Georg Engel
Der verbotene Rausch
Georg Engel

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Das verbotene Stück

Draußen vor den Fenstern tickten die Schneeflocken an die Scheiben, ganz sacht und zierlich, wie wenn weiße kleine Engelchen mit zarten Fingernägeln »tick, tick« machen würden, und wie zur Antwort flackert dann das Ofenfeuer im Kamin der eleganten Junggesellenstube hoch auf.

Es ist Sonntag vor Weihnachten.

»Morgen, Herr Landrat,« wünscht der eintretende Livreebediente.

»Morjen, Friedrich – – Na, was Neues im Kreis?«

»Zu Befehl, Herr Landrat, draußen wartet der Wachtmeister Böttcher.«

»Böttcher? So früh am Sonntagmorgen? Was gibt's denn?«

»Je, er sagt, er hätt' einen Theaterzettel konkonfisziert.«

»Mensch, was hat er?«

Der Landrat richtet sich von seiner Chaiselongue auf, in der er bisher im samtenen Morgenanzug gelegen, tastet nach seinem Augenglas und beginnt, als er es nicht finden kann, heftig zu zwinkern:

»Hören Sie mal, mein Bester,« erholt er sich endlich, »ich hoffe, Sie haben den Wachtmeister nicht richtig verstanden. Oder gedenken Sie etwa zu meiner Erheiterung den witzigen kleinen Amüseur zu spielen? Schön. Nun, bitte ich aber sehr ernstlich, was bringt der Wachtmeister?«

»Enen Theaterzettel, Herr Landrat.«

»Allmächtiger.«

Inzwischen hat der Landrat von Pittack jedoch sein Monokel gefunden, er benutzt es indessen nur, um es am Bande sausend um seinen kleinen Finger herumschwirren zu lassen, während er die sprechenden hellblauen Augen gottergeben zur Decke erhebt:

»Na denn also, in Gottes Namen. Soll eintreten.« Und mit einem tiefen Seufzer setzt er hinzu: »Scheint ja wieder ein Novum in meiner Praxis werden zu wollen, – herein.«

Wenige Augenblicke später allerdings, da hat Herr von Pittack von dem berittenen Gendarm, der in seiner grünen Uniform, geschmückt mit dem weißen Bandelier so stramm und sporenklirrend vor ihm verharrt, das Unglaubliche, das »einfach Scheußliche« erfahren.

Nein, ganz entschieden, diese Madame Sperling, die wandernde Theaterdirektorin, die alle Jahre während dreier Tage drinnen in dem Marktflecken Granzin im Schröderschen Saale Komödie spielen darf – diese Kunst-Wittib muß offenbar an ihrem »Begriffskasten« einen kleinen Schaden erlitten haben.

»Ne Uraufführung, kündigt sie an?« echot der Landrat immer noch ganz starr vor Staunen. Und der Wachtmeister streicht sich den braunen, kurzgeschorenen Kinnbart, um mißfällig brummend zu erwidern: »So steht es hier, Herr Landrat.«

»Na, da soll doch – geben Sie den Wisch doch noch mal her, lieber Böttcher. Wie heißt das Dings?«

»Zu Befehl, Herr Landrat, ›Die Folgen der Liebe‹.«

Jetzt schlägt der Landrat mit der Hand auf den Tisch, daß es schallt:

»Na, also das Sperlingsweibchen muß rein doll geworden sein. Folgen der Liebe? Ne, nu hören Sie mal, lieber Böttcher –« hierbei ist der Landrat aufgesprungen und trommelt nun an den festgefrorenen Fensterscheiben herum:

»Ich bin gewiß umgänglich und mache nicht gern unnötige Scherereien. Aber Folgen der Liebe? Ne, ne, das geht ja einfach nich. Was denkt sich eigentlich die Frau?«

Und plötzlich wendet er sich scharf herum und wirft kurz hin: »Sagen Sie mal, von wem is denn übrigens das Machwerk?«

Auf diese Frage jedoch muß das bärtige Gendarmenhaupt erst wieder tief in den Zettel hinabtauchen, bevor es erwidern kann.

»Von einem gewissen Florian Otto, Herr Landrat. Dieser Florian spielt aber auch mit. Hier steht's. ›Ein junger Graf – Herr Florian Otto.‹«

»Graf? Aha –« Der Landrat lächelt ironisch. »Pöbelt wahrscheinlich wieder den Adel an. Das ist ja jetzt Trumpf.« Und nach einer Weile erkundigt sich Herr von Pittack noch eingehender, ob zu diesem Grafen nicht auch ein Frauenzimmer gehöre.

»Jawoll, Herr Landrat, eine Zeile drunter steht sie gedruckt. Fett. Cläre – aber mit a-i geschrieben.«

Der Landrat nickt:

»Französisch,« meint er, »stimmt. Damit wollen sie jetzt von vornherein solche mulmigen Charaktere andeuten. Na, und von wem wird diese Claire gespielt?«

»Von einer Anna Krethlow.«

»Krethlow? – Krethlow?« Herr von Pittack besieht sich die Spitzen seiner Lackstiefel. »Warten Sie mal, wo habe ich doch den Namen schon gehört? Muß ich kennen.«

Jetzt erlaubt sich der Wachtmeister, zur Antwort etwas bestimmter mit den Sporen zu klirren, wobei er die Finger an die Hosennaht legt.

