Georg Engel
Der verbotene Rausch
Georg Engel

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Die verbotene Ehe

»Schu-huch,« fauchte der Blasebalg in der großen Dorfschmiede des Riesen Tibäul, »schu-huch – schuh-huch.«

Die Feuer spritzten, blaue und gelbe Flämmchen zuckten auf, wie Wunderblumen, die nur eine Sekunde blühen, und dann rasselte wieder die eiserne Kette des Balges, denn die mächtige Faust des schwarzen Struwelkopfes Levin Tibäul zog an ihr, während seine Linke mit ungeheurer Zange etwas Weißglühendes unter den Holzkohlen hin und her wandte.

»Schu-huch – schu-huch,« atmete die gewaltige Brust der Werkstätte. Feuchter Schweiß troff an den Wänden herunter, und der ganze rote Ziegelraum tauchte sich in Glut, gleichsam als ob eine Stirne sich vor Mühe und Arbeit rötet. »Schu-Huch – nu man düchtig – ümmer düchtig – schu-huch,« so klang es.

Dazwischen aber dröhnte der junge Schmied aus gewaltiger Kehle:

»Mein Schätzing, mein Kinding,
Ich sagt' es dich noch nie,
Du hast ein rotes Münding
Und hast ein weißes Knie –

Schu-huch – schu-huch –

Ich bün verliebt in sie.«

»Krach-bum,« schmetterte der schwere Hammer auf den Amboß, wie wenn er die Baßbegleitung donnern müßte, und sofort schrie der junge Schmied noch wütender als Versicherung dagegen auf:

»Ich bün verliebt in sie.«

»Na, nu laß man,« beruhigte aus der fernsten Ecke eine rollende und grollende Stimme, und Vater Tibäul, der in jener Ecke beim Kühlzober einen knisternden Radreifen bog, leicht und liebkosend, als streichele er in jüngeren Jahren über eine blühende Wange, Vater Tibäul klopfte auf seine riesige Lederschürze, griff darauf an die mächtig vorspringende Hakennase, die wie ein Geier auf den urwäldlerischen grau-schwarzen Zottelbart herablugte, und meinte augenzwinkernd:

»Na, nu laß man, Wining, ich weiß all.«

»Woso?« schrie der Sohn und riß noch ärger an der Kette. Schu-huch – schu-huch – »Was weißt du?«

»Nu ich weiß,« bestätigte der Meister schlau.

»Du weißt nichts,« widerlegte der Sohn.

»Nu, so weiß ich nichts,« lenkte der Alte kopfnickend ein. »Laß man, Wining. Aber nu sag' eins, was wirkst du da eigentlich for ein zierliches Ding?« damit zeigte er mit der gewaltigen Faust nach dem Feuerherd.

»Das ist ein Geheimnis,« brüllte Levin und senkte das Struwelhaupt so tief, als müßten nun seine Haare unweigerlich in der Glut aufflackern. »En verstecktes Geheimnis is das.«

»Gut, wenn es en verstecktes Geheimnis is, denn will ich auch nich länger hinkucken. Geheimnissen müssen allein und in Verswiegenheit bleiben. Aber nu kuck mal durch das Fenster, mein Jung', da kommt auch en Geheimnis, Müller Bossen seine einzige Tochter Ida – hallo, mit enen richtigen Blumenstrauß in die Hand. Pflückt auch woll Geheimnissen. Nu, wo werd' ich? Ich sag' bloß, Müller Voß is en guter Mann, is en schwerer Mann, 's sind gute Leute. Worum nich? Ich bün auch for Geheimnissen.«

Und damit öffnete der alte Riese vorsichtig das niedrige Seitenpförtchen, bückte sich tief und schritt schmunzelnd davon:

»Ganz gut,« murmelte er noch leise vor sich hin, »worum nich? Es is eine hingelegte Sache.«

* * *

Ja, da stand nun »lütt Idsch«, wie Müller Vossens Einzige genannt wurde, unter dem halb offenen Tor der Schmiede, streckte den Blumenstrauß vor sich hin und lugte neugierig nach dem Tun des jungen Schmiedes. Hinter ihr sah man einen blauen Streifen der See vorüberfluten, und von diesem blauen Band hob sich das schmale Köpfchen, um das sich die braunen Zöpfe so keck und zuversichtlich herumschlängelten, lustig und lichtvoll ab. Warum aber blieb es geraume Zeit still zwischen den beiden?

Wer weiß das?

Sie scheuten sich, schämten sich; und dann, die Kinder des Nordens nehmen diese beredte Stille, die so leise und innig zu erzählen weiß, liebevoll ans Herz.

So waltete Ruhe, nur der Seewind stieß einmal gegen das Tor, raschelte um die Röcke der Dirn' und fuhr dann durch die Esse.

»Schu-huch.«

Da hub das Mädchen an:

»Du,« sagte sie, während sie die Strandblumen noch etwas weiter hereinreichte. »Ich bin nu hier.«

»Ja,« knurrte Levin abgewandt durch die Zähne, ohne scheinbar Mädchen noch Bukett zu bemerken.

Sie fuhr fort: »Was war das für ein Lied, das du vorhin sangst?«

»Ein Lied? – Ich weiß von keinem Lied.«

»Doch.«

Aber plötzlich jauchzte der Blasebalg auf, daß die Feuer blinkten und stoben, und indem der Schmiedegesell einen furchtbaren Schlag auf den Amboß führte, stammelte er so halb vor sich hin: »Du, das Lied hab' ich gemacht.«

»Was?«

»Ja, ich hab' all öfters so was gemacht.«

Als er dies gestanden hatte, da rasselte wieder die Kette, tausend rote Feuerrosen taumelten über die Wände, und die furchtbare Stimme dröhnte halb in Scham:

»Mein Schätzing, mein Kinding,
Ich sagt' es dich noch nie,
Du hast ein rotes Münding
Und hast ein weißes Knie.«

Schu-huch – schu-huch –

»Ich bün verliebt in sie.«

Krach – bum – schmetterte der schwere Hammer, wie wenn er die Baßbegleitung donnern müßte.

Dann herrschte wieder Ruhe. Die Flämmchen sanken in sich zusammen, aber lütt Idsch nestelte gesenkten Hauptes in ihren Blumen. Ihre Hand zitterte ein wenig.

