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5

Ein Himmel hat sich jetzt dir aufgetan –
Glüh ab, stürz ab, er ist nicht dein!
Triebdunkel reißt dich tief in letzten Wahn –
Dann – wirst du dein und rein!

Er sitzt mitten im übergrünen Bergwalde auf der Rasenkante eines schmalen Weges.

Und da kommt sie schon her, um mit ihm zu gehen; – er sieht nur ein dunkles Etwas vor dem breiten Schein, den das gedämpft durchsickernde Taglicht dahinten zusammenstrahlt – und weiß doch, daß sie es ist, die den Laubgang heraufkommt.

... Er denkt, daß er hier genau so sitzt, auf derselben Stelle, wie vor kurzer Zeit, als er sie zuerst sah – als er ihr ganz glückbenommen entgegengegangen war, weil er nicht anders konnte. Und wie er ihr dann gegenüberstand, Blick in Blick, und sie mit bebender Stimme fragte: »Bist du nicht die, die mich mit den Blicken rief, da unten in der großen Stadt?« – da hatten sie lange geschwiegen; sie sah ihn nur an; und er fühlte das so, als ob ihr Blick sich in all sein Blut verzweigte. Und dann antwortete sie doch so sonderbar: »Wenn Du es glaubst, so bin ich es ...«

Nun wußte er, daß sie damals so gesprochen, weil sie nicht anders sprechen konnte.

Er sprang auf. – Da war sie schon vor ihm und reichte ihm lächelnd die Hand, und ihr weißes Kleid sah so froh aus wie ihr Gesicht.

»Du träumtest?« fragt sie.

»Ja, von dir«, antwortet er herzlich und drückt ihr beide Hände.

»Komm, laß uns hinaufgehen, es ist ein so seliger Tag heute.«

Wortlos, glücklich, versonnen gehen sie beide Arm in Arm den schattigen Weg zur Hügelhöhe. Handgroße Sonnenflecken flimmern auf dem Sande; ab und zu huscht eine kleine smaragdgrüne oder braune Eidechse raschelnd vom Wegrand ins Unterholz; und immer wieder taumeln braunrote Falter ganz dicht an ihnen vorbei.

Sie hält ihn am Arm fest und bleibt stehen:

»Hörst du?« – Ein Kuckuck ruft ganz fern – immerzu. »Wollen wir den Märchenvogel suchen?« sagt sie leise; er blickt sie an und weiß erst nicht, was sie gesagt hat, dann hört er ihre Worte im Ohr –

»Ja, such du den Kuckuck – ich glaube, ich muß den bösen Adler suchen – der mir so oft ins Herz hackt«, spricht er abwesend und sieht in die hochhinaufstehenden Buchen.

»Du darfst nicht immer so dunkel träumen; weißt du nicht, daß oben auf der Höhe die Sonne ist? Komm, die wollen wir suchen!«

Und wie er ihre schöne Heiterkeit sieht, wird er wieder froh – und stumm vor sich hinsehend gehen sie ihren Weg weiter – zur Höhe.

Es rauscht immer voller in den Laubwipfeln und Licht flimmert darin. »Du bist zu gut«, murmelte er. –

»Soll ich deiner nicht wert sein?« sagt sie und legt ihren Arm um seine Schultern. –

»Nein, es wäre anders besser«, flüstert er, »aber – wir wollen heute den Himmel da oben sehen – denn ich habe noch nie seinen blauen Glanz gefühlt –«. Und sie küßt ihn auf die Wange, als er die suchenden Augen nach oben hebt und sagt: »Du sollst ihn jetzt immer sehen!«

Und er sagt wieder: »Du bist zu gut.« –

»Nein!« lacht sie zärtlich, »aber ich will es werden!«

Der lichtfleckige Weg krümmt sich etwas und schiebt sich steiler hinauf.

Sie atmen beide stark, und das Blut drängt heftig in ihnen hoch; und alle vier Augen glänzen groß.

Es rauscht voller in den Laubkronen, und immer mehr hüpfende Lichter flimmern darin. Und sie hören, wie der Wind tief hinter ihnen saust und höher heraufschwillt und dann über ihnen von Wipfel zu Wipfel springt und lichtbrausend weiter zur Höhe stürmt.

Die Bäume stehen nicht mehr so dicht zusammen, grünscheinendes, goldbraunzuckendes Leuchten strömt mehr um die Fichtenstämme, die wie dünne rote Säulen dastehen.

Einige aufgelichtete Baumreihen kommen noch, dürres Unterholz. –

Da bricht der Weg kurz zur Seite und – plötzlich stehen sie oben vor der weitausstrahlenden Taghelle!

Seite an Seite gelehnt stehen sie mit verflochtenen Fingern da; und jeder ist benommen.

Langsam strömt Freude auf, und die verwunderten Augen wandern tief in der Ebene:

Ein Landweg ist da, mit jungen Birken eingefaßt; Schwarzwälder, blauüberhaucht um den ganzen Horizont; und davor eine ruhevoll wiegende, gelb- und grüngemusterte Breite; und an den welligen Wurzeln des Hügels stehen rotköpfige Bäumchen wie große Fliegenpilze, das müssen Vogelbeeren sein. –

Und Sonne, Sonne.

Sie spüren, wie der lichtflirrende Wind da unten alles überschwemmt; und ab und zu hüpft er eigensinnig bis zu ihnen hoch, heftig flackernd und rasch, so daß sie beide die Hüte abnehmen müssen.

Sie glauben, die Milliarden Halme, die alle mit den vollgereiften Körnerköpfen aneinander klopfen, aufrauschen zu hören; und sie beugen sich und horchen nach unten. – Und sie horchen nach – Unsäglichem.

Es ist, als ob sich alle Poren der sommersatten Erde geöffnet haben und Licht einsaugen. –

Und aus allen warm überdufteten grünen Wiesen und sonniggelben Getreidequadraten und den dazwischen verstreuten Bäumchen weht ein schwankendes Leuchten hinauf in die blaue Himmelsstille.