»Zu Befehl, Herr Landrat,« erinnert er, »so heißt ja drinnen in Granzin der Bäcker am Markt.«

»Richtig – Krethlow,« fällt der Vorgesetzte lebhaft ein, »einer unserer besten Steuerzahler. Sollte mir leid tun, wenn da vielleicht irgendeine Verwandtschaft –. Na, nu hören Sie mal, Böttcher. Die Sache steht so. Wenn die Sperling reglementsmäßig ihr Stück dem Bürgermeister Mengdehl eingereich hat, dann schlägt die Sache nicht weiter in unser Ressort, dann können uns ›Die Folgen der Liebe‹ auch ganz kalt lassen. Verstanden?«

»Zu Befehl, Herr Landrat.«

Der Landrat streicht sich den blonden Schnurrbart. »Wäre auch für uns das beste,« fährt er fort, »denn im Vertrauen, in Kunstdingen den wütenden Bullenbeißer zu markieren, das entspricht ganz und gar nicht meinem Geschmack. Dazu bin ich selbst ein viel zu großer Theaterfreund, und überdies, diese Madame Sperling – na ja, eine sehr freundliche und nette Frau. Wenn ich nicht heute wieder durch dies obligate Liebesmahl im Kriegerverein in Anspruch genommen wäre, wahrhaftig, würde die Sache sofort persönlich arrangieren.«

Damit schreitet er ein paarmal rasch durch das Zimmer, bis er endlich mit einem festen Entschluß vor dem Wachtmeister stehenbleibt: »Na also, wie gesagt,« entscheidet er sich endlich, »hat der Bürgermeister diese Kunstchose erhalten, tant mieux. Wenn nicht, ja dann« – er zuckt die Achseln – »so leid es mir tut, Böttcher, dann müssen Sie eben zu dem Sperlingsweibchen ranreiten, um sich über den Inhalt des Stückes so unter der Hand zu informieren. Verstanden?«

»Befehl, Herr Landrat.«

»Und Sie wissen schon, kommen in dem Dings so mulmige Geschichten vor, die man einem jungen Mädchen nich vorsetzen kann, dann bestellen Sie der Direktorin einen Gruß, und es täte dem Herrn Landrat leid, aber sie müßte schon heute abend was anderes spielen. Die Jungfrau von Orleans oder Faust. Schließlich wären das ja ebenfalls Stücke, die von den Folgen der Liebe handeln. – So, und nun machen Sie Ihre Sache delikat, lieber Böttcher – Morjen.«

* * *

Die Schneeflocken wirbelten dichter und toller, und wenn der Wind, der die engen Gäßchen durchheulte, den weißen Staub durch den dunklen Torweg des Schröderschen Gasthauses jagte, dann zitterten zwei junge Menschenkinder, die dort eng gedrängt verharrten, wie im Frost zusammen und schmiegten sich unwillkürlich wärmer und fester aneinander.

Es war eine auffallend hübsche, junge Blondine, mit einem kecken Stumpfnäschen, die jetzt ratlos zu ihrem Genossen aufblickte, einem hochaufgeschossenen jungen Menschen mit schwarzen, wilden Haarsträhnen, sehr roten Händen und einem glattrasierten Gesicht, aus dem ein Paar wäßriger blauer Augen in großer Verlegenheit und wie um Vergebung flehend in die Welt schauten. Auch traf es sich für den ersten Liebhaber der Sperlingschen Truppe recht ungünstig – namentlich in Anbetracht der herrschenden Kälte – daß ihm die Beinkleider nicht völlig über die Stiefel reichen wollten.

Er zupfte zwar von Zeit zu Zeit an ihnen, allein es half nichts, sie gedachten nicht tiefer zu sinken.

»Muß ich hinein?« forschte das Mädchen, sich hastig umblickend.

»Noch nicht,« beruhigte der Jüngling, die schwarzen Haarsträhne schüttelnd, während sein durchsichtig schlanker Leib in dem eng zugepreßten Prinz-Albert-Rock mit den wehenden Schößen sich bog und krümmte:

»Noch nicht, mein süßer Schatz. Die Direktorin hat erst ihren Feenauftritt.«

»Ach, Florian –«

»Ich höre, meine Geliebte, mein süßes Kind.«

Husch – husch – pustete ein neuer Windstoß durch den Torweg, so daß der Liebhaber vor Frost mit den Füßen aufstampfen mußte.

Er trug gelbe Sommerstiefel. Es lag wohl in der Rolle.

»O Florian –«

»Sprich, mein Alles –«

Sie griff nach seinen Händen, zog ihre Finger jedoch, vor diesen lebenden Eiszapfen zurückschaudernd, erschreckt wieder fort:

»Glaubst du, daß er kommen wird?« flüsterte sie in fiebernder Spannung, »schnell, sag.«

Der Jüngling blickte auf ihre zuckenden, roten Lippen und neigte sich, gleichsam angezogen von diesen Kirschen im Schnee, tiefer zu ihnen herab.

»Es bleibt unsere Hoffnung,« gab er darauf mit dumpf rollender Betonung zurück. »Es ist unser Schicksal.«

Eine Weile blieb es still, nur der Schneestaub krümelte sich glitzernd über die holprigen Pflastersteine der Einfahrt, und die Türflügel ächzten und knarrten.

»O ein Glas Grog,« dachte der Liebhaber zusammenhanglos, während hinter der weißen Mädchenstirn neben Unglück, Schicksal und Jammer die belebenden Reize von rotem Glühwein aufzufunkeln begannen.

»Wenn es nur ein einziges Schluckchen wäre,« murmelte sie selbstvergessen.

»Wie?« Der Jüngling rieb die roten Hände umeinander. »Sagtest du was, mein Liebling?« stotterte er.

