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Kriegstagebuch

Somme Oktober 1916

1

Qualmschwarze Nacht. Stolpernd, fallend, wieder aufstehend keuchen wir schweißwarm und apathisch nach vorn. Erschöpft von fünf Stunden Marsch. Gepäck für die neue, außerordentliche Stellung schwerer, wenn auch praktischer verstaut, als sonst. Fettigkeiten, Mineralwasser, Tabak und Extraportionen von Patronen haben wir mit. Wir gehen im Gänsemarsch. Vorsichtig geht ein Geländekundiger führend voran. Durch Granatlöcher, Granatlöchern ausbiegend, hin und wieder über Tote. Den Löchern nach scheint's eine böse Gegend hier zu sein. Wie mag der erste Graben aussehen? Die Allwissenden sprachen nur von Trichtern. Immer wieder Rufe von hinten: Kurztreten! Sie können nicht mehr. Soll die Linie nicht abreißen, muß die Spitze schon verhalten. Abirren einzelner wäre fast so gut wie tödlich. Denn die Zone hinterm Graben ist, wie wir wissen, immer die am meisten von Geschossen bestreute. Heute ist's wohl ausnahmsweise ruhig.

Da ist endlich der Graben. Schwarze, kaum wahrnehmbare Linie. Flüsterndes Anrufen, ebenso von uns die Antwort. Wir kauern uns Mann neben Mann, denn Unterstände scheinen nicht da zu sein. Käme erst der Morgen! Fahle Helligkeit schwillt zögernd. Deutlicher tauchen Herbstfarben, Geländewellen, und dann halblinks vor uns die angefressenen Häuser des verlorengegangenen Le Sar aus den Schwälen der englischen Gräben, etwa neunhundert Meter entfernt, kaum zu erkennen; zwischen ihnen und dem unseren eine sanfte Mulde. Grau begrast. Es regnet. Erst Tropfen, dann stetiges Gießen ohne Aufhören. Jeder hockt für sich, Zeltbahn über den Kopf gezogen, wortlos. Nach fünf Stunden sind Zeltbahn, Mantel, Rock, Hemd durchweicht. Weiterhin liegt im Schlamm unser Spielmann Becker, vollkommen betrunken und klappernd vor Frost. Doch er schnarcht. Die Grabenwände kommen ins Rutschen. Immer öfter fällt klatschend ein Lehmbrocken in die Pfütze. Neben mir sehe ich ein dunkles Loch, eine hinabführende Treppe mit anschließendem Bunker. Schwarz, feucht und jedenfalls verlaust. Platz für drei Mann nur. Die Sanitäter, die darin liegen, wollen mich nicht hineinlassen. Ich setze mich wieder, breche eine Fleischbüchse auf, die vor mir im Schlamm lag, und fange an zu kauen. Einen halben Tag noch regnet's; dann ruft man mich aus dem Stollenloch. Da der Eingang schon ganz zugeschlammt, krieche ich auf dem Bauche hinein. – Ich schlief wie ein Tier.

2

»Alles raus! Feind greift an!« brüllt einer in unseren Keller. Schon wieder fort. Es mußte gegen Mittag sein. Helm auf gestürzt, Gewehr gegriffen; beim Hinaufstolpern das ekelhafte Gefühl: wenn sie dir nur nicht schon auf den Nacken springen. Beim Herauskommen plötzlich auf mich einbrechend: Trommelbrandung, Paukenchaos, tausend Sturmorgeln, tausend polternde Wagen: eine einzige Brandung von Wirbeln; auf wölkende Rauchfontänen bis weithin. Mitten in allem: wir. Wir fühlen nicht mehr, daß wir frieren, daß wir läusevoll, daß wir naß bis auf die Knochen, fühlen nur dies wahnsinnige Unverständliche um uns brüllen. Zittern springt mir in die Knie und Handgelenke. Nur kurze Zeit. Ich habe meine Mütze mit einem Haufen Zigarren darin neben mich gelegt. Ich stecke mir eine an. Und Wunder (kraft dieser Ablenkung), das innere Gleichgewicht ist wieder hergestellt. Fünf Meter links von mir steht einer der kleinsten und frechmäuligsten Berliner Rekruten. (Ich ohrfeigte ihn einmal gründlich an der Yser, weil er es nicht lassen konnte, mich dauernd anzustänkern.) Nun sehe ich, er zittert. Ich schichte Handgranaten vor mir auf. Für jeden Fall. Der Berliner schielt herüber; und siehe da, er folgt meinem Beispiel: legt Handgranaten zurecht und steckt eine Zigarre an. (Das Beruhigungsmittel.) Dauert nicht lange, so rauchen sie alle, die Behelmten, soweit ich sie sehe: fünf Mann links, zehn Mann rechts von mir.