»Das war hübsch,« atmete sie endlich nach einer Weile, wobei sie versuchte, ihre blauen Augen, die der Rauch empfindlich zu beizen schien, gegen den Abgewandten zu erheben. Und nach einer Pause setzte sie sehr unsicher hinzu:

»Für wen hast du das gemacht?«

»Ja, für wen woll?«

Da trat sie ihm etwas näher: »Ich hab' hier Blumen.«

»So? Blumen?«

Kaum merklich schielte er zur Seite auf das Bukett. Im nächsten Augenblick jedoch hob er schon wieder mit seiner Zange einen winzigen, weißglühenden Gegenstand aus den Holzkohlen.

Da tippte sie ihm zum zweiten Male sacht auf die Schulter:

»Das sieht ja fast wie ein Herz aus,« stotterte sie.

»Nich wahr?« gab er unsicher zurück.

»Für wen is das?«

»Je, das kommt drauf an.«

»Ach, murmelte sie betroffen.

Jetzt ließ er sein Kunstwerk in dem Kühlzober anzischen, befestigte es an einer ganz feinen Stahlkette, die er ebenfalls verfertigt hatte, und schritt dann rasch auf sie zu:

»Da.«

»Was soll ich?«

»Bloß eins umlegen.«

Und nachdem das kleine eiserne Herz auf dem ihren ruhte, da hob und senkte sich ihre Brust so schnell und atmend, genau so, wie sich vorhin der Blasebalg gedehnt hatte.

»Schu-huch.«

»Lütt Idsch,« sagte Levin, jetzt vollkommen durch ihre Fassungslosigkeit in Verwirrung gebracht: »Ich möcht' – ich wollt' – dürft' ich dich dafür vielleicht einen einzigen lütten Belohnungskuß geben?«

Sie regte sich nicht, fröstelte nur ein wenig und sah ihn an:

»Ja, wenn du so gut sein willst,« erwiderte sie endlich, kaum verständlich.

Kaum war's verklungen, so faßte er sie jauchzend mit seinen rußigen Armen um, und nachdem sie ihm noch wie zur Abwehr, einen Moment den Strauß dicht vor das Gesicht gehalten hatte, bot sie ihm plötzlich voll und besinnungslos ihre Lippen.

»Da.«

»Ach Gott, schön' Dank auch,« stotterte er glückselig. Darauf begannen sie ganz unvermittelt in der Schmiede herumzutanzen, bis er die schlanke Gestalt hoch in die Höhe hob, um sie zum Schluß vorsichtig auf den Werktisch niederzulassen.

Dort saß sie und schlenkerte mit den kleinen Füßen.

»Nun büst du meine Braut, lütt Idsch,« so schrie er wie besessen.

»Was sonst? – Natürlich,« lachte sie. »Glaubst du, daß ich sonst so was zulassen würd'?«

»I bewahre, – natürlich nich,« brüllte er, »und was ich dich nu alles schenken werd'. Paß bloß auf. Schürzen und Ringe und Unterröcke und einen richtigen gelben Karnalljenvogel.«

»Ja, so gehört es sich,« bestätigte sie, »und ich geb' dich auch immer einen Kuß dafor. Bloß« – hier lachte sie hell auf – »komisch bleibt es doch.«

»Was, meine liebe Braut, mein Süßing?«

»Nu das mit die Religionen.«

»Wieso Relijonen?«

»Na, weißt du denn nich? Meine Mutter is doch katholisch, und ich bün protestantisch, und du? – sag eins, is es denn wirklich wahr?«

»Ja,« stotterte er und strich sich mehrmals unsicher über die Brust, »ich weiß auch nich, wie es kommt, aber ich bün – –«

Da hielt sie ihm hastig den Mund zu:

»Still – ich verzeih es dich, wenn du mich man recht liebhast. Nich wahr, das hast du doch? Das andere wollen wir all zurechtkriegen.«

»Ja, Idsch, da is keine Frage.«

Damit hob er sie nochmals in die Höhe, und diesmal begann er regelrecht mit ihr zu tanzen, einen grobschlächtigen, feierlichen Kegelwalzer, wie ihn Leute mit solch großen Füßen üben. Das lose Ding aber lehnte sich über seine Schulter und summte ihm vergnügt ins Ohr:

»Mein Schätzing, mein Kinding,
Ich sagt es dich noch nie«

da schmetterte er zur Antwort, indem er mit täppischen Fäusten ihre weichen Glieder zu streicheln versuchte:

»Du hast ein rotes Münding
Und hast ein weißes Knie.«

Und dann beide zusammen:

»Schu-huch – schu-huch
Ich bin verliebt in sie.«

Ja, solch ein Brautpaar zu sehen, war eine rechte und natürliche Freude.

* * *

Allein trotzdem – wiewohl – indessen – freilich – Es gab Leute, die diesen Liebesbund durchaus unnatürlich fanden. Und es waren drei Herren, deren Ansichten keinen gemeinen Tageskurs besaßen.

Eines schönen Morgens fragte in Grimmen der Herr Pfarrer Friderici seine Haushälterin Frau Brandenburg, die statt seiner die Personalverhältnisse seines weiten Sprengels in Ordnung hielt, denn seine Herde war nur dünn gesät und über sechs pommersche Städte verbreitet, »sagen Sie mal, liebe Brandenburg – apropos, der Kaffee duftet übrigens ausgezeichnet, ein treffliches Aroma – halten Sie diese Mesalliance, ich meine dieses durchaus ungehörige Verlöbnis, wirklich für Wahrheit?«

Und als ihm das mit weinerlicher Entrüstung bestätigt war, da schüttelte er ungnädig die wallenden Locken, die seine Tonsur fast vollkommen verdeckten und äußerte: »Schön. Roma nondum locuta est. Wir werden ein Wort mitsprechen. Brandenburgen, meinen Mantel, und Johann soll sogleich anspannen.«

So sprach der Herr Pfarrer Friderici.

