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Gesellschaft

Was sollte es uns auch nützen, den ewigen Gesetzen des Geistes entgegen zu arbeiten, welche die Beziehungen aller Menschen untereinander durch die mathematischen Messungen ihrer Bewußtheiten und Unbewußtheiten bestimmen?

»Ich hörte eines Tages Jupiter davon sprechen«, sagte Silenus, »daß er die Erde zerstören wolle, denn er glaube, daß sie mißlungen sei. Es gäbe dort nur lauter Schurken und lasterhafte Frauenzimmer, und aus dem Bösen entstände immer das Schlimmere, so schnell wie ein Tag aus den andern folgt. Minerva erwiderte, sie glaube nicht, daß es so sei. Sie sähe nur kleine lächerliche Kreaturen in eine so wunderlich verzwickte Lage gebracht, daß sie nebelhaft und ungestaltig erschienen, ob man sie aus der Ferne oder aus der Nähe betrachte. Wenn man sie nun schlecht nenne, scheinen sie schlecht zu sein, und wenn man sie gut nennt, so nehmen sie die entsprechende Gestalt an. Noch habe jedes einzelne Wesen dort unten und jede ihrer Handlungen ihre Eule unruhig gemacht und nicht minder den ganzen Olymp, wenn es sich darum handelte, ob sie von Grund aus gut oder schlecht genannt werden müßten.«

 

Die Unbekümmertheit von Knaben, die ganz sicher sind, daß sie ein Mittagessen haben werden und darum zu stolz wären, um auch nur einen Augenblick daran zu denken, es sich durch gute Worte auf Umwegen zu erhandeln: das ist die gesunde Haltung der Menschennatur. Ein Junge im Eßzimmer ist das, was das Parterre im Schauspielhause ist: unverantwortlich, unabhängig, von seinem Platz auf Leute und Sachen schauend, die er im Vorübergehen beurteilt und verurteilt nach ihrem Wert für ihn, nach der flinken Art von Knaben, als gut, böse, interessant, lächerlich, beredt, unbequem. Er kümmert sich nicht um die möglichen Folgen und Verwickelungen; er gibt ein unbefangenes, gerades Urteil ab. Du mußt ihm entgegen kommen; er kommt dir nicht entgegen. Der erwachsene Mann scheint dagegen durch sein inneres Bewußtsein in Ketten geschlagen. Sobald er einmal ohne Rückhalt gesprochen hat, ist er bloßgestellt, bewacht von der Teilnahme oder vom Haß von Hunderten, deren Neigungen in seine Rechnung eingetragen werden müssen. Sie können nicht mehr ausgelöscht werden. Ach, daß er wieder in seine Unparteilichkeit zurücktreten könnte! Wer so alle Bürgschaft vermeiden und immer wieder, nachdem er einmal gesprochen, in der gleichen, unbekümmerten, unbestechlichen, unerschrockenen Unschuld sprechen kann, muß immer Furcht einflößen. Er würde Ansichten über alle öffentlichen Angelegenheiten aussprechen, die, weil sie nicht eigennützig, sondern notwendig erscheinen, wie Pfeilspitzen das Ohr der Menschen treffen und sie in Angst versetzen würden.

Das sind die Stimmen, die wir in der Einsamkeit vernehmen, aber sie werden schwach und kaum hörbar im Getriebe der Welt. Die Gesellschaft befindet sich überall in geheimer Verschwörung gegen die Mannhaftigkeit jedes ihrer Mitglieder. Sie ist eine Aktiengesellschaft, deren Teilhaber übereinkommen, für die Sicherstellung eines jeden die Freiheit und würde jedes einzelnen preiszugeben. Die am meisten beliebte Tugend ist Anpassungsfähigkeit und Übereinstimmung. Selbstvertrauen ist unbeliebt. Man schätzt nicht die Schaffenden, sondern Namen und Gebräuche.

