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Der Künstler

Forschen und Lernen bedeutet nur sich erinnern.

Der jugendliche Mensch verehrt die Genies, weil sie in Wirklichkeit sein eigenes Wesen mehr als er selbst vertreten, mit einem Worte: mehr »er selbst« sind. Sie empfangen dieselbe Seelenkraft wie er, nur noch mehr. Die Natur erhöht ihre Schönheit in den Augen liebender Menschen, wenn sie annehmen, daß der Dichter die Naturpracht zugleich mit ihnen sieht. Er steht vereinsamt und getrennt von seinen Zeitgenossen mit seiner Wahrheit und Kunst; aber es bleibt ihm die tröstliche Gewißheit daß früher oder später alle Menschen sich zu ihm bekehren werden. Denn alle Menschen leben von der Wahrheit und verlangen in ihrer Seelennot nach Ausdruck. In der Liebe, in der Kunst, in der Habsucht, in der Politik, in der Arbeit und im Spiele suchen wir unser schmerzvolles Geheimnis auszusprechen. Der Mensch gehört nur halb sich selbst – die andere Hälfte ist Ausdruck.

 

O Poet! ein neuer Adel wird den Hainen und Hügeln, Hecken und Triften verliehen, und nicht mehr den alten Schlössern und Schwertklingen! Die Bedingungen sind hart, aber gerecht, und im Grunde die gleichen. Du sollst die Welt verlassen und nur die Muse noch kennen. Du sollst nicht länger die Zeitströmungen, Sitten und Gebräuche, Gnaden, Politik und Meinungen der Menschen kennen, sondern alles von der Muse empfangen. Denn die Zeit der Städte wird von der Welt durch Grabgeläute verkündet, doch in der Natur werden die Stunden des Alls nach den aufeinander folgenden Geschlechtern der Tiere und Pflanzen gezählt – an dem Wachstum von Freude an Freude! Gott will auch, daß du einem vielfältigen und zwiespältigen Leben entsagst und zufrieden bist, wenn andere für dich sprechen. Andere sollen deine Edelleute sein und Höflichkeit und Weltlichkeit für dich vertreten, andere auch sollen die großen Ruhmestaten verrichten: Du ruhe eng verborgen in Zwiesprache mit der Natur, und meide das Kapitol und die Börse. Die Welt ist voller Verzichtleistungen und Lehrzeiten, und diese ist deine: du mußt eine lange Zeit für einen Narren und Flegel gelten.

 

Der große Unterschied zwischen erhabenen und bloß literarischen Lehrern – zwischen Dichtern wie Herbert und Dichtern wie Pope, zwischen Philosophen wie Spinoza, Kant und Coleridge und Philosophen wie Lock, Paley, Mackintosh und Stewart, zwischen Weltmenschen, die für geschickte Redner gelten und einem glühenden Mystiker, der seherisch offenbaren muß, halb verrückt vor der Unendlichkeit seiner Gedanken – dieser Unterschied liegt darin, daß die eine Art von innen, aus eigener Erfahrung, die andere aber von außen, als bloße Zuschauer sprechen, oder gar auf das Zeugnis von Dritten gestützt. Es hat keinen Zweck, von außen in mich hinein zu predigen. Das kann ich selbst tun. Jesus spricht stets von innen heraus, und dies in einem über alle andern hinausgehenden Grade. Hierin liegt das Wunder. Alle Menschen harren und hoffen auf das Erscheinen eines solchen Lehrers. Wenn aber ein Mensch nicht hinter dem Schleier spricht, wo das Wort und der Sinn eins sind, so mag er dies demütig bekennen.

Dieselbe Allwissenheit fließt in den Verstand über, und dann nennen wir sie Genie. Vieles von der Weisheit der Welt ist nicht Weisheit, und die am meisten erleuchteten Geister sind zweifellos über literarischen Ruhm erhaben und – keine Schriftsteller geworden. Unter der Menge von Gelehrten und Verfassern empfinden wir kaum das Vorhandensein eines heiligenden Gedankens, bemerken eher Fertigkeit und Geschick als Begeisterung; sie haben ein kleines Licht, wissen aber nicht woher es kommt und nennen es ihr eigenes; ihr Talent ist eine gesteigerte Fähigkeit, eine übermäßig ausgebildete Teilbegabung, so daß ihre Stärke etwas Krankhaftes ist. In solchen Fällen machen die geistigen Gaben nicht den Eindruck des Tugendhaften, sondern fast des Lasterhaften, und wir fühlen, daß die Talente eines Menschen seiner Vervollkommnung in der Wahrheit hinderlich sind. Doch das Genie ist gotterfüllt. Es ist ein Aufsaugen des Allherzens.

 

Der große Dichter läßt uns unseren eigenen Reichtum fühlen, und dann denken wir weniger an seine Schöpfungen. Seine beste Einwirkung auf unseren Geist ist, daß wir alle seine Arbeit übersehen. Shakespeare trägt uns zu solchen Höhen geistiger Tätigkeit empor, daß er uns mit einer Fülle überschüttet, die ihn selbst in den Schatten stellt. Wir spüren dann, daß seine Werke, die wir als selbständige Dichtung gepriesen haben, keinen festeren Halt an der Wirklichkeit haben, als der Schatten eines Vorübergehenden am Wege. Die Eingebung, die in Hamlet und Lear zum Ausdruck gelangt, könnte täglich und immerfort aufs neue anders und ebensogut zum Ausdruck kommen. Warum also soll ich mir Hamlet und Lear merken und sie aufzeichnen, als ob wir nicht Anteil an derselben Seele hätten, von der sie sich lösen wie der Laut von den Lippen.

 

Unsere Stärke wächst aus unserer Schwäche. Die Entrüstung, welche sich mit verborgenen Kräften wappnet, erwacht nicht eher, als bis wir aufgestachelt, angespornt und heftig angegriffen werden. Ein großer Mann ist immer bereit, klein zu sein. Solange er auf dem Polster einer günstigen Lage ausruht, läuft er Gefahr, einzuschlafen. Wird er aber gestoßen und aufgestachelt und erleidet eine Niederlage, dann ist ihm Gelegenheit gegeben, etwas zu lernen und zu leisten; dann ist er auf seinen Witz, auf seine Mannheit angewiesen; er hat Erfahrungen gemacht, seine Unwissenheit erkannt, ist von der Torheit der Einbildung geheilt, hat Mäßigung und wirkliche Geschicklichkeit erlangt. Der kluge Mann tritt selbst auf die Seite seiner Angreifer. Es ist mehr zu seinem als zu ihrem Vorteile, wenn sie seine schwache Seite herausfinden. Die Wunde vernarbt und fällt von ihm ab wie eine tote Haut, und wenn sie frohlocken wollen, siehe da! so ist er ihnen doch unverwundbar entgangen. Tadel ist nützlicher als Lob. Ich hasse es, in einer Zeitung verteidigt zu werden. Solange alles das Gesagte gegen mich gerichtet ist, fühle ich eine gewisse Sicherheit des Erfolges. Aber sobald honigsüße Worte des Lobes für mich erklingen, fühle ich mich wie einer, welcher ungeschützt vor seinen Feinden daliegt. Im allgemeinen kann man sagen, daß sich jedes Übel, dem wir nicht unterliegen, als eine Wohltat erweist. Wie der Sandwich-Insulaner glaubt, daß die Stärke und Tüchtigkeit eines getöteten Feindes in ihn selbst übergeht, so gewinnen wir an Kraft bei jeder Versuchung, die wir überwinden können.

 

Der Held ist eine Seele von solchem Gleichgewicht, daß keine Verwirrung seinen Willen erschüttern und ablenken kann; unbekümmert, fast fröhlich geht er seinen Weg, ebenso gleichmütig bei schrecklicher Gefahr wie bei der trunkenen Raserei allgemeiner Ausschweifung. Es liegt etwas Unphilosophisches im Heldentum; etwas nicht Heiliges: es scheint gar nicht zu wissen, daß andere Seelen von derselben Beschaffenheit vorhanden sind; es hat Stolz, Hochmut, im Sinne von ›hohem Mut‹, denn es ist der Höhepunkt des Persönlichen. Dessenungeachtet müssen wir ihm tiefe Verehrung entgegenbringen. In großen Taten ist etwas enthalten, das uns verbietet, hinter sie zu blicken. Heldentum fühlt nur, es berechnet nicht. Es ist darum auch immer im Recht. Wenn auch eine andere Erziehung, ein anderer Glaube und erhöhte geistige Tätigkeit der bestimmten Handlung vielleicht eine verschiedene, ja eine entgegengesetzte Richtung gegeben hätte, so bleibt doch für den Helden seine Tat das Höchste. Sie steht über dem Richterspruch von Philosophen und Theologen. Sie ist das Geständnis des ungelehrten Menschen, daß er eine Kraft in sich entdeckt hat, die unbekümmert um Opfer, Gesundheit, Leben, Gefahr, Vorwürfe, Haß und Verfolgung weiß, daß ihr Wille höher und tüchtiger ist als alle wirklichen und möglichen Widersacher.

 

Es liegt in unserer Natur, an große Menschen zu glauben. Wenn die Spielgefährten unserer Jugend sich plötzlich als Helden, als Sprossen königlichen Stammes erwiesen – es würde uns nicht überraschen. Alle Völkersage beginnt mit Halbgöttern, bewegt sich in erhabenen dichtungverklärten Höhen; denn Helden müssen auf Höhen wandeln. In den Gautama-Sagen aßen die ersten Menschen Erde und fanden sie von köstlicher Süße.

 

Jeder Held langweilt uns auf die Dauer: Voltaire war wohl kein bösherziger Mensch und doch sagte er vom guten Jesus: »Bitte, laßt mich nie wieder dieses Menschen Namen hören!« Sie lobpreisen George Washingtons Tugenden. »Zum Geier mit George Washington!« – ist des armen Proletariers ganze Rede und Widerlegung. Aber das ist Selbstverteidigung, unerläßlich für des Menschen Natur. Je größer die Zentripetalkraft, desto stärker auch die Zentrifugalkraft. Wir erhalten das Gleichgewicht, indem wir jedem großen Mann sein Gegenstück entgegensetzen, und das Heil des Staates beruht auf solchem Schaukelsystem.

 

Shakespeare ist ein Hauptbeweis, daß es auf eine größere oder geringere Menge des Schaffens, auf ein paar Bilder mehr oder weniger überhaupt nicht ankommt. Er besaß die Kraft, ein Bild zu machen. Daguerre gelang es, eine Blume ihr Bild auf seine Jodplatte ätzen zu lassen; dann stellt er in aller Gemächlichkeit eine Million Ätzungen her. Gegenstände sind immer vorhanden; aber niemals gelang ihre Darstellung. Hier ist nun endlich vollkommene Wiedergabe; und nun mag die ganze Welt mit all ihren Gestalten zum Bilde sitzen. Einen Shakespeare zu machen, kann kein Rezept ausgestellt werden; bewiesen aber ist die Möglichkeit, die Welt in ein Gedicht zu übertragen.

