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Bild: Richard Scholz

Wie Appelschnut umzog.

Über eins werden wir uns sofort einigen, der Leser und ich: über die Annehmlichkeit eines Umzugs. Als Jehova die Ägypter mit zehn Plagen geschlagen hatte, da traf er gleich darauf die Juden mit einer, die sie alle aufwiegt: sie mußten umziehen, und zwar ziemlich lange. Ganz so lange dauerte nun allerdings mein letzter Umzug nicht; aber es war immer noch schlimm genug. Als ich die siebente Bücherkiste packte, stand ich bis an die unteren Rippen in ausrangierter, überflüssiger Literatur und dachte, nun sind's höchstens noch drei Kisten. Es wurden aber noch dreizehn. O, und dann die herrlichsten Bücher nicht aufschlagen und lesen dürfen, sondern sie herzlos hineinstopfen müssen, eins nach dem andern, um sie vielleicht nach Wochen erst – nicht wiederzufinden. Wenn du deinem Herzen nachgibst, sitzest du abends auf dem Rand einer Kiste und liest und hast den ganzen Tag über den Boden einer Kiste bedeckt. O, und dann diese nagenden Zweifel, ob ein Stück Literatur überflüssig ist oder nicht! Eigentlich müßte man's doch erst wieder lesen, um gewissenhaft entscheiden zu können! Wer weiß, ob ich eine Schrift über rationelle Taubenzucht nicht doch noch einmal brauchen werde! O, und dann diese Handwerker, die immer heute nach dreizehn Wochen halten, was sie heute vor 17 Wochen versprochen haben! O, und – genug. Dem empfindungsvollen Leser brauche ich nichts mehr zu sagen.

Aber Wesen gibt es, kleine, goldene, geflügelte, summende Wesen, die aus den giftigsten Blumen Honig saugen, selbst aus einem Umzug, und das sind die Kinder.

Ein Fest, ein herrliches Fest war der Umzug für Appelschnut, alias Roswitha, alias Halumpa.

Jetzt muß ich erst erklären, warum Appelschnut auch Halumpa heißt. Als ich eines Tages in sehr fröhlicher, übermütiger Laune war und mein Junge mich so recht gesund und glücklich aus seinen braunen Augen anblitzte, da packte ich ihn bei den Schultern und schüttelte ihn und rief »Halunke«. Natürlich ist es unerhört, daß in einem gesitteten Haushalt solche derben Worte vorkommen, das weiß ich wohl. Und was die Sache noch verschlimmert, ich habe es wiederholt getan und tu' es noch immer. Ich sollte als gebildeter Mann »Liebling« oder »Bubi« oder dergleichen sagen; aber wenn mich ein Kind mit zwei Augen anlacht, die wie goldene Ranunkeln glänzen, dann sag' ich »Halunke« oder »Strolch« oder so etwas. Das kann ich nicht anders. Der gesittete Leser wird ja sehen, daß die Strafe nicht ausbleibt.

Bild: Richard Scholz

Denn eines Tages, als ich mit meiner Tochter Roswitha, rectius Appelschnut spielte und ich ihr wohl ausnehmend gefallen mochte, da schoß ihr mächtig die Liebe zu Herzen; sie packte mich bei den Händen, drückte sie nach ihrer Meinung mit ungeheurer Kraft und rief: »Du Halumpa!«

Sehen Sie, meine gesitteten Herrschaften? Sehen Sie? Da haben wir die Geschichte von der Roßdecke. Man soll den Kindern nie ein schlimmes Beispiel geben, dieweil sie eben die schlimmen Beispiele nachahmen, die guten weniger.

Ich nahm also meine Tochter her, versetzte ihr einen herzhaften Kuß und nenne sie seit jenem Tage »Halumpa«, weil eine böse Tat immer fortzeugend Böses gebiert.

Halumpa, wie gesagt, möchte alle Tage umziehen. Die Tätigkeit, die ihr der elterliche Haushalt in dieser Hinsicht bietet, genügt ihr denn auch nicht; sie gibt als Umziehergehülfe Gastspiele in der Nachbarschaft. Vor einigen Wochen trat meiner Frau im Garten unserer Wohnung plötzlich ein Negerkind entgegen, das in seiner Gestalt höchst merkwürdig an ihre Tochter Roswitha erinnerte. Erst als das Kind den Mund öffnete, erkannte sie, daß es ihre Tochter Roswitha selbst sei. Das Mutterauge, das den heimkehrenden, sonnverbrannten Sohn nach vielen Jahren wiedererkennt, hatte die Tochter nicht erkannt; denn an die Stelle des Gesichts war eine Paste von Staub und Schweiß mit zwei großen weißglänzenden Augen darin getreten.