Da steigt aus dem Felderabhang am Fuß des Hügels ein Vogel herauf – winzig – aber sie sehen ihn – da hören sie ihn – er trillert: es ist eine Lerche – sie steigt höher, höher – und sie richten sich auf und sehen ihr nach, sehen, wie sich das selige Federbällchen schon hoch über ihren Köpfen steil hinaufschraubt – und da ist das Zwitschern im Licht verschwunden – sie sehen nichts mehr.

Und wie sie beide vor der grenzenlosen Helle die brennenden Augen schließen – nur einen Augenblick – da ist es, als hörten sie nichts mehr, als wären sie taub vor lauter Licht, eine unnennbare Pause ist in der Weltallstille –

Und lautlos flutet stark ein Gefühl in beiden, und nun ist es ihnen, als ob der unendliche Himmel lautlos zerspringt vor Sonne –

Und plötzlich fallen sie beide mit stammelnden Herzen übermächtig ineinander.

 

Es ist September, und noch immer Sommer; langglühender reifer und bunter Sommer.

Langsam klappt Juan das Buch zu, das vor ihm auf dem Schreibtisch liegt, lehnt sich in den rundlehnigen Stuhl zurück und streicht mechanisch die Asche der Zigarre im Messingbecher ab. Versonnen blickt er vor sich hin, auf das schwarze Kastenschloß der weißen Tür. Stille ist im Zimmer; nur einige Fliegen surren. Durch den herabgelassenen Rollvorhang und die Gardinen strahlt von draußen gelbgedämpfte Helligkeit, durchbricht die Spitzenkanten und malt verstreute Lichtflecke auf die weißlackierte Fensterbank; leuchtet weiter über die wenigen altväterlichen Möbel aus Eschenholz und die ovalen Bilderrahmen, schneidet über die mittelste Türfüllung einen glänzenden Streifen, glänzt noch einmal an der weißen Fußleiste auf und verdämmert dann warm in den Zimmerecken bis zur Decke hinauf. Ein Brummer surrt quer durch den Raum.

Einen Seufzer hervorstoßend, reckt Juan sich auf, streckt die Arme weit von sich, verschränkt sie hinterm Kopf und sinkt dann wieder in seine Beschaulichkeit zurück. Er fühlt sich froh, zu froh – und deshalb doch nicht zufrieden; es ist ihm, als lauere irgendwo etwas, das bald kommen müsse – dies ruhige Glück, das ihn seit der ganzen langen Zeit dieser Liebschaft umfaßt, ist ihm eigentlich fremd, es paßt nicht zu seinem Blut. Nachlässig greift er nach den Streichhölzern, zündet die ausgegangene Zigarre wieder an und pafft mächtige Qualmwolken hoch. Im Treppenhaus geht jemand nach unten, die Haustür schlägt, und es ist wieder ruhig im Hause. Kinderstimmen singen draußen Ringelreihen.

Da klopft es heftig, die Tür wird aufgerissen – und Helena tritt rasch herein: »Du«, sagt sie aufgeregt; ihr Gesicht ist gerötet, und sie faßt seine Hand – »du, komm mit hinaus – es ist so schön draußen – und ich habe dir soviel zu sagen –«

»Was ist?« antwortet er erstaunt, denn so hat er sie noch niegesehen; »was ist dir nur?«

»So komm doch!«

»Hast du geweint?« sagt er, als er ihr in die feuchten, glänzenden Augen sieht. –

»Sieht man ... ist das zu ... ach nein, nein, es ist nicht wahr; siehst du nicht, wie ich mich freue?«

Und sie lacht und küßt ihn auf die Wange.

»Doch, doch, liebes Kind.« Er nimmt seinen Hut von der Kommode, faßt ihre bebende Hand – und sie gehen hinab.

Die Häuser stehen bunt in der Sonne, und es wimmelt von springenden, jauchzenden Kindern. Wie die beiden so schnell durch die Straßen gehen, um ins Freie zu kommen, sieht sie ihn wieder und wieder mit leuchtenden Augen an und drückt innig seine Hand; er erwidert ihren Blick, kann sich aber nicht in ihrer Lebhaftigkeit zurechtfinden und sagt deshalb ablenkend: »Du hast ja dein weißes Kleid wieder an, das trugst du schon lange nicht mehr«, und er lächelt.

»Ist das auch nicht zu kühl?«

»Nein«, lacht sie laut und hätte ihn am liebsten umarmt.

»Es ist doch Sommer! – Sieh mal die Leute, die wollen sich gar nicht mitfreuen«; und sie sieht neckisch umher. Hier und da blieben wirklich einige stehen und sahen nach dem merkwürdigen Paar.

»Willst du nicht erzählen?« mahnt er ungeduldig. –

»Ja doch, ja – draußen, draußen.«

Aus einer spielenden Schar rennt plötzlich ein kleines Mädchen gegen sie an und wäre fast gefallen, wenn Helena es nicht am Arm ergriffen hätte. »Lachst du nicht mal, du blöder Tollkopf, willst du nicht mit?« spricht sie zu dem verstörten Kinde; aber die Kleine bleibt blöde und verwundert hinter ihnen stehen. –

Schweigsam gingen sie weiter durch Wiesenwege; Krähen schwärmten lärmend und schwerfällig umher; die Spaziergänger verliefen sich. Juan erschrak fast, als er in einem flüchtigen Seitenblicke bemerkte, daß sie ernst und blaß vor sich auf den Weg sah–er glaubte Feuchtigkeit an ihren Wimpern zu sehen – aber im nächsten Augenblick sah sie hoch, war wieder lebhaft wie vorher, schwatzte zärtlich und lachte.

Sie waren an den Rand des Stadtgehölzes gekommen. Die Füße raschelten in dem wenigen, früh gefallenen Laube, aber sonst standen die Bäume noch voller Blätter da; nur wenige fingen an, sich herbstlich zu färben; rotschimmernde Büschel der Vogelbeere hingen ab und zu zwischen den sattgrünen, schwärzlichen Blättern.

Nun fühlen sie, daß sie allein sind. Hastig beugt er sich zu ihrer Hand, und ihre zuckenden Finger spüren seine brennenden Lippen.