 

Es ist nicht von Bedeutung, wie der Held dies oder das tut, sondern was er ist. was er ist, das wird in jeder Bewegung und Silbe zutage treten. In dieser Hinsicht sind Augenblick und Charakter ein und dasselbe. Eine schöne Fabel von dem Vorteil, den Charakter vor Talent voraus hat, ist die griechische Sage vom Wettstreit zwischen Zeus und Phöbus. Phöbus forderte die Götter heraus und rief: »Wer will weiter schießen als der fernhintreffende Apollo?« Zeus sagte: »Ich!« Ares schüttelt die Lose in seinem Helm, und Apollos Los sprang zuerst heraus. Apollo spannte seinen Bogen und schoß seinen Pfeil in den fernsten Westen. Da erhob sich Zeus, durchmaß mit einem einzigen Schritt die ganze Entfernung und sagte: »Wohin soll ich schießen? Es ist kein Raum mehr.« So wurde des Schützen Preis dem zuerkannt, der keinen Bogen spannte.

 

Nur positive Menschen haben Anspruch auf die Verehrung der Menschheit. Sie ersinnen und vollbringen alle große Taten. Welche Kraft war in dem Schädel eines Napoleon zusammengedrängt! Von den sechzigtausend Mann, aus denen bei Eylau sein Heer bestand, dürften wohl etwa dreißigtausend Diebe und Räuber gewesen sein. Und solche Kerle, die wir in friedlichen Gemeinden – wenn möglich – mit kettenbeschwerten Füßen und unter den Musketen der Schildwachen im Gefängnis halten, lenkte dieser Mann mit starker Hand, zwang sie zu ihrer Pflicht und gewann durch ihre Bajonette seine Siege.

 

Konzentration ist das Geheimnis der Stärke in Politik, Krieg, Geschäft – mit anderen Worten: in allen menschlichen Angelegenheiten. Zu den kostbarsten Anekdoten der Welt gehört Newtons Antwort auf die Frage, wie er seine Entdeckungen habe machen können: »Indem ich immerzu an sie dachte.« Oder wollt ihr ein Beispiel aus dem Gebiet der Politik? Hier habt ihr eins aus dem Plutarch: »In der ganzen Stadt war nur eine einzige Straße, in der man Perikles sah: nämlich die Straße, die zum Marktplatz und zum Rathaus führte. Er lehnte alle Einladungen zu Gastmählern fröhlicher Freunde und Genossen ab. während der ganzen Dauer seiner Amtsführung war er niemals bei einem Freunde zu Tisch.« Oder ein Beispiel aus dem Geschäftsleben? »Ich hoffe«, sagte ein Gewisser zu Rothschild, »Ihre Kinder sind nicht allzusehr auf Geld und Geschäft erpicht: ganz gewiß würden Sie das nicht wünschen.« – »Ganz gewiß wünsche ich das! Ich wünsche, sie ergeben sich dem Geschäft mit Geist und Seele, Herz und Leib – das ist das rechte Mittel, glücklich zu sein. Um ein großes Vermögen zu erwerben, ist viel Kühnheit und viel Vorsicht nötig, und wenn man's hat, braucht man noch zehnmal so viel Verstand, es sich zu erhalten. Wenn ich auf alle Pläne hören wollte die man mir vorträgt, würde ich mich sehr bald zugrunde richten. Halten sie sich an ein Geschäft, junger Mann! Halten Sie sich an Ihre Brauerei« – er hatte dies Gespräch mit dem jungen Buxton – »und Sie werden der größte Bierbrauer Londons werden. Seien Sie gleichzeitig Brauer, Bankier, Kaufmann und Fabrikant – und Sie werden bald als Bankrottierer in der Zeitung stehen.«

 

Die Kunst ist eine eifersüchtige Herrin, und wenn jemand Begabung für Malerei, Dichtung, Musik, Baukunst oder Philosophie besitzt, so gibt er einen schlechten Ehemann und einen üblen Versorger ab: er sollte zur rechten Zeit weise sein und nicht sich selber durch Pflichten fesseln, die seine Tage verbittern und ihn zu seinem Beruf untauglich machen.

 

Unsere Leistungsfähigkeit hängt so sehr von unserer Konzentrationsfähigkeit ab, daß die Natur für gewöhnlich, wenn sie einmal einen besonders ausgezeichneten Mann in die Welt schickt, ihn mit Kraft überladet, so daß sie sein Gleichmaß seiner Schaffenskraft aufopfert. Man hat gesagt, ein Mensch, der ein Buch schreibt, müsse mehr als dies eine schreiben; und wenn jemand einen Fehler hat, so wird dieser leicht seinen Eindruck auf allen seinen Leistungen hinterlassen. Wenn sie einen Polizeimenschen schafft, wie Fouché, so besteht er aus lauter Verdacht und wittert überall Verschwörungen, die er aufzudecken hat. »Die Luft,« sagte Fouché, »ist voll von Dolchen.« Der Arzt Sanctorius brachte sein ganzes Leben damit zu, seine Nahrung auf einer Wagschale zu wiegen. Lord Coke schätzte Chaucer hoch, weil die Erzählung des Domherrn Yeman eine Erläuterung abgibt zu dem Statut Heinrichs V., Kapitel 4, gegen Alchimie.

 

Wer hoch hinaus will, der muß ein behagliches Heim und volkstümliches Benehmen fürchten. Die Vorsehung umhegt zuweilen einen seltenen Charakter mit Derbheit und Unbeliebtheit, wie sie die Frucht mit einer schützenden Stachelschale umgibt, wenn irgend etwas Großes und Gutes dir beschieden ist, so wird es nicht auf den ersten oder den zweiten Ruf erscheinen und auch nicht in der Gestalt von modischer Eleganz oder in großstädtischen Salons. Popularität ist für Puppen. »Steil und rauh,« sagt Porphyrius, »ist der Pfad der Götter.« Schlage deinen Marcus Antonius auf! Nach der Meinung der Alten war der ein großer Mann, der äußeren Glanz verachtete und dem Stirnrunzeln des Glückes Trotz bot.

 

Wir schreiben nicht bloß über Dinge, in denen wir Erfahrung besitzen, sondern auch über solche, nach denen wir uns sehnen oder die wir bekämpfen. Wir schildern gerade die Eigenschaften, die wir nicht besitzen.

 

Während ich der Wahrheit zuhöre, bade ich mich in der Schönheit, und ich weiß nichts von den Grenzen meiner eigenen Natur. Tausendfältig sind die neuen Eingebungen, die ich noch außerdem sehe und höre. Die Wasser der großen Weltenunergründlichkeit gehen ein und aus durch meine Seele, wenn ich aber spreche, suche ich nach Begrenzungen und Abschlüssen, und ich selbst werde in ihnen geringer. Wenn Sokrates redet, sind Lysis und Menexenus nicht etwa voller Scham, daß sie nicht reden. Denn nun sind auch sie voller Güte. Er teilt sich ihnen in gleicher Weise mit und liebt sie, während er spricht. Der wahrhaftige und natürliche Mensch begreift ja dieselbe Wahrheit in sich und ist die Wahrheit, die ein beredter Mensch in Worte kleidet: vielmehr scheint es, als habe sie um so weniger Ruhepunkte in dem beredten Menschen, denn er vermag sie noch mit Worten zu begrenzen; mit um so größerer Liebe und Achtung wendet er sich dann wieder dem schönheittrunkenen Schweigen zu. Ein alter Weisheitsspruch sagt: wir wollen schweigen, siehe die Götter schweigen. Das Schweigen löst alles Persönliche auf und macht uns fähig, die Größe des Weltalls zu empfinden. Wir alle schreiten mit Hilfe einer Folge von Lehrmeistern vorwärts, zu seiner Zeit scheint jeder von ihnen den bei weitem größten Einfluß zu haben, aber dann räumt er einem neuen den Platz. Freimütig wollen wir sie alle annehmen. Jesus sagt: verlasse Vater, Mutter, Heimat und Vaterstadt und folge mir. Wer alles aufgibt, empfängt mehr. Das ist geistig ebenso wahr, wie moralisch. Jeder neue Geist, dem wir uns nähern, scheint von uns zu fordern, daß wir von allem Besitztum der Vergangenheit und der Gegenwart ablassen. Eine neue Lehre erscheint anfangs als eine Umkehr aller unserer Anschauungen, unseres Geschmacks, unserer ganzen Lebensart.

 

Hingabe an eine starke Natürlichkeit macht auch den Menschen unwiderstehlich und fügt ihm täglich noch Legionen derselben Art hinzu. Wir lieben den Knaben, der in einem Buch liest, über einer Zeichnung träumt oder vor einer Anlage: was aber sind diese Millionen Leser und Beschauer anderes als der Anfang zum Schriftsteller und zum Bildhauer? Ein wenig mehr noch von der Fähigkeit, die jetzt liest und schaut, so können sie die Feder oder den Meißel zur Hand nehmen, wer sich noch erinnert, wie unschuldig er seine Künstlerlaufbahn begann, begreift, daß die Natur sich auch mit allem, was gegen mich ist, verbinden kann. Der Mensch ist eine goldene Unmöglichkeit. Der Weg, der für den einzelnen bestimmt ist, hat nur Haaresbreite, und der Weise wird zum Narren durch ein Übermaß von Wissen.

 

Es gibt nur eine Vernunft.

Die Kraft des Wollens besitzen nur wenige, aber aufnahmefähig sind wir alle. In einer Gesellschaft braucht nur ein Weiser zu sein und sofort sind alle weise, so schnell wirkt die Übertragung.

 

Die einfachsten Worte – wir wissen nicht, was sie bedeuten, außer wenn wir lieben und streben.

 

Jede Tatsache hat einerseits eine sinnenfällige, andererseits eine moralische Bedeutung. Die Aufgabe des Denkens besteht darin, so oft die eine Seite sich zeigt, auch die andere wahrzunehmen, d. h.: wenn die obere Seite gegeben ist, auch die untere zu erkennen. Kein Ding ist so gering, daß es nicht diese beiden Oberflächen hätte, und wenn der Beobachter die obenliegende Seite des Dinges gesehen hat, so dreht er es um, nun auch die Kehrseite zu betrachten. Das ganze Leben ist ein solches Pfennigspiel: Kopf oder Schrift! Dieses Spieles werden wir niemals müde, denn immer wieder durchschauert uns ein gelindes Erstaunen, wenn die andere Seite sich zeigt und anders ist als die zuerst gesehene.