»Mammi, ich hab bei Pofessers mit umzogen gehelfen – Junge, das war fein!«

Meine Frau konnte die »Feinheit« eigentlich nicht entdecken und wies sie auf ihre Hände hin.

Halumpa betrachtete sie, rief: »Och, das geht leicht wieder ab!« schlug die Hände einmal gegeneinander und hielt die Sache damit für erledigt.

Dabei darf man aber nicht wähnen, daß Appelschnut die Freuden eines seßhaften und geruhigen Lebens nicht zu würdigen wüßte. Sie liebt nach Kinderart eine fröhliche, tätige Unrast und hat doch ein ganz seltsames Gefühl für die milde, sanfte Hand der Ruhe. Als ich auf einem Spaziergang mit ihr an eine weite, tiefgrüne Wiese kam, die den ganzen Zauber eines großgestimmten Raumes übte, da rief sie: »O Pappi, wie is es hier breit un ruhig, nich?« und als sie hörte, daß bei unserer neuen Wohnung ein großer, schöner Garten mit hohen Bäumen sein werde, da wirkte ihre Phantasie Tag für Tag an dem Bild dieses Gartens. »Ich möchte, in dem Garten wär'n Wald mit'n Brunnen, un denn wär es ganz, ganz leise, und nur der Brunnen rauschte, un denn müßten Rehe darin sein – die sind doch stumm, nicht?«

Bild: Richard Scholz

»Meistens – ja.«

»Un denn tu ich ihnen gar nichts, ich streichel sie bloß, un denn laß ich meine Puppen darauf reiten.«

Es ist wie ein Bild aus einem Grimmschen Märchen. Märchen und Wirklichkeit vermischen sich in jedem Atemzug eines Kinderlebens; die Seele Halumpas lebt noch im Märchenstande, wo alles Wunderbare selbstverständlich ist und alles Selbstverständliche wunderbar. Dem Kind ist der redende Vogel ein Natürliches, und der stumme Kieselstein ist ihm ein Wunder. Was Tag und Nacht umarmen, ist ihm eine Welt.

Auch gehört Halumpa nicht zu den Alltagsherzen, die gedankenlos vom Geringeren zum Besseren fliegen, die höchstens von einem dankbaren Gedächtnis für Menschen und Tiere wissen und nicht ahnen, daß man dankbar sein kann gegen eine Kastanie, gegen einen Blumentopf, gegen eine steinerne Wand, auf der unser Blick einmal fröhlich oder traurig sinnend gehaftet. Wenn ich mich allen ihren Bitten gefügt hätte, so hätten wir aus unserer alten Wohnung und deren Garten sämtliche Steinchen und Steine, Tapetenreste und abgebrochenen Schubladenknöpfe, namentlich aber alles, was nur ein Blatt und einen Stengel hatte, mit herübergenommen. Bild: Richard ScholzBesonders hatte Halumpa eine große Ulme in ihr kleines Herz geschlossen, eine Ulme, die ein großer Mann nicht mit den Armen umspannen konnte, die wir aber durchaus mitnehmen und auf Halumpas Beet im neuen Garten verpflanzen sollten, auf ihr Beet, das einen ganzen Quadratmeter groß ist! Ich mußte eine ganze Diplomatie von Versprechungen, Bonbons und heiteren Redewendungen aufbieten, um ihr die Ulme auszureden, und mußte noch überdies eine Anzahl von Linden-, Kastanien-, Kirschen-, Pflaumen-, Pfirsich- und Apfelsinenschößlingen konzedieren. Ihr liebster Pflegling ist ein Kastanienschößling von einem Fuß Höhe; sie erhoffte schon vor einem Jahre Blüten von ihm.