»Weißt du, ich bin fortgelaufen, fortgelaufen!« stößt sie glühend hervor.

»Fortgelaufen?«

»Ja fort, fort – weil ich dich so sehr liebe!«

»Fort?«

»Ja, du mußt nun alles wissen; ach, ich könnte weinen, und ich bin doch so freudevoll – du?«

Zärtlich legt er seinen Arm um ihre Schultern, drückt sie an sich und hört mit erregtem Herzen zu.

»Wie lange hatten mich meine Mutter und meine Schwester schon mißgünstig angesehen, meine täglichen Schritte behorcht und wollten wissen, wer er wäre; denn daß ich dich liebte, das fühlten sie wohl nur zu gut; aber ich habe nie etwas gesagt, sie trennten meinen Tisch von ihrem und ließen mir die Mahlzeiten ins Zimmer tragen, sie kamen zu mir herein, wollten mich überreden und stellten Verzeihung in Aussicht – aber je mehr sie mich bedrängten, desto mehr verschloß ich mich. Und da entdeckten sie dann doch, daß ich ... daß ich – Du! aber das kann ich dir doch nicht sagen ...« Sie sieht ihn mit fiebernden Wangen und hilflosen Augen an. –

»Sprich nur«, sagt er weich und streicht zärtlich über ihre Stirn.

»Daß ...« und sie wirft sich wie schutzsuchend an ihn, »... daß ich Mutter werde!«

»Mein Lieb!« Es flimmert in seinen Augen, bewegt küßt er wie ein Vater ihre Stirn, und dann ihre geschlossenen Augen, und dann den stammelnden Mund; zieht sie stützend fest an sich, obgleich ihm selber die Knie wanken. »Und du hast mir nie etwas gesagt?«

Sie senkt den Kopf an seiner Brust: »Ich – konnte es nicht«, flüstert sie. Nach einem Augenblicke reißt sie sich los und stellt sich aufrecht vor ihm hin, ihre verwirrten, nassen Augen werden nun fest und groß: »Und dann habe ich ihnen stolz ins Gesicht gesagt, daß es wahr sei, was sie vermuteten – und bin dann unberührt von ihren kleinlichen Beschimpfungen ganz sicher und froh fortgegangen, als hätte ich ein altes Haus verlassen, in dem ich nicht mehr wohnen sollte, weil es zu niedrig war, weil es bald einfallen müßte. Wie befreit und geadelt ging ich die Treppe hinab, glaubst du?«

»Ja! ja, du bist stark! du bist herrlich!«

»Nun bin ich zu meiner Freundin gezogen. Und nun weißt du, daß ich nur dir lebe! – eine ganz andere Welt ist um mich geworden!«

»Du willst nun alles allein in dir behalten, meine und deine große Liebe, und das neue Leben in dir, unser Kind?«

»Alles, alles.«

»Und du wirst dich nicht fürchten, alles für uns aufzugeben, willst nicht zittern vor der heiligen Not, Mutter eines Kindes zu werden, das vom Licht trinken will?«

»Nie, nie – wenn ich nur immer bei dir bin«, haucht sie erschauernd.

»Wie soll ich dir danken«, sagt er bebend aus gepreßter Kehle. –

Die Dämmerung ist über den Wald gekommen; unbestimmtes, abgedämpftes Leuchten schwimmt zwischen allen Bäumen. Die Wege dunsten feucht.

Allmählich wird es ganz dunkel, die Schatten schwellen, geistern auf – und alles ist von Unnennbarem erfüllt. Fern von einem Wege schallt Singen; dann Frauen- und Männerstimmen durcheinanderschwirrend – eine Gesellschaft, die, vielleicht aus einer Waldwirtschaft kommend, auf dem Heimweg ist:

»... Freut eu-euch des Lebens,
weil no-och das Lä-ämpchen glüht;
pflü-ücket die Rose, eh sie-ie verblüht –
man macht so ge-ern sich ... Sorg und Müh ...«

Zwei Menschen gehn selig umschlungen und weinen vor Glück.

 

Helena gab, wenn es ihr auch immer schwerer wurde, Anfangsunterricht im Klavierspielen an Kinder; ein Klavier hatte man auf Miete genommen. Zärtlich sah sie wohl auf die blonden Scheitel der Kleinen, lenkte ihre zierlichen Finger, denen alles so ungewohnt und mühsam war, und ahnungsvolle Freude stieg hell in ihr auf. Sie konnte es nicht verstehen, daß Juan sich nichts aus diesen täppischen, allzeit verwunderten Seelchen machen konnte, daß er sie albern, unvollkommen und stimmlich zu sehr begabt fand; er zog sich stets mürrisch zurück und saß über seinen Büchern, wenn die Kinder kamen. Juan aber liebte nur ein Kind, nur ein Kind, auf das er sehnlichst: wartete – sein Kind. –

Dann kam auch die Zeit, daß Helena ruhen und der Unterricht aufhören mußte. Es wurde knapp im Haushalt; kleine Schuldkontos wurden bei Kaufmann und Bäcker aufgeschrieben. Juan begann mit Übersetzungsarbeiten; aber hinderten ihn einmal nicht nervöse Kopfschmerzen daran, so jagte ihn ein andermal irgendeine plötzliche Laune von den Büchern auf; es wurde nichts fertig, und die Krämer schrieben weiter.

Die Eltern mußten wohl durch beflissene Mittelspersonen, wie sie sich ja überall nur zu gern finden, von diesem Zustand erfahren haben; erst kamen von ihnen merkwürdig mitleidige Briefe ins Haus, aus denen niemand ersehen hätte, daß eine Schranke zwischen Eltern und Tochter lag, und später gutgemeinte Gaben und Bitten um Lebenszeichen.

Aber alles ließ Helena abweisen. Mit heimlichem Seufzen ging Juan zur Tür, öffnete und schloß sie wieder. – Und wenn er dann wieder neben dem Bett steht, kann er nicht anders als demütig, mit Unruhe in der Brust in ihre fiebrigmatten, verdunkelten Augen sehen, die so schmerzlich gut aus dem bleichen, tief in die Kissen gesunkenen Angesicht sehen, und die ihm sagen: für dich – und er beugt sich tief, und küßt ihre weiche, blutlose Hand, die so still auf dem weißen Leinen liegt.