 

Das intellektuelle Wachstum ist streng analog in allen Einzelwesen. Es ist erweiterte Aufnahmefähigkeit. Begabte Menschen sind im großen ganzen wohlwollend und gerecht, weil ein fähiger Mann nichts anderes ist, als ein guter, freiwirkender, gefäßreicher Organismus, in den der Universalgeist ungehindert flutet, so daß sein gerechter Untergrund nicht nur breit, sondern unbegrenzt ist. Alle Menschen sind gerecht und gut in abstracto; was sie im besonderen Falle hindert, ist das Vordrängen der Neigung, der begrenzten und persönlichen Wahrheit zu folgen, statt der großen, allgemeinen Wahrheit Gehör zu geben. Das Merkmal unseres Inkarnationszustandes scheint eine Neigung zu sein, immer das Privatgesetz vorzuziehen, dem eigenen Triebe zu gehorchen und das Gesetz des Universalwesens unbeachtet zu lassen. Der Held ist groß durch das starke Hervortreten der Universalnatur in ihm; er braucht nur die Lippen zu öffnen und sie spricht aus ihm; er braucht nur zum Handeln getrieben zu werden und sie handelt durch ihn. Alle Menschen hören das Wort und bewundern die Tat im Herzen, denn sie ist ihre so gut wie die seine; aber in ihnen bringt die Krankheit ihrer individuellen Beschränktheit sie um die gleichen Resultate. Nichts ist im Grunde einfacher als Größe, denn einfach sein heißt groß sein. Der schöpferische Gedanke kommt am ehesten zum Durchbruch, wenn wir auf das zu geschäftige Treiben des alltäglichen Verstandes verzichten und dem spontanen Gefühlseindruck den allerweitesten Spielraum gewähren. Hieraus muß alles, was lebendig und genial ist, entstehen. Die Menschen mahlen und mahlen in der Mühle der Gemeinplätze, und dabei kommt nichts anderes heraus, als was hineingetan ward. Im selben Augenblick aber, wo sie die Tradition verlassen, um einer ursprünglichen Idee zu folgen, eilen auch schon Poesie, Witz, Hoffnung, Tugend, Kenntnisse und anschauliches Beispiel zur Hilfe. Beobachtet einmal das Phänomen einer Rede aus dem Stegreif. Ein Mann von gebildetem Geist, aber zurückhaltendem Wesen bewundert schweigend die Gewalt der freien, leidenschaftlichen, bilderreichen Worte des Redners, der zu einer Versammlung spricht. Welche Wirkung geht da von einer Kraft aus, so verschieden von der seinigen. Plötzlich steigt sein eigenes Gefühl empor, und das Wort drängt sich ihm auf die Zunge, so daß er sich erheben muß, und es aussprechen. Einmal angefangen, braucht er nur die Befangenheit der ungewohnten Situation zu überwinden, und er findet es ebenso einfach und natürlich, zu sprechen (in Gedankenfolgen, Gleichnissen und rhythmischem Satzbau zu sprechen) als ruhig zu bleiben. Denn es bedarf nicht des Handelns, sondern nur des Geschehenlassens. Er gibt nur dem freien Geiste willig nach, der durch ihn sich äußern will, und dann ist ihm die Bewegung ebenso natürlich und selbstverständlich, wie die Ruhe.

 

Der Genius sollte den ganzen Raum zwischen Gott (oder dem reinen Geist) und der uneingeweihten Menge ausfüllen und verbinden. Er muß aus der unendlichen Vernunft schöpfen auf der einen Seite, und in das Herz und das Fassungsvermögen der Menge eindringen auf der anderen. Aus dem einen muß er seine Kraft ziehen, in dem andern sein Ziel suchen. Der eine Pol heißt: Göttliche Vernunft, der andere: Gesunder Menschenverstand. Fehlt es ihm an einem dieser Endpunkte, so wird seine Philosophie entweder niedrig und utilitarisch erscheinen, oder zu abstrakt und unanwendbar für das Leben.

 

Wenn wir uns selbst mit den ursprünglichen Erscheinungen umgeben, erfinden wir von neuem den Grundriß und die Ornamentik der Architektur und erfahren, daß die Völker stets darauf bedacht sind, ihr Haus zu schmücken. Der dorische Tempel bewahrt die Gestalt des Waldhauses, in dem die Dorier wohnten. Ein chinesischer Götzentempel ist ganz deutlich ein Tatarenzelt. Die Tempel der Indier und Ägypter erzählen noch heute von den Erdhügeln und unterirdischen Wohnungen ihrer Vorfahren. Heeren findet in seinen Forschungen bei den Äthiopiern, daß die Landessitte, Wohnungen und Gräber in den lebendigen Felsen zu hauen, auf ganz natürliche Weise schon als wesentliche Eigenart der nubisch-ägyptischen Architektur jene Kolossalformen bestimmte, die sie schließlich annahm. Vor jenen Höhlen, die die Natur ihnen vorgebaut hatte, wurde das Auge daran gewöhnt, auf mächtigen Formen und Massen auszuruhen, und als dann Kunst der Natur zu Hilfe kam, konnte sie nicht bei kleinen Blättchen stehen bleiben, ohne sich selbst zu erniedrigen. Wie hätten sich Bildwerke von gewöhnlicher Größe oder kleine Säulenhallen und Seitenmauern neben jenen riesenhaften Räumen ausnehmen sollen, nur Kolosse konnten als Wächter vor ihnen sitzen oder sich an ihre Pfeiler lehnen.

 

Sonderbare, leidenschaftliche Geister treten von Zeit zu Zeit in unsere Mitte, uns neue Wahrheiten in der Natur zu enthüllen. Ich beobachte, daß immer wieder solche Gottesmänner durch die Menschheit gewandert sind; sie haben das Herz und die Seele des allergewöhnlichsten Zuhörers ihr Mittleramt spüren lassen. So haben allein augenscheinlich der Dreifuß, der Priester und die Priesterin ihren Einfluß als göttliche Eingebung zur allgemeinen Geltung gebracht.

Jesus setzt die blöde Menge in Staunen und überwältigt sie. Sie können ihn nicht in den Verlauf ihrer Geschichte einordnen und sein Leben nicht mit dem ihrigen aussöhnen. Wenn sie aber dahin kämen, ihre Eingebungen zu ehren und so nach einem heiligen Leben zu streben, erklärte die eigene Frömmigkeit jede seiner Taten, jedes seiner Worte.

 

Die Allnatur, zu groß für die anmutige Seele eines Sängers, sitzt auf seinem Rücken und schreibt mit seiner Hand: wenn er eine Laune oder eine Schauerromanze darstellt, wird es schließlich ein mächtiges Gleichnis. Deshalb sagte Plato, daß »Dichter große und weise Dinge aussprechen, die sie selbst nicht verstehen«. Aller Aberglaube des Mittelalters stellt sich als ein maskierter und frivoler Ausdruck dessen dar, was der Zeitgeist in bitterem Ernst sich zu erringen mühte. Die Magik und alles, was man ihr andichtet, ist eine tiefe Vorahnung von der Macht des Wissens. Die Schuhe »Eilfertigkeit«, das Schwert »Schmerzlichkeit«, die Macht über die Elemente und die geheimen Kräfte der Minerale, das Verstehen der Vogelsprache sind die ersten unklaren Anstrengungen der Seele auf das richtige Ziel hin. Die übernatürliche Tapferkeit des Helden, die Gabe ewiger Jugend und dergleichen entsprechen den Anstrengungen des menschlichen Geistes, »das Äußere der Dinge dem Wunsch der Seele untertan zu machen.«

 

Genau genommen sind nur die sittlichen und geistigen Fortschritte wirkliche Verbesserungen. Das Auftreten des Hebräers Moses, des Inders Buddha; in Griechenland: der Sieben Weisen, des scharfsinnigen und aufrechten Sokrates und des Stoikers Zeno; in Judäa: das Erscheinen Jesu; in der neuzeitlichen Christenheit das Wirken der Realisten Huß, Savonarola, Luther – dies alles sind fortwirkende Ereignisse, die ganze Menschengeschlechter zu neuer Überzeugung mit sich fortreißen und das Niveau des Lebens erhöhen. Gegenüber solchen Triebkräften ist es frivol, wenn man viel Aufhebens macht von der Erfindung der Buchdruckerkunst oder des Schießpulvers, der Dampfkraft oder des Leuchtgases, der Zündhütchen oder Gummischuhe. Das alles ist Tand – Scherzprodukte jener Sicherheit, Freiheit und Heiterkeit, die eine gesunde Sittlichkeit in der Gesellschaft erzeugt. Diese Künste fügen unserem häuslichen und öffentlichen Leben eine gewisse Behaglichkeit und Bequemlichkeit hinzu, aber eine reinere Sittlichkeit, die die Flamme des Genius entzündet, die die Zivilisation zivilisiert, die läßt alles, was wir sonst verehrten, in nüchterne Alltäglichkeit zurücktreten: wie die Flamme des Öllämpchens einen Schatten wirft, wenn sie von elektrischem Licht bestrahlt wird. Nichtsdestoweniger werden die allgemein verständlichen Maßstäbe für Fortschritt stets Künste und Gesetze sein.

 

Es gibt nur eine Vernunft. Der Geist, der die Welt schuf, ist nicht ein Geist, sondern der Geist. Jeder Mensch ist ein Weg, der zu dem Einen führt, und zu allen Teilen des Einen. Und jedes Kunstwerk ist eine mehr oder weniger reine Offenbarung des Einen. Daher gelangen wir zu dem Schluß – den ich als eine Bestätigung der ganzen Ansicht darbiete – daß das Entzücken, welches ein Kunstwerk gewährt, daraus entspringt, daß wir darin den Geist, der die Natur bildete, wieder in tätigem Schaffen gewahren.

Das Kunstwerk unterscheidet sich darin von den Werken der Natur, daß diese organisch zeugungsfähig sind. Das ist das Kunstwerk nicht; aber geistig ist es fruchtbar durch seine mächtige Wirkung auf die Intellekte der Menschen.

Hieraus folgt, daß das Studium wundervoller Kunstwerke unsere Empfindungsfähigkeit für die Schönheit der Natur schärft; daß allen Wundern der Natur wie der Kunst eine gewisse Analogie eigen ist, daß die Betrachtung eines Werkes großer Kunst uns in eine Stimmung versetzt, die wir religiös nennen können. Sie steht auf gleicher Höhe mit allen erhabenen Gefühlen.

Dem absoluten Geiste entstammend, dessen Natur Güte so eigen ist wie Wahrheit, stehen die großen Werke immer auch mit der sittlichen Natur in Einklang, wie Erde und Meer besser zur Tugend stimmen als zum Laster, so auch die Meisterwerke der Kunst. Die Galerien antiker Bildwerke in Neapel und Rom wirken durch nichts tiefer auf den Geist als durch den Gegensatz der Reinheit und Strenge dieser schönen alten Köpfe zu der Frivolität und der Plumpheit des Pöbels, der sie ausstellt, und des Pöbels, der sie angafft. Auf ihren Gesichtern liegt der Ausdruck des Neugeborenen – es ist das Antlitz des Menschen in der Morgenstunde der Welt. Auf diesen erhabenen Zügen ist kein Makel von Trägheit, Üppigkeit oder Gemeinheit, und sie überraschen uns mit einer sittlichen Mahnung, indem sie zu uns nichts von dem sagen, was um uns ist, sondern uns an die duftigen Gedanken und die reinsten Vorsätze der Jugend erinnern.

Hierin liegt die Erklärung der Übereinstimmungen, die wir in allen Künsten finden. Sie sind das Wiedererscheinen eines Geistes, der in mancherlei Stoffen zu mancherlei zeitlichen Zwecken schafft. Rafael malt Weisheit, Händel singt sie, Phidias meißelt sie, Shakespeare schreibt sie, Wren baut sie, Kolumbus segelt sie, Luther predigt sie; sie ist in Washingtons Waffentaten, in Watts mechanischen Erfindungen. Man hat Malerei ›stumme Poesie‹ genannt und Poesie ›redende Malerei‹. Die Gesetze jeder Kunst lassen sich auf jede andere Kunst anwenden.