Bild: Richard Scholz»Weißt du was, Pappi: wenn sie Blumen kriegt, denn flücken wir sie ganz leise ab, un denn legen wir sie ganz leise auf Mammis Tisch, denn freut sie sich!«

»Ja, Appelschnut, so schnell wächst aber die Kastanie nicht. Da mußt du noch lange warten.«

»Ach, weiß du was, Pappi? Laß sie mal ganz schnell zuwächsen, denn flücken wir die Blumen ab un schenken sie Mammi! O ja!«

Wenn auch nur der geringste Keim einer Zauberkraft in mir schlummerte: unter dem Blick, mit dem sie bat, hätte er mächtig in mir emporschießen müssen. Aber ich kann noch heute keinen blühenden Baum aus der Erde steigen lassen, auch um den sonnigsten Blick von der Welt nicht. O lumpiges Menschentum!

Also Appelschnuts Freude am Umzug ist nicht Freude am Wohnungswechsel – eine solch unnatürliche Anlage meines Kindes würde ich schaudernd verschweigen – Bild: Richard Scholznein, es ist die Lust, die schwersten Kinderstühle, ganze Puppenbetten (!) und Regenschirme genau so auf die Schulter zu nehmen, wie es die Arbeiter mit den Kleiderschränken tun, jene Gegenstände mit ungeheuren Schritten und kühn umherblickenden Augen aus der alten Wohnung an den Wagen und vom Wagen in die neue Wohnung zu tragen, dabei sehr laut zu reden und mit den Armen zu schlenkern, genau wie die Arbeiter, und das Gefühl zu haben, daß der ganze Umzug nicht zu stande käme, wenn man nicht selbst mit angriffe und die Hauptarbeit täte. O, und dann sind es sehr interessante und gefühlvolle Momente, wenn man die Lieben alle wiedersieht, die man mit sorgender Seele dem ungeheuren, finsteren Möbelwagen übergeben hat. Ob wohl der allerliebste kleine Puppenkleiderschrank alle seine Beine behalten hat? Wie wird Kamilla die Reise überstanden haben? Sie ist nur ein zartes Kind! Und Hedwig! Sie hat erst kürzlich einen schweren Gelenkrheumatismus überstanden! Kurt – um den braucht man keine Sorge zu haben: er hat erst vor drei Wochen einen neuen Kopf bekommen mit roten Pausbacken und obendrein von Zelluloid. Keine Mutter kann ihre leiblichen Kinder nach langer, schreckendrohender Seefahrt mit hellerem Jauchzen begrüßen, als Halumpa ihre Puppen. Hedwig! – Kurt! – Kamilla! – Bei jeder gibt es einen Freudenschrei aus der Tiefe des Herzens. Und nun erst die Freude der Kinder! »Djiip!« schrie Kamilla, als ihre Mutter sie an den Busen preßte.

»Aber was ist das, Halumpa? Deine Kinder sind ja alle braun!«

»Ja. Ach, das war neulich so fein! Da ha'm wir Sommerfrische gespielt, un da sind sie alle auf Sylt gewesen, un da sind sie alle so braun geworden!«

Bild: Richard Scholz

In der Tat, verblüffend braun. Sämtliche Puppen sind im Gesicht und an den Händen mit brauner Tusche angestrichen und sehen aus wie Kinder der arabischen Wüste! Und nun hab ich' noch nicht einmal eine der größten Freuden aufgezählt. Walter – die männlichen Puppen und die männlich-schönen Romanhelden heißen meistens Walter – Walter also war seit Monaten verschollen! Ob Zigeuner ihn geraubt, ob er Selbstmord begangen – wer konnte es wissen! Aber beim Auskehren und Umziehen findet sich's. Ganz zu unterst und zu hinterst im Spielzeugschrank, in einer Schachtel lag er. Er hatte sich nur auf einige Zeit von der Welt zurückgezogen, was allemal ein Zeichen von Geschmack ist, und lächelte uns an, als wenn er sagen wollte: »Wer verborgen lebt, lebt gut.« O diese Freude über den verlorenen und wiedergefundenen Sohn! Hedwig, Kurt, Kamilla – sie alle mußten beiseite stehen; Walter, Walter ist wieder da, Walter der Wonnige mit dem steifen Knie und dem ausgelaufenen Auge; er allein hat für die nächsten Stunden der Mutter Herz; denn über eine verlorene und wiedergefundene Lumpenpuppe ist im Himmelreich Halumpas größere Freude als über tausend gerechte und unzerschmeißbare Zelluloidseelen.

