische von der dramatischen Kunst sprechen, beginnen sie immer mit dem jugendlichen Liebhaber.

Das Kochen besorgt Hertha. Sie ist Dienstmädchen, Köchin, Gouvernante, Krämer, Schlachter, Tante, Lehrer, Großmutter und Schornsteinfeger. Ich habe nie einen Verwandlungskünstler gesehen, der es den Kindern an Geschwindigkeit gleichtut. Und merkwürdig ist dabei, daß der Posten des Dienstmädchens in diesem Utopien der gesuchteste von allen ist; sie streiten darum, wer Dienstmädchen sein solle, und es hat durch Richterspruch entschieden werden müssen, daß keiner darauf Anspruch habe, immer Dienstmädchen zu sein, daß es reihum gehen solle, und daß man sich auch einmal damit bescheiden müsse, gnädige Frau zu sein. Und warum wollen sie alle Dienstmädchen sein? Weil das Dienstmädchen »alles tun muß« und die gnädige Frau nur auf dem Sofa liegen und befehlen und aus einer Fibel Romane lesen muß, was sehr langweilig ist. Man wird ganz wirr, wenn man diese putzige Welt betrachtet, und man weiß gar nicht mehr genau: Sind die Kinder Narren, oder sind wir es?

Bild: Richard Scholz

Appelschnut hat nun allerdings nicht das Blut dazu, sich auf Sofaliegen und Befehlen beschränken zu lassen; sie weiß auch zu gut von ihrer richtigen und wirklichen Mutter, daß es gnädige Frauen gibt, die selber Hand anlegen; sie besorgt ihre Kinder selbst und beteiligt sich um so entschiedener am Kochen, als die richtige und wirkliche Mutter heute richtige Rosinen, Mandeln, Butter und Milch und wirklichen Zucker und Zitronat zum Pudding beigesteuert hat. Und nirgends bewundere ich die Illusionskraft der Kinder mehr als beim Füttern der Puppen. Obwohl die Rosinen und Mandeln vor dem strengen Munde der Puppen regelmäßig kehrt machen und wärmere, williger sich öffnende Lippen aufsuchen, sind doch die Kinder tief davon durchdrungen, daß ihre Puppen ausreichend ernährt werden. Ja, die Transfusion der Puppe mit dem Leben des Kindes und die Verschmelzung von Schein und Wirklichkeit gehen so weit, daß die Puppen dicker werden von dem, was ihre Eltern gegessen, und daß die Eltern Leibschmerzen bekommen von dem Zucker, den die Kinder genossen haben. Dieses Puppenessen ist so recht ein Beleg dafür, daß ein gutes Spielzeug unvollkommen sein muß und daß jene raffinierten Spielzeuge nichts taugen, die dem Kinde nichts zu tun übrig lassen. Ich bin überzeugt: wenn ein kunstreicher Mechaniker eine Puppe nach Art der Vaucansonschen Ente erfände, eine Puppe, die, wenn man ihr eine Rosine vorhielte, plötzlich zuschnappte und sie verschluckte und innerlich verarbeitete, – der Mann würde kein Geschäft damit machen. Nein, ein einziger Schrei des Schmerzes und der Entrüstung würde die Welt der Kinder durchgellen, und einmütig würden sie erklären: Es muß alles seine Grenze haben; Spiel muß Spiel bleiben und darf nicht in Ernst ausarten.

»Mutter ist himmlisch; sie erlaubt alles!« erklärt Hertha stürmisch. »Sogar den Mörser dürfen wir haben!«

Unterschätzt mir solch einen Mörser nicht! Er ist von glänzendem Metall, und wenn man mit der Keule dranschlägt, klingt er wie Kirchenglocken. Mandeln, Rosinen, Musik und Sonne! O seliges Erdenleben!