 

Wer einen Brunnen gräbt, einen Quell in Stein faßt, einen schattigen Baumgang an der Straße pflanzt, einen Obstgarten anlegt, ein dauerhaftes Haus baut, einen Sumpf urbar macht, oder auch nur eine Steinbank am Wege aufstellt, der macht das Land in geringerem oder höherem Maße liebens- und begehrenswert, macht ein Vermögen, das er nicht mit sich nehmen kann, das aber noch lange nachher seinem Lande nützlich ist. Der Mensch, der zu Hause arbeitet, hilft der Gesellschaft draußen mit viel größerer Gewißheit als einer, der sich Werken der Barmherzigkeit widmet. Wenn es wahr ist, daß nicht durch Aufrufe politischer Parteien, sondern durch die ewigen Gesetze der Volkswirtschaft Sklaven aus einem Sklavenstaat herausgetrieben werden, sobald er von freien Staaten umgeben ist, dann ist der echte Sklavenbefreier der Landmann, der unbekümmert um Gesetze und Verfassungen den ganzen Tag auf dem Felde steht, seine Arbeit in das Land hineinsteckt und ein Erzeugnis hervorbringt, womit keine erzwungene Arbeit den Wettbewerb aufnehmen kann.

 

Wir sehen mit Freude, mit Achtung auf den Landmann, wenn wir bedenken, was für Fähigkeiten und Leistungen so demütig getragen werden. Er kennt jedes Geheimnis von Arbeit; er gibt der Landschaft ein anderes Gesicht: stellt ihn auf einen neuen Planeten und er würde wissen, wo er anzufangen hat; und trotzdem ist in seinem Gebaren keine Anmaßung, sondern eine vollkommene freundliche Gelassenheit. Der Landmann paßt gut in die Welt. Einfach im Wesen wie im Kleide, würde er in Palästen nicht glänzen – in solchen ist er vollkommen unbekannt und unangebracht; ob er lebt, ob er stirbt, niemals wird man in ihnen von ihm hören; und doch würden die Salonhelden, wenn sie neben ihn gestellt würden, zusammenschrumpfen: er kernhaft und ohne Ausdruck, sie ausgehämmert zu Blattgold. Aber er paßt gut in die Welt – wie Adam, wie ein Indianer, wie Homers Helden, Agamemnon oder Achilleus. Er ist ein Mensch, den ein Höhendichter – Milton, Firdusi oder Cervantes – schätzen würde als ein wirkliches Stück der alten Natur, vergleichbar mit Sonne und Mond, Regenbogen und Flut – denn er ist, wie alle natürliche Menschen es sind, so gut wie sie Vertreter der Natur.

Das unverderbte Gehaben, das wir an Tieren und an jungen Kindern bewundern, ist ihm eigen – ihm, dem Jäger, dem Seemann – dem Menschen, der in der Gegenwart der Natur lebt. Städte treiben das Wachstum, machen Menschen gesprächig und unterhaltsam, aber sie machen sie künstlich, was für uns Interesse besitzt, ist das ›Naturell‹ eines jeden, die seinem Wesen anhaftende Trefflichkeit. Diese ist immerdar eine Überraschung, anziehend und lieblich, wir werden nicht satt, sie kennen zu lernen und alles, was mit ihr zusammenhängt. Und diese Trefflichkeit wird von dem Umgang mit der Natur liebevoll gepflegt und behütet.

 

Wir leben auf verschiedenen Niveaus oder Höhengraden. Da ist ein äußeres Leben: der Junge wird in der Schule erzogen, lernt lesen, schreiben, rechnen und Gewerbe treiben; lernt alles mitnehmen, was er kriegen kann; man drängt ihn, sich selber vorwärts zu bringen, sich in der Welt nützlich und angenehm zu machen, zu reiten, zu laufen, zu debattieren, nachzugeben, seine Talente zur Geltung zu bringen, zu glänzen, zu siegen, zu besitzen.

Aber das innere Leben sitzt daheim, lernt keine solchen Sachen zu machen, noch solchen Heldentaten überhaupt irgendwelchen Wert beizulegen. Es ist ein ruhiges, weises Insichaufnehmen. Das innere Leben liebt die Wahrheit, weil es selber wirklich ist; es liebt das Recht, weil es nichts anderes kennt. Aber es macht keine Fortschritte, es war, soweit wir zurückdenken können, immer so, wie es jetzt ist; es ist genau ebenso jetzt im reifen Alter und wird später im Greisenalter ebenso sein wie in der Jugend. Wir sind zu Männern, zu Frauen erwachsen, wir besitzen Fähigkeiten, Beziehungen, Kinder, Ansehen, einen Beruf. Aus all diesem macht das innere Leben sich nichts. Es lebt in der großen Gegenwart; es macht die Gegenwart groß. Diese ruhige, festgegründete, weitschauende Seele ist kein Kurierreiter, kein Rechtsanwalt, keine Amtsperson; sie liegt in der Sonne und brütet über dem Weltall. Eine Persönlichkeit von solcher Gemütsanlage sagte einmal zu einem sehr geschäftigen Mann: »Ich will Ihnen verzeihen, daß Sie so viel tun; und Sie werden mir verzeihen, daß ich nichts tue.« Und Euripides sagt: »Zeus haßt die Geschäfteler und die Menschen, die zu viel tun.«