 

Wie die Menschen alle irgend eine Beziehung zu den letzten Quellen der Wahrheit haben, so spukt in ihrem Kopf auf irgend eine Weise die Kunstfertigkeit sich mitzuteilen, aber nur bei dem Künstler reicht es auch noch hinunter bis in die Hand. Wir kennen das Gesetz noch nicht, das einen Unterschied in Einsicht auf diese Fertigkeit zwischen zwei Menschen und zwischen zwei Lebensphasen desselben Menschen macht. In gewöhnlichen Stunden stehen uns dieselben Ereignisse zu Gebote wie in den bedeutenden, denen der Verzückung; aber sie halten nicht stille, daß wir sie ablesen könnten; sind nicht aus ihrer Umgebung herausgeschält, sondern atmen gleichsam in einem lebendigen Gewebe. Der Gedanke eines genialen Menschen ist naiv, aber die Fähigkeit zu malen oder zu erzählen erfordert eine Willenskraft, eine Art Übersicht über die naiven Bewegungen, und ohne sie ist keine Produktion möglich. Hier wendet sich die ganze Kraft der Natur der Gedankensprache zu, und zwar mit Hilfe der Urteilskraft und in unermüdlicher Übung der besten Auswahl. Aber trotzdem scheint die Gleichnissprache der Kunst wieder naiv zu sein. Sie wird nicht von den Erfahrungen allein abgelesen, ja nicht einmal in der Hauptsache, sondern aus einer reicheren Quelle geschöpft. Nicht durch bewußte Nachahmung einzelner Ereignislinien kommen die bedeutenden genialischen Leistungen des Malers zustande, sondern dadurch, daß er sich zu der Quelle des Lebens in seiner eigenen Seele begibt. Der wichtigste Mentor der Zeichenkunst ist das ursprüngliche menschliche Empfinden.

 

Zum Genie gehören stets zwei Begabungen, das Begreifen und die Ausdrucksfähigkeit. Die erstere ist eine innere Erleuchtung und kommt daher immer von neuem einem Wunder gleich; weder die Fülle des Erlebens noch das nachhaltigste Studieren kann sie uns günstig stimmen, den glücklichen Frager aber läßt sie in der starren Verzückung des Schauenden zurück. Es ist der Einzug der Wahrheit in die Welt, zunächst in der Gestalt eines Gedankens, tritt sie als Wirklichkeit ein in das lebendige Universum, ein Kind der alten ewigen Allseele, ein Teil jener einzigartigen und nie zu überspannenden Größe. Eine Zeitlang scheint sie Erbe alles dessen zu sein, was bis dahin lebendig war und allem Kommenden ein Gesetz. Jeder Gedanke der Menschheit hat teil an der neuen Wahrheit und sie macht ihren Einfluß überall geltend, wo sich die Gesellschaft neue Gesetzestafeln gibt. Aber erst ein Mittler oder die Kunst, die sie den Menschen übermitteln, können sie nutzbar machen. Wollen wir sie berichten, muß sie zum Bilde werden oder sonst irgend etwas mit den Sinnen Greifbares. Wir sollten die Sprache der Ereignisse lernen. Die sonderbarste Eingebung stirbt mit dem Menschen, wenn er sie nicht für die Sinne aufzuzeichnen vermag. Der Lichtstrahl geht unsichtbar und ungehindert durch den Raum, wir können ihn nur erkennen, wenn er auf einen Gegenstand fällt. Und geistige Lebenskraft wird erst dann zu einem Gedanken, wenn wir sie auf irgend etwas außer uns richten. Die Beziehung zwischen diesem außer dir und dir selbst macht dich und deinen Wert erst mir sichtbar.

 

Unser Leben ist so sehr mit Vorbereiten, so sehr von Routine und mit so vielem Rückwärtsschauen ausgefüllt, daß sich die Lebenskraft im Genius jedes einzelnen mit wenigen Stunden begnügen muß. Die Literaturgeschichte, – Tiraboschi, Warton und Schlegel bestätigen es allenthalben – nährt sich von sehr wenig Gedanken und sehr wenig originellen Erzählungen, – das übrige sind ihre Varianten. Und in der großen menschlichen Gesellschaft, die sich weithin rings ausdehnt, würde eine kritische Untersuchung sehr wenig ursprüngliche Handlungen finden. Zumeist ist es Gewohnheit oder Massenurteil, sind es ganz wenige Anschauungen und die überdies mit ihren Vertretern organisch verwachsen; sie beunruhigen die allgemeine Genügsamkeit nicht.

 

Natur ist gut, aber Intellekt ist besser.

Plato ist die Philosophie und die Philosophie ist Plato – der Ruhm und zugleich die Beschämung des Menschengeschlechts, denn kein Sachse, kein Römer hat vermocht, auch nur eine einzige Idee seinen Kategorien hinzuzufügen. Er hatte nicht Weib noch Kind – aber die Denker aller Kulturvölker sind seine Nachkommen und tragen die Farbe seines Geistes. Wie viele Große sendet Mutter Natur unablässig aus nächtigem Dunkel empor und sagt ihnen: »seid sein – seid Platoniker!« Die Alexandriner – ein glänzendes Sternbild genialer Geister; die Männer der Elisabethischen Zeit – nicht weniger groß; Sir Thomas More, Henry More, John Hales, John Smith, Lord Bacon, Jeremy Taylor, Ralph Cudworth, Sydenham, Thomas Taylor, ferner Marsilius Ficinus und Pico von Mirandola. Calvins Lehre ist bereits im Phädon enthalten; ja, das ganze Christentum liegt darin. Der Mohammedanismus entnimmt – in seinem Handbuch der Moral, dem Ukhlak-y-Jalaly – aus ihm all seine Philosophie. Der Mystizismus findet im Plato alle seine Lehrsätze. Bürger einer griechischen Stadt, hat er doch keine Heimatstadt und kein Heimatsland. Ein Engländer liest ihn und ruft: »wie englisch!« ein Deutscher: »wie teutonisch!« ein Italiener: »wie römisch und wie griechisch!« wie man von Helena von Argos sagt, sie sei so in jedem Betracht schön gewesen, daß jeder, der sie sah, sich von ihr angezogen fühlte, so erscheint Plato einem Leser in Neu-England als ein amerikanischer Genius. Sein großes Menschentum überschreitet alle trennenden Schranken.

 

Platos Geist läßt sich nicht in einen chinesischen Katalog fassen, er läßt sich nur durch einen ursprünglichen Geist in der Betätigung seiner ursprünglichen Kraft erkennen. In ihm trifft das freieste Sichgehenlassen zusammen mit der Genauigkeit eines Geometers. Je kühner seine Phantasie schweift, desto kräftiger erpackt er die Tatsachen; so haben die Vögel, die am höchsten fliegen, die stärksten Flügelknochen. Sein patrizischer Schliff, durch und durch elegant, mit dem Zusatz einer Ironie, die so scharf ist, daß ihr Stich lähmt, dies alles vereinigt sich mit der kräftigsten Gesundheit und Stärke. Der alte Satz hat recht: »Wenn Zeus auf die Erde herabstiege, er würde sprechen wie Plato.«

Mit diesen Manieren eines großen Herrn verbindet sich in allen seinen Werken, und in einigen derselben geradezu als Selbstzweck, ein gewisser Ernst, der sich in der »Republik« und im »Phädon« zu Frömmigkeit erhebt. Man hat ihn beschuldigt, zur Zeit als Sokrates starb Krankheit geheuchelt zu haben. Aber die Anekdoten, die aus jenen Tagen bis auf uns gekommen sind, bezeugen, wie männlich er vor dem Volk für seinen Meister eintrat, denn es ist uns ja das wilde Geschrei überliefert, womit die Volksversammlung Plato antwortete. Auch spricht aus der in mancher seiner Schriften von ihm bekundeten Verabscheuung der Volksherrschaft eine persönliche Erbitterung. Er besitzt Rechtschaffenheit, natürliche Ehrfurcht vor Gerechtigkeit und Ehre, und eine Menschlichkeit, die ihn gegen die abergläubischen Vorstellungen des Volkes empfindlich machen. Außerdem glaubt er, daß die Gabe der Dichtung, der Weissagung und überhaupt jede hohe Geisteskraft von einer Weisheit herstammen, deren der Mensch nicht Meister ist, daß die Götter niemals philosophieren, sondern daß eine Art himmlischer Verzückung diese Wunder vollbringt. Auf solchen Flügelrossen durchschweift er in Dämmerung gehüllte Gegenden, besucht Welten, zu denen Fleisch und Bein keinen Zutritt hat; er sah die Seelen in ihren Qualen, er hörte das Urteil des Richters, er sieht die strafende Seelenwanderung, die Schicksalsgöttinnen mit Spinnrocken und Schere und er hört das betäubende Summen ihrer Spindel.

Aber niemals ließ ihn seine Besonnenheit im Stich. Man möchte meinen, er habe die Inschrift auf dem Tor von Busyrane gelesen: »Sei kühn!« Und auf dem zweiten Tor: »Sei kühn, sei kühn, und immerdar sei kühn!« Vor dem dritten Tor aber habe er bedächtig inne gehalten, über welchem die Worte geschrieben standen: »Sei nicht zu kühn!« Seine Kraft ist gleich dem Bewegungstrieb eines fallenden Planeten, seine Selbstsicherheit aber gleich dessen Rücklauf in einer richtigen und vollkommenen Kurve – so ausgezeichnet ist seine hellenische Liebe zur Beschränkung, seine Gewandtheit im Definieren. Beim Nachschlagen in der Logarithmentafel geht man nicht sicherer, als wenn man Plato auf seinen Gedankenflügeln begleitet. Nichts kann kälter sein als sein Haupt, wenn die Blitze seiner Phantasie am Himmel aufzucken. Er ist mit seinen Gedanken fertig gewesen, ehe er sie dem Leser vorlegt und er überrascht durch die Fülle unvermuteter meisterhafter literarischer Wendungen. Sein reiches Arsenal liefert ihm in jedem Augenblick gerade die Waffe, die er braucht. Der Reiche trägt nicht mehr Kleider, spannt nicht mehr Pferde vor, sitzt in nicht mehr Zimmern als der Arme, aber er hat gerade das Kleid, das Gespann oder das Instrument, das dem Bedürfnis der Stunde entspricht; so braucht sich der reiche Plato niemals einzuschränken, sondern hat stets das rechte Wort zur rechten Zeit. Es gibt tatsächlich in der Rüstkammer des Geistes keine Waffe, die er nicht besitzt und zu führen weiß: er verfügt über alle Mittel der Epik, der Analysis, des hohen Schwunges, der Intuition, der Musik, der Satire und Ironie, bis herab zu der landläufigen Ausdrucksweise und den Phrasen der Höflichkeit. In seinen erläuternden Bildern ist er Dichter, seine Scherze sind erläuternde Bilder. In Sokrates' Bekenntnis, er übe in seiner Philosophie eine Art Hebammenkunst, liegt eine beachtenswerte Wahrheit, und wenn Plato im »Gorgias« für die Rhetorik die Vergleiche »Kochkunst« und »Schmeichelkunst« findet, so leistet er damit noch uns einen beträchtlichen Dienst. Kein Redner kann es an Wirksamkeit mit dem aufnehmen, der gute Spitznamen zu geben versteht.