Und nun wird alles: Zucker, Rosinen, Mandeln, Butter, Milch, Makronen, Bonbons und andere Herrlichkeiten kräftig durcheinander gerührt, achtundsiebzigmal geschmeckt und probiert, zuletzt mit dem Titel »Pudding« belehnt und angerichtet. Und so unbedingt, wie der Gast des arabischen Scheichs, wenn dieser dem aufgetragenen gebratenen Hammel mit dem Zeigefinger das Auge ausbohrt und es mit Daumen und Zeigefinger dem Fremden auf die Schüssel legt, den köstlichen Ehren- und Leckerbissen geschmeichelt verschlingen muß, wenn er seinen Wirt nicht tödlich beleidigen will, so unweigerlich muß ich von dem »Pudding« kosten und entzückt die Augen verdrehen wie der selige Tartüff.

Bild: Richard Scholz

Auf allerliebsten kleinen Tellerchen mit noch allerliebsteren kleinen Messerchen und Gäbelchen wird nun der Pudding verteilt, und meine 23 Enkel werden um den Tisch gesetzt.

»Ursula, du wackels schon wieder immer hin un her un träums, statt zu essen!« ruft Appelschnut tadelnd. Ursula ist also unverkennbar Appelschnuts Kind; denn sie zeigt dieselben Manieren beim Essen, die an ihrer Mutter gerügt zu werden pflegen.

Hulda wird dagegen gelobt, weil sie schön stillsitzt und ordentlich ißt. Siehst du, Hulda? Fürsprache muß der Mensch haben.

»Kurt stopft schon wieder!« ruft Hertha. »Solche Happen steckt er in den Mund!« Sie zeigt Happen, viel größer als der ganze Kurt.

»Na ja,« erklärt Roswitha streng (Kinder sind meistens sehr strenge Eltern), »dann soll er mal hungern; ich hab' es ihm schon so oft verboten.« Und Kurt wird vom Tisch entfernt.

Mit Hilfe der Bauchrednerin Hertha beginnt er sofort zu wimmern und zu betteln: »Huuu – ich will auch gar nicht mehr stopfen – hu–u–!«

»Na, dann soll er diesmal noch was haben,« entscheidet die gnädige Frau, und Kurt wischt sich die Augen und die Nase und setzt sich wieder an den Tisch.

Wenn ich übrigens vordem von 23 Enkeln gesprochen habe, so ist das nur schätzungsweise gesprochen; einen genauen Überblick über die Zahl meiner Enkel habe ich längst nicht mehr. Es kommen ja fast täglich neue; »Kinderkriegen« ist eines der beliebtesten Spiele. Diejenigen meiner Leser, die bisher gemeint haben, daß der Storch die Kinder bringe, werden überrascht sein, zu hören, daß die Sache ganz anders zugeht. Nämlich so: Auf einem Klappstuhl ruht die »Mutter«, die die Kinder haben soll. Neben ihr steht eine spanische Wand, ein Bettschirm oder dergleichen. An der oberen Kante dieser Wand erscheint plötzlich ein Kind. Es wird langsam an einem Faden herabgelassen, die Mutter bindet es los, und der Faden geht wieder hinauf. Nach zwei Minuten schwebt aus der Schicksalshöhe abermals ein Kind hernieder; dann kommt ein drittes, und so geht es fort wie eine Steinkohlenlieferung, so lange der hinter der Wand stehende Genius der Fruchtbarkeit noch Vorrat hat. Hier hätte Zola lernen können, was fécondité ist, ich zählte einmal elf Kinder, die auf solche Weise »das Licht der Welt erblickten«. Einmal war auch meine Frau zugegen, und sie fragte Appelschnut, die diesmal Mutter war – denn auch das Kinderkriegen geht um –:

»Hast du dein neues Baby denn auch schon gebadet?«

Da lachte Roswitha wieder laut auf über den köstlichen Witz. »Hahaha – solche kleinen Babys badet man doch noch nicht! Man gibt ihnen doch höchstens die Flasche!«

Meine Frau, die es in diesem Falle entschieden besser wissen muß, klärt sie darüber auf, daß man dies gerade nicht tue, sondern daß zunächst die Wärterin das Neugeborene bade.