Ganz dicht aber bei der Wohnstätte der nichts ahnenden Brautleute fuhr am selben Vormittag Pastor Knaak herrisch von seinem Mahagonischreibtisch auf, klappte mit der Hand ein paarmal ärgerlich auf die Tischplatte und sammelte sein Gefühl endlich in dem Ausruf: »Lächerlich, einfach lächerlich. Man wird diesen leichtsinnigen Leuten ins Gewissen reden oder sich zum mindesten Garantien schaffen müssen. Gewiß! Mit den diesbezüglichen Garantien würde man sich im schlimmsten Falle zufrieden zu geben haben. Sofie, meinen Spazierstock.«

Und damit diesem geistlichen Feldzug auch das älteste und auserwahlteste Banner nicht fehle, so erhob sich an diesem schönen Gottestage der alte Rabbiner Doktor Karfunkel drinnen in der Stadt mißmutig von seiner Lagerstatt, pflanzte sich in tiefem Sinnen vor der weißen Ruhestätte seiner Gattin auf und rechnete endlich, sich hinter dem Ohr krauend: »Weißt du was, Rosalie, es ist mir betrübend, daß die menschliche Mildherzigkeit, nun, sagen wir das Gemüt, gewissen Grenzen unterworfen ist. Haben wir nicht alle Jahre von dem alten Tibäul draußen in Nieder-Pümplow um diese Zeit eine fette Gans erhalten? Nun, ja, wir haben keinen Anspruch darauf. Gott behüte, nicht einen Schatten von einem Anspruch. Aber doch, wie ein schönes Erinnerungszeichen war nicht die Gans an jenen Tag, wo die beiden Tibäuls einstmals vor mir unter dem Trauhimmel gestanden haben. Soll man wirklich solche Beziehungen einschlafen lassen? Wie gesagt, es ist mir nicht wegen des geringen Vorteils.«

»Doch,« widersprach Frau Rosalie mißfällig und setzte sich in ihren Kissen zurecht. »Du sagst das so, bei den heutigen Preisen. Und dann, hast du an das schöne Schmalz vergessen, das so weiß aussah wie frischgefallener Schnee?«

»Schmalz?« Dieser Lockung vermochte der Doktor Karfunkel nicht zu widerstehen. »Schmalz,« wiederholte er, »nun, wie gesagt, es geht mir nicht deswegen. Aber siehst du, Rosalie, ich bin ängstlich, ängstlich bin ich in meinem Gemüte, was bei den alten Tibäuls geschehen ist. Wie kann man wissen? Er kann sich zerschlagen haben mit einem von diesen großen Hämmern die Hand oder den Fuß oder gar den ganzen Kopf. Ich halte es für Menschenpflicht, ich sage es dir, für eine ganz dringende, mich einmal nach den Leuten umzusehen, und das werde ich sofort.«

Frau Rosalie rief ihm noch nach, »sprich aber nicht direkt von der Gans.«

»I wo, es ist mir nur zu tun wegen des Spazierganges und der Erkundigung.«

So zog auch das dritte Banner nach Nieder-Pümplow. Allein, als Doktor Karfunkel in der Schmiede angelangt war, da wurde ihm die Auskunft, daß sich Vater und Sohn in der Mühle des Windmüllers Voß befänden, allwo unter allseitiger Zustimmung gerade die Verlobung des jungen Levin gefeiert würde.

»Welch ein Wunder! Wieso Verlobung?« zuckte der Rabbiner zurück, wobei liebliche Bilder von ganzen Bächen weißglänzenden Schmalzes durch seine Vorstellung zu fließen begannen. Jedoch plötzlich stutzte er. »Beim Müller Voß?« fuhr es ihm mißtrauisch durch den Sinn. »Wieso? Um Gottes willen. Sie müssen nicht wissen. Oder sollten die Leute so modern und abtrünnig –? Hol der Henker die Gans. Was hat meine Rosalie immer mit der Gans? Hier geht es um die höchsten Interessen der Menschheit. Gerechter Gott, was erlebt man alles in dieser neuzeitlichen Welt.« Damit zog er sich den alten, molligen Zylinder tief in die Stirn, drückte den mit einem goldenen Knopf gezierten spanischen Stock kampfbereit in das feuchte Erdreich und eilte schnurstracks zur fröhlichen Verlobung, ein Hoherpriester, feurig wie die Flamme des Herrn. »Nun, ich werd' reden. Ich werde ihnen sagen,« murmelte er vor sich hin.

* * *

Inzwischen geht es in der Windmühle bei Müller Voß hoch her. Der große Raum zur ebenen Erde, wo sonst die gefüllten Mehlsäcke lagern, ist heute sauber gefegt, und selbst der Umstand, daß sowohl an den Wänden wie auf der glatten Diele die Mehlspuren wie frischgefallener Schnee glänzen, erhöht nur die allgemeine Feierlichkeit. Da sitzen sie alle um den gewaltigen, runden, gelbflammigen Birkentisch, das Brautpaar, die beiderseitigen Eltern und die drei Müllerknechte Klaus, Jochen und Stöffe, deren Antlitz ebenfalls glänzt vor Mehl und Zustimmung, und deren Leiber durch das Übermaß genossenen Festkringels beinahe schon den vollgestopften Säcken ihres Brotherrn gleichen.

»Hoch! Hoch!« schreit Klaus nach jeder vertilgten Tasse Kaffee.

»Hoch!« antwortet Jochen bei solcher Gelegenheit, noch schluckend.

»Hoching!« schließt sich Stöffe jedesmal tiefgerührt an, indem er der Müllerin seine Tasse zu neuer Füllung entgegenreicht.

Überhaupt die allgemeine Begeisterung wächst und schwillt. Namentlich der alte Tibäul und der Brautvater liegen sich fast beständig freundnachbarlich in den Armen, und jedesmal, wenn das Brautpaar sich eine Zärtlichkeit erweist, so fühlen die beiden Väter sich verpflichtet, dies gleichfalls durch einen gegenseitigen Kuß zu bestätigen.

»Wie schön, stoßen nicht unsere beiden Anwesen zusammen,« meint dabei Vater Tibäul träumerisch. »Und die Mühle hier, Bruderherz, soll doch auch schuldenfrei sein. Nu, wie gesagt, es is eine hingelegte Sache.«

Der ewig zapplige, winzige Müllervater jedoch springt zur Antwort um den Tisch herum, bis er wieder bei seinem Herzbruder landet, ihm ins Ohr flüsternd:

»Und die Sparkassenbüchers von dir in die Stadt? Fein. Ich sag' bloß fein.«

Worauf sich die beiden Verbündeten von neuem küssen, während die Frau Müllerin, die sehr melancholisch und empfindsam veranlagt ist, regelmäßig ihr Taschentuch zieht, um einige notwendige Tränen zu vergießen.

»Hoch,« murmelt Klaus, der den Mund vor Kuchen nicht mehr aufhalten kann.

»Hoch,« fällt der in Konkurrenz kauende Jochen ein.

»Hoching,« hustet Stöffe, dem Kringel, Kaffee und Rührung in die Kehle geraten sind.

Oh, welch ein stilles, freudereiches, harmonisches Fest.