Kein Wunder, daß Appelschnut, während wir Erwachsenen dem Tage des Umzugs mit bleicher Furcht entgegensahen und uns im schüchternsten Behagen, im bescheidensten Genießen ein dies irae, dies illa in den Ohren brauste, daß Halumpa dem Tage des Zorns wie einem Geburts- oder Weihnachtsfest entgegensah, am Vorabend der Katastrophe vor freudiger Erwartung nicht einschlafen konnte und am andern Morgen um sechs aus dem Bettchen sprang und alles im Haus alarmierte.

Bild: Richard Scholz

Der Morgen jenes denkwürdigen Maitages brach an. Die Sonne schüttete unerschöpfliche Fluten von Licht und Glut herab, die Blumen dufteten, die Vögel sangen – die Natur schien von dem Bevorstehenden nichts zu ahnen, nichts zu fühlen; wie an jedem andern Morgen ging sie fühllos ihren Gang. Alle Schilderungen von Feuersbrünsten und Erdbeben beginnen so. Als ich mich anziehen wollte, zeigte sich, daß das Dienstmädchen, das sonst alles liegen läßt, meine sämtlichen Stiefel fest und tief verpackt hatte, und in diesem Stil ging es dann durch den ganzen Tag. Die Wahlverwandtschaften, die ich mir zurückbehalten hatte, um die verzweifeltsten Stunden der Öde zu kürzen, und deren Unantastbarkeit ich dem gleichen Mädchen unter gräßlichen Beschwörungen auf die Seele gebunden hatte, waren glücklicherweise unwiederbringlich in eine große Leinenkiste versenkt worden; dafür hatte sie mir das Reichskursbuch liegen lassen. Nun und so weiter.

Dagegen war der ganze Tag für Appelschnut ein Freudentaumel treppauf und treppab, herein und heraus. »Pappi, meine Gießkanne!« – »Mammi, dein Schemel!« sie hob ihn triumphierend empor und schwitzte wie ein Schiffsheizer. Mit jedem Kistendeckel feierte sie ein gerührtes Wiedersehen. Es waren unter den Umzugsarbeitern Männer von jener Art, die ein Klavier auf den Nacken nimmt, es mit der linken Hand festhält und mit der rechten im Vorübergehen noch ein paar Schriftsteller von normaler Größe mitnehmen kann. Diese Männer machten Ruhepausen, halbstündige, ganzstündige und verschnauften sich; Halumpa hatte für die Zumutung, sich hinzusetzen, nur ein geringschätziges »Ha!« Die Unermüdlichkeit der Kinderbeine ist mir immer eines der Welträtsel gewesen. Unternimm, wie ich es zuweilen getan, mit deinen Kindern eine achtstündige Wanderung und bringe wohl in Anschlag, daß sie wie die jungen Hündlein den Weg doppelt machen, weil sie immer hundert Schritt vorauslaufen und dann zurückkommen; bringe jene Wanderung mit zusammengebissenen Zähnen und mit jener zusammengerafften Würde, zu der dich dein Embonpoint verpflichtet, zu Ende, laß dich dann zu Hause in deinen Stuhl fallen mit dem Vorsatz, in den nächsten drei Stunden nicht wieder aufzustehen, so wird dieses kleine Gesindel sicherlich auf dich zuspringen und dich mit unverschämter Freudigkeit bitten, noch eine Stunde lang mit ihm im Garten »Kriegen« zu spielen. Um deinen Neid vollzumachen, mußt du dann noch bemerken, daß sie die fabelhaftesten Sommertemperaturen mit Nichtachtung strafen. Wenn du bei fünfundzwanzig Grad Réaumur im Schatten wie ein Verbrecher an den Mauern entlangschleichst und die Sonne fliehst wie ein Getier der Nacht, so wirst du finden, daß diese Kinder den Sonnenschein eben da aufsuchen, wo er seit sieben Stunden von innerlichst erwärmten Steinfliesen zurückprallt. Sie sind wie Mücken oder Stäubchen, die in der Sonne erst sonderlich leuchten und tanzen.

Bild: Richard Scholz

Nur als Appelschnut ihr »geliebstes Bilderbuch« gefunden hat und sich damit platt auf den Estrich des Altans setzt, um »die entzücknigten kleinen Schafe« darin zu betrachten, da stören sie die siebenhundert Sonnengulden, die durch das Laub der großen Linden fallen. Aber sie weiß Rat.