»Ich? – Nein, ich meinte nur, wenn er sich weigerte. Ach, denke dir, wenn er nun ausbleibt. O Gott.«

»Ja, das wäre namenlos,« gab er düster zu. Seine Augenbrauen schnürten sich finster zusammen, und sein Haupt neigte sich wie eine welke Lilie. »Namenlos,« fuhr er fort, aber plötzlich raffte er sich aus seinem Kälteschauer noch einmal empor:

»Habe ich – sein Erscheinen vorausgesetzt – nicht alles für seine endliche Erweichung vorbereitet? Kannst du wirklich daran zweifeln, du teures Geschöpf, daß er dem großen Schluß des dritten Aktes widerstehen könnte – nein, verbirg mir nichts.«

»Gewiß,« stammelte sie schwankend, »es wirkt ja sehr ergreifend, wenn ich so niederknie.« Allein gleich darauf schien ein häßlicher Gedanke alle Blüten in ihrem Hoffnungsgärtlein wieder zu knicken. »Aber er hat ja heute mit seinen Gesellen Nachtarbeit,« stammelte sie entsetzt, »vergißt du das? Und dann –«

»Ja, dann allerdings,« dabei streckte er die Rechte mit einer verloren-abweisenden Geste von sich: »Dann –« »Ach, es wäre zu gräßlich,« leise stöhnte sie auf, und echte, wirkliche Tränen rannen über die blühenden Wangen, »dann kämen wir ja nie zusammen; denn ohne seinen Segen, weißt du – und gar ohne Kranz und den Herrn Pastor –« oh, sie schauderte in sich hinein – »nie, nie.«

Wieder beugte er seine verdüsterte Stirn, und diesmal war es treibende Angst, die seine Stimme mit dem zitternden Körper um die Wette schüttelte, »freilich, er übt ja noch die väterliche Gewalt über dich aus, und solche Väterlichkeit, meine süße Verlobte, verleiht dem Betreffenden Rechte, welche –«

Da wurde er unterbrochen.

Von der Straße näherten sich helle Hufschläge, und im nächsten Moment ritt eine breite, wohlbehäbige Gendarmengestalt in den Torweg ein, der zu niedrig war, um diesen ragenden Gast zu empfangen. Der Reiter mußte sich bücken, damit die Spitze der Pickelhaube nicht von den vorspringenden Tragbalken gestreift würde.

Jetzt hielt der Grünuniformierte und bewegte ein wenig den Fuß im Steigbügel, zum Zeichen, daß eine Anrede beliebt würde. Als sie jedoch ausblieb, klopften die weißbehandschuhten Finger erst beruhigend über den Hals des wiehernden Rosses, um gleich darauf ein dickleibiges Notizbuch aus dem Waffenrock zu ziehen, mit welchem sofort eine festbannende Bewegung gegen das betroffene junge Paar vollführt wurde.

»Morjen,« klang es kräftig von der Höhe herab. »Hier wird Theater gespielt.«

»Allerdings.« Der Liebhaber versuchte sich einige Haltung zu geben, wobei ihn freilich sein frostgeschüttelter Körper nicht sonderlich unterstützte.

»So?« Ein forschender Blick von oben:

»Gehören Sie auch dazu?«

»Gewiß.«

»Aha.« – In dem Notizbuch wird kurz revidiert:

»Heißen Florian Otto? Was?«

Um Gott, was wird das? Das Paar zuckt zurück, und wenn sich nicht im gleichen Moment die schmale Tür des Gastzimmers geöffnet und eine bierfette, kleistrige Stimme herausgekrächzt hätte: »Krethlow, wo stecken Sie denn? Machen Sie Beine, Mädchen – Die Alte tobt,« hätte sich dieser Zwischenfall nicht ereignet, ganz sicherlich, die kleine Blondine wäre vor Schreck und Beklemmung unter die Hufe des Rosses gesunken. So aber wurde sie von der dicken, aufgeschwollenen Hand erfaßt und ohne Aufschub noch Zartheit durch die Türritze hindurchbefördert.

»O Gott« – verklang noch ihre bebende Stimme. Dann befand sich ihr Liebhaber mit seinem reitenden Bedränger allein.

»Na, hören Sie eins,« begann dieser nun sehr mißfällig von der Höhe des Rosses herab: »Sie haben da ja was Nettes angerichtet.«

»Ich?« Florian wurde glühendrot und fuhr sich durch die Flatterhaare. Großer Gott, was schien dieser Mann ihm zuzutrauen? »O bitte,« wehrte er mit niedergeschlagenen Augen ab, »bitte sehr, es ist nichts geschehen.«

»Na, lassen Sie man – es is alles raus – wir haben bereits recherchiert.«

»Auf Ehrenwort,« rief Florian jetzt, sich an der eisglitzernden Mauer festhaltend, denn seine Beine trugen ihn nicht länger. Ha – jetzt nahte das Ende, das langerwartete. Die feindliche Macht rückte gegen seine züchtige und ehrbare Liebe an und wollte sie verunreinigen.

»Meine Braut ist eine unentblätterte Rose,« murmelte er in halber Betäubung und glaubte etwas Erhabenes und Ritterliches gesagt zu haben, doch auf den Wachtmeister Böttcher schien diese Ehrenerklärung nur sehr geringen Eindruck auszuüben. Was ging ihn das an? Braut? Gut – diese Theaterspieler besaßen viele Bräute. Was weiter? – Aber das Stück – wie hieß es doch noch? – Richtig, »Folgen der Liebe« – ein schweinemäßiger Titel – pfui Deuwel –. Das Stück war dem Bürgermeister nicht reglementsmäßig eingereicht – keine Spur eines ordnungsmäßigen Verfahrens – und durfte deswegen nach Paragraph zweihundertundachtzehn Absatz zwei der öffentlichen Sicherheitsordnung nicht gespielt werden.