Da knarrt die Tür, und in der Öffnung zeigt sich eine majestätische, schwarz gekleidete Gestalt, die fast den ganzen Rahmen ausfüllt.

»Is das nich?« ruft Müller Voß verdutzt.

»Ja, gewiß, das is der Herr Pfarrer Friderici,« fährt die Müllerin auf, indem sie vor Schreck und Ehrfurcht einen Knix vollführt, so daß ihr Stuhl dem würgenden Stöffe in den Schoß fliegt. »Herr Gott, der Herr Pfarrer, welche Ehre.«

»Was will er denn?« hat Müller Voß gerade noch Zeit, seiner Ehehälfte zuzuflüstern.

Dies wird aber sofort deutlich. Der Pfarrer tritt näher, und während er langsam und mit schöner, gemessener Bewegung den breitkrempigen schwarzen Filzhut abnimmt, sieht er sich würdig, jedoch bereits leicht vorwurfsvoll in dem heiteren Kreise um, bis seine Augen sich mit denen von Vater Tibäul begegnen; da schüttelt er verweisend das Haupt.

»Ja, meine liebe, teure Frau Voß« beginnt er, denn die Seele dieser melancholischen Frau gehört ihm zu eigen, »ich setze voraus, daß Sie mich bei einem so wichtigen Ereignis, das sich in Ihrer Familie zu vollziehen im Begriff steht – denn ich hoffe, es hat sich noch nicht definitiv vollzogen – nicht wahr, ich gehe in der Annahme nicht fehl, daß Sie mich in diesen letzten, schweren und bedeutungsvollen Tagen innerer Seelenunruhe gewiß schon lange erwartet haben.«

Innere Seelenunruhe? Die Frau wird rot, stammelt etwas, blinzelt nach ihrem zappligen Ehemann, der unaufhörlich mit den Füßen wippt, und erwidert endlich ganz steuerlos, sie hätte wohl, das heißt, sie wüßte nicht recht, und wenn der Herr Pfarrer vielleicht so gut sein wollte – en bischen Platz zu nehmen – –

Wieder schüttelt Hochwürden mit bitterer Ablehnung das graue Lockenhaupt: »Meine liebe Tochter,« greift er schon etwas stärker nach, »haben Sie vergessen? Damals, als der Herr Ihnen dies holdblühende Töchterchen gewährt hat, versprachen Sie mir da nicht in einer feierlich ernsten Stunde, gewissermaßen an Beichtes Statt – –«

»Herein!« schrie Müller Voß.

»Herein,« brummten die drei Müllerknechte hinterher, denn diesmal war an die Tür mit heftiger Hand dreimal hart und energisch geklopft worden, und ohne sich um eine weitere Einladung zu kümmern, eilte mit festen, schallenden Schritten der lange, hochaufgeschossene, blonde Pastor Knaak zu der verwunderten Gesellschaft.

»Guten Tag, meine Lieben,« warf er eilfertig hin, indem er mit seinem Stock nervös auf dem Birkentisch herumhämmerte, wie wenn sein Vorhaben in einer Minute erledigt sein müsse. »Guten Tag – guten Tag,« und dann mit einem plötzlichen Zurückweichen, »ah, ergebener Diener, Hochwürden. Welch ein Zufall, daß wir uns beide treffen.«

»Es ist mir eine Freude,« schob Hochwürden mit einiger Zurückhaltung ein.

»Ja – ja, gewiß, ich vermute jedoch, Hochwürden erscheinen gleichfalls, um –«

»Wieso, was meinen Sie, Herr Pastor?« widersprach der Pfarrer mit seiner schönen, majestätischen Haltung. »Ich wüßte nicht –«

Allein Pastor Knaak, ganz von dem kategorischen Imperativ und lichter, reiner Vernunft erfüllt, zudem ein Anhänger bismärckischen Zugreifens, gedenkt sich nicht länger bei der Vorrede aufzuhalten. Hastig schreitet er auf den kleinen Windmüller zu, legt ihm wuchtig beide Hände auf die Schultern, um ihn darauf so eindringlich zu schütteln, als müsse er einen Betörten ein wenig zur Besinnung bringen: »Aber, lieber Voß,« ermahnt er mit seiner scharfen Armeestimme, »wenn es mir auch fernliegt, mich in Ihre persönlichen Verhältnisse und Empfindungen einzumischen, denn Sie wissen, es ist der wichtigste Grundsatz unserer Kirche, unseren obersten Richter, also das Göttliche, gewissermaßen auf dem Richterstuhl unseres eigenen Innern thronen zu lassen – in diesem Sinne wenigstens hat es uns Martin Luther gewiesen –«

Hier hustet der Pfarrer, öffnet weit seine großen Feueraugen und beginnt, den Prediger dieses Bekenntnisses von oben bis unten zu messen. »Hm,« räuspert er sich halblaut.

Jedoch der eifrige Pastor Knaak wendet keinen Blick nach ihm. »Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, mein lieber Müller,« fährt er fort, »aber Sie haben einen Schritt von dem guten Wege des Heils gemacht. Denn obwohl ich zugeben muß, daß der Herr Schmied Tibäul sowie die zu ihm Gehörigen im großen und ganzen eine achtungswerte Familie sind – ich selbst habe die Tür meines Schweinekobens ja erst neulich von ihm mit neuen Scharnieren verfestigen lassen – so scheint es mir auf der anderen Seite doch sehr vorschnell, unüberlegt und wenig christlich von Ihnen gehandelt, mit Bekennern eines alten, überwundenen – ja – Herr Tibäul, ich bitte, mich recht zu verstehen – sogar rohen und blutigen Glaubens in eine engere Familienverbindung zu treten. Und sollte man sich schließlich auch über dieses Letzte, Äußerste hinwegsetzen, dann müßte doch unter jeder Bedingung von dem jungen, hier anwesenden Manne ein Entschluß gefaßt werden, der es unmöglich macht ...«

»Halt!« rief hier Pfarrer Friderici, dem eine starke Glutwelle plötzlich bis unter die Augen gestiegen war. »Herr Pastor, Sie wissen vielleicht nicht, daß ein altes, heiliges Versprechen der hier anwesenden Frau Voß mich berechtigt, nein, wahrlich, sogar verpflichtet ...«

»Wie? Was? Meinten Sie etwas, Hochwürden?« ätzte die scharfe protestantische Stimme bei dieser Gelegenheit ziemlich unwirsch. »Ich dächte, ich dürfte doch wenigstens unserm Gemeindemitglied Herrn Voß, ungestört durch römische Einmischung, klarzumachen versuchen, daß die Stimme des Herrn laut durch mich ruft –«