»Weiß du was, Pappi?«

»Nun?«

»Ich hol einfach 'n Zeitung un deck die Sonnenscheine einfach zu.«

»Ja, das versuch nur, mein Kind. Und wenn du die ›Times‹ nimmst oder den ›New-York Herald‹ – der Sonnenschein bleibt oben auf.«

Aber die Beschäftigung mit dem Bilderbuch war nur eine ganz vorübergehende und naive kleine Untreue; nach zwei Minuten widmete sie sich wieder dem besinnungslosen Möbeltransport. Ja im Paroxysmus ihres Fiebers schrie sie zu mir, der ich gerade aus der Dachbodenluke hinaussah, mit klingender Kehle hinauf: »Pappi! Wenn ich groß bin, denn will ich auch Umziehmann werden!«

»Schön, mein Kind, schön! Ganz wie du willst!«

Halt! Noch eine Unterbrechung ihres Spediteurgeschäfts muß ich erzählen. Richtig, das war so. Halumpa liebt über alles die Tiere. Ein Tier zum Spielkameraden zu haben, ist ihr heißester Wunsch, und ihre Sehnsucht scheut vor den größten Vierfüßlern nicht zurück. Ein großes, breites, dickes dänisches Arbeitspferd würde, so glaubt sie, ebenso zärtlich und zierlich mit ihr spielen, wie sie mit ihm. Ich glaube, sie würde auch Anton, den Riesenelefanten aus dem Zoologischen Garten, zum Genossen annehmen. Zwar besitzt sie ein schönes, braunes, wohlgenährtes Roß; aber es läuft nicht, es schaukelt nur. Nun kam sie plötzlich in großer Erregung auf mich zugerannt.

»Vater!« rief sie – die Sache mußte ihr tief ans Herz gehen, denn sie rief nicht »Pappi«, sondern »Vater« – »Vater, der Umziehmann sagt« – hier holte sie Atem – »ich soll ihm mein Schaukelferdschen geben« – und nun lief eine selige Hoffnung über ihr Gesichtchen – »denn will er mir sein schwarzes, lebendiges Ferdschen dafür geb'n!«

Und nun, meine Freunde, muß ich meine Feder hinlegen als ein ohnmächtiger Mann! Ich sollte euch beschreiben, was ich sah; aber das kann ich nicht. Dieser Kinderblick zweifelte lächelnd, ob es der Mann mit jenem Tausch wohl ernst gemeint habe, und er hoffte sehnlich, daß es ihm ernst sein möchte; dieser Blick harrte und bangte, daß ich meine Einwilligung zu dem Geschäfte geben möchte, und er schämte sich, daß ich über seine Leichtgläubigkeit lachen könnte.

Ich nahm das Köpfchen in meine Hände und sagte: »Der Mann hat nur Spaß gemacht, Roswitha.«

»Hm,« sagte sie bestätigend, und ihre Wimpern senkten sich tief über eine erlöschende Hoffnung.

Seht, Freunde – ihr müßt nicht glauben, daß Appelschnut ein schönes Kind wäre, das ist sie nicht – aber wenn ich euch diesen Augenblick so schildern könnte, wie er war, dann würde ich, wie einst Justinian ausrief, da er die Hagia Sophia erbaut hatte: »Ich habe dich überwunden, o Salomo!« – so würde ich ausrufen: »Ich habe dich überwunden, o Goethe!« und würde euch vor lauter Hochmut nur noch über die Achsel ansehen. Aber fürchtet nichts: wir armen Menschen haben für so viel Welt- und Menschenschönheit nichts als ein paar hülflose Tropfen im Augenwinkel.