»Einfach nicht gespielt, mein Lieber.«

»Herr Wachtmeister,« schrie der Liebhaber, indem er seine Hände unwillkürlich hoch in die Höhe warf, als wäre er ein Unglücksbote aus einem griechischen Chorstück: »Sagen Sie ›nein‹ – das ist nicht Ihr Ernst.«

»So?« schüttelte der Reiter verwundert das bärtige Haupt, »hören Sie mal, in Uniform spaßen wir nicht.«

»Grundgütiger Himmel – ich bin verloren.«

»Ih, Faxen, denn spielen Sie eben was anderes. Darauf kommt es doch nich an.«

»Aber, das Stück ist von mir.«

»Na eben. Weswegen schreiben Sie so was? So 'ne zweifelhaften Geschichten.«

»Genug – genug, Herr Wachtmeister – so urteilen nur die Schergen der Gewalt –«

»Was? – I, das is jo nüdlich.«

Der Wachtmeister schwang plötzlich mit einer prachtvollen Reiterbewegung das rechte Bein aus dem Sattel, saß ab und stand nun gewichtig und sporenklirrend neben dem dürren Jüngling, wie ein Eichbaum neben einer zitternden Bohnenranke:

»Sie, hören Sie eins,« begann er nun sehr bestimmt, während er sich den Kinnbart strich: »Wissen Sie was Neues? In der ganzen Sache, da stimmt was nich. Nu kommen Sie mal gefälligst in die Gaststube von Schrödern rein, da wollen wir uns doch en bischen näher miteinander besprechen. Nich so? – Jawoll, gehen Sie man immer voran.«

Damit schlang er die Zügel des Pferdes um den Torflügel, schnallte sich den Pallasch etwas tiefer und griff an sein Pistolentäschchen, als müsse er sich für alle Fälle wappnen und rüsten. Dem Liebhaber aber wurde grün vor Augen. In halb bewußtlosem Zustand, wie wenn er durch einen schwarzen Traum wanke, so taumelte er in die verbaute, bräunlich verräucherte Gaststube hinein, und als er sich an einem runden, mit buntem Wachstuch bedeckten Tischchen niedergelassen hatte, da bestellte er, abwesenden Geistes, bei dem kleinen, herumlungernden Kellnerburschen zwei Seidel Bier. Er hätte auch Mostrich oder Ochsenblut gefordert, so völlig weilte seine Seele in anderen Dimensionen.

Bier – Mostrich – Gallussaft. Was lag daran? Aber seine Liebe, war sie nicht soeben von ein paar rohen Fäusten in weißen Wildlederhandschuhen erwürgt und ins Grab geworfen worden? O welches Entsetzen lauerte über dieser dunklen Stunde.

Und die Nebel tanzten immer grauer und wesenloser um ihn herum. Und seltsam, war er's überhaupt noch selbst, der hier dem Wachtmeister, welcher die Beine mit den Stulpenstiefeln so bedeutungsvoll von sich spreizte, gegenüber hockte? War es wirklich der Liebhaber Florian Otto, der so widerstandslos auf mißtrauische Fragen antworten mußte, zugeben, daß er gar nicht Florian, noch weniger Otto in der Wiege getauft worden sei, sondern August hieße? Einfach August Fuhrmann aus Malchow? Ja, vor wenigen Monaten, so schloß sein unbegreifliches Geständnis, sei er noch Kommis – nun ja, Ladendiener, wenn es nicht anders ginge – bei Kaufmann Bolljohann in Stralsund gewesen, von wo ihn jedoch ungestümer Kunstdrang hinweggetrieben.

»Na, hören Sie, Fuhrmann,« unterbrach der Wachtmeister, eifrig notierend, »dann sünd Sie also Ihrem Glauben nach ein ganz gewöhnlicher Materialist?«

»O nein, ich bin immer für Schillern gewesen.«

»Na, lassen Sie man, das sünd woll bloß solche Maföken, die zur Verdunklung beitragen sollen. Na nu aberst, mein Lieber, zur Hauptsache. Wie kommen Sie eigentlich dazu, unter falschem Namen hier rumzureisen? Wissen Sie auch, was das bedeutet?«

Florian umklammerte die Lehne seines Stuhles. Jetzt hätte er sich nicht mehr gewundert, wenn sich sein vierbeiniger Sitz plötzlich in das gewaltige Roß des Gendarmen verwandelt hätte, um mit ihm wiehernd über den Tisch zu setzen:

»Falscher Namen?« stotterte er, »das – das – erlauben Sie, – das ist nur so eine Künstlergewohnheit – ganz harmlos.«

»So? Harmlos?« wiederholte Böttcher, indem er sich den biernassen Bart mit seinem roten Taschentuch wischte. »Sie sünd ja ein Feiner. Wissen Sie auch, daß ich neulich genau so einen wie Sie auf offenem Feld in Handschellen gelegt hab? – Und dann zwei Schritt voraus und ins Amtsgefängnis? – Wat sagen Sie dazu?«

»O, nicht doch – nicht doch.«

»Na, und angemeldet sind Sie woll auch nich? Was?«

»Nein – nein.«

»Sie, das steht aber oberfaul mit Ihnen,« meinte der Wachtmeister drohend, während er mit dem Notizbuch auf den Tisch klappte, »wer weiß, was für ein Signalement all hinter Ihnen losgelassen is.«

Und wie sehr der geknickte Liebhaber nun auch bat und beschwor, es müsse sich um ein Mißverständnis handeln, und alles werde sich aufklären, der Gendarm blieb dabei, das sagten solche luftigen Kunden sämtlich, und die Recherchen würden schon das weitere ergeben.

In diesem Augenblick drangen durch die geschlossene Saaltür milde Töne herein. Helle Frauenstimmen sangen. Sanft und ergebungsvoll. Es war das Schlußlied der segnenden Feen aus den »Folgen der Liebe«.