 

ErfoIg wird so wenig durch Launen des Schicksals bestimmt, wie der Gingham und Musselin, die wir in unseren Fabriken weben. Ich weiß mir keine nachdrücklichere Lehre für unsere geschäftigen, pläneschmiedenden Neuengländerköpfe, als in eine der Fabriken zu gehen, mit denen wir alle Wasserläufe in den Vereinigten Staaten umsäumt haben. Der Mensch weiß kaum, in wie hohem Grade er selber Maschine ist, als bis er anfängt, nach seinem eigenen Ebenbild Telegraphen, Webstuhl, Presse und Lokomotive zu machen. Aber bei diesen ist er genötigt, seine Dummheiten und Schwächen beiseite zu lassen, und so sehen wir, wenn wir in eine Fabrik gehen, daß die Maschine moralischer ist, als wir selbst. Wage nur einer, vor einen Webstuhl zu treten und zu sehen, ob er sich mit ihm vergleichen darf! Möge Maschine sich mit Maschine messen, dann wollen wir sehen, wer von uns beiden am besten dabei wegkommt. Die Weltfabrik ist komplizierter als die Kattunfabrik, und ihr Erbauer blieb in seiner erhabenen Höhe. In der Ginghamfabrik wird durch einen zerrissenen Faden oder Lappen ein ganzes Gewebe von hundert Ellen verdorben, aber der Fehler läßt sich bis zu dem Mädchen zurückverfolgen, das am Webstuhl stand, und der Schaden wird ihr vom Lohn abgezogen. Der Aktionär, dem man dies zeigt, reibt sich entzückt die Hände. Bist du so schlau, Meister Profitchenmacher, und denkst du, du könntest bei dem Gewebe, das du anfertigst, deinen Herrn und Brotgeber beschwindeln? Ein Tag ist ein prachtvolleres Gewebe als irgend ein Musselin; der Mechanismus, der ihn macht, ist unendlich viel sinnreicher als irgend ein Webstuhl und du darfst nicht hoffen, die ausgefaserten, wertlosen, verfaulten Stunden verhehlen zu können, die du in das Stück eingeschmuggelt hast; du brauchst aber auch nicht zu befürchten, daß ein guter Faden, ein fester Stahl, eine sicher arbeitende Spindel sich nicht an dem Gewebe werden erkennen lassen, um zu deinen Gunsten zu zeugen.

 

Das ist das Talent, jenes so weit verbreiteten Charakters, des erfolgreichen Mannes von Welt, dem wir auf allen Börsen, in allen Senaten, in allen Salons begegnen? Manieren! Siegermanieren; die Gabe, seinen Vorteil einzusehen und Manieren, die ihn zum Siege führen. Seht, wie er auf seinen Mann losgeht! Er weiß, daß Truppen sich benehmen, wie sie zuerst angepackt werden – das ist sein ganzes wohlfeiles Geheimnis. Es ist dasselbe, was sich jedesmal begibt, wenn zwei Leute miteinander zu tun haben: sofort bemerkt der eine, daß er den Schlüssel zur Situation besitzt, daß sein Wille den des anderen packt, wie die Katze die Maus; und er hat nur höflich zu sein und seinem Opfer harmlos aussehende Vernunftgründe darzubieten, mit denen sich die Kette verhüllen läßt – denn sonst könnte der andere durch Scham zum Widerstand getrieben werden.

 

Die Macht einer Weltdame nicht nur anzuziehen, sondern auch abzustoßen und zurückzuweisen, entspringt aus dem Glauben der anderen, jene besitze besondere Geheimnisse des Benehmens, die ihnen nicht bekannt seien; aber wenn sie in dieses Geheimnis eingedrungen sind, so lernen sie ihr entgegenzutreten und erlangen ihre Selbstbeherrschung wieder.

