Georg Engel
Der verbotene Rausch
Georg Engel

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Die scheue Marik

Eine Geschichte vom Bodden

Ich habe die Geschichte von der alten Kase Stöwesand, und Kase hörte sie von Marik Grapentin selbst. Deshalb ist sie wahr, denn Kase Stöwesand sprach nie ein unwahres Wort, wenn sie auch gegen dreißig Jahre gelähmt an ihrem niedrigen Fenster saß und die kleinen Kinder das »Grugeln« lehrte, sobald sie ihnen mit ihrem gelben, zerrissenen Antlitz Gesichter schnitt. Und das einzige, was an Kase ein wenig unverständlich war, bestand darin, daß sie häufig ganz unvermittelt die Worte vor sich hinsprach: »Es ist halb acht.« Das war aber auch ganz in Ordnung, denn Kase hatte vor vierzig Jahren ihren Bräutigam durch den Seetod verloren, und nun erinnerte sie sich häufig an die Zeit seines schweren Scheidens, und dann murmelte sie die Stunde eben vor sich hin.

* * *

Es tobte ein schweres Schneewetter, und über den gefrorenen Bodden fegte der Sturm, daß die glatte Bahn unter dem Lärm stöhnte. Ringsherum konnte man gar nichts erkennen als graue Dämmerung.

Da stand ich in Kase Stöwesands Stübing, in dem eine kleine Petroleumlampe brannte, und sagte:

»Ich möcht' nu heiraten.«

»Ja,« nickte sie, »dann mußt du auch einen Weihnachtsbaum anstecken, denn ein Weihnachtsbaum hat eine Macht.«

»Wieso, Kase?«

»Ja, und dann darf es auch keine Scheue sein, sonst geht es dir wie Jasper Grapentin, dem Steuermann mit seiner Marik. Das war so:

* * *

›Marik, – Mariking, komm, kuck,‹ rief der Steuermann Jasper Grapentin, während er in den Flur seines schmucken Häuschens trat, und dabei schüttelte er sich den Schnee ab. ›Kuck, Marik, hier bring ich dich eine Tanne. Ich hab sie im Dangerower Holz geschlagen, und wenn du sie auch nicht hast putzen wollen, heut is Heiligabend, da is so was schön. Nu steck da ein paar Lichter dran, Wachs habe ich auch mitgebracht – hier – und dann setzen wir uns drunter und denken uns was.‹

Damit pflanzte der große, frische, kräftige Kerl, der schon in den Dreißigern stand, die dunkle Tanne vor seinem Weibe auf, das viel jünger war als er, und zart und rank und schlank wie ein ganz junges Mädchen. Das war sie eigentlich auch, da sie kaum die Achtzehn erreicht hatte.

›Na fix, Mariking.‹

Die Junge sah ihn mit ihren großen, blauen Augen einen Moment erstaunt an, sagte aber weder ja noch nein, sondern nickte rasch und begann, sich an dem Baume zu beschäftigen. Doch dieses stumme Nachgeben war gerade das Schlimme an ihr. Es war schlimm, daß sie so zeitig geheiratet hatte, und daß sie keinen eigenen Willen besaß, und vor allem, daß sie so scheu war. Woher das kam? Je, sie war als eine Waise bei dem Hafenmeister erzogen worden, und man hatte sie streng gehalten und viel gescholten, und zuletzt wurde sie als halbes Kind dem Steuermann Jasper Grapentin zugeführt, weil er ein frischer Kerl war und Freude am Geld zeigte und außerdem versprochen hatte, sie auf den Damm zu bringen.

Und das tat er auch auf seine Art, ganz gutmütig und recht nachsichtig, und er wartete ehrlich, bis ihr nicht mehr alles so fremd wäre, ihre Pflichten und das enge Beieinander und sein Vergnügen an ihr. Allein sie taute nur langsam auf – sehr, sehr langsam.

»Ja, ja, nimm dir keine Scheue,« meinte die alte Kase.

* * *

Aber nun flimmerte es doch von der dunklen Tanne, es duftete nach Harz, und auf dem weißen Tischtuch lagen die Geschenke, die sich die Gatten gegenseitig einbeschert hatten. Nur praktische Gegenstände durften es sein, für die Frau Stoff zu einem neuen Kleide, für den Mann ein Paar Fausthandschuhe, auch war keine Überraschung damit verbunden, weil alles vorher so bestimmt war. Aber nun standen sie doch vor dem weißen Tisch, und es ging wie ein Behagen durch den kleinen Raum.

›Schnell, Mariking,‹ sagte Jasper, ›nun mach die Laden vor den Fenstern zu. Dann wird es noch stiller. Und dann sind wir beide ganz allein.‹

Folgsam ging sie, wobei sie ihn mit ihren großen Augen ein wenig von der Seite maß, was er wohl mit seinen Worten bezwecke, und als das grüne Holz nun fest an den Scheiben lag und nur der Schnee, der zuweilen an die Scheiben pickte, die Stille unterbrach, da sagte Jasper, händereibend: ›Nu komm, Mudding‹ – es war das erstemal, daß er sie so nannte, ›nu wollen wir uns hier auf das schöne, neue, schwarze Ledersofa setzen und uns was von dem Tannenbaum erzählen.‹

Damit zog er sie neben sich, und die Scheue saß ganz still bei ihm mit verhaltenem Atem, denn es zog etwas gegen sie heran, etwas Leises, Heimliches, Wohltuendes, was sie sich nicht erklären konnte.