Er, der früher des Streifens nicht müde wurde, des freien Dahingehens nach dem triebinnersten Pochen in sich, der sich immer wieder aller möglichen Blutbande entledigt, allen Gefühlsballast beiseite geschoben hatte – er fühlte seine Verpflichtung, seine dunkelste Schuld vor ihrer herzvollen Selbstentsagung und wunderbaren Liebe ins ungemessene sich türmen, fühlte sich immer mehr in Dankesschuld verstrickt, gebunden, Herz und Hände und alle Sinne. Und er mußte doch wieder los...! er stöhnte tief innerlich aus dumpfem, ungewissem Drängen, das Blut brauste in ihm hoch – hastig ging er aus dem Zimmer, um sich vor ihr zu verbergen.

Einmal kam Helenas Schwester. Aber auch sie fand die Tür geschlossen.

Im März wurde Juan eine Tochter geboren. Die Mutter hatte sehr gelitten, ihre empfindliche Natur blieb lange hinaus geschwächt und erschöpft. Tagelang, ja wochenlang vor der Geburt hatte Juan im innigsten Zwiegespräch mit seinem Weibe von dem Ankömmling phantasiert, hatte Namen, prächtige, seltene Namen erfunden und wieder verworfen und wieder neue gesucht, hatte sich nicht genug tun können im Aufzählen all der bunten und kostbaren Kleider, der glänzenden Schmuckstücke, die das Kindchen wie ein Prinz oder Prinzeßchen haben müßte. Wenn ihn Helena dann auch lächelnd einen Toren nannte, er wurde nicht müde, dies Kindchen als eine Verkörperung eines Ideals, das außer ihm war, zu sehen. Aber der Phantast wich fast erschrocken zurück vor diesem erbärmlichen, winselnden Körperchen – welches sein verpflanztes Selbst und darüber hinaus ein Erbe sein sollte – vor diesem geröteten, häßlichen Klümpchen, das ihm die Wehmutter gutmütig grinsend zeigte. Er mochte es in den nächsten Tagen kaum noch sehen. Friedlich schlief das Würmchen an der Seite seiner erschöpften, doch glücklichen Mutter. –

Vier Monate war sie nun alt. »Cachucha«, »Cachucha!« rief Juan den ganzen Tag, ließ sie auf seinen schaukelnden Knien sitzen, ließ sie darauf stehen und tanzen; und das sah ergötzlich aus. Ein rotseidenes Hemdchen trug das blonde Wichtelchen, ein großer, ach zu großer goldener Halsring lag auf den winzigen Schultern und die rosigen Füßchen staken in gelben Lederpantöffelchen – so hatte der entzückte Vater sie ausstaffiert. Hin und her im Zimmer mit ihr auf dem Arm, oder im Huckepack auf dem Rücken, das war Wonne für ihn. »Cachucha!« –

Die junge Mutter aber hatte, nachdem sie eben eine kleine Zeit vom Bette hatte aufstehen können, einen Rückfall gehabt, eine allgemeine Schwäche, die leicht gefährlich werden, dem Herzen schaden konnte. Sie mußte wieder auf das Ruhelager. Aber sie blieb milde und geduldig. –

 

Mehr denn je hatte in der letzten Zeit die alte blinde Sehnsucht Juan gepackt; und sie ließ ihn nicht los; bald traumhaft auf gaukelnd in wehmütigem Verlangen, bald ihn wild überwältigend, daß sein Wille sich aufbäumte und er nachts in Schmerzen stöhnte – aber niemals Gestalt annehmend, daß sie ihn überredet hätte zu rücksichtslosem Entschluß – sie ließ nicht los. Er zweifelte an sich, ob dieser ewigen Unrast, aber wenn er auch fluchte oder weinte oder sich trotzig in sich selbst verbiß – es half alles nichts.

Zu fühlen, daß sein Herz nicht ganz in diesem Geschöpfe, seinem Weibe, das ihn mit unbedingter Ergebenheit über alles liebte, aufging, in blindem Glauben – o Glaube! Glaube! o sichere Zuflucht in einem Glauben, der Berge versetzen könnte – das war es, – wohl liebte er sie, wohl bemühte er sich, die Fäden neu zu knüpfen, die der Zweifel zernagt hatte – aber die flatternde Sehnsucht kam immer wieder, und weiter nagte der Zweifel.

Ein mächtiger Platzregen prasselte draußen. Klein Cachucha saß in der Sofaecke und konnte die Lider nicht mehr hochhalten. Ein großer gelber Lampenschirm ließ das ganze Zimmer im Dämmer, nur auf dem Tische leuchtete grell ein spiegelnder Lichtkreis. Behutsam griff Juan zur Gitarre, setzte sich im Sessel zurück, so daß nur die Hände und die Gitarre auf seinen Knien warm im Lichte lagen; und dann sang er mit sonorem, etwas hell gefärbtem Bariton ein nordisches Schlummerlied. Aber – pst – stille ... stille ... ganz gedämpft:

Der Leuchtturm blinkt von Lyoe her,
Im tiefen, tiefen, dunklen Meer;
O weh, o weh –
Das Wasser gluckst, die Welle rinnt –
Sei still, mein Kind, sei still, mein Kind,
Dein Vater ist auf See.

Er schwimmt mit Knud und Svend zu dritt,
Bringt viele glatte Schollen mit.
O weh, juchhe –
Die See ist schwarz, die Nacht ist blind –
Sei still, mein Kind, sei still, mein Kind,
Dein Vater ist auf See.

Die Lampe raucht, die Tür muß zu:
Der Troll tanzt draußen ohne Schuh!
Susuh, susuh –
Der Garten murrt im bösen Wind;
Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein, mein Kind,
Dein Vater ist auf See.