 

Bei gewissen Menschen nehmen Verdauungstätigkeit und geschlechtliches Bedürfnis die ganze Lebenskraft in Anspruch, und je stärker diese sind, desto schwächer ist das Individuum. Je mehr von diesen Drohnen zugrunde gehen, desto besser für das Bienenvolk. Wenn sie später ein überlegenes Individuum in die Welt setzen, das Kraft genug hat, diesem Tierischen ein neues Ziel hinzuzufügen und das ein vollständiges Rüstzeug besitzt, strebend dahin zu gelangen – dann werden alle Vorfahren mit Freude vergessen.

 

Eine törichte Beständigkeit ist das Steckenpferd kleiner Geister, kleiner Staatsmänner, Philosophen und Theologen. Eine große Seele hat mit dieser Art von Beständigkeit gar nichts zu tun. Sie könnte sich ebensogut mit ihrem Schatten an der Wand beschäftigen. Rede was du denkst heute in harten Worten, und morgen was du denkst auch in harten Worten, widerspricht das auch allem, was du heute sagtest! – »Dann wirst du sicher mißverstanden.« Ist es denn so schlimm, mißverstanden zu werden? Pythagoras wurde mißverstanden und Sokrates und Jesus und Luther und Kopernikus und Galilei und Newton, und jeder reine und weise Geist, der je fleischliche Gestalt annahm. Groß sein heißt mißverstanden sein.

 

Gewöhnlich erinnert uns jedes Mitglied der Gesellschaft an jemand anderes, oder an etwas anderes; Eigenart, Wirklichkeit und Echtheit erinnert uns an gar nichts anderes, sondern füllt seinen Platz in der Schöpfung aus. Der Mensch muß soviel bedeuten, daß er alle Zufälligkeiten bedeutungslos erscheinen läßt. Jeder echte Mann ist ein Panier, ein Land, ein Zeitalter; unendliche Räume, Zahlen und Zeiten sind nötig, um seine Sache zu Ende zu führen; und die Nachwelt scheint seinen Spuren wie seine Klientel zu folgen. Ein Cäsar wird geboren, und für Jahrhunderte haben wir ein Römisches Reich. Christus wird geboren, und Millionen wachsen und ranken an seinem Genius empor, bis er selbst mit der Tugend und dem Erreichbaren alles Menschlichen verwechselt wird! Eine Institution ist der Schlagschatten eines Menschen: Mönchswesen vom Eremiten Antonius; die Reformation von Luther; das Quäkertum von Fox; Methodistentum von Wesley; Sklavenbefreiung von Clarkson. Milton nennt Scipio »die Höhe Roms«, und die ganze Weltgeschichte verdichtet sich in die Lebensgeschichte weniger echter und ernster Menschen.

 

Es besteht ein gemeinsames Einverständnis zwischen allen Menschen. Jeder einzelne ist diesem Einvernehmen ein Durchgang und allem, was daran teilnimmt, eine Stätte. Wer einmal des wahren Rechtes auf Vernunft teilhaftig wurde, ist Herr in ihrem weiten Reich. Er nennt die Gedanken Platos sein eigen; empfindet, was ein Heiliger empfunden hat; was je den Menschen zugestoßen ist, kann er begreifen. Denn wer zu diesem Welteneinverständnis Zutritt hat, ist Teil von allem, was geschieht, und was geschehen kann: Und das allein kann herrschen und regieren.

 

Erst die Allnatur gibt dem Einzelmenschen und den Einzeldingen ihren Wert. Das Menschenleben ist deshalb geheimnisvoll und heilig, und wir hegen es ein mit Strafandrohungen und Gesetzen, weil es die Allnatur in sich eingeschlossen hält. Ihre letzte Begründung leiten alle Gesetze davon ab, mehr oder weniger ausgesprochen sind sie alle im Auftrage dieser erhabenen und unbegrenzten Wesenheit geschrieben. So ist das Eigentum ein Lehnsgut der Seele, birgt große geistige Kräfte in sich, und wir treten instinktiv zu allererst mit Schwert und Gesetz, mit weittragenden und einigenden Gedankenschlüssen dafür ein.