Ein neuer Klang wird in dem Brausen hörbar – da: fünf, fünfzehn, zwanzig von den großen Vickers-Doppeldeckern stoßen über unsere Linie. Erkundend und Artilleriefeuer lenkend. »Fliegerdeckung.« Alles preßt sich reglos gegen die Lehmwand. Ein Flieger flankiert mit seinem Maschinengewehr aus hundert Meter Höhe unseren Graben. Ebenso kämmt ein MG vom feindlichen Graben her unsere Brustwehr ab, um uns am Ausguck zu hindern. Plötzlich gibt einer aus dem Fliegerschwarm Hupensignale, genau wie wenn ein Auto durch die Stadt saust. Das war das Signal für die Kanadier. Überall rücken sie in Gänsemarschlinien über das Zwischengelände. An unsere Kompanie kommen sie jedoch nicht ganz heran, sie halten sich weiter rechts.

»Mensch, sind Sie verrückt?« schreit mich der Kompanieführer an, »das sind ja unsere Leute!« Wir stutzen.

»Nee, nee, dat sind de Tommys!« meint einer, dann mehrere. Wir schießen weiter nach halbrechts, Visier 750. Da seht, der alte Peter Carsten, Spielmann, Holsteiner: Handgranaten in den Fäusten, springt wie besessen oben auf die Deckung und ruft: »Nu man fix op to!«

Mit einem Beckenschuß kugelt er wieder in den Graben, kreidebleich. Leider sind unsere beiden MG versandet, sonst könnten sie die nächsten Schützenlinien bequem wegrasseln.

Nun kommt auch von unserer 11. Kompanie rechts eine Handvoll Verwundeter und Geflüchteter herbeigestürzt. Die drei anderen Kompanien unseres Bataillons sind zusammengeschossen, die Reste gefangen. Weithin im rauchenden Gelände sehen wir Trupps mit erhobenen Armen auf die englische Stellung zulaufen. Es sind die gefangenen Unseren. Sie geraten in unser eigenes Sperrfeuer, das vor dem feindlichen Graben hämmert. Am rechten Flügel unserer Kompanie ist der Angriff abgefangen. Zwei Gruppen liegen im rechten Winkel zu unserem Graben ausgeschwärmt in Granatlöchern des Hintergeländes. Abgeriegelt! An ein Wiedernehmen des verlorenen Grabens ist nicht zu denken. Das Artilleriefeuer ist zu stark massiert und verflucht gut geleitet. Außerdem haben die Kanadier einen Haufen Maschinengewehre in unserer Flanke eingebaut. Da heißt es: Kopf wegstrecken!

Ich drehe mich zufällig um und sehe von hinten Leute auf uns zulaufen. Ich hebe den Arm: Hier ist Verstärkung nötig! Ich sehe einige vor heranheulenden Granaten in die Löcher plumpsen. Mancher kommt nicht wieder hoch. Jetzt springen mehrere Männer, ein Leutnant, zu mir in den Graben. Sie keuchen furchtbar. Die erste Frage des Leutnants: »Sind sie denn nicht wieder rauszuschmeißen?« Ich schüttelte den Kopf. Er stürmt nach rechts weiter. Den Nis Surballe (von der dänischen Grenze) ziehe ich neben mich, er hat einen Schuß durch den Oberschenkel. Den Schmerz verbeißend, sagt er keinen Mucks.