Ein noch besserer Witz! Roswitha lacht aus vollem Halse. »Die Wärterin! Das Baby bringt doch keine Wärterin mit!«

Bild: Richard Scholz

»Nein, die Wärterin bestellt man vorher; man weiß ja doch, wann das Baby kommt.«

Mit einem Ruck wendet Appelschnut ihrer Mutter wieder ein völlig ernstes Gesicht zu: »Ich hab' aber nichts gewußt!« ruft sie entschieden, mit einer Art von Befremden darüber, daß man ihr von ihrer Geburt keine Anzeige gemacht habe.

Nach einer längeren nachdenklichen Pause fuhr sie fort:

»Das weiß ich ja längst, daß der Storch die Kinder nicht bringt.«

»So?«

»Nein, woher soll er sie denn nehmen?«

»Aus dem Wasser,« sagt meine Frau, läßt aber merken, daß sie's selbst nicht glaubt.

Bild: Richard Scholz

»Da müssen sie ja ertrinken!« ruft Appelschnut, verwundert darüber, daß meine Frau das nicht einsehen kann. Und wieder nach einer Pause fragt sie:

»Mutter, woher kommen sie eigenlich?«

Da ist sie wieder, die große Frage.

Meine Frau sagt: »Das kannst du jetzt noch nicht verstehen; das sag' ich dir später einmal.«

»Ja, das hab' ich mir auch schon gedacht, daß du mir das wohl noch mal sagst,« erwidert Roswitha und ist vollkommen beruhigt.

Wir befolgen also den Rousseauschen Rat. Gewiß, es ist nur ein Aufschub; aber wenn das Kind erfahren hat, daß man ihm auch sonst nicht alles erklären und begründen kann, so ist es der gescheiteste Aufschub. Im übrigen habe ich das verwünschte Problem noch immer nicht zu Ende gegrübelt. O, ich weiß, es gibt Leute, die schnell damit fertig sind. O, glaubt es mir, der »schon so viele Jahre an dieser harten Speise kaut«, so leicht ist das Problem nicht! Ja, wenn mit der falschen Scham nicht die edle, die schöne Scham so teuflisch verwickelt und verfitzt wäre, daß man mit jener fast immer auch diese zerreißt! Und die echte Scham – in allen Dingen, meine ich – ist doch vielleicht das Einzige, das uns ein Verweilen in dieser rohen Welt ermöglicht. Man soll, glaube ich, die Kinder mit zunehmendem Alter durch Belehrung über Pflanzen und Tiere immer näher und endlich ganz nah an die letzte Schlußfolgerung heranführen, bis sich ihnen der letzte Aufschluß von selber aufdrängt. Aber das letzte Wort sollen sie in der keuschen Einsamkeit der Seele selber sprechen, das letzte sollen sie ahnend erkennen, wie man ein hohes Geheimnis erkennt. Unter den alles wissenden und alles sagenden Kindern habe ich nie ein liebenswürdiges gefunden.

Zwischen Eltern und Jungfrau, Eltern und Jüngling mag auch das letzte Wort mit Ernst gesprochen werden, zwischen Eltern und Kindern nicht. Einst waren Appelschnut und ihre Geschwister bei einem elfjährigen Mädchen zum Besuch, und dieses Mädchen zeigte seine Puppen.

»Ich bin durch alle Länder gereist, und aus jedem Lande hab' ich mir ein Kind mitgebracht,« sagte sie. Und dann führte sie sie vor: Marguerite, Gianetta, Carmen, John, Wladimir, Thyra, Zuleima, Witboi, Unkas, Astrid usw. usw.

Ist solche Unbefangenheit nicht mehr als ein Witz, als ein Leckerbissen für die Wissenden? Und wenn man sie zerstört, zerstört man dann nicht mehr als Unwissenheit? O ja, man zerstört die rührende Schönheit der Knospe. Denkt euch daneben ein Kind, das sich vor solchen Naivitäten hütet, sie vielleicht gar heimlich belächelt!

Auf den jungen Trieben meiner Tannen im Garten sitzen noch wie Tüten die kleinen Hüllblättchen. Sie sind nahe vorm Abfallen, und wenn ich eins abstreifte, so würde der Trieb darum nicht verderben. Aber ich tu es nicht.