»Liebe muß der Mensch besitzen,
Der auf Erden wandeln will.
Wenn uns Zorn und Wut erhitzen,
Liebe macht uns wieder still.«

Da wies Florian mit ausgestrecktem Arm nach der nahen Tür, hinter der sein Dichtwerk soeben gar wehmütig ausklang.

»Das ist von mir,« sagte er mit gebrochenem Stolz.

»Ja, still – ja, still –«, verhauchte es drinnen, »Liebe macht uns wieder still.«

Der Gendarm zog die Augenbrauen hoch in die Höhe und klopfte sich schallend auf den strammen Oberschenkel. Die Macht der Töne schien auch sein handfestes Gemüt milder gestimmt zu haben: »Hören Sie, Fuhrmann,« begann er verwundert, »das letzte war gar nich so dumm.« Er kraute sich einen Augenblick nachdenklich in den glattgescheitelten Haaren. »Na, denn man los,« brachte er endlich entschlossen hervor. »Dann geben Sie mir mal so einen kurzen Überblick, was in Ihrer Theatergeschichte vorkommt, was so passieren tut, meine ich. Aber kurz und die reine Wahrheit.«

O du lieber, gütiger Gott, hier strahlte ein Hoffnungsschimmer. Die Braut und das Stück und der Dichterruhm, ja, die eigene körperliche Sicherheit, alles konnte noch gerettet werden. Und so erzählte der Aufgeforderte denn, und es klang beinahe in der Weise eines Märchens.

Es wäre einmal eine sehr, sehr tugendhafte, wunderschöne Tochter eines Handwerksmeisters gewesen, und diese wäre von glühender Sehnsucht nach den bunten Lampen der Bühne erfüllt worden. Da sei ein junger Graf mit vielem, vielem Gelde gekommen und hätte das junge Mädchen ihrem grausamen Vater entführt.

»Entführt?« rief der Wachtmeister, die Stirn verziehend. »Na, hören Sie eins, das is doch nich Ihr Ernst?«

Aber es wäre ja eine ganz tugendhafte, edelgesinnte Entführung gewesen, versuchte Florian sich schüchtern zu reinigen. Jedoch der Wachtmeister lehnte diese Einwände aufgebracht ab.

»I was, das kann nachher jeder sagen, die Hauptsache bleibt, – sagen Sie mir aber die reine Wahrheit –« dabei durchbohrte er sein Gegenüber mit einem durchdringenden Polizeiblick. »Sünd nun die beiden zusammen gereist? Ich meine ganz allein und ohne Bewachung? Und dann? Verstehen Sie –« er zwinkerte mit den Augen, »haben die beiden dann vielleicht im Hotel in einer Stube zusammengewohnt? Aberst bitte, ohne Ausflüchte.«

Darüber wäre er ohne Andeutung zart hinweggegangen, stammelte der Liebhaber, wieder sehr niedergedrückt.

»Aha,« lachte der Wachtmeister höhnisch auf, »dann haben wir ja das Dings, dann haben wir es ja beim richtigen Zipfel. Schämen Sie sich nicht, mein Lieber, solche Schmutzereien unserm anständigen und wohlerzogenen Damenpublikum von Granzin vorsetzen zu wollen? Aber nun hören Sie auf. Aus der Sache wird überhaupt nichts. Die ganze Geschichte ist mir zu mulmig.«

»Aber, ich bitte Sie,« rief der Dichter verzweifelt. »Der verfolgende Vater erteilt ja zum Schluß, durch den Gesang der Feen bewogen, seine Verzeihung.«

»I, jawoll, fällt ihm gar nich ein. En richtiger Vater, noch dazu einer, der sein anständiges Handwerk treibt, der nimmt solche Ware nachher nich wieder zurück. Verlassen Sie sich darauf, das verstehen Sie nich.«

»Aber erlauben Sie mal –«

»Ne, das is es eben, ich erlaube es nich, es is verboten, hören Sie, mein Bester, ausdrücklich von Amts wegen verboten. Und wegen Ihrer Personalien, da kommen Sie mal morgen en bischen auf unser Amt. Da möchte ich Sie doch mal meinem Herrn Landrat vorstellen, damit der doch auch seine Freude hat. So, und hier is das Geld für mein Seidel Bier, denn beeinflussen lassen wir uns bei Amtshandlungen nich, verstanden? Da kennen Sie uns schlecht. Morjen.«

Er sprang auf, reckte die Glieder, bedeckte sein Haupt mit der Pickelhaube und gedachte eben mit kriegerischem Anstand das verräucherte Lokal zu verlassen, als seine Absicht durch einen ganz seltsamen Anblick aufgehalten und vereitelt wurde. Bei seinen letzten Worten nämlich war die Saaltür aufgegangen, und in ihrem Feenkostüm, das aus einem tief ausgeschnittenen, goldglitzernden Leibchen, sowie aus einem mit Silbersternen besäten Mullrock bestand, der merkwürdig rote Fleischstrümpfe freiließ, da war Madame Sperling, die Direktorin, eingetreten, und ihre herumflackernden braunen Augen, die zu dem goldblonden Haar einen merkwürdigen Gegensatz bildeten, hatten sofort die gefahrdrohende Situation erkannt.