»Herein,« stotterten die drei Müllergesellen, die während dieses sich anhebenden geistlichen Kampfes trauervoll auf den feinen Verlobungskringel gestarrt hatten, »herein.«

Unter der Tür dienerte etwas, wagte jedoch dieser zahlreichen Versammlung vor der Hand nicht näherzutreten. »Verzeihen Sie, Herr Müller Voß,« entschuldigte sich Doktor Karfunkel, den die andern beiden Geistlichen atemberaubt, ja fassungslos anstarrten, »ich weiß, ich habe nicht das Vergnügen. Ich erlaubte mir auch nur zu Herrn Schmied Tibäul – und weil ich ihn nicht zu Hause antraf, da hier eine Verlobung gefeiert werden soll –« er trat einen Schritt vor, faßte den alten Schmied sowie das Brautpaar prüfend ins Auge und wiegte wehmütig das Haupt. »Nun, ich meine,« fügte er mit beruhigendem Lächeln hinzu, »es wird ein schlechter Scherz gewesen sein, und ich würde mich freuen, lieber Tibäul, wenn Sie geneigt wären, mir in aller Freundschaft darüber einen kleinen Aufschluß, Sie wissen schon, 'ne ganz private Andeutung zu geben. Man möchte doch etwas Sicheres wissen. Nicht wahr?«

»Ganz recht, völlig meine Ansicht, etwas Sicheres,« rief nunmehr seine Hochwürden, der sich, wie fast immer, zu dem Vertreter des starrsten Prinzips innerlich hingezogen fühlte, und dabei pflanzte er sich kampfbereit an der Seite des Rabbiners auf. »Und deshalb möchte ich gleich bemerken, ich bin keineswegs hierhergekommen, um irgendwie den beiderseitigen lieben Familien auch nur die geringsten Schwierigkeiten zu bereiten. Dazu sind es ja alles viel zu prächtige und gute Leute. Auch von etwas Rohem oder sogar Blutigem, von dem der Herr Pastor vorhin zu sprechen beliebte, kann ich in dem Wesen der Familie Tibäul selbst beim besten Willen nicht das geringste entdecken.«

»Bitte, erlauben Sie,« unterbrach hier der Pastor nervös, »wie können Sie ...«

Und auch Doktor Karfunkel setzte etwas kümmerlich, doch sehr vorwurfsvoll ein, »wieso blutig? Wenn das vielleicht eine Anspielung –«

Doch der Pfarrer legte ihm nur weich seine volle, schöne Hand auf die Schulter und meinte augenzwinkernd: »Keineswegs, mein lieber, verehrter Herr Doktor, im Gegenteil. Hege ich nicht vor Ihrem Charakter und Ihrer Wissenschaft, ja sogar vor Ihrem ganzen Kultus die allergrößte und berechtigste Hochachtung? Und wenn ich mir bei dieser ganzen Angelegenheit, die ja bisher ein so schönes und herzliches Gepräge zu tragen scheint, überhaupt etwas zu bemerken erlaube, so handelt es sich lediglich um die Sicherstellung gewisser Versprechungen, welche mir die hier anwesende Frau Voß in einer zugleich schmerzlichen und glücklichen Stunde einstmals gewährleistet hat.« Mit voller Pracht und edlem Schwung, wie wenn eine unsichtbare Kardinalschleppe hinter ihm herschleife, trat Hochwürden sodann vor das junge Paar. »Ja, meine lieben Kinder, nichts lege ich Eurer Liebe in den Weg. Seid ebenso glücklich, wie sich Eure Herzen harmonisch zusammengefügt haben, und das einzige, was ich im Namen eines alten Gelöbnisses und zur Ehre und Wahrung unseres alleinseligmachenden Glaubens von euch, von dir, mein junger Mann, besonders verlange, besteht darin, daß die Pfänder eurer zukünftigen Gemeinschaft jenem trostreichen, alles vergebenden Glauben geweiht sein müssen, dem deine hier anwesende Schwiegermutter seit ihrer Kindheit mit aller Innigkeit ihrer Seele angehangen hat.«

Solange hatten sich Pastor Knaak und Doktor Karfunkel in stummem Mienenspiel einander ihre durchaus von dem eben Gehörten abweichenden Ansichten begreiflich gemacht. Nun aber ertrug es der feurige Pastor Knaak nicht länger. Sollte man sich denn immer von römischem Übermut und jesuitischer Diplomatie aus dem Felde schlagen lassen? »Und wo bleibt die strenge, sittliche Forderung?« fuhr er in vollem Zorn auf. »Was, Zukunft? Ich verlange, ich fordere mit aller Bestimmtheit, vorausgesetzt, wenn überhaupt meine Zustimmung verlangt und gegeben werden soll, daß sich der Bräutigam sofort zu der Konfession der Braut bekennt. Herr Doktor Karfunkel, ich rufe Sie zum Zeugen auf. Können Sie sich, verehrter Herr, überhaupt eine glücklich fundierte Ehe denken, in der nicht beide Kontrahenten einen Glauben und eine Hoffnung teilen? Bitte, Herr Doktor, antworten Sie.«

»Er ruft mich auf!« klang es mit leiser Entrüstung dagegen. »Nun, da muß ich doch einwenden, hochverehrter Herr Pastor, wo steht geschrieben, ich frage wo, daß es gerade das Bekenntnis des hier anwesenden Fräulein Braut sein muß, welches ...?«

Da warf auch der Pfarrer seine Gemessenheit plötzlich ab: »Halt,« unterbrach er mit einer fliegenden Hitze, wobei er den Rabbiner heftig am Arm ergriff. »Und ich rufe Sie gleichfalls zum Zeugen auf, Herr Doktor. Habe ich nicht die äußerste Selbstbeschränkung geübt, da ich nur die Zukunft für mich in Anspruch nahm? Verlange ich etwa einen Konvertiten, wie es der Herr Pastor so selbstbewußt fordern zu müssen glaubt? Beileibe nicht! Unsere Ansprüche sind milde. Sie beruhen stets auf der ganz genauen Kenntnis des menschlichen Lebens. Ich bitte Sie, sprechen Sie offen, mein lieber Herr Doktor! Urteilen Sie ganz ohne Voreingenommenheit. Welchem Standpunkt fühlen Sie sich näher? Haben Sie das größte Vertrauen zu mir.«

»Nu, wenn ich ganz offen urteilen soll, Euer Hochwürden,« brach nun der Rabbiner los, dem vor Wut die Hände zitterten, »so möchte ich mir festzustellen erlauben, daß es doch eigentlich unser Glaube ist, der die ältesten, ihm vom lieben Gott selbst bekräftigten Vorrechte besitzt. Haben Sie vergessen, was am Sinai unter Donner und Blitz geschah? Ich bin tolerant, nun ja, ich folge der modernen Wissenschaft, gewiß, ich bin sozial, auch gut, aber Sie müssen mir schon gestatten, wenn ich überhaupt grundsätzlich gegen alle solche Mischehen –«

Hoch hob er den Arm, bewegte ihn warnend in der Luft und schlug sich mit der anderen Hand schallend vor die Brust.

