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Schlage dich mit eignen Fäusten nieder,
Weil dein Blut noch nicht dein Herz erkennt –
Wieder bricht es auf und immer wieder
Loht das Unerreichte, und die Sehnsucht brennt!

Juan war der eigenen Unruhe müde geworden und dachte nun im alltäglichen Ehestand ein sorgloses, nicht vom Gedankenaufruhr zerrissenes Dahinleben zu erlangen. Er ging zuerst als Arbeiter in eine große Fabrik, die Gummibälle und -reifen herstellte. Man hatte ihm die verhältnismäßig leichte Beschäftigung eines Gummizuschneiders angewiesen. Nachdem er sich in einer Woche eingearbeitet hatte, begann er auch, wie seine fünfzehn anderen Kollegen im selben Saal, die Akkordarbeit. Er war froh, in eine solche geisttötende Schneiderei gekommen zu sein; sein Inneres rührte sich nicht, auch nicht am Abend, denn er war dann furchtbar müde nach der Erschöpfung, die die aussaugende Tretmühlenarbeit bewirkte. Nur sonntags gönnte er sich eine Art Ausspannung; er schlief gewöhnlich den ganzen Tag, bis zur Dämmerung, dann zog er reinliches Zeug an und ging in die Kneipe, wo mehrere seiner Kollegen, zwei sogar meistens mit ihren Frauen zusammen saßen, Karten spielten und endlos rauchten, und setzte sich zu ihnen. Er saß da zwischen ihnen, wie einer der »Alten«, nicht wie ein Neuling, denn er hatte die Gewohnheit, seinen wöchentlichen Lohn von etwa vierzig Mark bis auf etwa fünfundzwanzig, die er für die kommende Woche brauchte, hier in einer Runde Bier nach der anderen »auszugeben«. Das machte ihn beliebt, ja, verwandelte das Mißtrauen, das man ihm anfänglich seines ausländischen Aussehens, seines merkwürdigen Namens und seines meist schweigsamen Wesens wegen zeigte, in einen gewissen Respekt für ihn. Juan selbst trank jedoch mäßig, er war wohl hin und wieder plötzlich aufgeräumt und redselig, so daß man meinte, er hätte über den Durst getrunken, aber er fiel dann ebenso schnell wieder in die gewohnte zähe, schlafähnliche Schweigsamkeit. Man hatte Respekt vor ihm, wohl auch etwas Scheu, da man merkte, daß er nicht einer von den ganz Gewöhnlichen war.

Juan fühlte sich wohl in dieser zerrüttenden Betäubung (denn er dachte nicht, wollte nicht denken), nur eins fehlte noch – die Frau. Er sah, daß viele der Arbeiter ganz gut mit ihren Frauen paktierten und sich mit ihnen, von unbedeutenden Zänkereien und einigen Schlägen abgesehen, wobei durchaus nicht immer die Ehefrau der leidende Teil war – schlecht und recht vertrugen.

So nahm er denn schließlich, ohne daß er unter den Mädchen lange auswählte, auswählen konnte, denn sie hatten durch das gleichmachende, abstumpfende Kleinleben fast alle dasselbe Aussehen – die neunundzwanzigjährige Tochter seines Vorarbeiters Schmidt, die auf dem Ballsaal Kinderbälle bemalte, zur Frau. Natürlich ließen sie sich nur standesamtlich verbinden. Seine Frau hatte ihm vorher selbst gesagt, daß sie die Kirche gar nicht brauchten. Sie, die vor der Heirat immer ein ruhiges, man könnte sagen sanftes Wesen zeigte, entwickelte sich nun schnell und recht zur Arbeiterfrau; sie füllte ihren Tag vollständig mit Kochen, Geschirraufwaschen und stundenlangem Geklatsch mit der auf dem gleichen Vorplatz wohnenden Lokomotivführersfrau aus. Von ihrem Mann ließ sie sich nicht viel in ihre Wirtschaft hineinreden, sie wies ihn dann gleich kratzig ab. Und er schwieg.

Doch Juan war schließlich nicht so alt, daß er es immer in dieser engen Wohnung, die nur aus Küche und Kammer bestand, ausgehalten hätte; er ging oft mit den Arbeitskollegen in die Gastwirtschaft, nicht nur sonntags, und trank. Er fing auch bald an, Karten mitzuspielen und den Würfelbecher umzukippen. Kam er dann um zwölf oder auch um eins nach Haus, so kroch er, ohne daß ein Wort zwischen ihm und seiner Frau, die noch wach lag, fiel, mit schwerem Kopf ins Bett. Zuerst hatte sie geschimpft, da sie aber sah, daß das nichts nutzte, wurde sie ruhig; dafür setzte sie ihm, wenn sie besonders bissiger Laune war, mittags angebranntes Essen vor. Juan schwieg auch darüber, öfter und länger ging Juan ins Wirtshaus und betrank sich manchmal vollständig.