 

Leben allein nützt, nicht das Gelebthaben. Die Kraft hört auf im Augenblick der Ruhe; sie wirkt im Augenblick des Übergangs von einem zum anderen Zustand, im Überbrücken des Abgrunds, im Schießen auf das Ziel. Der Gedanke, daß die Seele wird, ist verhaßt: denn das setzt die Vergangenheit herab, verwandelt Reichtum in Armut, Ruhm in Schande, verwechselt den Heiligen mit dem Spitzbuben, schiebt Jesus und Judas gleichmäßig beiseite, warum schwatzen wir also von Selbstvertrauen? Insoweit die Seele gegenwärtig ist, wird auch Kraft dasein, wenn nicht selbstvertrauend, so doch wirkend. Von Vertrauen reden ist armselig und äußerlich. Sprecht lieber von dem, was vertraut, weil es wirkt und ist. Wer mehr Gehorsam hat als ich, meistert mich, obschon er keinen Finger aufhebt. Um ihn muß ich kreisen, dem Gesetz der Schwerkraft der Geister gemäß. Wir halten es für übertrieben, von hervorragender Tugend zu sprechen, wir übersehen, daß Tugend Höhe bedeutet, und daß ein Mensch oder eine Gemeinschaft von Grundsätzen schöpferisch durchdrungen, dem Naturgesetz gemäß alle Städte, Nationen, Könige, Reiche, Dichter, die das nicht sind, überwältigen und zügeln muß.

 

Ein jeder paßt auf, daß sein Nachbar ihn nicht betrüge. Aber es kommt ein Tag, wo er aufzupassen beginnt, daß er seinen Nachbarn nicht betrüge. Dann geht alles gut. Er hat seinen Marktkarren gegen einen Sonnenwagen vertauscht, welch ein Tag dämmert uns auf, wenn wir die Lehre des Glaubens uns zu Herzen genommen haben – die Lehre: Sein, als die bessere Kapitalsanlage, dem Tun vorzuziehen; Sein dem Schein; Logik dem Rhythmus und der Inszenierung; das Jahr dem Tag; das Leben dem Jahr; den Charakter der Leistung – wenn wir zu der Erkenntnis gelangen, daß uns Gerechtigkeit widerfahren wird, und daß wir, wenn unser Genius langsam ist, auch lange Zeit haben werden!

 

Wenn du nur deinen eigenen Vorteil im Auge hast, so muß der andere Teil ebenfalls ein bißchen scharf auf den seinigen sehen. Wenn du dich großmütig benimmst, so wird der andere, wäre er auch sonst selbstsüchtig und ungerecht, eine Ausnahme zu deinen Gunsten machen und redlich gegen dich sein. Als ich einmal mit einem Eisengießer über die Schlacken und Aschenzusätze im Schieneneisen sprach, da sagte er: »Oh, gutes Eisen ist stets zu bekommen: wenn Schlacken im Eisen sind, so waren auch Schlacken in der Bezahlung!«

 

Wer eine Gabe in der rechten Weise entgegen zu nehmen weiß, der ist ein guter Mensch.

Das Gesetz des Wohltuns ist ein schwieriges enges Fahrwasser, worin man gut segeln können oder ein starkes Schiff haben muß. Ein Mensch ist nicht dazu bestimmt, Geschenke zu empfangen. Wie darfst du's also wagen, ihm welche zu geben? Wir wünschen mit eigener Kraft uns durchzubringen. Wir vermögen einem Geschenkgeber niemals ganz zu verzeihen. Die Hand, die uns Futter reicht, ist immer in einiger Gefahr, gebissen zu werden. Von der Liebe können wir alles annehmen, denn das ist so gut, wie wenn wir etwas von uns selber empfangen; aber von einem, der mit dem Anspruch auftritt, uns eine Wohltat zu erweisen, können wir nichts annehmen. Wir hassen zuweilen die Speise, die wir essen, weil in unseren Augen eine Art von Herabwürdigung unseres Selbst ihr anhaftet, indem wir, um am Leben zu bleiben, von Nahrung abhängig sind.

 

Wer Dank erwartet, der ist gemein, und er wird beständig gestraft durch die gänzliche Unempfindlichkeit der von ihm seiner Meinung nach zu Dank verpflichteten Person.