Cachucha schlief. Die Saiten des Instrumentes summten nach – Schweigen – Juan träumte – – o winterliches Meer, und die schweigenden, unendlichen Wälder im Frost – ihre unnahbaren, eisig stolzen Gletscher auf der ewigen Wanderung – die Moräne tröpfelt und fließt in blinkender Sonne – und der kohlschwarze Rabe, der darüber fliegt – ohne Schrei – geheimnisvoll dahinsteuernd – –

Der Nebel weht, die Wasser fallen;
Der Rabe flog nach Island hin,
Er trug ein blutig Herz in Krallen –
Auf Island ist Brunhild Herrscherin –
Der Rabe flog nach Island hin ...

»Juan!« rief eine schwache Stimme aus dem Nebenzimmer. »Juan?« – Er strich mit der Hand über die Augen und stand auf. Leise öffnet er die Tür und tritt auf den Zehen in die dunkle Kammer, die nur von einem Wachslichtchen erhellt wird. »Schläfst du noch nicht, Lena?«

»Ach, hast du nicht eben so schön gesungen?« Sie schwiegen beide. »Juan, du weißt noch immer nicht, du weißt nie genug, wie ich dich liebe –«

»Halt ein, halt ein.« Er sinkt an ihrem Bett nieder, ihre Finger streicheln sein Haar, es ist ihm, als ob er beichten müsse – ihn quält etwas und will heraus – »Helena, wenn du es wüßtest, wenn du es nachfühlen könntest, was mich seit langem peinigt, verzehrt. –Habe ich dich nicht lieb und das Kind? – O Unrast, Unglaube – – aber das verstehst du alles nicht.«

»Juan, ich sah es, ich fühlte mit dir – nun sprich, alles – dein Herz war noch immer so offen wie dein Blick, noch nie hast du etwas vor mir verbergen können oder gar wollen; wenn du auch schwiegst, dein Wesen sprach; du bist noch immer zu wahr gewesen. Ach, bitte sprich –« Eine Träne perlt auf ihrer fiebrig geröteten Wange.

Da erwacht der Versucher in ihm und raunt ihm zu: »Prüfe sie – brich mit ihr – brich mit allem –« und er zwingt sich unter dem Schutze des Halbdunkels aus seiner Erregtheit zu beherrschter Ruhe, aber sein Gesicht straft ihn Lügen – welche Augen sind wohl erkennender als die eines liebenden Weibes? – »Ich bin vorgestern mehrere Meilen weit ins Land gegangen, durch die Dörfer – ich habe einige Mädchen angesprochen, mit ihnen gelacht, – und mit einer von ihnen eine Verabredung getroffen –« (er sieht, wie es in ihr zuckt, wohl glaubt sie es nicht, aber der leise Zweifel nagt doch. »Weiter so«, raunt der Dämon –) »ich dachte nicht an eine Frau, die krank zu Hause lag; ich werde noch heute nacht zu dem Mädchen gehen ...«, er stockt, hält, über sich selbst erschrocken, inne; er tritt einen Schritt von dem Bett zurück in das hüllende Dunkel, denn er fühlt, wie sein Gesicht in Schamröte glüht.

»Darfst du das nicht?« sagt sie so ruhig sie kann, denn sie ist gewillt, diese verwundende Maskerade weiter mit ihm zu spielen; »bist du nicht frei?«

»Nein!« braust er heftig auf, aber im nächsten Augenblick besinnt er sich wieder, und erschüttert vor dieser selbstlosen Großmut sinkt er wieder vor ihr nieder, sieht sie hilflos und schuldig an: »Vergib, du – es ist nicht wahr – ich war so verwirrt, schon so lange, ich träumte zu viel – ich weiß nicht, was es ist – ich sah die Stille in der Welt, Gletscher und Meer und die Wälder, alles, alles voll Frieden – nur ich, ich –«, er schluchzt und kann kaum sprechen, »ich habe niemals Ruhe, soll keinen unerschütterten Glauben an ein Herz haben –«

»So sollst du niemals, niemals wieder reden, du armer Guter, du sollst an mich, nur an mich glauben; du sollst dich in mir aufrichten aus deinem Zweifeln. Willst du das tun?«

»Immer«, weint er.

Dann sinkt sie erschöpft in die Schatten der Kissen zurück, aber ihre Finger streicheln wieder über sein Haar, über seinen Nacken, über seine Stirn, und das ist Vergebung. –

Sie haben beide nicht gemerkt, daß die Kerze herabgebrannt ist und nur das letzte Dochtstümpfchen nachglimmt. Allmählich ist Helena aus der Ermattung in den Schlaf geglitten; kraftlos sinkt ihre Hand von seinem Kopf, und da erwacht Juan. Schwankend steht er auf; betrachtet lange, lange dies liebe, schlafblasse Angesicht. Dann legt er ihre Hand auf die Decke zurück und geht hinaus. Die auf dem Sofa fest eingeschlafene Cachucha nimmt er auf den Arm, um sie ins Bettchen zu tragen – und dann löscht er die Lampe aus.

 

Es ist Winter geworden. Winter mit viel Schnee und glatten Fußsteigen in den einsamer gewordenen Straßen und grimmiger Kälte draußen in den endlosen Feldern.

Helena hat den Klavierunterricht wieder aufgenommen; sie gibt auch zwei jungen Mädchen Gesangsstunden, denn sogar ihre Stimme, die solange verstummen mußte, fängt wieder an zu blühen. Am liebsten aber singt sie ganz allein, singt sie sich alle bescheidene Wehmut und innerliche Freude vom Herzen. Und da singt sie vor allem die Lieder von Grieg und Sjoegren und dem Finnen Sibelius; es ist soviel zitternde Seele und fliegende Sehnsucht darin – Sibelius' »Svarta Rosor« – o schwarze Rose, Nachtrose –

Trauerrose – – –

Und dann Cachucha! Cachucha, die ein kleiner Wildfang geworden ist, plötzlich in das Zimmer hüpft und mutwillig mitten auf die Klaviatur schlägt, daß die Tasten springen und die schönste wagnerische Dissonanz in das Übungsgeklimper schrillt! Obschon der Vater ihr verboten hat, dahinein zu gehen, obschon er sie fast ängstlich von den andern Kindern da drinnen fernzuhalten sucht, als sei er eifersüchtig auf sie – Cachucha springt. Cachucha hat wie ihr Vater ihre Launen, kleine eigensinnige Launen. Wenn die Mutter sie nach dem Spruch: Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es, zu erziehen versucht, so läuft sie zu ihrem

Vater und weiß, daß sie da sicher ist – – –

Es ist Winter geworden. Winter, der die Gefühle in den Menschen erkältet und verschnupft hat, all die frische Freude und Ungebundenheit, die einen Sommer lang die Herzen lebhaft bewegt – und die jetzt nur noch künstlich am Ofen im Stübchen aufwärmen, auftauen. Winter, der die frierenden Menschen mit glasigen Blicken aus tränenden Augen herumlaufen läßt; der die Fenster mit Eisblumen bedeckt, sie blindgemacht hat; der die Zimmer kleiner, die Welt eng und stubendumpf gemacht hat.