Seine Bekannten und Mitarbeiter wunderten sich über die schnelle Veränderung in seinem Benehmen; sie tuschelten untereinander, wenn er des Morgens in seiner Arbeit nachlässig war und die Akkordzahl seiner fertigen Stücke sank.

Juan kam nun sonnabends mit immer geringerem Verdienst von der Lohnzahlung heim. Dann gab es gewöhnlich einen solchen Krach zwischen den Eheleuten, daß die Hausbewohner im Treppenhaus standen und horchten und erst weghuschten, wenn Juan brummend die Treppe herab kam, um wieder ins Stammlokal zu gehen.

Einmal hatte seine Frau in seiner Rocktasche, als er am Sonntagnachmittag schlief, eine kleine, noch halbgefüllte Schnapsflasche gefunden; sie warf die Flasche auf den Hof und schlug ihrem schnarchenden Mann ins Gesicht. Er stammelte nur unverständliches Zeug und schlief seinen Rausch weiter.

Schon im fünften Monat nach der Heirat war Juans Weib hochschwanger (sie wurde nun noch selbstbewußter und frecher!). Die Bekannten sprachen wenig über diese Tatsache; sie kannten das in ihren Kreisen kaum anders. Juan ekelte sich, wenn er diese Frau, diese unförmige Masse, die stets zeterte, in der Küche herumhantieren sah. Er blieb jetzt tagelang fort, kam gar nicht von der Arbeit nach Haus, trieb sich in den Wirtschaften und bei Bekannten herum und schlief dann auch bei diesen. Zur Arbeit ging er jedoch immer pünktlich.

An einem Sonntagmorgen, als Juan schlief, gebar seine Frau einen Knaben. Als die Hebamme kam, war die Geburt schon vorüber; und nach drei Tagen bereits stand die robuste Mutter aus dem Wochenbett auf. Der Junge, der seiner Mutter »wie aus dem Gesicht geschnitten« ähnlich sah, wuchs prächtig. Als die Lokomotivführersfrau an dem Sonntagmorgen vor Juans Bette stand und dem Schläfrigen die große Botschaft mitteilte, da hatte er nur » so? – so?« gesagt und hatte sich auf die andere Seite gelegt, um weiter zu schlafen.

Juan kümmerte sich nicht um das Kind; er lebte genau so wie vorher, er betrank sich des öfteren und ging auch Zänkereien mit seiner Frau, die sich nun als Mutter ihrem Manne überlegen vorkam, nicht aus dem Wege. Die zwei verheirateten Bekannten aber hatten sich endlich von ihm, als sie sahen, daß er immer mehr verkam, zurückgezogen.

Juans Frau vernachlässigte ihre häusliche Arbeit ganz, sie kochte kaum noch Essen; fast den ganzen Tag über hockte sie mit dem Kleinen bei ihrer Mutter, säugte das Kind und jammerte dazu, daß sie einen solch schlechten Mann bekommen habe.

Als Juan eines Sonnabends in den herauswühlenden Arbeitermassen aus dem Fabriktor trat, ging er unwillkürlich die Straße in entgegengesetzter Richtung, zum Stadtzentrum, nicht wie sonst zur Vorstadt hinunter. An der ersten Straßenkreuzung blieb er stehen und besann sich; die Hand, die in der Hosentasche steckte, klimperte mit den losen Geldstücken, die man ihm eben ausgezahlt hatte – er dachte, daß er ja einen ganz falschen Weg ginge, begründete nun aber nachträglich diese Unbewußtheit damit, daß ihm heute das gewohnte Bier wohl nicht schmecken würde. – Als er das Wort Bier in sich hörte, stieg wirklich Widerwille in ihm auf; und er wollte auch nicht nach Haus, denn seine Frau war doch nicht da, oder wenn sie da war, würde sie doch nur schimpfen. Er ging mit großen, festen Schritten plötzlich weiter und wäre fast gegen eine Frau gerannt, die die Arme voll eingekaufter Sachen hatte. Der immer dicker werdende Menschenstrom nötigte ihn aber bald zu langsamerem Gehen.

Wie Juan so in der von Ladenlichtern, grellen Bogenlampen und Gaslaternen überflackerten unruhigen Menge dahinschlenderte, fühlte er sich so sonderbar, er wußte nicht, was es war, aber er merkte, daß bei ihm nicht alles in Ordnung, nicht wie bisher war; er führte dies schließlich darauf zurück, daß er noch kein Abendbrot gegessen habe; aber er hatte heute so stramm gearbeitet (seine Kollegen waren verwundert), daß er aus Übermüdung nicht den geringsten Hunger spürte, keine Lust hatte, etwas zu essen.