 

Einem großherzigen Menschen kannst du überhaupt nichts schenken. Nachdem du ihm einen Dienst erwiesen hast, macht er dich durch seine Hochherzigkeit sofort zu seinem Schuldner. Der Dienst, den ein Mensch seinem Freund erweist, ist unbedeutend und selbstsüchtig im Vergleich mit jenen Diensten, die, wie er wohl wußte, sein Freund ihm, bevor er ihn noch in Anspruch nahm, zu erweisen bereit war und noch jetzt jederzeit bereit ist. Verglichen mit dem Guten, das ich meinem Freund zu erweisen bereit bin, erscheint die Wohltat, die ich ihm zu erzeigen imstande bin, nur gering. Zudem sind unsere gegenseitigen Handlungen, im Guten wie im Bösen, so zufälliger und willkürlicher Art, daß wir die Dankbezeigungen eines Menschen für eine ihm erwiesene Wohltat kaum ohne Beschämung und ohne ein Gefühl der Erniedrigung anzuhören vermögen.

 

Man kann uns unsere schlechten Ehen nicht allzusehr zum Vorwurf machen. Wir leben unter lauter Wahnvorstellungen, und gerade diese Falle ist mit besonderer List unseren Füßen gelegt, und wir alle fangen uns früher oder später darin. Aber die mächtige Mutter, die so listig mit uns umsprang, hat wohl gefühlt, daß sie uns eine Entschädigung schuldet, und so schmuggelt sie in die Pandorabüchse der Ehe einige tiefe und ernste Wohltaten und einige große Freuden ein. Wir finden an der Schönheit und Glückseligkeit von Kindern ein Entzücken, daß uns die Brust zu eng wird für unser Herz. In den verfehltesten Verbindungen ist stets noch eine Beimischung von echter Ehe. Selbst Paddy und seine Vettel gewinnen doch eine gewisse gegenseitige Achtung vor einander, nehmen Rücksichten und pflegen sich gegenseitig, und sie würden sich verständiger benehmen, wenn sie noch einmal anfangen könnten.

 

Gute Bürgersleute berechnen nach den Regeln des Einmaleins alle Unbequemlichkeiten, welche ihnen der Besuch von Fremden im Hause bereitet, den Zeitverlust und Aufwand. Die Seele von besserer Art weist solche unangebrachte Sparsamkeit in die Vorratskammer des Lebens zurück und spricht: ich will dem Gott gehorchen und mich seinem Opfer und seinem Feuer unterwerfen. Ibn Hankal, der arabische Geograph, schildert ein heroisches Übermaß der Gastfreundlichkeit aus Sogd in Buchara: ›Als ich in Sogd war, sah ich ein großes Haus wie ein Palast, dessen Türen offen standen und mit Nägeln an die Mauer genagelt waren. Als ich nach dem Grund fragte, sagte man mir, daß sie seit einem Jahrhundert Tag und Nacht nicht mehr geschlossen gewesen wären. Fremde dürfen zu jeder Stunde und in jeder Zahl hinkommen; der Herr des Hauses trifft reichliche Vorsorge zur Bewirtung für die Menschen und ihre Tiere und freut sich, wenn sie länger verweilen. In keinem anderen Lande habe ich etwas derartiges gesehen.‹ Die Großherzigen wissen sehr wohl, daß, wenn sie den Fremden Schutz, Zeit und Geld geben, – solange es aus Liebe und nicht aus Gepränge geschieht – Gott diesen Posten in ihrem Soll und Haben bucht, so vollkommen sind die Ausgleichungen im Weltall. Auf irgend eine Weise wird das scheinbar Verlorene wieder ausgeglichen und die Mühe belohnt sich selbst. Solche Menschen fachen die Menschenliebe zu höherem Feuer an und heben den Maßstab bürgerlicher Tugenden. Doch die Gastfreundschaft muß aus Wohlwollen, nicht aus Eitelkeit hervorgehen, sonst erniedrigt sie den Gastgeber. Die tapfere Seele hält sich selbst für zu hoch, um nach der Pracht ihrer Gasttafeln und ihrer Gewänder gewertet zu werden.

 

Es ist schön, einem Fremden ein Mahl oder ein Nachtlager zu geben. Es ist schöner, seiner Gesinnung und seinem Denken Gastfreundschaft zu erweisen und einem Genossen Mut zu machen, wir müssen gegen einen Menschen so höflich sein wie gegen ein Gemälde, dem wir doch gerne den Vorteil eines guten Lichtes gewähren.