›Was willst du?‹ flüsterte sie nur ganz sacht, und es schien, als ob sie sich wundere, daß sie überhaupt gesprochen habe.

›Ja, Mudding,‹ fuhr er fort, und es war wohl nur zufällig, daß er mit seinem Arm ein wenig den ihren streifte. ›Nu sitzen wir hier zusammen, und es is recht still bei uns. Aber wart man, mir kommt es so vor, als wenn es nu bald lauter bei uns werden könnt, nicht?‹

Dabei ließ er wieder einen seiner Seitenblicke über sie hinfliegen.

Jedoch kaum hatte er das Wort hervorgebracht, da schreckte Marik zusammen, wurde totenblaß und später wieder siedendrot und hob die Hände gegen ihn, als ob sie sich wehren wolle.

›Mein Gott,‹ stammelte sie.

›Wieso?‹ lachte Jasper und griff herzhaft nach ihrer Hand. ›Mudding, was is dabei zu schämen? Das is doch das, was der liebe Gott will. Das einzige, was schad dabei is, das besteht darin, daß du –‹ Jedoch er unterbrach sich und klopfte ihr auf den Rücken und rief in seinem muntersten Ton: ›Nu, Mudding, so viel haben wir lange nicht zusammen gesprochen. Wahrhaftig, so viel, daß mir davon ganz trocken in der Kehl' geworden is. Wie wär's, wenn du jetzt was zu trinken gäbst? Aber du hast wohl bloß wieder deinen Kaffee?‹

›Nein,‹ flüsterte sie rasch, ›ich hab' für dich Grog gemacht.‹

›Grog?‹ wiederholte der Steuermann, über ihre Aufmerksamkeit völlig verblüfft. ›Wahrhaftig, Mudding, richtigen Grog? Daran hast du gedacht? Oh, paß mal auf, Mudding, es wird noch, es wird noch allens richtig – es steckt so viel Gutes in dich.‹ Dabei war er aufgesprungen, nahm ihr den Grog mit dem warmen Wasser ab, und nun brachte sie Gläser herbei mit Zucker und Rum drin und goß ein.

Jasper mußte zusehen, wie sie alles bereitete, und als sie den Arm hob, da sah er auch, wie fein und kindlich er war! ›Mudding,‹ rief er plötzlich, nachdem er das erste Glas gekostet, ›du bist wie ein Weihnachtspüpping. Und der Mut – ja, ja, der wird dir auch schon noch kommen. Nu trink!‹

Da trank sie wirklich, und als ihr das Blut davon in den blassen Wangen zu schimmern begann, und als in den blauen Augen dunkle Flämmchen zuckten, da fuhren tolle Gedanken durch Jaspers Seele, bis er plötzlich ihre Hand ergreifen mußte, um ihre Finger mit einer schnellen Bewegung seinem Ohr zu nähern.

›So, Mudding, da kneifst du nu mal rein, und in den Bart da zupfst du mich auch. Du mußt nu endlich merken, daß du eigentlich der Stärkste hier bist. Ja?‹

Wirklich spürte er ihre Finger an seiner Haut, und trotzdem sie nur immer bat ›o Jasper‹, ließ er nicht ab.

›Nu lach' auch, mein Kinding,‹ bettelte er förmlich. Da geschah etwas Wunderbares. Hell und jung lachte sie plötzlich. Und es war ein so ungewohnter Ton, daß der Steuermann in die Höhe fuhr, als wollte er erforschen, woher der Laut gedrungen sei.

›Das kannst du?‹ kam es ungläubig von seinen Lippen, ›das kannst du?‹

›Makt up!‹ klang von draußen aus dem Schneewetter eine Stimme dazwischen.

Aus seinen Träumen gerissen, öffnete Jasper. Auf dem Flur stand der Postbote, der ihm einen Brief entgegenschob. ›Aus Wismar,‹ brummte er. Dann klingelte die Glocke an der Haustür, und der Eindringling war wieder verschwunden.

Wieder waltete Stille. Der Steuermann saß am Tisch und las. Die Lichter des Baumes waren fast herabgebrannt, und Jasper war so vertieft, daß er kaum merkte, wie aufmerksam und gespannt dieses junge Kind, das sein Weib war, sein Tun verfolgte.

Endlich löste sich eine Frage von ihren Lippen, kurz und gepreßt:

›Jasper, nimmst – nimmst du nun doch den Vorschlag an?‹

Er hob sein Haupt, seine Augen leuchteten ihren eigenen stählernen Glanz, den sie stets wiesen, wenn von Geldeswert die Rede war.