Und dann seine weise Mäßigung, seine Kunst, mit einer halben Andeutung etwas auszudrücken, den Donner seiner Reden mitten im tobenden Rollen plötzlich schweigen zu lassen! Gutmütig hat er dem Höfling und dem Bürger alles an die Hand gegeben, was sich gegen die Schulen sagen läßt: »Denn Philosophie ist eine schöne Sache, wenn man sie mit Maßen betreibt; aber wenn einer sich mehr mit ihr abgibt, als sich gehört, so verdirbt sie den Mann.« Er konnte wohl edelmütig sein – er, der wie eine Sonne im Mittelpunkt des Denkens sich befand, ein unbegrenztes Gesichtsfeld und einen wolkenlosen Glauben hatte. Und wie seine Beobachtungsgabe war auch seine Ausdrucksweise; er spielt mit dem Zweifel und dreht und wendet ihn nach allen Seiten; er ergeht sich in bunten Bildern und Haarspaltereien, und unversehens, so ganz nebenbei, kommt ein Satz, der Land und Meer in Bewegung setzt. Sein wundervoller Ernst kommt nicht nur ab und zu, in dem scharfen Ja und Nein seines Dialogs, zum Vorschein, sondern bricht in ganzen Lichtbündeln hervor. »So bin ich denn, o Kallikles, von diesen Ausführungen überzeugt und erwäge nunmehr, wie ich mit einer gesunden Seele vor den Richter treten kann. Die Ehren, auf die die meisten Menschen Wert legen, achte ich für nichts, ich sehe nur auf die Wahrheit und werde mich bemühen, so tugendhaft zu leben und, wenn mein letztes Stündlein kommt, zu sterben, wie ich kann. Und ich erhebe meine Stimme, so laut ich kann, und fordere alle anderen Menschen auf, mir's nachzutun. Und auch dich lade ich zu diesem Wettstreit ein und du magst mir glauben: kein anderer Wettstreit kommt diesem gleich!«

 

In Plato trat ein vollkommener begabter Mann auf, der an die Betrachtung der Natur mit der ganzen Stufenleiter der Sinne, mit dem Verstand und mit der Vernunft herantrat. Diese Ausdehnungen oder Erweiterungen bestehen darin, daß das geistige Sehvermögen über den Horizont hinausreicht, der unser körperliches Sehvermögen begrenzt, und durch dieses zweite Gesicht die durch unabänderliche Gesetze bestimmten langen Linien entdeckt, die sich nach allen Richtungen erstrecken. Überall steht er auf einem Pfade, der kein Ende nimmt, sondern ohne Unterbrechung rund um das Weltall läuft. So wird jedes Wort ein Exponent der Natur. In allem, worauf sein Blick fällt, enthüllt sich eine zweite Bedeutung, enthüllen sich darüber hinaus noch mehr Bedeutungen. So entdeckt er, daß jedes Entstehen das Vorhandensein eines Gegensatzes bedingt: Tod entsteht aus Leben, Leben aus Tod; er kennt das Naturgesetz, daß Zersetzung Wiederersetzung ist, wonach also Verwesung und Cholera nur Anzeichen neuer Schöpfung sind. Er erkennt das Kleine im Großen und das Große im Kleinen; er ergründet im Bürger das Wesen des Staats, und im Staat das Wesen des Bürgers und bringt uns auf den Gedanken, ob nicht sein Buch vom Staate überhaupt nur eine Allegorie auf die Erziehung der einzelnen Menschenseele sei. Wie schön sind seine Definitionen der Ideen, der Zeit, der Form, der Gestalt, der Linien; wie schön auch die nur hypothetisch gegebenen Definitionen, z. B. die der Tugend, des Mutes, der Gerechtigkeit, der Enthaltsamkeit. Er liebt die Gleichnisse, und wie schön sind seine Gleichnisse: die Höhle des Trophonius; der Ring des Gyges; der Wagenlenker und die beiden Pferde; das goldene, silberne, eherne und eiserne Temperament; Theuth und Thamus; die Visionen des Hades und der Schicksalsgöttinnen – Fabeln, die sich dem Gedächtnis der Menschheit eingeprägt haben wie die Zeichen des Tierkreises. Dann seine Lehre von der Anpassung, seine Lehre von der Erinnerung; seine klare Erkenntnis des Gesetzes vom Ausgleich oder der Gegenwirkung, wodurch im ganzen Weltall augenblickliche Gerechtigkeit gesichert wird – ein Gesetz, das sich überall betätigt, besonders aber in der Lehre: was von Gott zu uns kommt, kehrt von uns zu Gott zurück! und in Sokrates' Glauben, daß die irdischen Gesetze Schwestern der himmlischen seien.

Noch schlagendere Beweise sind seine Schlußfolgerungen auf dem Gebiete der Ethik. Nach Plato sind Wissenschaft und Tugend ein und dasselbe: denn das Laster kann niemals sich selbst und zugleich die Tugend erkennen. die Tugend aber erkennt sowohl sich selbst wie das Laster. Das Auge erkannte, daß die Gerechtigkeit das Beste sei, solange sie Nutzen brächte; Plato aber stellt den Satz auf, daß sie immerdar auch das Nützlichste ist; der Vorteil sei ein innerlicher und sei vorhanden, auch wenn der Gerechte seine Gerechtigkeit vor Menschen und Göttern verberge; es sei besser, unrecht zu leiden als unrecht zu tun; der Sünder solle selber sich nach Bestrafung sehnen; die Lüge sei schädlicher als Mord; Unwissenheit, d. h. unwillkürliche Lüge, sei verhängnisvoller als unwillkürlicher Totschlag; die Seele lasse sich nur widerwillig richtige Vorstellungen vorenthalten; kein Mensch sündige freiwillig; die Natur wirke durch den Geist auf den Körper; ein gesunder Körper könne zwar nicht eine ungesunde Seele heilen, wohl habe aber eine tüchtige Seele die Kraft, den Körper so gut zu machen wie möglich. Die Klugen haben ein Recht über die Unwissenden, nämlich das Recht, sie zu belehren. Die richtige Strafe für den Spieler, der sich um die Melodie nicht kümmere, bestehe darin, daß man ihn lehre, die Melodie einzuhalten; für den Guten, der sich weigere, die Regierung zu führen, sei es die angemessene Buße, von einem Schlechteren regiert zu werden; seine Trabanten sollen nicht Gold und Silber erhalten, sondern darüber belehrt werden, daß sie in ihren Seelen Gold und Silber haben, und daß um dieses innerlichen Schatzes willen ein Jeder bereit sein wird, ihnen zu geben, was sie brauchen.

Dieses zweite Gesicht erklärt auch, warum er der Geometrie solche Wichtigkeit beilegt. Er erkannte, daß die gleiche gesetzmäßige Genauigkeit wie auf der Erdkugel auch im Übersinnlichen vorhanden sein müsse; daß dort eine himmlische Geometrie walten müsse, die in logischer Weise unseren Linien und Winkeln entspräche; daß die Welt ihrem Wesen nach durchaus mathematisch sei; Sauerstoff, Stickstoff, Kalk seien in unverrückbaren Mengeverhältnissen vorhanden; derselbe Satz müsse auch auf Wasser, auf Schiefer, auf Magnesia zutreffen, und so gelte auch für die moralischen Elemente ein konstantes Verhältnis.

 

Sokrates und Plato sind der Doppelstern, der auch mit dem schärfsten Fernrohr sich nicht in seinen beiden Einzelheiten erkennen läßt. Auch Sokrates wieder ist in den Äußerungen seines genialen Geistes das beste Beispiel für die Synthese, worauf Platos außerordentliche Größe beruht. Sokrates ist ein Mann von niedriger aber recht ehrenwerter Herkunft; sein Lebensgang ist von der allergewöhnlichsten Art, persönlich ist er von einer so auffälligen Hausbackenheit, daß andere Leute gern ihre Witze darüber machen, worüber man sich um so weniger wundern kann, als seine plumpe Gutmütigkeit und seine eigene behagliche Vorliebe für einen derben Spaß – auf den er niemals die Antwort schuldig blieb – die Lachlust geradezu herausforderten. Die Schauspieler karikierten ihn auf der Bühne; die Töpfer bildeten sein häßliches Gesicht auf ihren irdenen Krügen ab. Er war ein kaltblütiger Gesell, der nicht nur Humor, sondern obendrein eine unerschütterliche Selbstbeherrschung besaß und seine Leute, hoch oder niedrig, ganz genau kannte; seine Gesprächspartner waren daher ihrer Niederlage in der Debatte von vornherein sicher – und am Debattieren fand er ein ganz unbändiges Vergnügen. Die jungen Leute sind geradezu vernarrt in ihn und laden ihn zu ihren Kneipereien ein. Er geht hin, um zu debattieren – aber er kann auch zechen! Er ist der trunkfesteste Mann in ganz Athen, trinkt die ganze Gesellschaft unter den Tisch. Dann geht er weg, wie wenn gar nichts passiert wäre, und fängt mit irgend einem Anderen, Nüchternen, neue Gespräche an. Mit einem Wort, er war, was der Volksmund »'nen ollen Tüchtigen« nennt.

In seinen Neigungen war er ein echter Großstädter; er liebte Athen über alle Maßen, konnte keine Bäume leiden, ging freiwillig niemals aus der Stadt heraus, kannte alle alten Originale, amüsierte sich über Dröhnbartel und langweilige Philister, und war im Grunde seines Herzens überzeugt, in Athen sei alles ein bißchen besser als anderwärts. In Kleidung und Sprache war er einfach wie ein Quäker, gebrauchte gern vulgäre Ausdrücke, sprach von Hähnchen und Schnepfen, von Suppentöpfen und Sykomorenlöffeln, von Reitknechten und Hufschmieden und noch anderen ehrenwerten Leuten, die ganz unnennbare Gewerbe betreiben. Das machte ihm besonderen Spaß, wenn er mit überzimperlichen Leuten sprach. In seiner Lebensweisheit erinnert er an Franklin. So bewies er mal einem, der die Fußwanderung nach Olympia als zu weit scheute, sie sei nicht weiter als sein tagtägliches Herumlaufen in der Stadt, wenn er alles zusammenrechne.