Gemach schwillt das Feuer ab. Es dunkelt. Nun es stiller geworden, hören wir vor und hinter uns das herzquälende Hilfeschreien der Verwundeten. Es ist keine Hilfe möglich. Man würde sich verirren im Gelände und von den immer wieder tackenden Maschinengewehren aufs Korn genommen. Dazu sind unsere Krankenträger sämtlich verwundet. Wir sind alle müde zum Umfallen, aber an Schlaf ist nicht zu denken. Die ganze Nacht quellen die Schreie aus den Granatlöchern. Gegen Morgen verstummen sie mehr und mehr. Wir nicken im Stehen ein wenig.

Merkwürdig ruhiger Morgen nach der Schlächterei. Wie selbstverständlich gehen, nur etwa zweihundert Meter von mir entfernt, sehnige, lange kanadische Sanitäter in Mantel und Stahlhelm im Vorfeld und buddeln ihre Toten an Ort und Stelle ein. Sie haben eine große Rote-Kreuz-Flagge neben sich in den Boden gepflanzt. Es fällt kein Schuß. Wieder und wieder tragen die Kanadier Verwundete huckepack in ihre Gräben. Unsere Krankenträger suchen ebenfalls das Feld ab. Jakob Lorenzen, Hannes Meier, Müller, Julius Bendixen und zwei andere, die wir schon vermißten, wurden gefunden, alle von einer Granate zerschlagen. Sie wurden in einem Granatloche beerdigt.

Den Tag über ist lange, lange Ruhepause.

3

Wir hatten ihn nur ein- oder zweimal im Reservegraben gesehen. Das hatte genügt, ihm den Namen »Zieten« bei uns zu verschaffen. Das heißt, er hatte mit dem alten Zieten nur den Reiterberuf gemein. Sonst war er wohl in allem sein Gegenteil. Blasiert, etwas morsch in den Knochen, Monokel eingeklemmt, die Stimme näselnd, monoton: der richtige Husarenrittmeister aus Friedenszeit. Er imponierte mir mit seiner aristokratischen Weltgelassenheit. Denn so wie er sich hier in unserem urweltlichen Graben zeigte, hätte er sich kaum besser in einem Salon bewegen können. Nur daß er den Stahlhelm trug: Er müßte nach vorn, denn die meisten Kompanieführer seien gefallen, er müßte vorn das Bataillon übernehmen, hatte er zum Regimentskommandeur telefoniert. So war er denn zu uns gekommen. Alle Achtung! wo sich die Bataillonsführer doch sonst nicht in vorderster Linie aufzuhalten haben. Eines Morgens mußte ich als Gefechtsordonnanz ihn mit seinem Adjutanten wieder zum Bataillonsgefechtsstand zurückbringen. Nun hatte ich den Weg bei Nacht und dickstem Nebel schon dutzendmal gemacht; die Nase wie ein Spürhund auf den naßblankernden, getretenen Pfad geheftet, hier an einem Blindgänger, einem besonderen Granatloch, dort an dem auf der Seite liegenden schwarzlockigen Hochländer mich orientierend – aber nun: lichtfressende, zertrichterte gelbe Lehmwüste vor mir. Kein Gras, kein Pfad zu sehen. Da kannte ich mich nicht aus. Nur keine Schwäche zeigen, dachte ich, die Sache wird schon gut gehen. Also turnten wir drauflos. Immer an Granatlöchern vorbei, die mit blutigem Regenwasser gefüllt waren.

»Wir müssen uns mehr rechts halten«, sage ich, einem unbestimmten Gefühl nachgebend. Doch bald standen wir ratlos da. Wohin nun? Ein Glück nur, daß der Engländer nicht schoß.

»Sie Ochse! Sie Esel!« bricht da unser Zieten los. »Führen uns hier in die Irre!« Ich stolpere unentwegt weiter, dauernd »Esel« und »Rind« hinter mir hörend.

»Sehen Sie nun, wo Sie uns hingeführt haben?« – »Sehen Sie nun ein, was Sie für ein Ochse sind?«

Ich, schuldbewußt: »Jawoll, Herr Rittmeister!«

»Ach, sein Sie ruhig«, versetzt er wieder näselnd, »ich mag gar nichts von Ihnen hören!«

Er wiederholte den Ochsen noch etlichemal. Da tauchten endlich in der Ferne die Häusertrümmer von Pys auf! Und wir schlugen unsere Richtung nach dort.


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