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Über Möglichkeit des Tragischen in unserer Zeit und über die neue Weltdichtung

Ein neues Weltgefühl ist im Werden, ein Allverwandtschaftsgefühl; wohl läßt sich ein solches auch in den alten Zeiten nachweisen; bei den Mystikern, bei Giordano Bruno, Rousseau, Goethe; doch kann man, muß man unser Weltgefühl, so weit es jetzt schon merkbar, seiner Intensivität, seiner außerordentlichen, ausgebreiteten Ausdrücke wegen, als ein ganz neues bezeichnen, das nur unserer Zeit zu eigen ist. Der einzelne im Volk sträubt sich gegen die Eingliederung in den Weltkreis dieses Gefühls. Unsere rastlose Werkzeit ist so eisenstark, so gesund an allen unendlich verzweigten Gliedern, daß sich die Tagesmenschen vor ihrem unerkannten Hammerrhythmus, vor ihrer tausendtürmigen Größe ängsten. Sie sollen sie lieben lernen! Darum reden die Dichter zu ihnen, zu allen!

Den vorläufig vollkommensten Ausdruck findet das Weltgefühl in der neuen, in der Zeitdichtung. Die großen Anfänge sind die Dichtwerke Whitmans, Verhaerens, Dehmels. Sie sind die Erkenner und Künder des Weltgeistes und die Bereiter der Wege zu den neuen Formen des Zeitrhythmus. Die Entwicklungen aus diesen Anfangsgründen sind die unabgeschlossenen, zeitfroh-lebendigen Dichtungen, die rhapsodischen Zeitgesänge der: Paquet, J. V. Jensen, der Dichter des Quadrigakreises, der Dichter vom »Neuen Pathos« und anderer. Diese jungen Dichter sind Hoffnungen, Wechsel auf die Zukunft, die uns zu dem Glauben berechtigen: daß wir die großen Zusammenfassungen, Beschließungen, die Zeitwerke, die epischen Krönungen in einigen Jahrzehnten haben werden.

Des heutigen Dichters Nervennetz (es ist ein Schwamm mit tausend Poren) hat sich verzehnfacht vor der ungeheuren Fülle der Zeit; er ist in allen Dingen hingegeben – doch reißt er wieder Stück um Stück aus dem Leben und ballt es zur Gestalt auf. Und sein Herz allein kann den Zeitreichtum nicht mehr fassen; das Hirn muß helfen; was das Gefühl nicht mehr aufnehmen, umspannen kann, das ordnet stark und weise der Gedanke in den Kunstkreis ein. Dem Dichter ist das Hirn ins Herz gesunken: es ist eins geworden in seiner Dichtung. Daß die jungen Dichter ekstatisch predigen, ist nicht verwunderlich, denn aus ihnen stammelt das Chaos der Zeit. Ihre Jugend ist von den Dingen, ist vom neuen Leben überwältigt; doch ihr Alter wird später Distanz zu den Dingen gefunden haben: man wird weniger predigen – und mehr gestalten.

Die neue Dichtung ist mitten aus unserem Leben: sie ist der Ausdruck unseres Lebens, die Generalmelodie, die aus dem gewaltigen Grundrhythmus unseres Tatlebens über ihn wächst. Dies ist keine Kunst, die dem breiten Volkstage fremd ist: diese Kunst ist Blut von unserem Blut, so sehr, wie es eine Kunst überhaupt sein kann!

Zum erstenmal können sich Dichtung und Lebensvolk die Hände geben: der Kraftfunke springt über – nun können sie zusammen marschieren!

Die jungen Dichter sind Dampfhammerleute, nicht nur Lebensschreier. Sie sind auch Seher und Verkünder des Ewigen. Sie fühlen im Weltbraus das Unzeitlich-Große, sie wissen: unser stampfendes Leben ist ein ewiges. Sie geben bei aller Zeitgebundenheit das Unzeitliche: den Menschen, das Leben, die Seele. Und es wächst in ihnen immer mehr die Beseligung, der Glaube: in allem ist Gott! Bald taucht dieser Glaube nur als Urgefühl in den Dingen auf, bald ist er gestaltet zu Weltgebeten, bald verpersönlicht zu Gott, dem heiligen Riesen, dem Vater von Anfang zu Anfang!

Die neue Weltdichtung, unmittelbar aus dem Leben geboren, strömt wieder in dieses zurück und begeistert, kräftigt den Menschen zu frohem Ansehen seines Werktags und zur Erkenntnis des Wesens und Wertes seiner Taten.

Die neue Weltdichtung kann uns vom starren, unfruchtbaren Materialismus, zu dem unsere Zeit mit ihrem gesteigerten Außenleben natürlicherweise neigt – kann uns vom Materialismus, indem sie ihn durchgeistigt, beseelt – erlösen! – wenn wir Menschen es wollen!

 


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