»Jawohl,« fiel hier Pastor Knaak fortgerissen ein, erhob ebenfalls den Arm und bewegte den Zeigefinger dozierend in der Höhe. »Recht haben Sie. Keine Konzessionen, keine Halbheiten. Herr Voß, ich frage Sie hiermit zum letztenmal. Wird es Ihnen gelingen, Ihren künftigen Eidam zu sich herüberzuziehen, oder nicht? Wehe, durch wen Ärgernis in die Welt kommt. Und ärgert dich dein rechtes Auge, so reiß' es aus. Haben Sie auch bedacht, daß eines Tages der Lindwurm der Reue sein Haupt erheben kann und wie Sie dann vor den inneren Vorwürfen in die Knie brechen werden? Haben Sie das alles bedacht?«

»Wahrhaftig? Schämen Sie sich nicht, Herr Schmied Tibäul?« fiel hier Doktor Karfunkel ohne Besinnung aus seiner Rolle, »schämen Sie sich nicht, daß Sie sich auf eine solch ausgefallene Sache einlassen? Is es nich etwas Großes um den Glauben unserer Väter? Um unsere ganzen Einrichtungen? Ja, sogar um das Gedrückt- und Geknechtetwerden? Ich sage Ihnen, Jehova hat trotz allem nur an uns seine Freude. Und Sie wollen so leichtsinnig sein und Ihr echtes, Ihr altes, Ihr vornehmes Geburtsrecht um eine Mehlspeise aufgeben? Wehe, wie leid wird es Ihnen später tun.«

»Pardon, was reden Sie da eigentlich?« schnitt hier Pfarrer Friderici mit hochmütigem Achselzucken ab. »Wie können Sie sich, lieber Herr Rabbiner, herausnehmen, in unserer Gegenwart –«

»Allerdings, diese Tonart klingt tatsächlich sehr bemerkenswert,« fügte Pastor Knaak mit ironischem Lächeln bei.

Allein die Kugel war abgeschossen.

»Wieso herausnehmen? Wozu Tonart?« schrie Doktor Karfunkel, von seiner südlichen Glut vollkommen hingerissen und diesmal alle Klugheit vergessend. »Geht es hier nicht um einen von uns? Leben wir etwa zur Zeit des Herrn Torquemada in Spanien? Gott behüte, man mag nicht im Traum daran denken. Wie können sich die Herren, ich frage natürlich mit allem schuldigen Respekt, soweit vergessen, einen Andersgläubigen einfach umzupacken wie eine Ware in anderes Papier? Und dann Ihren Stempel aufzudrücken? Wahrhaftig, eine ganz neue Sache. Gibt es keine preußischen Gerichte mehr? Ich meine nur, Euer Hochwürden. Ich sage nur so, Herr Pastor.«

Dann aber geschah etwas, das keiner der drei geistlichen Feldherrn auch nur geahnt hätte.

Das Volk stand auf.

Mit einem plötzlichen Krach, daß die Wände der Windmühle erdröhnten, sprang unvermittelt der alte Riese Tibäul in die Höhe und schmetterte die Kaffeetasse, die er gefüllt gerade in der Hand hielt, dem Herrn Pfarrer direkt vor die Füße. »Kuck,« brüllte er, »Levin, das is jo en nobles Ding. Was? In solche Gesellschaft bün ich hier geraten? Bün ich nich der reichste Mann aus das ganze Dorf? Un nu will man sich hier um meinen erstgeborenen lieben Sohn herumstreiten? Voß, ich frag' Sie ganz einfach, wird nu aus der Sache was? Oder wird nix? Dann nehm' ich meinen Sohn ja tausendmal lieber wieder zurück.«

»Ausgezeichnet,« sagte Doktor Karfunkel.

Auf diese Herausforderung jedoch sprang der Müller wie ein Federball auf seinen Herzensbruder ein, fuchtelte mit den Händen und nahm eine drohende Stellung an. »Wie, was?« krähte er, »hörst du woll, Frau? En Mensch, der eigentlich eine ganz fremde, wilde Völkerschaft entstammt, der will sich noch hier aus meine Tochter, aus meine leibhaftige, von mir selbst geborene Tochter nich mal eine Ehre machen? I, das wär' jo en richtiges Vergnügen. Wie en Glück, daß mich die Augen noch zur rechten Zeit von die geistlichen Herrns geöffnet worden sünd. Aber nu is aus. Ganz aus is. Nu kocht euch Fliedertee. Ich will nich mehr. Ich zieh meine Tochter zurück. Meine Tochter Idsch.«

»Aber beruhigen Sie sich doch, lieber Freund,« versuchte der Pfarrer ruhevoll zurückzuhalten.

»Wo werden Sie sich auf so was einlassen?« warnte der Rabbiner zurückschaudernd, indem er den alten Schmied an einem Zipfel seines abgetragenen Gehrocks zu fassen versuchte.

Allein alles Zureden, jede Vermittlung kamen bereits zu spät. Der Schmied holte aus; es war, wie wenn eine Telegraphenstange sausend auf den winzigen Voß herunterstürze, und dann ...

»Um Gottes willen, was haben Sie hier verübt?« herrschte Pastor Knaak den Gewalttätigen an. Und als der Riese mit seinen blutunterlaufenen Augen verwundert zur Seite schielte, da erblickte er mit dumpfem Grauen, wie der alte Rabbiner zitternd auf jenem Stuhl hockte, auf den er ihn soeben aus Versehen mit aller Kraft niedergeschlagen. Aus einer Backenwunde floß reichliches Blut.