 

Die Massen sind roh, lahm, unfertig, verderblich in ihren Forderungen und Einflüssen, und dürfen nicht umschmeichelt, sondern müssen erzogen werden. Wenn es nach mir ginge, sollte ihnen gar nichts zugestanden werden, sondern man sollte sie zähmen, drillen, teilen, zerbrechen und Individualitäten aus ihnen hervorziehen. Das schlimmste Übel an der Wohltätigkeit ist, daß die Leben, die du zu erhalten gebeten wirst, des Erhaltens nicht wert sind. Massen! Das ganze Unglück der Zeit sind die Massen. Ich will überhaupt nichts von Massen wissen, sondern nur von ehrenhaften Männern, von lieblichen, süßen, feingebildeten Frauen – nichts von schaufelhändigen, kleinhirnigen, schnapstrinkenden Millionen von Fabrikproletariern oder Lazzaroni. Wenn nur die Regierung wüßte, wie's zu machen wäre, so hätte ich lieber, sie hemmte die Bevölkerungszunahme, als daß sie sie beförderte. Wenn einmal unser Menschengetriebe nach den richtigen Gesetzen vor sich ginge, dann würde jeder Mensch, der geboren wird, als ein notwendiges neues Glied freudig begrüßt werden. Fort mit diesem Hurrageschrei der Massen, und gebt uns statt dessen die wohlüberlegten Abstimmungen einzelner Menschen, die auf Ehre und Gewissen sprechen. Im alten Ägypten galt das Gesetz, daß die Stimme eines Propheten gleich der von hundert Arbeitern gerechnet werden sollte. Ich glaube, man hat sie viel zu gering geschätzt.

Wenn wir sagen, die Mehrheit tauge nichts, so bedeutet das keine Bosheit und der Beobachter hat deshalb kein schlechtes Herz, sondern es will einfach sagen, daß die meisten Menschen unreif sind, noch nicht zu sich selber gekommen sind, noch nicht ihre eigene Meinung kennen. Wenn sie die kennen würden, so wäre das ein Orakel für sie und für alle Menschen. Aber im flüchtigen Augenblick können leicht die Vierfüßlerneigungen die Oberhand bekommen: und diese Tierkraft, die die harte Zucht der Welt, die Schule der Helden, die Glorie der Märtyrer ausmacht, sie hat zu allen Zeiten zugleich auch die Satire der Witzbolde und die Tränen der guten Menschen hervorgerufen.

 

Das Hinhorchen, wie es unser Nachbar treibt, ist ein kleinmütiges Fliehen vor unserem eigenen Lebenswerk. Es ist ein müßiges Hinter-den-Türen-horchen. Byron sagt von Jack Bunting: »Er wußte nichts zu sagen, darum erhob er seine Stimme.«

 

Die seelische Tätigkeit liegt oft mehr in dem Gefühlten, aber Unausgesprochenen, als in dem, was im Gespräch zutage gefördert wird. Sie schwebt unsichtbar über jeder Versammlung, und alle Teilnehmer suchen sie unwillkürlich in ihren Genossen. Wir wissen weit mehr als wir sagen und tun. Wir gehören uns noch nicht selber an und fühlen doch, daß wir weit mehr sind, als wir scheinen. Ich fühle das so oft in Gesprächen mit meinen Nachbarn, daß irgend etwas Höheres hinter uns steht und auf unser kleines Zwischenspiel lächelnd niederblickt – als ob Jupiter dem Jupiter heimlich zunickte.

 