Er war ein richtiger guter alter Onkel, mit seinen großen Ohren, mit seinem unaufhaltsamen Redefluß. Aber dabei erzählte man sich, im böotischen Feldzug habe er bei einer Gelegenheit oder gar bei mehreren eine große Entschlossenheit an den Tag gelegt und dadurch den Rückzug des Heeres gesichert; und in der Ratsversammlung, in die er eines Tages zufällig hineingeraten sei, habe er unter dem Deckmantel der Narrheit voller Mut seine Stimme gegen die beim Volk beliebte Meinung erhoben, was ihm beinahe sehr schlecht bekommen wäre. Er war sehr arm; aber er ist ja auch abgehärtet wie ein Soldat und kann von ein paar Oliven leben; seine gewöhnliche Kost ist buchstäblich Wasser und Brot; nur wenn er von seinen Freunden eingeladen ist, lebt er besser. Seine Ausgaben für den Lebensunterhalt sind unglaublich klein; kein anderer könnte so leben, wie er es tut. Er trug kein Unterkleid; sein Oberkleid war Sommers und Winters dasselbe, auch ging er barfuß. Um sich sein Lieblingsvergnügen zu verschaffen, nämlich mit den elegantesten und feinstgebildeten jungen Leuten debattieren zu können, soll er ab und zu in seine Werkstatt gegangen sein und schlecht und recht ein paar Statuen gemeißelt haben, gangbare Marktware. Dies mag wahr sein oder nicht, soviel ist gewiß, daß schließlich das Debattieren seine einzige und höchste Lust geworden war. Unter dem heuchlerischen Vorwand, er wisse gar nichts, macht er sich an alle Schönredner und Schöngeister der Stadt heran und setzt ihnen zu, bis sie nicht mehr ein noch aus wissen, Einheimische sowohl wie Fremde aus Kleinasien und von den Inseln. Niemand kann sich weigern, mit ihm sich zu unterhalten; er ist ja so eine ehrliche Haut, so aufrichtig wißbegierig. Er läßt sich ja so gern berichtigen, wenn er nicht die Wahrheit gesagt hat, und er berichtigt ja so gern andere, die etwas Falsches vorgebracht haben; und das eine wie das andere macht ihm gleich viel Vergnügen; denn er ist der Meinung, Schlimmeres könne dem Menschen nicht passieren, als über Recht und Unrecht falsche Vorstellungen zu hegen. Ein unbarmherziger Debattierer, der nichts wußte, aber von einer siegreichen Intelligenz, die bis dahin kein Mensch auch nur annähernd erreicht hatte, von einem unerschütterlichen Gleichmut, von einer fürchterlichen, anscheinend gemütlichen und spaßhaften Logik, so sorglos und unwissend, daß er die Vorsichtigsten entwaffnet und sie auf die allerlustigste Art in schreckliche Zweifel und Verwirrungen bringt. Aber er selbst wußte stets einen Ausweg – nur sagte er ihn nicht. Vor ihm gibts kein Entrinnen; man gerät in Dilemmas, in denen man nur die Wahl zwischen schrecklichen Möglichkeiten vor sich sieht; mit den hochberühmten Hippiassen und Gorgiassen springt er um, wie ein Junge, der Fangball spielt. Dieser tyrannische Mann der Wirklichkeit! – Meno hat mindestens tausendmal in allen möglichen Kreisen über Tugend gesprochen, und zwar sehr gut, wie er selber meint, aber in diesem Augenblick kann er nicht einmal sagen, was Tugend überhaupt ist – so hat dieser Zitterrochen von einem Sokrates ihn behext.

Dieser hartköpfige Humorist, an dessen sonderbaren Einfällen und komischer Bonhommie die jungen Stutzer ihren Spaß hatten, dessen Witze und Schnacken jeden Tag überall erzählt werden, er erweist sich in der Folge von einer Rechtschaffenheit, die ebenso unbeugsam ist wie seine Logik; er muß entweder verrückt, oder, unter diesem Deckmantel, für seine Religion begeistert sein. Als er vor den Richtern beschuldigt wird, den Glauben des Volkes zu untergraben, da verkündet er die Unsterblichkeit der Seele, die Belohnung und Bestrafung im künftigen Leben. Er weigert sich zu widerrufen, wird durch eine Laune des souveränen Volkes zum Tode verurteilt und ins Gefängnis geschickt. Sokrates betrat das Gefängnis und nahm alle Schmach von dem Orte; solange er darin war, konnte es kein Gefängnis sein. Kriton bestach den Schließer, aber Sokrates wollte von krummen Wegen nichts wissen: »Mag kommen, was da will, nichts geht über Gerechtigkeit. So etwas höre ich wie Trommeln und Pfeifen; es macht mich taub gegen alles, was ihr sagen könnt!« Die Berichte über seinen Aufenthalt im Kerker, über die Gespräche, die dort geführt wurden, über das Trinken des Schierlingsbechers, sie gehören zu den kostbarsten Stellen im Buche der Weltgeschichte.

Der seltsame Zufall, der in dem einen häßlichen Körper den Possenreißer und den Märtyrer vereinigte, den bissigen Debattierer von Platz und Straße mit dem sanftesten Heiligen, den bis dahin die Geschichte kannte – dieser Zufall mußte auf Platos Geist, der für solche Gegensätze so sehr empfänglich war, notgedrungen eine starke Wirkung üben, und die Gestalt des Sokrates mußte in den Vordergrund der Bühne treten, denn keiner eignete sich wie er zum Vermittler der geistigen Schätze, die Plato mitzuteilen hatte. Es war ein seltener Glücksumstand, daß der Äsop der Gasse und der Gelehrte im wallenden Talar sich trafen und, in ihrem Wesen sich gegenseitig ergänzend, einander unsterblich machten. Die seltsame Synthese in Sokrates' Charakter ging noch über Platos geistige Synthese hinaus. Zudem konnte er auf diese Weise unmittelbar und ohne Anstoß zu erregen, sich den Witz und das geistige Gewicht seines Meisters Sokrates, dem er zweifellos viel verdankt, zu nutze machen; und dieser hinwieder erhielt einen Hauptvorzug durch Platos vollendete Kunst.

 

Über allen Menschen steht der Heilige. Der Koran unterscheidet scharf diejenigen, die von Natur gut sind und deren Güte auch andere beeinflußt, und erklärt, um dieser willen sei die Schöpfung da; die anderen seien zur Tafel des Daseins nur in ihrem Gefolge zugelassen. Und der persische Dichter ruft einer Seele dieser Art zu:

»Tritt kühn herzu und schmause auf des Lebens Bankett!
Du bist berufen – die andern sind nur geduldet neben dir.«

Diese Kaste nun ist damit begnadet, zu den Geheimnissen und dem Bau der Natur nicht durch Erfahrung, sondern durch eine höhere Methode vorzudringen. Mit einem Wort: was der Durchschnittsmensch durch Erfahrung lernt, das braucht dieser Höherbegabte nicht erst zu erleben – er ahnt es voraus. Nach einer arabischen Anekdote hatten einmal Abel Khain, der Mystiker, und Abu Ali Sina, der Philosoph, ein Gespräch miteinander, und als sie sich trennten, sagte der Philosoph: »Alles, was er sieht, weiß ich.« Und der Mystiker sagte: »Alles was er weiß, sehe ich.« Wenn nun einer nach dem Grunde dieser intuitiven Kraft fragt, so würde die Lösung dieser Frage uns auf jene Fähigkeit führen, die Plato als Erinnerung bezeichnete, während die Brahmanen sie in ihrer Lehre von der Seelenwanderung behandeln. Die Seele ist oft geboren worden oder, wie die Hindus sagen: »sie wandelt den Pfad des Daseins durch tausende von Geburten.« So hat sie die Dinge geschaut, die hier auf Erden, die im Himmel und die in der Unterwelt sind und es gibt nichts, was sie nicht kennen gelernt hätte. Kein Wunder drum, daß sie bei jedem Dinge imstande ist, sich dessen zu erinnern, was sie früher schon wußte. »Denn da in der Natur alles in Verbindungen und Beziehungen steht und da die Seele früher alles gekannt hat, so gibt es keinen Grund, warum nicht einer, der auch nur an ein einziges Ding sich erinnert hat – oder wie man gewöhnlich sagt, es ›gelernt‹ hat – ganz von selber all sein früheres Wissen zurückerlangen und auch alles übrige wieder entdecken sollte, wenn er nur Mut hat, und nicht mitten in seinem Streben ermattet. Denn ›Forschen‹ und ›Lernen‹ bedeutet nur ›sich erinnern‹.«

 

Swedenborg kennt – vielleicht ist er der Einzige – er kennt das Strömen der Natur; er weiß, wie weise jene altbekannte Antwort des Amasis war, der auf die Aufforderung, die See leer zu trinken, ruhig sagte: »Ja, gern – wenn du die Flüsse anhalten willst, die sich ins Meer ergießen.« Wenige wußten so viel wie er von der Natur und ihrer feinen Art, wenige haben feiner als er die Naturvorgänge dargestellt. Er war der Meinung, die Natur stelle ebensogroße Ansprüche an unseren Glauben wie die Wunder. Er bemerkte, »daß es auf ihrem Wege von den ersten Uranfängen an durch die verschiedenen Entwicklungsstadien hindurch keinen Zustand gab, durch den die Natur nicht hindurch ging, wie wenn ihr Weg sie durch alle Dinge führte.«

 

Swedenborg gibt uns goldene Worte, in denen mit seltener Schönheit die ethischen Gesetze zum Ausdruck kommen. Hierzu gehört sein berühmter Spruch: »Im Himmel nähern die Engel sich beständig dem Frühling ihres Lebens, so daß der älteste Engel am jüngsten aussieht.« … »Je mehr Engel, desto mehr Raum.« … »Die Vollkommenheit des Menschen beruht auf seiner Liebe zur Tätigkeit.« … »Der Mensch in seiner vollkommenen Form ist der Himmel.« … »Was von Ihm ist, das ist Er.« … »Die Ziele steigen immer höher, in dem Maße, wie die natürliche Kraft verfällt.« Wahrhaft poetisch ist seine Schilderung der Schrift im innersten Himmel, die aus Biegungen, der Form des Himmels entsprechend, besteht, und daher gelesen werden kann, ohne gelernt zu sein. Wenn er den Anspruch erhebt, mit übernatürlichen Visionen begnadigt zu sein, so rechtfertigt er diesen beinahe durch die wunderbaren Einblicke, die er in den Bau des menschlichen Körpers und Geistes getan hat. »Niemals ist es im Himmel jemandem gestattet, hinter einem anderen zu stehen und auf dessen Hinterkopf zu blicken; denn dadurch wird der Einfluß gestört, der vom Herrn ausströmt.« Die Engel erkennen am Klang der Stimme, was ein Mensch liebt; an der Modulation des Klanges seine Weisheit, und aus dem Sinn der Worte sein Wissen.

In seiner ›Ehelichen Liebe‹ hat er die Wissenschaft der Ehe enthüllt. Von diesem Buche möchte man sagen, daß es, obwohl es die höchsten Elemente des Erfolges enthält, doch ein verfehltes ist. Fast wäre es der Hymnus der Liebe geworden, den Plato, ebenfalls vergeblich, im ›Gastmahl‹ anzustimmen versucht hatte – der Liebe, von der, wie Dante sagt, Casella unter den Engeln im Paradiese sang und die in angemessener Verherrlichung ihrer Entstehung, ihres Genusses, ihrer Wirkung wohl in die Seelen einzudringen wert wäre, denn sie würde uns den Ursprung aller Einrichtungen, Gewohnheiten und Gebräuche erklären. Das Buch wäre großartig geworden, hätte Swedenborg den Hebraismus fortgelassen, das Gesetz, ohne Beimischung von Gothik, als rein ethische Forderung aufgestellt und Raum für einen höheren Standpunkt gelassen, wie es doch der Natur der Dinge entspricht. Sein Buch ist eine platonische Entwicklung der Wissenschaft von der Ehe. Es lehrt, daß das Geschlecht universal, nicht lokal ist, daß das männliche Geschlecht beim Manne jedes Organ bildet, jeder Handlung, jedem Gedanken seinen Stempel aufdrückt, und ebenso das weibliche Geschlecht beim Weibe. Deshalb ist in der wirklichen, d. h. in der Geisterwelt die eheliche Verbindung nicht bloß eine augenblickliche, sondern eine unaufhörliche und gänzliche, und Keuschheit ist keine auf einen Körperteil begrenzte, sondern eine universale Tugend; Unkeuschheit tut sich ebensowohl beim Handeltreiben, beim Ackerbestellen, beim Sprechen, beim Philosophieren, wie beim Zeugungsakt kund; daher waren zwar die Jungfrauen, die er im Himmel sah, schön, die Weiber aber unvergleichlich viel schöner und ihre Schönheit nahm unaufhörlich zu.