Mit gemessener Teilnahme beugte sich Hochwürden über den Verwundeten. »Ihnen fehlt doch hoffentlich nichts Ernstliches, mein verehrter Herr Doktor?« fragte er mit seiner schönen, klangvollen Stimme. Allein der Geschlagene zeigte sich aufrichtig verdrießlich. »Was soll mir fehlen?« wiederholte er mit Bitterkeit. »Sie können mir glauben, Hochwürden, wir haben nun einmal ein schwarzes Geschick. Sie mögen sich mit Ihren Herren Kollegen zanken, wann Sie wollen und zu welchen Zeiten der Weltgeschichte auch immer, die Prügel haben stets wir bekommen. Nun gut, ich beklage mich nicht, es ist unsere Bestimmung, aber ich sage Ihnen, meine Herren, sie ist sehr schmerzlich.«

* * *

Und wo befand sich das Brautpaar bei alledem?

Noch hatte sich die Uneinigkeit zwischen den beiden Familienhäuptern nicht völlig gehoben, gerade standen sich die Väter noch schimpfend und tobend gegenüber, da hatte der junge Schmied seine Braut gewaltsam mit sich fortgezogen.

Wohin?

Das wußte er nicht. Nur entfliehen jener Stelle, wo solch wüster Streit um zwei Liebende den geifervollen Schlund öffnen konnte, um zwei Liebende, die sich bisher nur freudvoll und seelenverloren in die Augen geschaut hatten. Nun schritten sie in dumpfem Schweigen dahin, heraus aus der einzigen hellen Dorfstraße, über blühende Felder, die verwundert über das Paar ihre goldgelben Häupter schüttelten, fort über sprossende Kartoffeläcker mit ihren bläulichen, im Winde wehenden Blüten bis weithin zu den Seewiesen, deren nasser, sumpfiger Boden im Sonnenschein qualmte und rauchte. Ganz nahe schon schaukelte sich die stille grüne See. Und seltsam, ging von ihr nicht ein Blinken und Winken aus?

Auch ein Winken.

Zuerst nahm es das Mädchen wahr. Darüber erschrak sie so heftig, daß es selbst der in sich hineinbrütende Schmied bemerken mußte. Unwillkürlich nahm er ihre Hand fester in die seine:

»Was hast du, mein Liebing?«

Da brachte sie es stockend und zögernd hervor. Ob er nicht auch dächte, wie sie eigentlich keinen Platz mehr auf der Welt besäßen, und ob es nicht besser wäre, wenn sie dort draußen – damit zeigte sie auf die weite, ruhende Fläche, die so glitzernd und funkelnd zu ihnen herüberleuchtete – ob es nicht besser wäre, wenn sie beide dort draußen, eng miteinander verschlungen – ach, er wisse schon –

Unvermittelt stockte sie, seufzte tief auf, und das Haupt sank ihr schwer auf die Brust.

»Ja, Liebing,« antwortete der Bräutigam fest, obwohl er den Blick von dem hellen Erdboden nicht mehr zu erheben wagte: »Liebing, wo du hingehst, da geh' ich auch mit. Ich verlaß' dich nu nich mehr. Aber ach, wie schad' –«

»Was, Levin?«

»Kuck, ich mein, wir sünd woll zu früh zueinander gekommen, oder auch zu spät. Was meinst du?«

Doch sie verstand ihn nicht.

Und dann liefen sie über das freie Feld, blind auf das Wasser zu, daß dem Manne die Brust keuchte, und die Röcke des Mädchens rauschten und flatterten.

»Wie schad',« dachte Levin wiederum bei dem lieblichen Geräusch. Aber als sie an dem abschüssigen Erlengebüsch vorübeirannten, da schien lütt Idsch eine Ermattung erfaßt zu haben. Wenigstens blieb sie mit stürzendem Atem stehen, um sich schwer und tief in seinen Arm zu lehnen: »So müd' bin ich,« stieß sie hervor, »so furchtbar müd'. Bloß noch einen lütten Moment ruh'n. Komm', wollen uns setzen.«

Da fand er gleichfalls, daß ihr Vorhaben solcher Eile nicht gerade bedürfe, ja daß es im Grunde nicht mehr sonderlich darauf ankäme, ob sie noch eine kleine Weile beieinander blieben, oder nicht. Und wie herbstlich-rot dunkelte nicht das kleine Erlengebüsch über dem ausgetrockneten Graben? Und wie keck und trotzig schmetterte nicht der kleine, bunte Stieglitz von seinem Weidenzweige herab?

»Komm',« gab der Bräutigam schmerzerfüllt nach, »setzen wir uns noch einmal hin.«

»Ja, Levin, zum letzten-, letztenmal.«

Schwer und kaum verständlich flüsterte sie ihren Abschiedsgruß an das Leben. Und so erschüttert fühlten sich beide davon, daß sie einander in die Arme sanken, um sich gegenseitig die Tränen fortzuküssen.

»Adschö, Levin.«

»Adschö auch, lütt Idsch.«

»Wie schade.«

»Ach ja, ganz jammerschade.«

Und dann küßten sie sich von neuem und blickten kopfschüttelnd auf die lachende See. Die See aber schwankte, bebte und schüttelte sich. Sie lachte vielleicht auch. Worüber? Nun, vielleicht nur über den unbedeutenden Umstand, weil auf der abgewandten Seite des Erlengebüsches schon seit Morgengrauen der alte Schäfer Sturm seinen Platz eingenommen hatte. Mit seinem blauen Strickstrumpf und seiner tiefgründigen, aber praktischen Philosophie, die ihm auch im Moment den guten Rat erteilt haben mochte, von den beiden Lebensmüden hinter sich auch nicht die geringste Notiz zu nehmen. So strickte er vielmehr gleichmütig weiter, warf ab und zu einen Blick auf seine schnuppernden Schafe und sann dann wieder ruhevoll zu den vereinzelten Wolken empor, die über ihm auf dem blauen himmlischen Blachfelde in seliger Ruhe weidend dahinzogen.

»Wau,« bellte der wachsame Karo.

Ganz in der Nähe aber, hinter dem Erlengebüsch, da schmiegte sich das Mädchen enger und heißer an ihren Erwählten und hauchte ihm schluchzend ins Ohr:

»Oh, du mein Liebster – oh, du mein Süßer – wie schade – wie schade.«

»Ja, du mein Süßing, du mein Liebing,« klang es zitternd zurück, »was büst du doch so weich und warm, zu schade, gar zu jammerschade.«

Der Schäfer strickte weiter.

Da rollte etwas. Über die nahe Chaussee fuhr ein Wagen. Der hielt an, und als der Schäfer aufblickte, erkannte er den alten Rabbiner Doktor Karfunkel, der, nachdem er mühsam von seinem Gefährt herabgeklettert war, mit unsicherer Haltung auf ihn zuschritt. Gegen die Wange hielt der Prediger sein weißes Taschentuch gedrückt.