Überhaupt sollt ihr nicht wähnen, daß Halumpa ein Ausnahms- und Wunderkind wäre. Aber ein Kind ist sie – ist das nicht Wunder genug? Ein bunter Tautropfen, der die Welt spiegelt – ist das nicht Wunders die Fülle? Ich muß z. B. der Wahrheit gemäß berichten, daß Appelschnut ein kleiner Protz ist wie fast alle Kinder. Man kennt wohl die Geschichte von den beiden streitenden Kindern, von denen das eine sagte: »Ätsch, mein Vater hat aber man 'ne goldne Uhr!« worauf das andere triumphierend versetzte: »Ätsch, aber meine Großmutter is man gestorben!«

Bild: Richard Scholz

Selbst traurige Ereignisse sind dem Kinde zunächst eine Sensation, ein Erlebnis, mit dem es prahlen und sich wichtig machen kann. Und leider, leider muß ich nun gestehen, daß Roswitha am Tage des Umzugs eine ähnliche Schwäche anwandelte, als sie den Herrn Hofrat Friedrich von Schiller aus Gips am Gartengitter entlangtrug und das am Gitter stehende, etwa vierjährige Nachbarskind sie in ein Gespräch verwickelte. Ich belauschte folgende Unterhaltung, die das fremde Kind eröffnete.

»Du, Tleine, wie heiß du?«

»Ich heiß Roswitha. Un wie heiß du?«

»Ich heiß Duschi. Wir haben ßwei Tlaviers, habt ihr auch ßwei Tlaviers?«

»Nein. Aber wir ha'm'n ganze Menge Sofas!«

»Wieviel Sofas habt ihr denn?«

»Sechs«ist gar nicht wahr.

»Och, wir ha'm noch viel mehr!«

»Mein Vater hat aber 'ne Menge Bücher!«

»Mein Vater auch. Mein Vater hat hundert Bücher.«

»Och! Mein Vater hat tausend!«

»O, das lügs du aber, das sag ich zu mein Mama!«

Halumpa ist starr über diese Beschuldigung. Sie blickt sich um und sieht mich. »Vater, sie sagt, ich lüg, daß du tausend Bücher hast. Un denn sagt sie zu mir ›Kleine‹ – dabei is sie selbs noch so'ne kleine Krabbe!«

Ich zucke mit hülflosem Bedauern die Achseln. »Das kommt davon, wenn man prahlt. Wer prahlt, ist noch so ganz klein –« ich zeige ihr zwischen Daumen und Zeigefinger, wie klein – »große Menschen protzen nicht.«

Bild: Richard Scholz

Sie hat sich schon vordem in einer mich für die ganze Umgegend kompromittierenden Weise als beata possidens produziert. Sie trug eine kleine Wanduhr, die die Kinder selbst auseinandernehmen und zusammensetzen können, ins Haus und stimmte dabei folgenden über Felder und Wiesen hinhallenden Kantus an:

»Junge, was haa–ben wir für 'ne Menge U–ren!
Pappi hat eine,
Un Mammi hat eine.
Un zwei an der Wa–and!
Uuuha, was sind wir für reichliche Leu–te!«

Aber der Abend ist ein großer Beschwichtiger, er bringt selbst Halumpas Zünglein und Beinlein zum Stillestehen. Als sie in ihrem Bettchen lag, stöhnte sie in ihrer Unschuld: »Junge, – das war'n feiner Tag!«

Und dann gähnte sie, und dann streckte sie die Ärmchen nach ihrer Mutter und mir aus, drückte unsere Köpfe »furchtbar fest« an ihre Brust und sprach: »Ihr seid meine beiden Wonnes. Euch möcht ich als Kinder haben!«

Topp, Halumpa! Umziehen ins Kinderland! Das könnte mir passen. Der Umzug sollte mir recht sein. Um den wollt' ich nicht klagen. Denn von allen Schätzen, die die großen Leute vor euch voraushaben, wollt' ich nichts mit mir nehmen, nichts! An der Hand meine Lieben, wollt' ich noch heute abend von hinnen ziehen, mit geraden Augen ins Kinderland. –

Am andern Morgen war alles früh auf den Beinen, und das Haus war vom Keller bis zum Giebel voll munteren Lärmens. In den Stuben hobelten die Tischler, an den Türen feilten die Schlosser, auf den Treppen hämmerten die Tapezierer, in der Küche hantierten die Mädchen mit dem klirrenden Glas und Porzellan; im Garten schrien Kinder und Spatzen, und im Salon spielte jemand das Gebet aus dem Freischütz. Nur Appelschnut lag noch um 9 Uhr quer in ihrem Bett, oben auf der Decke, und schlief. Sie mochte wohl etwa 15 Kilometer Weges auszuschlafen haben, und nach der tiefen Inbrunst, mit der sie schnaufte und das Mäulchen vorschob, konnte sie höchstens beim zehnten sein.

Bild: Richard Scholz

 


 


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