»Um Gottes willen« – das war das erste, was ihr durch den Sinn fuhr – »und der Saal war für heute abend beinahe ausverkauft.« Nein, unter keiner Bedingung, ein solch finsterer Plan mußte durchkreuzt werden. Rasch, als würde sie vor den hinstarrenden Blicken des Wachtmeisters von fraulicher Scham befallen, warf die Fee einen Hängemantel über ihre Schultern und flog dann auf den Beamten zu, wie wenn ihr bester Bekannter unvermutet und unbegreiflich von ihrer Schwelle zu enteilen gedächte:

»Aber, mein lieber Herr Wachtmeister,« ermunterte sie mit ihrer hellen Stimme, während sie mit den Absätzen ihrer Goldlackschuhe kokett vor dem Beamten auf und ab klapperte, »das werden Sie mir doch nicht antun, so ohne einen einzigen Gruß von mir fortzueilen? Nein, das geht ja gar nicht. Und außerdem, wie ich höre, hatten Sie soeben eine kleine Differenz mit dem ersten Liebhaber meiner Truppe« – sie machte mit der kleinen, weißen Hand eine vorstellende Bewegung – »ich weiß nicht, ob die Herren einander bereits bekannt sind, Herr Florian Otto, ein ganz ausgezeichnetes Mitglied meines Instituts, Herr Wachtmeister – –« sie stockte.

»Böttcher,« vollendete der Gendarm, durchaus von dieser Förmlichkeit betroffen.

»Gewiß, gewiß,« rief die Direktorin mit ihrem silbernsten Lachen und einem reizenden, schelmischen Augenaufschlag gegen den Verdutzten. »Wie können Sie glauben, daß ein solcher Name mir unbekannt wäre? Nein, mein Herr, wir kennen Sie hier alle ganz ausgezeichnet, und längst ist mir Ihre Pflichttreue und polizeiliche Tüchtigkeit von den verschiedensten Seiten rühmend geschildert worden. Nun aber bitte ich Sie, verehrter Herr Wachtmeister – –« bei dieser Stelle verschob sich ganz zufällig der Hängemantel und die goldglitzernde Feenpartie kam verschwindend wieder zum Vorschein – »jetzt aber, mein lieber Herr Wachtmeister, müssen Sie mir unbedingt ein Viertelstündchen auf meinem Zimmer schenken, denn ich habe Ihnen die wichtigsten Mitteilungen sowohl über meinen Geschäftsbetrieb als auch über das heute abend zu spielende Stück ›Die Folgen der Liebe‹ zu unterbreiten, Mitteilungen, die gewiß auch Ihren hohen Chef, den Herrn Landrat von Pittack, den ich sehr genau kenne, aufs äußerste interessieren dürften.«

Und wunderbar, ehe der Wachtmeister sich noch ernstlich zur Wehr setzen konnte, denn dies beabsichtigte die gerühmte Pflichttreue des bewährten Beamten allerdings, da hatte sich ein runder, molliger Arm bereits unter den seinen geschmiegt, und im höchsten Grade über sich selbst verblüfft, sah der Gendarm, wie er die glitzernde Fee abführte, erst aus dem Gastzimmer, dann über den frostigen Torweg und schließlich eine enge, gewundene Holztreppe hinauf bis in ein kleines, gemütliches Zimmerchen, in dem Bücher, Rollen und die buntesten Maskengarderoben wirr durcheinander lagen. Dann mußte er sich setzen, er wollte zwar nicht, doch zwei kleine Händchen drückten den starken Mann nieder, und schließlich hörte er nur noch, wie ein flinkes Plappermäulchen in rasender Schnelligkeit über Geschäftsbetrieb, das Publikum, die Darsteller, das Stück und namentlich über Kasseneinkünfte zu plaudern begann.

»Ja, Herr Wachtmeister,« meinte sie zum Schluß etwas langsamer, »wenn eine früh verwitwete Frau, wie ich, dies alles verwalten soll, einer solchen dürfte man eigentlich keine unnötigen Schwierigkeiten bereiten.«

»Ne, ne, Madame,« erwiderte jetzt der Gendarm bedeutend kleinlauter, »dasselbe meinte der Herr Landrat auch.«

»Ja, das glaube ich,« sann die Direktorin nachdenklich vor sich hin. »Herr von Pittack ist Kavalier durch und durch.«

»Na, und nu hören Sie mal,« fuhr der Wachtmeister interessiert fort, »hätte nicht geglaubt, daß Ihr Kram so viel einbringt. Aberst wie die Bücher ausweisen, stehen Sie sich ja ganz bekömmlich dabei. Hören Sie, das is mir aber wunderbar. Und das führen Sie so alles so ganz allein durch?«

»Ja,« versetzte die zierliche Madame Sperling und sah ihren Besuch plötzlich ganz groß und wie von einer inneren Eingebung benommen an, »ganz allein, mein lieber, verehrter Herr Wachtmeister. Wer sollte mir wohl dabei helfen?«

»Na, sagen Sie mal, haben Sie denn nich einen von Ihren Theaterspielern, der Ihnen dabei en bischen zur Hand gehen kann?«

»Von diesem Chor?« fragte die Fee zweifelnd dagegen und zog traurig den Hängemantel von den fleischroten Strümpfen zurück. »Ach, wenn Sie wüßten, Herr Wachtmeister, wie schwer es einer Frau fällt, die notwendigste Ordnung unter solchen Leuten aufrechtzuerhalten.«

»Ja, jawoll –« fiel hier Herr Böttcher mitgerissen ein, »es fehlt woll die rechte Zucht in der Kolonne. Na, hören Sie eins, Frau Sperling, die müßte man doch aber eigentlich reinkriegen können.«

»Ja, wer sich darauf versteht,« gab sie leise zurück, indem sie auf ihr Goldmieder blinzelte.