Plötzlich prallte Juan zurück: ein Herr hatte ihn am Arm zurückgerissen – ein Automobil raste hupend vorbei! Der Mann sagte auch noch etwas, aber Juan hörte es nicht; er war erschrocken und verwirrt. Seine Ermüdung schlug in eine Erregung des Körpers um, wie das nach Überanstrengung häufig vorkommt; es zitterte und sirrte in seinem Kopf, als sei er mit einer Unmenge bis zum Springen straffgezogener Drähte angefüllt. Er wurde nervös beim Anblick dieser ununterbrochen wirbelnden, hin- und herflutenden Menschen, durch die auf Augenblicke Radfahrer, Straßenbahnen eine Gasse schnitten.

In der Hauptstraße brauste ein Chaos von Geräuschen – Schutzleute riefen Wagen an; neben ihm sprachen Leute von Stiefelkaufen. Ein Straßenbahnführer tritt fortwährend die Glocke, weil er nicht durchkann, – und Menschen, lachende, hastende Menschen!

Juan fühlte eine Beklemmung in sich heraufwühlen, ein Angstgefühl, das das Herz bis in den zusammengepreßten Hals hämmern ließ – er schob sich zur Seite durch und stellte sich mit dem Rücken vor ein großes Schaufenster. Er merkte es nicht, daß er mehrmals heftig angestoßen wurde – nur eine Minute ausruhen! Es schwirrte in seinem Kopf, und er seufzte auf, ohne daß er es wußte.

Menschen vorbei – Menschen, endlos –

Da! – was war das – er fühlte, daß ihn irgend etwas getroffen habe – Da! da kamen zwei Augen, kam ein Blick auf ihn zu – und vorbei. Juan fühlte, wie all sein Fleisch noch unter diesem reinen, unendlichen Blick schmerzte – er fühlte diesen Blick in seinen Augen bohren, es war ihm, als ob er brenne. Er stürzte hinterher, hinterher! Er warf mehrere Leute zur Seite – drängte durch die Haufen – er hörte, sah nichts mehr – er wußte nicht, ob er schrie –

In einer düsteren, öden Seitenstraße taumelte Juan auf die steinernen Vorstufen eines Hauses; seine Augen fielen zu – er fiel, fiel in eine schwarze Tiefe – er kam zu sich und merkte, daß er geweint hatte, die Tränen liefen ihm über den Mund.

Er stand schwerfällig auf und ging; wohin, wußte er nicht. Als er nach einigem Umherirren etwas ruhiger geworden war, trat er auf einen Schutzmann zu und ließ sich den richtigen Weg weisen.

Der Weg schien ihm endlos. Er merkte nur, daß immer Lichter an ihm vorüberglitten.

Es war ihm, als müßte er vor seinem Hause stehen, er sah auf: es war so. Mühsam und laut stolpernd kroch er die Treppe hinauf. Seine Frau stand oben am Geländer mit der Lampe und schrie ihn an. Er verstand nicht, was sie sagte; er sah sie verwirrt an und ging ganz mechanisch die Stufen wieder hinab. Oben wurde eine Tür laut zugeschlagen. Die ganze Nacht saß Juan in der einsamen finsteren Straße auf der Hausschwelle und weinte. Er schlief nicht, er träumte nicht, er dachte auch nicht – aber er fühlte, daß etwas Neues in ihm aufgebrochen war, denn zwei heilige Augen hatten ihn angesehen und riefen ihn.

Und das war die Sehnsucht, die in ihm aufglühte; seine Seele rief wieder.

Als über den niedrigen Häusern der Tag auf graute, wurde nach einigem Rütteln die Haustür hinter Juan aufgeschlossen. Er wachte auf. Er war nicht müde. Als er nun hinaufging, hörte er Geheul; er stieß die Tür auf: und sah, daß seine Frau das Kind schlug; eine Tasse lag in Scherben am Boden – also darum wohl! Er faßte das Weib an den Handgelenken und zwang sie in das Küchensofa, dann nahm er das weinende Kind auf den Arm und brachte es zu der Lokomotivführersfrau. Als er wieder in die Küche kam, saß seine Frau noch immer sprachlos da.

Er ging in die Kammer, zog seinen guten Anzug an, setzte einen anderen Hut auf und warf, als er hinausging, den Lohn vom Sonnabend auf den Küchentisch. Dann ging er fort.

Als er durch die stillen Straßen ging und von einer Kirche Glocken läuten hörte, erinnerte er sich, daß es Sonntagmorgen sei.


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