Bild: Richard Scholz

Ich fürchte, der Leser hat aus dem Umstande, daß ich nur Hertha und Appelschnut erwähnt habe, die vollkommen irrige Folgerung gezogen, daß in meinem Hause nur diese beiden mit Puppen spielten. O nein, wenn die Bildung der höheren Tochter ihr Zeit läßt, kommt auch die lange Irene herbei, läßt sich in einen ganz kleinen Kinderstuhl sinken und beginnt mit den kleinsten Puppen ein stilles träumerisches Familienleben. Wie eine Mutter wohl ihr Kind je zärtlicher liebt, je kleiner und hilfloser es ist, so liebt sie die winzigsten Püppchen am meisten, und sie sitzt stundenlang und näht ihnen noch winzigere Höschen und Röckchen und Häubchen und versinkt dabei in eine immer kleinere, immer zierlichere und immer vergnügtere Welt, in eine Welt, die das grobe Auge des Erwachsenen nicht mehr erkennt ...

Und wenn Gertrud, die Älteste, die »junge Dame«, glaubt, man merke nichts, wenn sie eine Puppe hernimmt und sich mit einer gewissen Überlegenheit mit ihr beschäftigt, lange beschäftigt und die Überlegenheit immer mehr vergißt, – dann irrt sie sich. Und sollte meine Frau glauben, daß man nichts merke, wenn sie in den Tagen vor Weihnachten bis tief in die Nacht hinein sämtliche Puppen auffrischt und sie hübsch nebeneinander ins Sofa setzt und sich selbst ihnen gegenüber und mich zur teilnehmenden, staunenden Bewunderung herbeiruft, – sollte sie glauben, daß man ihre Freude für eine rein mütterliche halte, dann irrt sie sich ebenfalls. Natürlich bewundere ich die Gebilde ihrer Kunst außerordentlich, obwohl ich ein eigentlich herzliches Verhältnis zu diesen korrekten Porzellanseelen noch heute nicht gewonnen habe; aber noch viel mehr bewundere ich das kleine zwölfjährige Mädel, das in den Augen meiner Puppenschneiderin sitzt und mich wunderlich selig anschaut.

Ach ja, in seltenen, seligen Stunden kommt sie wohl auch noch zu uns Erwachsenen, die große Illusion. Sie beschleicht uns in der Stille und legt von hinten her die Hände auf unsere Augen, daß sie die Wirklichkeiten der Welt nicht mehr sehen und nach innen in eine lebendige Welt des Scheines schauen. Aber nur zu bald rufen wir erkennend: »Du bist es!« und die Hände lösen sich, und der Zauber ist gebrochen. Dem jungen Kinde hält sie lange und ganz die Augen zu; es sieht nichts als Schein, und tastend und tappend, von Engeln geführt, findet es den Weg durch die Wirklichkeiten. Aber langsam, nach und nach spreitet sie die Finger, und mehr und mehr dringt durch den rosigen Saum dieser Finger das Licht des Alltags ins Auge. Wir saßen einmal mit vieren unserer Kinder im Theater, als Schneewittchen gegeben wurde. Da beobachteten wir auf dem Wege durch vier Herzen und vier Köpfe den Gang des Lebens vom Schein zur Wirklichkeit. Hertha war damals noch das Jüngste, und als Schneewittchen, mit giftigem Kamme gekämmt, tot zu Boden fiel, da sank unserer Jüngsten das Köpfchen auf die Brust, und sie machte jene großen, melancholischen Augen, die so seltsam zu ihrer Wildheit kontrastieren.

»Mutter!« flüsterte halb ängstlich, halb ruhig Irene, die Nächstältere. »Mutter, der Kamm ist doch nicht wirklich giftig, nicht wahr?«

»Natürlich ist er giftig,« rief Hertha, »sonst wäre sie doch nicht tot!«

Erasmus hörte nichts von diesem Gespräch; er sah und hörte überhaupt nichts von der Welt: seine Seele saß auf der Bühne zwischen den Spielenden; er wußte vollkommen, daß es ein Spiel war; aber dieses Spiel hielt ihn vollends gefangen.