Ihr Besuch erhob sich und klopfte, ganz warm geworden, mit der Faust auf das Kassenbüchlein der Direktorin. »Na, und Sie glauben,« rief er mit seiner kräftigen Kommandostimme, »daß, wenn das Ding hier stramm betrieben wird, die Einnahmen noch steigen können?«

»Das kann man getrost annehmen,« versicherte Madame Sperling und faltete wie mutlos die Hände. »Denn verstehen Sie, mein verehrter Herr Wachtmeister, in solchem Geschäft wie dem meinigen da kommt es weniger auf Begabung und Talent als auf Befehlen und Gehorchen an. Aber wie soll eine zarte Frau sich diese Eigenschaften aneignen? Woher? Ich frage Sie.«

»Kreuzdonnerwetter, Madame Sperling,« dröhnte jetzt der Gast und strich sich mit einem forschen Schwung den starren Schnurrbart. »Wenn es bloß drauf ankommt – und das andere verhält sich auch alles so, denn meine ich – – – na, wie gesagt,« er warf einen prüfenden Blick auf das ruhende Weib, das so gänzlich ahnungslos und mit sich beschäftigt in dem zerrissenen Rohrstuhl lehnte. Und plötzlich wagte er es, mit den weißbehandschuhten Fingern, die sonst so streng das Gesetz hüteten, ganz sacht und trostreich über die weiße Frauenschulter zu streichen, von der noch immer – aus Versehen – der Mantel herabgesunken war. »Wenn es bloß darauf ankommt, na also, Frau Direktorin, man soll die Hoffnung nich aufgeben. Es is noch nich aller Tage Abend. Sie haben auch ganz recht, einer solchen Frau soll man keine unnützen Scherereien verursachen – so lautet nämlich genau meine Instruktion. Und wissen Sie, was ich nu tue, bevor wir weiter miteinander sprechen? Jetzt reit' ich mal zuvörderst zu Bäcker Krethlow an 'n Markt ran, aus dessen Erscheinen Sie sich ja so viel machen, und bring' den alten Murrjahn her. Auf solchen Transport versteh' ich mich. Der Mann hat nich zu lachen. Auf Wiedersehen, junge Frau.«

Er legte die Hand an die Pickelhaube und schlug die Absätze zusammen, wie er es früher nur als Ordonnanz vor seinem kommandierenden General geübt hatte. Donnerwetter ja, diese Frau Sperling, ein ausnehmend nettes und strammes Weib. Mit der könnte man die Sache schon probieren. Na, denn also aufgesessen und zu Bäcker Krethlow.

* * *

Diesen Theaterabend hat man in Granzin nie vergessen. Wenn ältere Einwohner noch heute von ihm sprechen, dann wiegen sie verklärt ihr Haupt und meinen, daß es solch auserlesene, ans Herz greifende Kunstgenüsse heutzutage einfach nicht mehr geben könne.

Ja, ja, damals, als Anna Krethlow die Claire spielte, und ein Liebhaber ihr zur Seite stand, dem im ersten Augenblick die Mädchenherzen von Granzin zuflogen.

Ja, das war noch Kunst.

»Erinnern Sie sich wohl noch, Herr Bürgermeister Mengdehl? Denken Sie noch daran, meine liebe Frau Töpfer Quast?«

»Ja, ja, das war so: Da saß der alte dicke Bäckermeister Krethlow in seiner weißen Arbeitsjacke ganz vorn in dem überfüllten Saal auf der ersten Reihe, und neben ihm hatte der Wachtmeister Böttcher Platz genommen, der ihm von Zeit zu Zeit einen bändigenden Blick zuwarf, als müsse er einen gefährlichen Verbrecher überwachen. Und dabei verhielt sich der alte Murrjahn in den ersten beiden Akten ganz ruhig. Und wenn er auch zuweilen etwas gereizt mit den Händen fuchtelte, so konnte doch nur der neben ihm sitzende Beamte undeutlich verstehen, wie der beleidigte Vater vor sich hinmurmelte: ›Is jo nett – ja, ja, so kommt's. Hab' ich es nicht ümmer gesagt? Na, laß man, laß man.‹

Aber dann, dann war auch der große Moment erschienen, jener Augenblick, der ebenso unvergeßlich wirkte. Auf der Bühne war eben der verfolgende Vater eingetreten, jene dicke, aufgeschwemmte Gestalt, die bei Madame Sperling zu jener Zeit die Polterer agierte, und hatte gerade die Hand zum Fluch erhoben.

Da geschah's.

Herr Bürgermeister, war das rührend oder nicht? Und wie haben Sie damals geweint, Frau Töpfer Quast.

Denn plötzlich, plötzlich – ach, es stockte allen das Herz – plötzlich warf sich Anna Krethlow, die entzückende blonde Darstellerin, tränenüberströmt herum, und während sie die schön geformten Arme nach der ersten Reihe ausstreckte, schrie sie plötzlich mit durchdringender Stimme: »Vater, vergib mir!«

Einen Augenblick eine tiefe, atemlose Stille. Dann ging es durch den Saal: »Kuckt – kuckt – hört – was hat sie gesagt?«

»Vater, vergib mir!« schallte es noch dringender zum zweiten Male.

»Bravo! Bravo!« tobte es durch den Saal, und Männer und Frauen erhoben sich und klatschten in die Hände. »Wie rührend,« flüsterte man sich zu, »wie sie das sagt – nein, jetzt muß er ihr vergeben.«

»Fällt mir jo gar nich ein,« murrte unten der alte Bäckermeister. »Hat' man mich vorher gefragt? Aber jetzt is das große Loch da. Jetzt soll ich's stopfen, was? I, wo werd' ich denn? So dumm, ne.«

»Vater, vergib mir!«

Und nun warf sich auch der Liebhaber neben die Geliebte nieder und streckte ebenfalls mit einer geradezu unwiderstehlichen Bewegung die Hände gegen den Unerbittlichen aus. ›Vater, vergib ihr!‹ rief er schluchzend. ›Du mußt – du mußt, ich bin an allem schuld.‹

›So?‹ sprang nun der Bäckermeister zornig in die Höhe, ›hab' ich euch die Suppe angerührt? Jetzt eßt sie auch allein aus. I, das wär' jo nett.‹