Es ist Winter geworden. Es ist auch Winter in Juans Herz geworden. Ein strenger, unerbittlicher Frost hat sich immer mehr eingeschlichen, hat sein Inneres mit einem eisigen Hauch zum Frieren gebracht; und das letzte warme Nachglühen von Liebe, das der Frost noch nicht erstarrte, hat er rücksichtslos in sich erstickt; nur eine traumfliegende Schwermut, die zu oft, wie die zu frühen bleigrauen Dämmerabende über ihn fällt, hält ihn noch immer in der drangvollen Ungewißheit und Untätigkeit. Juan stöhnt nicht mehr – er wartet – auf was, weiß er nicht, aber er ahnt es.

Der Unheimliche rührt sich wieder in ihm; er wispert: »Du hast nur einen bedeutungslosen Vergleich, Frieden mit dem liebenden Herzen neben dir geschlossen. Du hast dich, wie schon allzu lange, auch jetzt wieder von ihr berauschen lassen; du bist Samson, dem Delila das Haar abgeschnitten und ihm damit noch die Hände gebunden hat – träume nicht – –« Und als das alles ihn noch nicht in einen verzweifelten Entschluß zu stürzen vermag, da bedrängt ihn der Böse in der Nacht, läßt die selig-unselige Heimwehwelt vor seinen schlafenden Augen trügerisch auferstehen. – –

Rauch – dunkel quirlender Rauch, der sich mehr und mehr in der Ferne löst und zurückweicht – Helligkeit strömt in die Schatten – dunkle Wände, massige Gebirge tauchen auf, heben sich aus der Ferne, Gebirge mit Eisgipfeln und Schneefeldern in silbrig geisterndem Nebel, es ist, als strahlen sie Musik, eine merkwürdige, schwebende erdferne Melodie des Sehnens aus; alle Gipfel leuchten. Es ist ein Warten über allem. Da schwebt hinten eine Gestalt hoch – höher, ein zauberhaftes Wesen – eine weibliche, göttliche Gestalt, Goldrauch in den Haaren und Unergründlichkeit in den dunkel sinnenden Augen – und nun hebt sie feierlich langsam den Arm, als ob sie winke.– – Es brennt in Juan, es steigt aus seinem Herzen, sitzt ihm in der Kehle und flimmert über seine Augen – er preßt beide Hände auf die Brust, denn es wankt darin, er fühlt etwas zusammenfallen; er stößt den Atem heftig aus – und dann ist es ihm, als sei er von einem Alp erlöst––-: Sie! die immer Ersehnte, zu der alle seine Wünsche und bangen Hoffnungen blindlings hinstürmen – Sie! die einzige! – alle Sinne sind in zitternder Spannung von Herz zu Herz, von seinem Herzen zu dem andern da in der selignahen Ferne gebunden, und es braust in ihm: trinke aus diesen Augen! Laß deine Seele endlich satt werden; rufe nicht, aber lauf, rase, stürze und schwebe! Denn dies ist dir das langersehnte letzte Glück! – noch einen Augenblick – –

Doch – es sticht eine Nadel durch sein Herz ... er zaudert, – ein Wimmern, ein klägliches Weinen schneidet schmerzhaft durch ihn, denn ein Kind weint – er zaudert; er blickt um sich – und schwankt: es ist sein Kind! sein Kind, das da so nackt und bloß steht und mit tränenden Augen bittend zu ihm aufsieht ... und » Vater«, sagt der rührende Blick, und » Vater!« sagt nun das dünne Stimmchen ... da bricht Juan plötzlich vor diesem Geschöpfchen nieder, umfaßt die kleinen Knie und küßt, und küßt sie, und er schluchzt aus dunkler Schuld.

Lautlos fällt alles unaufhaltsam um ihn zusammen. – Traumerschreckt, am ganzen Leibe bebend, fährt Juan auf, stützt die Arme auf und krallt unwillkürlich die Finger in die Bettdecke, bleibt einen Augenblick starr sitzen, streicht sich über die Augen – und er merkt, daß er geweint hat. Er springt auf, schlägt die Decke um sich und reißt das Fenster auf; seine brennende Stirn, seine klopfende Brust badet in der hereinstreichenden kalten Nachtluft. Nun sitzt er eine Stunde nach der anderen am Fensterbrett, hört nicht, wie die Turmuhren mechanisch und streng die Zeit weiterschlagen – er sinnt, er grübelt; aber er kann keinen Gedanken, den er anfängt, zu Ende denken; Gedanken kommen, Gedanken fliehen, einer stürzt über den anderen, und alle taumeln, flattern unerfaßt in die Nacht. – –

Bis der wispernde graue Morgen sich über den Dächern lichtete, bis der ewig gleiche Alltag sich nüchtern erhob, saß Juan am Fenster.

 

Der Tag verlief langweilig und leer in der Wohnung. Doch es lastete eine drohende Leere darin, die fast unheimlich war – so wie menschenverlassene Zimmer in ihrer möblierten Banalität im hellen Mittag unheimlich sein können. Juan mied heute seine Frau und selbst sein Töchterchen; unter dem Vorwand, arbeiten zu wollen, schloß er sich in die Stube ein. Was er ängstlich als nicht vorhanden zu unterdrücken suchte, was er sich selbst nicht zugestehen mochte, das fraß doch: der Wurm des Gewissens nagte in ihm. Aber sollte das jetzt noch seinen Entschluß aufhalten?