Leider aber pfropft Swedenborg, wie es nun einmal seine Art ist, diese Theorie einer Form auf, die er dem Zeitlichen entnimmt. Er legt zuviel Gewicht auf den Umstand der Ehe; obwohl er mißglückte Ehen auf Erden findet, träumt er doch von einer weiseren Wahl im Himmel. Aber für Seelen, die dem Ewigen zuschreiten, ist alle Liebe und Freundschaft nur etwas Augenblickliches. Die Frage: »Liebst du mich?« will besagen: »Siehst du die gleiche Wahrheit wie ich?« wenn du's tust, so sind wir glücklich in derselben Glückseligkeit; plötzlich aber geht einem von uns beiden die Erkenntnis einer neuen Wahrheit auf – wir sind geschieden, und keine Spannkraft der Natur vermag uns noch aneinanderzufesseln. Ich weiß, wie köstlich dieser Liebestrank ist: Ich für dich auf der Welt, du für mich! Aber es ist nichts weiter, wie wenn ein Kind an seinem Spielzeug hängt – ein Versuch, das trauliche Kaminfeuer und das Brautgemach zu verewigen, bei der Bilderfibel zu bleiben, die uns unsere ersten Lehrstunden unterhaltsam gemacht hat. Gottes Eden ist öde und ungeheuer, wie die Landschaft draußen, an die wir abends am Kamin denken; sie scheint uns kalt und verlassen, während wir über der Kohlenglut kauern. Aber sind wir dann wieder draußen, so bemitleiden wir die, die um Kerzenlicht und Kartenspiel auf die Fracht der Natur verzichten. Der eigentliche Gegenstand der Ehelichen Liebe ist vielleicht der ›Umgang mit Menschen‹, dessen Gesetze tiefsinnig erforscht werden. Aber es ist falsch, die vorgetragenen Lehren buchstäblich auf die Ehe anzuwenden. Denn Gott ist die Braut oder der Bräutigam der Seele. Der Himmel bedeutet nicht die Paarung zweier Seelen, sondern die Vereinigung aller Seelen, wir begegnen uns und verweilen einen Augenblick unter dem Tempel eines gemeinsamen Gedankens, dann scheiden wir, doch so, als ob wir nicht auseinandergingen, um uns in anderen fröhlichen Gemeinschaften mit einem anderen Gedanken zu vereinen. In dem niedrigen, auf Besitzrechte pochenden Sinne des »Liebst du mich?« liegt überhaupt nichts Göttliches – weit entfernt davon. Erst wenn du scheidest und mich verlierst, auf ein Gefühl dich besinnend, das höher ist als wir beide – dann rücke ich dir nahe und finde mich an deiner Seite; und ich werde abgestoßen, wenn du dein Auge auf mich heftest und Liebe heischest. Tatsächlich wechseln wir in der geistigen Welt jeden Augenblick das Geschlecht. Du liebst in mir, was Werts in mir ist; ich bin dein Gatte: aber nicht ich, sondern mein Wert fesselt deine Liebe; und dieser Wert ist ein Tropfen von dem Ozean von Wert, der außerhalb meines Ich liegt. Inzwischen verehre ich den größeren Wert in einem anderen und werde so dessen Weib. Dieser sehnt sich nach einem noch höheren Wert in einem anderen Geiste und wird dessen Weib, d. h. er empfängt dessen Einfluß.

 

Dem Swedenborgischen Weltsystem fehlt die zentrale Selbsttätigkeit; es ist dynamisch, nicht vital, daher entbehrt es der Kraft, Leben zu zeugen. Es ist nichts Individuelles darin. Das Weltall ist ein riesenhafter Kristall, dessen Atome und Blättchen in ununterbrochener Ordnung und in unzerstörter Einheit, aber kalt und still daliegen. Was nach Individualität und nach Willen aussieht, ist es nicht. Eine unermeßliche Kette von Zwischengliedern erstreckt sich vom Mittelpunkt nach den äußersten Enden hin und beraubt jede tätige Kraft ihrer Freiheit und ihres Charakters. Das Weltall liegt in seinem Gedicht in einem krankhaften magnetischen Schlaf befangen und spiegelt nur den Geist des Magnetiseurs wieder. Alle seine Geister, mit denen er Zwiesprache pflog, sind Swedenborgianer. Seien sie, wer sie wollen – diese Farbe müssen sie zuletzt doch annehmen. Charon Swedenborg führt sie alle in seinem Nachen über den Fluß: Könige, Räte, Kavaliere, Doktoren, Sir Isaac Newton, Sir Hans Sloane, König Georg den Zweiten, Mohammed oder wer es sonst sei, und sie alle nehmen dieselbe, sozusagen grimmige Farbe und Ausdrucksweise an. Nur als Licero auftritt, da zögert unser edler Seher doch ein wenig; er mag nicht geradezu sagen, er habe mit Cicero selbst gesprochen, und erwähnt in einer Anwandlung menschlicher Schwäche: »einen, der wie man mich glauben ließ, Cicero war.« Aber als dann der soi-disant Römer den Mund auftat, da ist es mit Rom und mit Beredsamkeit vorbei – es ist wie alles übrige wieder der gewöhnliche theologische Swedenborg.

 

Während der Abstraktler und der Materialist sich gegenseitig ärgern und bei ihrem Schelten und Spotten die unerfreulichsten Derbheiten zutage bringen, tritt ein Dritter auf und stellt sich mitten zwischen die beiden Kämpfenden – nämlich der Skeptiker. Er findet, sie haben beide unrecht, da sie beide in Extreme verfallen. Er stemmt seine Füße gegen den Grund, er will der Balken der Wage sein. Er geht niemals über seine Grenzen hinaus. Er sieht, wie einseitig die Leute der Straße sind, er will kein Gibeoniter sein. Er tritt ein für die geistigen Fähigkeiten, einen kühlen Kopf, und alles, was dazu dient, ihn kühl zu halten: keine unüberlegte Geschäftigkeit, keine unbelohnte Selbstaufopferung, keine Verschwendung von Gehirn auf Handarbeit. Bin ich ein Ochs oder ein Karren? – Ihr bewegt euch beide in Extremen, sagt er. Du, der du alles solid haben willst und eine Welt aus Blockblei, du täuschest dich aufs Gröblichste. Du denkst, du seist festgewurzelt und wie auf Stahl gegründet – und doch, wenn wir die letzten Tatsachen unseres Wissens enthüllen, so wirbelst du umher, wie eine Luftblase im Fluß, weißt nicht von wannen du kommst, und bist vom Kopf zum Fuß in Täuschungen eingehüllt.

Aber auch zum Bücherkram wird er sich nicht verführen lassen; auch vom Talar des Professors will er nichts wissen. Die gelehrten Stubenhocker sind ihre eigenen Opfer: sie sind mager und blaß, haben kalte Füße, heiße Köpfe, nachts können sie nicht schlafen, und bei Tage haben sie fortwährend Angst vor Störungen – sie leiden an Blässe, Unsauberkeit, Hunger und Egoismus. Kommt man ihnen näher und sieht zu, mit was für Ideen sie sich tragen, so findet man, daß sie Abstraktler sind und Tage und Nächte damit verbringen, irgend welchen Träumen nachzuhängen; sie denken, eines Tages werde die menschliche Gesellschaft ihnen Anerkennung zollen für ein kostbares System, das wohl auf einer Wahrheit errichtet ist, dem aber die richtigen Verhältnisse im Entwurf und die Genauigkeit in der Ausführung abgehen und das der Systematiker niemals zu einem körperhaften und lebenskräftigen Ganzen gestalten kann, da ihm jegliche Willensenergie fehlt.

»Aber ich sehe klar und deutlich,« sagt der Skeptiker, »daß ich überhaupt nicht sehen kann. Ich weiß, des Menschen Stärke beruht nicht in Extremen, sondern im Vermeiden von Extremen. So will ich denn wenigstens nicht in die Schwäche verfallen, mit meinem Philosophieren in größere Tiefe zu gehen, als meinen Kräften entspricht. Was hat's für einen Zweck, Fähigkeiten vorzuschützen, die wir nicht besitzen? Wozu hinsichtlich des jenseitigen Lebens bestimmte Behauptungen aufstellen, deren wir nicht sicher sind? Warum die Kraft der Tugend übertreiben? Warum vor der Zeit ein Engel sein wollen?

 

Napoleon ist durch und durch modern, und auf dem höchsten Gipfel seines Glückes beseelt ihn derselbe Geist, der Zeitungsschreiber und Zeitungsleser erfüllt. Er ist kein heiliger – um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen: »kein Kapuziner« – und er ist, im hohen Sinne des Wortes, nicht einmal ein Held. Der Mann der Straße findet in ihm die Eigenschaften und Kräfte anderer Männer der Straße. Napoleon ist, wie er selber, von Geburt ein Bürgerlicher, der durch vollkommen deutlich nachweisbare Verdienste zu einer so überragenden Stellung emporgekommen ist, daß er sich alle jene Gelüste erlauben konnte, die auch der gemeine Mann spürt, aber verheimlichen und ableugnen muß. Gerade das, was dem Herzen jedes Mannes im neunzehnten Jahrhundert lieb und wert ist: gute Gesellschaft, gute Bücher, schnelles Reisen, gute Kleider, besetzte reiche Tafeln, Dienerschaft ohne Zahl, persönliche Macht, die Möglichkeit, alle seine Ideen sofort auszuführen, der Nimbus eines Wohltäters aller Personen seiner Umgebung, die feineren geistigen Genüsse an Gemälden, Bildwerken, Musik, Palästen und gesellschaftlichen Ehren – dieser gewaltige Mann besaß das alles!

Allerdings wird ein Mann wie Napoleon, der sich mit solcher täuschenden Geschicklichkeit dem Geiste der ihn umgebenden Massen anzupassen weiß, nicht nur zum Vertreter, sondern tatsächlich zum Tyrannen aller anderen Geister, die er für seine Zwecke in Beschlag nimmt. So bemächtigte auch Mirabeau sich als unbedenklicher Plagiator jedes guten Gedankens, jedes guten Wortes, das in Frankreich gesprochen wurde. Dumont erzählt eine charakteristische Geschichte: Er saß auf der Galerie des Konvents und hörte einer Rede Mirabeaus zu; dabei fiel ihm ein passender Schluß zu dieser Rede ein; er schrieb denselben sofort mit Bleistift nieder und zeigte ihn Lord Elgin, der neben ihm saß. Lord Elgin lobte ihn und Dumont zeigte ihn am Abend Mirabeau selbst. Mirabeau las die Sätze und erklärte, sie seien wundervoll, und er werde sie in der Rede verwerten, die er am nächsten Tage vor der Versammlung zu halten gedenke. »Das ist unmöglich!« sagte Dumont. »Denn leider habe ich meine Worte Lord Elgin gezeigt.« – »Und wenn Sie sie außer dem Lord Elgin noch fünfzig anderen Leuten gezeigt hätten, so würde ich trotzdem morgen diese Sätze sprechen.« Und er sprach sie wirklich am anderen Tage und erzielte einen großen Eindruck damit. Denn Mirabeau war sich bewußt, daß Einfälle, die durch die Gegenwart seiner überwältigenden Persönlichkeit angeregt wären, ihm so gut gehörten, wie wenn er sie selber ausgesprochen hätte und daß sie ihre eigentlich schwerwiegende Bedeutung erst dadurch erhielten, daß erste sich zu eigen machte. Ein noch viel größerer Absolutist und Zentralisierer war der Erbe von Mirabeaus Popularität, der Mann, dessen Wille in Frankreich noch viel mächtiger gebot. Ein Mann von Napoleons Gepräge kann in der Tat kaum noch eine Privatmeinung haben und äußern. Er ist von riesiger Aufnahmefähigkeit und nimmt eine so günstige Stellung ein, daß er gewissermaßen ein Zentralbureau für alle Intelligenz, Klugheit und Kraft seines Zeitalters und seines Landes wird. Er gewinnt die Schlacht; er macht das Gesetzbuch; er stellt das Maß- und Gewichtssystem auf; er nivelliert die Alpen; er baut die Straße. Alle ausgezeichneten Ingenieure, Gelehrten, Statistiker machen ihm Bericht; dasselbe tun alle gescheiten Köpfe auf allen Gebieten; und er entscheidet sich für die besten Maßnahmen und setzt sein Siegel darauf. Und nicht nur auf sie allein, sondern auf jeden glücklichen und denkwürdigen Ausdruck. Jeder Satz, den Napoleon sprach, jede Zeile, die er schrieb, verdienen gelesen zu werden, denn in ihnen ist die Meinung von ganz Frankreich.