›Marik,‹ entgegnete er gedämpft, ›zweihundert Taler den Monat – und zum Schluß tausend Mark zum Geschenk. Das wird mir nie wieder geboten.‹

›Und wie lange bleibst du?‹

›Oh,‹ meinte er leichthin – ›knapp zwei Jahr'. Und dort oben in die Eisgegenden kann ich alles sparen. Oh, paß auf, Mudding, ich komm' als ein reicher Mann wieder. Und dann zahl' ich an auf einen eigenen kleinen Dampfer, und dann büst du Frau Kapitän. – Du sagst ja gar nichts?‹

Aber sie schwieg. Und das war wieder das Schlimme, daß dies laut pochende Herz nicht reden konnte.

Sie setzte sich in eine Ecke, und während er sich von neuem über das Schreiben beugte, schaute sie in die verendenden Lichter hinein und lauschte auf das Hämmern in ihrer Brust und hörte, wie auf dem Bodden das Eis knackte, scharf und brechend wie ein Wehlaut.

* * *

Nach vier Jahren kehrte Jasper Grapentin heim. Sein Schiff war dort oben eingeeist gewesen, so daß man nichts von ihm gehört hatte.

Es war ein älterer Mann, der da eines Morgens an die Tür klopfte, ein wenig geneigt, mit Furchen auf der Stirn und mit einem langen Vollbart, der an den Spitzen einen silbernen Saum aufwies. In der Hand trug der Mann eine winzige kleine Tanne.

›Guten Morgen,‹ sagte der Eintretende und stutzte, als ein kräftiges, biegsames Weib mit einem etwa dreijährigen Mädchen vor ihm stand: ›Bist du Marik?‹

Sie antwortete, während sie ihn befremdet musterte, mit lauter, klarer Stimme: ›So heiß ich, aber was wollen Sie hier? – ich brauche keinen Weihnachtsbaum.‹

›Ja, Marik,‹ erwiderte der Ankömmling kleinlaut. ›Heut is ja wieder Weihnachtsmorgen, und ich hab' den Baum im Dangerower Holz geschlagen. Du aber bist kräftig und schön geworden,‹ setzte er langsam hinzu, und seine Stimme, die er im ewigen Eise selten gebraucht, klang schüchtern und bewegt, ›und nu leg die Arme um meinen Hals, denn sieh', ich bin Jasper.‹

Da trat die Frau einen Schritt zurück und riß ihr Kind mit sich, daß es aufschrie. Dann sprach sie abweisend: »Wenn du Jasper bist, so freut es mich, daß du am Leben geblieben. Und dies hier ist dein Kind. Aber die Arme mag ich nicht um deinen Hals legen, denn ich kann mich in dich kaum finden, so anders siehst du aus. Solche Zärtlichkeit ist mir auch ungewohnt. Aber während du fort warst, da hab ich alles so gehalten, wie es war, und die Arbeit hat mir gut getan. Nun setz dich nieder und trink einen Schluck Warmes.‹

Der Mann ließ sich nieder und schüttelte das Haupt. Dann zog er eine Brieftasche hervor und zählte mehrere Tausendmarkscheine auf den Tisch. Aber das Weib, das geschäftig hin und her ging, wandte keinen Blick danach. So blieb's den ganzen Tag. Sie sprachen kein überflüssiges Wort. Nur als der Steuermann einmal zaghaft über den Blondkopf des kleinen Mädchens streichen wollte, mußte er wieder befangen das Haupt schütteln und zog wie beschämt seine Finger zurück. Am Nachmittag ging er fort. Als er abends heimkehrte, da brannte die kleine Tanne, die er im Dangerower Holz geschlagen, und nebenan im Alkoven schlief das kleine Mädchen, denn es war schon spät.

Das Schweigen aber endete nicht. Still saßen die beiden auf dem schwarzen Ledersofa und sahen auf den Baum. Aber wie waren beide durch die Jahre verwandelt: Sie, aufrecht, erblüht, bewußt – und er müde, verarbeitet und bedrückt; ein Mann, der scheu und zaghaft geworden in der ewigen Stille der Eiswelt; nur die Geldtasche hielt er in seiner Hand wie eine Entlastung.

Lange, lange Zeit saßen sie so.

Als er jedoch daran denken mußte, wie er damals von dannen gegangen war, lieblos, gerade in dem Augenblick, als die scheue Seele neben ihm sich öffnen wollte, da schnitt ihm etwas durch die Brust, und schwer neigte sich seine Stirn, bis sie auf dem rotbuchenen Tische ruhte, und durch seinen derben Körper zuckte etwas wie ein Schluchzen, wenn er sich auch nicht rührte.

Und wieder verging eine lange Spanne Zeit. Die Tanne duftete und die Lichter flackerten im Luftzug, und so merkte der Versunkene nicht, wie eine Hand ganz leise sein Ohr berührte und dann auch seinen Bart zupfte, und wie dabei um die Lippen des kräftigen Weibes ein ganz eigentümliches, überwundenes und doch sieghaftes Lächeln spielte. – –

»Ja, ja, die Scheuen,« meinte die alte Kase, »sie haben so vieles, was man gar nicht enträtseln kann – das kannst du glauben.«


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