»Herrje, Sie bluten doch nich?« rief Schäfer Sturm, indem er sich ehrerbietig erhob, denn er hatte manchen Hammel zu dem Kantor des Geistlichen in die Stadt treiben müssen und kannte ihn deshalb wohl.

»Nun ja,« erwiderte der Rabbiner, die Stirn verziehend, »was is? Es ist eine Schramme. Aber wenn ich nicht irre, so verfertigen Sie doch so ein ausgezeichnetes Heilpflaster, und da wollte ich nur gefragt haben, ob –«

»Gern,« unterbrach der Schäfer, das könnte der Herr Doktor gleich bekommen, denn er führe es stets bei sich.

»Sehr gut,« meinte der Prediger.

Er setzte sich zu dem Alten nieder, und während ihm nun die Wunde sorgsam gereinigt und verklebt wurde, da konnte sich Doktor Karfunkel doch nicht enthalten, mit angenommener Gleichgültigkeit und innerlich lodernder Glut von seinen Abenteuern in der Windmühle zu berichten.

Der Schäfer schluckte. Dann lachte er.

»Was lachen Sie?« verwies ihn der Rabbiner unmutig. »Was ist da zu lachen? Ich sage Ihnen, es ist eine Traurigkeit – – und überdies die Brautleute sollen auch fort sein.«

»Fort?« Der Schäfer bezwang sich: »Nehmen's nich übel,« sagte er gutmütig. »Denn ich bün nur ein geringer Mann gegen so gelehrte Herren Dokters. Aber kucken Sie eins, Herr Rabbiner,« forderte er unmittelbar darauf und wies mit ausgestreckter Hand nach seiner Herde, »würden Sie mich woll mal erklären, warum es da gerade der schwarze Bock is, den es so sehr zu dem weißen Mutterschaf ziehen tut?«

Jetzt warf Doktor Karfunkel seinem Nachbar einen unsicheren Blick zu, dann rieb er sich die Nase und wußte es schließlich so einzurichten, daß er sein Haupt wie zufällig abwenden konnte. Es war, als ob ihm das Gespräch unangenehm würde.

»Was hat dieser Zufall«, verurteilte er endlich, »mit der Ihnen mitgeteilten unpassenden Verlobung zu tun? Apropos, hören Sie nicht hinter uns ein merkwürdiges Geräusch?«

»I wo, nein, lassen Sie man,« wehrte der Schäfer hastig ab, »das is nichts. Aberst nu kucken Sie, wie komisch das is. Nämlich was der liebe Gott für uns dumme Menschenkinder ist, das stell' ich vor diese Herde vor. Und was Sie, und der Herr Pfarrer, und der Herr Pastor, und die Polizei für uns Staatsbürger bedeuten, das bedeutet mein Karo dort für die Schafe. Kusch, Karo, ruhig. Und nu sehen Sie, Herr Rabbiner, wie finden Sie das nu, daß weder ich, der ich doch der liebe Gott bün, noch mein Karo, obwohl er doch hier so eine Art Landratsstellung bekleidet, uns auch nicht im mindesten um diese Liebesgeschichte zwischen die beiden ungleichen Schafe bekümmern, die sich noch dazu ganz unverschämt am hellerlichten Tage abspielt? Und warum nich? Ja, kucken Sie, Herr Prediger, erstes freuen wir uns darüber, denn so 'ne natürliche Liebe, die bedeutet für uns in ihren segensreichen Folgen ümmer einen schönen Gewinst. Und zweitens wissen wir auch ganz genau, daß unser Dazwischentreten nichts nützen würd'. Denn das, was meine Schafe zu ihrer Wahl antreibt, das muß ihnen woll von einem noch Höheren, als ich bünn, befohlen worden sein. Sehen Sie, und da bünn ich lieber der gute ›Liebegott‹ und sitz' hier und freu' mir darüber und strick' meinen Strumpf und zerbrech' mir nich weiter den Kopf, warum es gerade en schwarzer Bock is, der sich mit das weiße Schaf so gut verträgt. Denn wozu? Die beiden wissen es ja selbst nich. Und da soll ich es rauskriegen? Ich, der ich nich mal ihre Sprache versteh'? – Ne«.

Der Rabbiner erhob sich schnell:

»Schon gut,« verabschiedete er sich, wobei er ein wenig überlegen und herablassend den Kopf wiegte. »Nun ja – das ist ein Schäferstandpunkt. Warum nicht? König Saul ist auch ein Schäfer gewesen. Aber gottlob, seitdem sind wir weit vorgeschritten in der Kultur. Und gegen solche rohen Natürlichkeiten schützen uns jetzt nicht allein das Gesetz, sondern auch unser eigenes hohes Sittlichkeitsbewußtsein. Nun, ich danke Ihnen, Herr Schäfer Sturm, ich werde mich gelegentlich erkenntlich zeigen.«

Damit fuhr er von dannen. Das Rollen des Wagens verhallte auf der weißen Straße. Warum sitzt aber jetzt der Schäfer und knastert so still in sich hinein?

Warum?

Vielleicht freut er sich aus der Ferne über den starken schwarzen Bock und das schmucke weiße Schaf. Oder lauscht der alte Mann etwa dem süßen Zwitschern des bunten Stieglitz, der so lebensfroh hüpft und lockt und lockt und jubelt?

Aber vielleicht handelt es sich um dies alles gar nicht. Am Ende horcht der Alte nur auf das seltsame Leben und Treiben, das hinter ihm aus dem Erlengebüsch hervordringt, ganz leise, ganz verloren, und das doch Leben bedeutet, Ewigkeitsdrang, seit den Tagen, da Gott-Vater lächelnd den Staub formte, und es wurden Menschen daraus.

»Ach, du mein Süßing.«

»Ach, du mein einziges goldiges Liebing.«

Und die Stricknadeln klapperten, und der blaue Strumpf zitterte und tanzte vor Luft, und das Kornfeld schlug Wellen vor Reife und satter Pracht.

Und siehe, da war die Ehe vollzogen, im Namen Gottes, der Erde und der ganz gewöhnlichen klaren Vernunft.

Aber die Seewiesen spendeten Opferrauch, und die Sonnenstrahlen tanzten einen Hochzeitsreigen, und der Wind fuhr über das Feld und brauste aus gewaltiger Brust ein befreiendes »Amen«.


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