Napoleon war der Abgott der gemeinen Leute, weil er in überragendem Maße die Eigenschaften und Fähigkeiten des gemeinen Mannes besaß. Es gewährt eine gewisse Befriedigung, der Politik auf den tiefsten Grund zu kommen, denn da werden wir Heuchelei und Verstellung los. Bonaparte strebte, ganz wie die große Klasse, deren Vertreter er ist, nach Macht und Reichtum – aber Bonaparte speziell tat dies ohne alle Gewissensbedenken bei der Wahl seiner Mittel. Alle Gefühle, die einem Menschen bei Verfolgung dieser Ziele hinderlich werden können, schob er beiseite. Gefühle waren gut für Weiber und Kinder! Fontanes gab Napoleons Denkweise vollkommen wieder, als er 1804 im Namen des Senats in seiner Ansprache sagte: »Sire, der Wunsch nach Vollkommenheit ist die schwerste Krankheit, die jemals den Menschengeist befallen hat.« Die Wortführer der Freiheit und des Fortschritts sind »Ideologen« – ein verächtlicher Ausdruck, den er oft im Munde führt. »Necker ist ein Ideolog.« »Lafayette ist ein Ideolog.«

Ein nur allzu gut bekanntes italienisches Sprichwort sagt: »willst du Erfolg haben, so darfst du nicht zu gut sein.« Es ist, bis zu einem gewissen Grade, ein Vorteil, sich von den Gefühlen der Frömmigkeit, Dankbarkeit und Hochherzigkeit losgemacht zu haben. Denn was für uns ein unübersteigbares Hindernis war und für andere noch ist, wird zu einer brauchbaren Waffe für unsere Zwecke – so wird der Winter aus dem Strom, der eine so gewaltige trennende Schranke war, die glatteste Straße machen.

Napoleon verzichtete ein für allemal auf Gefühle und Neigungen und verließ sich nur auf seine Hände und seinen Kopf. Für ihn gibt es keine Mirakel, keinen Zauberkram. Sein Arbeitsmaterial ist Erz, Eisen, Holz, Erde, sind Heerstraßen, Gebäude, Geld und Truppen. Und ein sehr ausdauernder und verständiger Werkführer ist er! Nie ist er ein Schwächling, nie ein Büchermensch, sondern er macht solide und genaue Arbeit wie eine Naturkraft. Er hat sein angeborenes Verständnis und Mitfühlen für die Dinge der Natur noch nicht verloren. Einem solchen Mann machen die Menschen Platz, wie sie einem Naturereignis ausweichen. Ganz gewiß gibt es Menschen genug, die ganz und gar in den Dingen der Natur aufgehen: Bauern, Schmiede, Seeleute und im allgemeinen alle Handarbeiter; und wir wissen, wie tüchtig und fest solche Leute neben Gelehrten und Buchstabenklaubern erscheinen. Aber ihnen fehlt für gewöhnlich die Organisationskraft; sie sind wie Hände ohne einen Kopf. Bonaparte aber fügte zu dieser dem Erdreich und dem tierischen Leben entlehnten Kraft Einsicht und die Gabe der Anwendung hinzu; daher sahen die Menschen in ihm die Vereinigung der natürlichen und der geistigen Kraft, wie wenn Land und Meer Fleisch und Bein geworden wären und zu rechnen begonnen hätten. Darum erscheint er als eine Erfüllung der Erwartungen von Land und Meer. Er trat unter seinesgleichen und sie empfingen ihn als Herrn. Dieser rechnende Arbeiter weiß, womit er arbeitet und was dabei herauskommen muß. Er kannte die Eigenschaften von Geld und Eisen, von Rädern und Schiffen, von Truppen und Diplomaten, und er verlangte von jedem gerade die Arbeit, die er leisten konnte.

 

Es gab Zeiten, wo der Schriftsteller eine geheiligte Person war: er schrieb Bibeln; die ersten Hymnen; die Gesetzbücher; die Epen; tragische Lieder; sybillinische Verse; chaldäische Orakel; lakonische Denksprüche für Tempelwände. Jedes Wort war wahr und erweckte die Völker zu neuem Leben, was er schrieb, war nicht hingehudelt, aber auch nicht überängstlich ausgefeilt. Jedes Wort sah er vor seinen Augen in Erde und Himmel gemeißelt; und Sonne und Sterne waren nur Buchstaben von gleicher Bedeutung, nicht notwendiger als die anderen. Aber wie kann er Ehre empfangen, wenn er sich nicht selber ehrt? wenn er sich in der Menge verliert? wenn er nicht länger der Gesetzgeber ist, sondern zum Spion und Angeber wird, der vor der unbeständigen Meinung einer gedankenlosen Menge sich duckt? wenn er mit schamlosen Advokatenkniffen für irgend eine schlechte Regierung eintreten oder jahraus jahrein als Oppositionsmann bellen muß? oder wenn er Kritiken nach der alten Leier liefern oder unanständige Romane schreiben muß? oder wenn er überhaupt gedankenlos, ohne jemals bei Tag oder bei Nacht aus den Quellen der Inspiration zu schöpfen, schreiben und nur immerzu schreiben muß?

 

Goethe war die Seele seines Jahrhunderts, dieses war gelehrt, war durch die Bevölkerungszunahme, die festgeschlossene Organisation, den Drill der einzelnen eine große Forschungs-Expedition geworden, hatte eine Überfülle von Tatsachen und Ergebnissen so schnell aufgehäuft, daß kein bis dahin existierender Gelehrter in der wissenschaftlichen Verarbeitung gleichen Schritt mit dem Anwachsen des Materials halten konnte. Aber dieses Mannes Geist hatte weite Räume, in denen er alles unterzubringen wußte. Er besaß die Gabe, die losgelösten Atome kraft ihrer eigenen Gesetze zusammenzuführen. Er hat unserem modernen Dasein das Gewand der Poesie gegeben. Mitten unter Kleinheit und Zersplitterung in Einzelheiten entdeckte er den Genius des Lebens, den alten schlauen Proteus, wie er ganz dicht bei uns hockte. Da zeigte uns der Dichter, daß die prosaische Eintönigkeit, die wir unserem Zeitalter vorwerfen, nur eine andere Proteusmaske sei:

»Selbst auf der Flucht weilt er verkappt bei uns«,

daß er nur die bunte Uniform abgelegt und dafür ein Werkeltagskleid angezogen habe, und daß er in Liverpool oder im Haag nicht ein bißchen weniger munter oder reich sei als einst in Rom oder Antiochia. Er suchte ihn auf öffentlichen Plätzen, Landstraßen, Boulevards und in Gasthöfen. Ja, im ursoliden Reich des Alltagsschlendrians und Sinnenlebens wies er die lauernde dämonische Kraft nach: auch durch die Verrichtungen des Alltags ziehe sich ein Faden von Mythologie und Fabelgeschichten. Und indem er den Stammbaum jedes Brauchs, jeder Gewohnheit, jeder Einrichtung, jedes Mittels und Werkzeugs zurückverfolgte, wies er den Ursprung in der Anlage des menschlichen Körpers nach. Eine sehr weitgehende Abneigung hatte er gegen Konjekturen und rhetorische Redensarten: »Vermutungen habe ich selber genug; wenn jemand ein Buch schreibt, soll er nur das aussprechen, was er weiß.« Er schreibt im einfachsten und gewöhnlichsten Stil, läßt viel mehr aus als er hinschreibt, und was er sagt, sind keine Worte sondern Dinge.

 

Goethe kam in eine überzivilisierte Zeit und in ein überzivilisiertes Land, wo ursprüngliches Talent unter der Bürde von Büchern und mechanischen Hilfsmitteln und unter der verwirrenden Mannigfaltigkeit von Bestrebungen zu Boden gedrückt wurde. Da war er es, der die Menschen lehrte mit diesem bergehohen Mischmasch fertig zu werden und ihn sich sogar dienstbar zu machen. Ich stelle ihn Napoleon an die Seite: beide sind Vertreter der Ungeduld und Auflehnung der Natur gegen den Dummstolz der konventionellen Sitte – zwei ernste Realisten, die mit ihren Schülern, jeder an seinem Platz, die Axt an die Wurzel des Baumes der Heuchelei und des hohlen Scheins gelegt haben, für jetzt und für alle Zeiten. Dieser fröhliche Arbeiter, den keine äußerliche Beliebtheit anspornte, der seinen Antrieb und seinen Plan in der eigenen Brust fand, er legte sich selber Riesenaufgaben vor und arbeitete achtzig Jahre lang mit der Stetigkeit seines jugendlichen Eifers daran, ohne sich je eine andere Ruhe und Rast zu gönnen, als daß er in seine Bestrebungen eine gewisse Abwechslung brachte.

Es ist die letzte Lehre moderner Wissenschaft, daß die höchste Einfachheit des Baues nicht durch Verwendung weniger Elemente, sondern durch die höchste Kompliziertheit erzielt wird. Der Mensch ist das komplizierteste aller Geschöpfe: das Rädertierchen, Volvex globator, bezeichnet das entgegengesetzte Extrem. Wir werden noch lernen, von dem unermeßlichen Erbe alter und neuer Zeiten Renten und Einkünfte zu beziehen. Goethe lehrt uns Mut und zeigt uns die Gleichwertigkeit aller Zeiten: die Nachteile einer Epoche bestehen nur für die Schwachherzigen. Der Genius schwebt mit seinem Sonnenschein und Wohlklang dicht bei den dunkelsten und taubsten Zeiten. Keine Pfandgülte, keine Blutschuld bleibt an Menschen oder Stunden haften. Die Welt ist jung: die großen Männer der Vergangenheit rufen uns freundlich zu. Auch wir müssen Bibeln schreiben, um wiederum die Himmel und die irdische Welt zusammenzubringen. Es ist das Geheimnis des Genies, daß es keine bloße Einbildung für uns will gelten lassen; daß es alles, was wir wissen, verwirklicht: daß es in der hohen Verfeinerung modernen Lebens, in Künsten, Wissenschaften, Büchern, Menschen eine treue Überzeugung, Wahrhaftigkeit und einen Zweck verlangt und daß es zuerst, zuletzt, inmitten und ohne Unterlaß jede Wahrheit durch ihren Gebrauch zu Ehren bringt.

 


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