›Vergeben, Vergeben,‹ brauste es durch den Saal. ›Anna Krethlow, hoch! Hoch, Bäckermeister Krethlow –‹ – ›Ruhe, er is en alter Murrjahn. Stille, weiterspielen.‹

Jedoch in diesem gefährdeten Moment öffnete sich die schön bemalte Hintertür, und herein tänzelte in ihrem goldglitzernden Feenkostüm die Direktorin selbst, in eigner Person, und melodisch und ergebungsvoll erklang nun das erlösende Lied:

»Liebe muß der Mensch besitzen,
Der auf Erden wandeln will.
Wenn uns Zorn und Wut erhitzen,
Liebe macht uns wieder still.«

»Ja, das sagen Sie so, Frau Direktorin,« rief der Bäckermeister zornerfüllt hinauf. »Hat Sie vielleicht das Gör so viel gekostet? Und denn die Schande? I, denn müßte ich ja nicht recht bei Troste sein.«

»Vater, vergib mir!«

»Donnerwetter, Verehrtester, so vergeben Sie ihr doch,« mischte sich plötzlich eine sehr helle Stimme in diesen dramatischen Disput. Und als sich das Publikum neugierig erhob, da erkannte es mit ehrerbietigem Staunen, daß der Landrat von Pittack im Frack und ordensgeschmückt ganz unvermutet neben dem Sitz des alten Murrjahn aufragte. Der hohe Beamte hatte vor kurzer Zeit höchst animiert und champagnerfreudig das Liebesmahl des Kriegervereins verlassen und war im Vorüberfahren auf die Idee geraten, sich selbst von der Mission seines Wachtmeisters zu überzeugen.

Nun trat er in diesem Endspiel an die erste Stelle.

»Herr Landrat,« stotterte der Bäckermeister verwirrt, indem er sich unentschlossen erhob, »is das Ihr Ernst? Is das Ihr würklicher, herzlicher Ernst?«

»Vater, vergib mir – Vater, vergib ihr.«

Der Landrat beugte sich weit vor und setzte sich vor das funkelnde blaue Auge sein unbedingt notwendiges Monokel. »Aber, mein Bester,« brach er ungestüm los, »das ist ja ein ganz vorzügliches Mädchen. Eine ungewöhnlich sympatische Erscheinung. Auf eine solche Tochter können Sie ja direkt stolz sein.«

»Hoch! Herr Landrat von Pittack,« rief das Publikum, »hoch! Anna Krethlow – vergeben, vergeben.«

Der alte Murrjahn kraute sich in den Haaren. »Na, wenn der Herr Landrat würklich meinen,« ermannte er sich endlich unsicher, »na, denn sei man still, Anning, denn laß man sein, denn will ich noch mal. Und deinen Liebsten, den nehm' ich auch. Kann bei mir eintreten. Und Ihnen, Frau Direktorin, zahl' ich für beide einen Abstand.«

»Jawoll,« stimmte der Gendarm beifällig zu, »Abstand muß sein. Das verlangt die Ordnung.«

»Vater, Vater! Dank, Dank!«

Und die Direktorin mußte noch einmal vortreten, um das Schlußlied zum besten zu geben, das so viel Anklang gefunden hatte. Und es wurde eine geradezu erhebende Feier im antiken Sinne, denn nicht nur auf der Bühne, nein, auch im Publikum wurden die Verse des Dichters Florian Otto mit Begeisterung nachgesungen:

»Liebe muß der Mensch besitzen,
Der auf Erden wandeln will.«

»Bravo, bravo! Hoch, Herr Landrat von Pittack! Hoch, Frau Direktorin!«

»Wenn uns Zorn und Wut erhitzen,
Liebe macht uns wieder still.«

Ja, es war ein glorreicher Abend. Erinnern Sie sich noch, Herr Bürgermeister Mengdehl? Denken Sie daran, Frau Töpfer Quast?«

Solche Erhebung kommt nicht mehr wieder, denn die Herzen schlagen nicht mehr so einfach und warm, und die Zeiten sind anspruchsvoller geworden.

Der Landrat von Pittack jedoch erlebte, gerade als er seine Equipage besteigen wollte, deren Schlag ihm vom Wachtmeister Böttcher diensteifrig gehalten wurde, noch eine besondere Überraschung.

»Alle Wetter, Böttcher,« wandte er sich auf eine Mitteilung, die ihm wohl ganz kurios klingen mußte, verblüfft herum. »Sie heiraten das Sperlingsweibchen?«

»Zu Befehl, Herr Landrat.«

Der Landrat riß die Augen auf und schob ein wenig an seinem eleganten Zylinder. »Hören Sie mal,« entschied er sich endlich, »das – das kommt mir sehr überraschend. Aber in jedem Falle ist ihre Zukünftige eine in jeder Beziehung tüchtige Dame. Zweifellos. Na, und wissen Sie, was ein richtiger Preußischer Wachtmeister ist, der findet sich schließlich in allem zurecht. Auch in Kunstdingen. Werden eben Zug in die Kolonne bringen und der ganzen Sache den höheren Drill geben. Und nun grüßen Sie mir Ihre Verlobte, und richten Sie ihr aus, sie wüßte schon, ich hätte es immer behauptet, am unberechenbarsten auf unserem famosen Planeten blieben einmal stets und ständig die Folgen der Liebe. So, und nun gute Nacht, Böttcher.«

Die Pferde zogen an, der Landrat fuhr von dannen.

Ja, es war ein glorreicher Abend.

Nun ist der Vorhang gefallen; und die damals mitgespielt haben, sind alle dahin. Denn dies ist eine Geschichte aus meiner Kindheit.


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