Der schwere Abend kam. Unruhig knisterte und sprang das Holz im Ofen; der Wind heulte im Schornstein, und ab und zu stieß ein heftiger Luftzug herab und pustete kleine Rauchwölkchen durch die schlecht schließende Ofentür. Auf dem Tisch, unter der hochgezogenen Gaslampe, sang der Teekessel über der Spiritusflamme der Teemaschine seine mutwillige, endlos variierte Sprühdampfmelodie. Helena sitzt einsam im Sofa und wartet, daß Juan zum Abendbrot komme. Ihr bekümmertes Sinnen kreist immer wieder in den aufdringlichen, neckischen Singsang des Teekessels ein und zerstäubt immer wieder in dem Wasserrauch, der unter dem klappernden, hüpfenden Deckel aufpufft und nicht weit oben verfliegt.

Das Warten wird endlos. Zerstreut rückt sie hin und wieder an den Tellern und Tassen, legt Messer und Gabeln an andere Plätze und dann wieder an die alten. Die Zeit summt hin. –

Da kommt Juan. Er zieht die Tür hinter sich zu und bleibt stehen; er sagt auch nicht »Guten Abend«.

Helena weiß nicht, ob sie etwas sagen, ob sie aufstehen soll – ob sie das glauben soll, was sie da sieht – Juan steht im dicken Mantel da, hat den Pelzkragen um, hat sogar den Stock in der Hand, fest auf den Boden gestemmt. Sie merkt, wie mühsam er sein gequältes Gesicht beherrscht.

»Du hast es gewiß auch gefühlt, daß es jetzt anders werden muß.« Er wartet einen Augenblick und spricht dann mit derselben ausdruckslosen, leicht unsicheren Stimme weiter: »Ich gehe.«

Helena kann einen langen Aufschrei kaum unterdrücken, sie zittert am ganzen Leibe; es wankt irgend etwas wesenlos in ihrem Kopf. Langsam hebt sie sich vom Sofa und hält sich mit beiden Händen krampfhaft an der Tischkante. Erregt, fassungslos starrt sie ihn an. Sie weiß, daß er nie mit Worten spielt, und daß es nun wohl so sein muß, wie er sagt. »Wie kannst du mir das antun?«

»Dir antun? Das tu ich mir an.« Und spricht dann murmelnd für sich: »Aber – das brauchst du ja nicht zu wissen.« Er tritt einen Schritt weiter ins Zimmer und legt die andere Hand auf die Lehne des vor ihm stehenden Stuhles. »Doch es ist nicht wahr, Juan? Es ist unmöglich –«

»Warum sollte es unmöglich sein?« antwortete er gelangweilt, und dann hart und bestimmt: »Ich muß!«

Haltlos aufstöhnend sinkt sie in das Sofa und sieht mit unbeweglichen, weit offenen Augen auf die grell-helle Tischdecke.

»Hab ich dich nicht geliebt, wie ich konnte?« fährt sie wieder auf –

»Das hast du«, sagt er starr.

»Hätte ich, mich selbst aufgebend, mehr Hingebung sein können?«

»Das wohl nicht«, antwortet er im gleichen überlegten Ton. »Aber es war mehr deine, denn meine Liebe.«

Heftig springt sie auf: »Lüg nicht! Drück dich nicht selbst in den Schatten, sag nicht, daß du der Liebe nicht fähig warst, daß dein verborgenes Herz nicht Liebe regen konnte, nicht still und stark glühend von unserer Gemeinschaft bewegt war; ich erinnere dich an die Zeit, da noch Frühling in uns aufsprang und eine heißersehnte und schönste Blüte ansetzte – ich beschwöre dich, daran zu denken, wenn du es vergessen und begraben hast, oder, schlimmer, wenn du es vergessen willst!« (Juan rührt sich unruhig.) »Ich erinnere dich; und wenn es noch nicht wieder in dir nachglimmt, will ich mehr glühende Kohlen auf dich sammeln. Du weißt doch ...«

»Nein!« gequält und heftig unterbricht er sie, er mag nichts davon hören: »Das ist gewesen, das ist gewesen!« und er stampft mit dem Fuße auf.

Beide schweigen in verhaltener Bewegtheit. – –

»Du weißt also nicht mehr, daß ich dir einmal eine Zeitlang Sonnenwärme und frohe Helligkeit brachte – –«. Sie ist wieder still und wartet auf keine Antwort mehr. »Es ist Winter geworden«, sagt sie dumpf und trostlos.

»So ist es«, spricht er schroff, weil er es will. »Doch es ist nun genug des rührenden Spiels.« (»Mehr Härte gegen Weichheit; sonst wird kein Ende«, denkt er.) Er geht zur Tür, öffnet sie weit – draußen auf dem erleuchteten Flur sieht Helena Cachucha fertig angezogen am Lampentisch neben dem eichenen Garderobengestell sitzen, ruhig, bescheiden, als warte sie auf den Spaziergang.

»Komm nun, Cachucha, wir wollen jetzt gehen.« Aufschreiend und mehr hinstürzend denn gehend, will Helena ihr Töchterchen, ihr einziges, holen, in ihre Arme ziehen, es schützen: aber sie kann nicht, groß und unerbittlich bleibt Juan in der Tür stehen. »Laß«, sagt er, »es ist doch vergebens.«

Helena fällt in die Knie: »Juan, Juan laß das Kind hier, laß mir mein Kind hier, sie muß hier bleiben, hörst du: sie muß hier bleiben ...« Einen Augenblick wankt er etwas; gepreßt spricht er: »Cachucha geht mit. Ich hatte mich einmal an dich verloren; dies Kind ist mein, dies Kind bin ich – ich muß mich wiederhaben. Cachucha geht mit, es geht nicht anders.« Dann dreht er sich ruhig um und faßt Cachuchas Händchen, und verständnislos, doch vertraulich ihn anblickend, trippelt sie neben ihrem Vater her zur Vorplatztür. Die Tür schlägt zu. – Vollständig fassungslos bleibt die zusammengebrochene Helena noch immer am Boden sitzen.