Gertrud aber blickte lächelnd und mütterlich auf ihre beiden Schwestern, und über ihre Wangen liefen zwei große verräterische Tränen, die um Schneewittchens Los geflossen waren. –

Bild: Richard Scholz

So gibt es denn auch in der Kindheit der Mädchen eine interessante Übergangszeit, da die Illusionsfähigkeit so weit geschwunden ist, daß die tote Puppe zwar noch genügt und gelegentlich erfreut, aber doch tief in den Schatten gestellt wird von dem warmen Realismus der lebendigen Puppen. Es ist die Zeit, da die Mädchen mit merkwürdiger Übereinstimmung und mit großer Bestimmtheit erklären, daß sie später einmal den Beruf der Amme ergreifen würden. Ein Baby, das Schwestern dieses Alters hat, kann immer darauf rechnen, nach allen Richtungen verzogen zu werden. Es kann mit Sicherheit darauf rechnen, daß alles an ihm ohne Einschränkung süß und entzückend gefunden wird, es möge tun und lassen, was es wolle. Wenn es »Dadada« sagt, so wird man ganz deutlich »Christine« heraushören, und wenn ihm eine Fliege auf der Nase sitzt, so wird man es ihm als einen himmlischen Einfall anrechnen. Aber nicht darf das Baby mit Sicherheit auf ein langes Leben rechnen. Es wird nicht zum Schlafen kommen; denn man wird es ununterbrochen – auch wenn man nur einen Kopf größer ist als das Baby – auf den Armen tragen, und das verträgt nicht mal ein Heldentenor; dafür wird man es freilich durch Nahrungsmittel in unbeschränkter Menge und Auswahl entschädigen. Wenn mehrere Vizemütter da sind, wird es wie ein Erisapfel zwischen ihnen hin- und herrollen, ja es wird wie das Kind im salomonischen Urteil in die Gefahr kommen, halbiert oder gedrittelt oder gevierteilt zu werden.

Und wenn das Haus kein eigenes Baby zur Verfügung hat, so werden sie aus der Nachbarschaft zusammengetragen, vierteldutzendweise, halbdutzendweise, lauter süße und himmlische Kinder.

Wie oft bin ich nach Hause gekommen und habe meine Kindersammlung auf eine Weise vervollständigt gefunden, habe Säuglinge in allen Lebenslagen mit einer Familiarität behandelt und sich benehmen gesehen, daß ich mich erst durch längeres Nachzählen und Besinnen von meinem Schreck erholen konnte!

Bild: Richard Scholz

Vor einigen Tagen haben die meinigen in der Nachbarschaft wieder ein reizendes Baby entdeckt, und seitdem können meine Frau und ich uns vor Reklamationen nicht retten. Warum wir denn nicht auch eins haben! Daß ich keinen Pony anschaffen will, das können sie schließlich verstehen; denn der kostet Geld; aber Babies kann man doch jederzeit umsonst haben! Ich habe lange nachgedacht; aber die Sache würde ja nie ein Ende nehmen. Jedes von ihnen würde mehrere haben wollen, ein ganz neues, ein einjähriges, ein zweijähriges, einen Walter, eine Hulda, eine Marguerite und womöglich einen Unkas – kurz, ich würde sieben spanische Wände anschaffen müssen.

Ein närrisches Volk, die Mädel, wenn sie mit Puppen spielen. Und doch, so oft ihr Eifer mich lachen macht, so komisch ihr Enthusiasmus, ihre Exaltationen und Ekstasen sind, so heilig sind sie mir im innersten Herzen. Schaut hin! In jedem Kinderangesicht, das zärtlich auf eine Puppe blickt, ist bei aller Unschuld und Heiterkeit ein wundersamer Ernst; um jedes Mädchenköpfchen, das sich liebend über eine Puppe neigt, schwebt der Glorienschein des künftigen Berufs!

Bild: Richard Scholz

 


 


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