 

Ein eisiger, bissiger Wind sprang den Heraustretenden mit Geheul entgegen, pfiff an den Häuser- und Straßenecken und sauste unaufhaltsam weiter. Juan schlug den Pelzkragen hoch, nahm Cachucha fest bei der Hand und zog sie dann hastig mit durch den dunklen, nur von wenigen grünflimmernden Gaslichtern aufgehellten Straßengang. Beinahe unmerklich waren sie an die Stadtgrenze gekommen; einzelne Häuserblöcke, hier ein Haus und wieder ein Haus, wenige Lichtlein hinter den verhängten Scheiben, heiseres langgedehntes Hundegeheul – und dann kamen sie auf die einsame, dunkel hinströmende Landstraße. Es beginnt zu schneien, Flocken wirbeln beiden ins Gesicht; die Kleine trippelt aber immer tapfer weiter. Der Wind nimmt noch zu, mühsam keucht der dampfende Atem gegen den vorbrechenden Braus. »Nur weiter« – saust es in Juan – »wer weiß wohin –.«

Sie gehen, gehen, und es ist Nacht geworden, finsterste, furchtbar kalte Nacht. Juan weiß nicht mehr, wo er geht, müde setzt er mechanisch Fuß vor Fuß und denkt kaum noch an sein Töchterchen. Schließlich aber kann sie nicht mehr. »Vater?« wimmert sie leise; erschöpft bleibt Juan stehen, wischt sich den kalten Schweiß von der Stirn und lehnt sich einen Augenblick an einen der ächzenden Bäume. Von der Stadt ist nichts mehr zu sehen; kein Licht, kein Laut – nur immer das unaufhörlich vorbeistürzende Branden des Sturmes. Juan setzt sich auf die Grabenkante, den Rücken gegen den Baum gelehnt; er knöpft seinen Mantel auf, setzt Cachucha auf seine Knie und hüllt sie fest ein. Dann wartet er, wartet – worauf? – »Das kann nicht so weitergehen, ich muß eine Unterkunft finden«, denkt er schwach. Allmählich lullt der Sturm ihn ein, und er dämmert halb in Schlaf. Nach langer Pause öffnet er die schweren Augen etwas, und ... und da – ist ein Licht! ein kleines, sich bewegendes Licht; ab und zu erlischt es, taucht aber immer wieder auf. »Rettung! endlich! – Da muß ein Haus sein, oder mindestens irgendein Mensch.«

Schnell aufspringend setzt er Cachucha an den Baum, reißt seinen Mantel ab und deckt die Schlafende damit zu. »Das kann nicht weit sein.« Er fängt aufgeregt zu laufen an – läuft, rennt immerzu. Das Licht gaukelt noch immer vor ihm in der Ferne. Juan läuft. Aber, es scheint ihm gar nicht näherzukommen?! »Umkehren?« denkt er, bleibt stehen und verpustet sich – »das geht nicht.« Wieder rennt er sinnlos drauflos; das Licht wandert immer tiefer vor ihm her; jetzt weicht es im Bogen langsam zur Seite. Um den Weg zu kürzen, stürzt Juan querüber in das Feld; strauchelt, fällt über Rübenstümpfe, springt wieder auf und jagt weiter nach dem Schein. »Das Licht, das Licht!« nur dies eine dröhnt in ihm. Nun schimmert es zwischen einigen auftauchenden Bäumchen durch – »Vorwärts!« – »Schneller!« – er hastet, schwankt, fällt in den Schnee und stürzt mit schmerzenden Knien und wirrem Kopf weiter, nur weiter! Beinahe wäre er gegen dicke reglose Stämme gerannt, er wühlt sich hindurch, denn das Licht ist ja noch nicht da – und es scheint jetzt ziemlich nah zu sein – dichter stehen die Stämme, Strauchwerk hindert seine Füße – und dann steht er plötzlich mitten in undurchdringlichem, im Schneesturm schauernden Wald. Das Licht ist fort. Juan horcht erregt –: ganz fern glaubt er einen holpernden Wagen zu hören – »Sollte das nur ein Wagenlicht gewesen sein?« – und der Wagen rollt immer weiter von ihm weg – er erstarrt, ein eisiges Rieseln fährt ihm über den Rücken, daß er zittert. »Verirrt! – das Kind!« hämmert es in seinen Schläfen. »Nun mußt du zurück!« sagt er sich; und wie wahnsinnig will er an einer Stelle durchbrechen; es geht nicht, die hartgefrorenen Zweige und Dornensträucher zerreißen ihm das Gesicht und die ohnmächtig zerrenden, steifen Hände – er versucht es an einer anderen Ecke; wieder vergebens. Je mehr er nach einem Ausweg sucht, desto tiefer kommt er in die Irre. Höhnisch pfeifend und heulend prallt der Wind ihm überall entgegen; in den Schneefall hat sich scharfschlagender Hagel gemischt. Taumelnd rast Juan hin und her, schüttelt an den unbeweglichen Stämmen und schreit sie an: »Mein Kind! – Ich will mein Kind wieder haben!« Er stampft in das Gestrüpp, schlägt mit blutenden Knöcheln an einen Baum, reißt rüttelnd an einem anderen – und wieder stößt er verzweifelnd aus: »Mein Kind! hört ihr nicht? mein Kind! ich muß zu meinem Kinde!« und rast hilflos weiter; kratzt mit den Fingernägeln in die Borkenrinde, schlägt mit der Stirn gegen die eisenharten Baumsäulen, daß er vor Schmerz aufschreit und mit wunder Stirn in den hohen Schnee fällt. Er kann sich nicht wieder erheben; halb betäubt und stumpfsinnig wie ein Tier liegt er da und stöhnt. Und immer wieder schreit er irrsinnig: »Mein Kind!« – und wieder nach einer Pause: »Mein Kind! mein Kind!« So daß es gräßlich noch das ungeheure Schneesturmchaos übergellt.

Das Schreien wird schwächer. Wild brüllt immer noch der Sturm, und der Schneefall hört nicht auf.


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