Gespräche sind ein Spiel von Kreisen. In der Unterhaltung ziehen wir die Grenzpfähle aus dem Boden, welche das allgemeine Schweigen rings einfaßten. Die daran Teilnehmenden dürfen aber nicht nach dem Geist oder Ausdruck beurteilt werden, den sie unter der Einwirkung dieser Geistesausgießung zeigen! Morgen werden sie von diesem Hochwasserzeichen wieder herabgesunken sein. Morgen krümmen sie sich wieder unter ihren alten Packsätteln. Aber wir wollen uns der gespaltenen Flamme freuen, solange sie an unserem Herde flackert. Wenn jeder neue Sprecher ein neues Licht entzündet, uns von der Last des vorhergehenden Redners befreit, uns durch die Wucht und Geschlossenheit seiner eigenen Gedanken zu Boden drückt und zuletzt doch einem neuen Erlöser weichen muß, so scheinen wir erst unser eigenes Recht wiederzugewinnen und ganze Menschen zu werden. O, welche Wahrheiten, tief und nur in Jahrhunderten und Welträumen durchführbar, werden bei der Verkündigung jeder neuen Wahrheit vorausgesetzt! In gewöhnlichen Stunden sitzt die Gesellschaft kalt und stumm da. Wir warten alle, leer – vielleicht im Gefühl, daß wir voll Reichtum sein können, umgeben von mächtigen Symbolen, die aber für uns keine sind, sondern nur abgedroschene Alltäglichkeiten und Spielereien. Dann tritt der Gott herein und wandelt alle die versteinerten Gestalten in feurige Menschen, verbrennt im Nu mit dem Blitz seines Auges den Schleier, der die Dinge verhüllte, und auf einmal wird sogar die Bedeutung des Hausgerätes, der Tasse und Unterschüssel, des Stuhles, der Uhr und des Betthimmels offenbar. Die Dinge, die durch den Dunst von gestern so gewaltig erschienen – Eigentum, Klima, Erziehung, persönliche Schönheit und anderes mehr, haben ihre Verhältnisse merkwürdig verändert. Alles, was wir für fest hielten, schwankt und klappert: Kulturen, Städte und Religionen verlassen ihre festen Grundlagen und tanzen vor unseren Augen. Aber doch wiederum hier, siehe die schnelle Übersicht und Umsicht in der neuen Auffassung! So gut auch Erklärungen sind – schweigendes Verständnis ist besser und beschämt sie. Die Umständlichkeit der Erklärung zeigt den Abstand der Gedanken zwischen Redner und Zuhörer. Wäre vollkommenes Einverständnis in einem Punkte vorhanden, so würden keine Worte darüber vonnöten sein; wäre Übereinstimmung in allen Punkten vorhanden, würden Worte überhaupt nicht mehr geduldet.

 

Es darf nun durchaus nicht gefolgert werden, daß wir nicht für Gesellschaften passen, weil ›Soireen‹ langweilig sind und weil die Soiree auch uns langweilig findet. Ein Hinterwäldler, der auf die Hochschule geschickt war, erzählte mir, als er die feinstgebildeten jungen Leute im juristischen Kolleg miteinander hätte sprechen hören, wäre er sich als ein Bauernjunge vorgekommen; aber wenn er sie einzeln stellen konnte, und einen für sich alleine vorhatte, dann waren sie die Bauernjungen und er der bessere Mann. – Und wenn wir uns die seltenen Stunden ins Gedächtnis rufen, da wir den Besten begegneten – da fanden wir uns selber, da erst schien die menschliche Gesellschaft für uns zu existieren. Das war Gesellschaft – ob wir sie nun in der Kajüte einer Brigg oder an den Gestaden von Florida fanden.

Ein kaltes träges Blut glaubt, es habe nicht Tatsachen genug zur Verfügung und dürfe deshalb nicht am Gespräch teilnehmen. Aber die, welche sprechen, haben nicht mehr – sondern sie haben weniger. Nicht auf neue Tatsachen kommt es an, sondern auf die Wärme, die die Tatsachen jedes einzelnen auflöst. Wärme bringt dich in die richtige Verbindung mit ganzen Speichern voll von Tatsachen. Der Hauptmangel kalter, trockener Naturen ist der Mangel an animalischem Lebensgeist. Diesem scheint eine unglaubliche Gewalt innezuwohnen, wie wenn Gott die Toten damit auferwecken wollte. Man hat gesagt, Gegenwart und Zukunft seien stets Nebenbuhler. Die animalische Lebenskraft macht die Kraft der Gegenwart aus und ihre Leistungen zeigen die Form einer Pyramide. Sie gipfeln in einem Lord, einem General, einem fröhlichen Gesellschafter.

 

Ein Unterhaltungsgespräch wird uns nicht verderben, wenn wir mit eigenem Geist, mit eigener Sprache unter die Versammlung treten, und mit dem kräftigen Vorsatz der Gesundheit: auszuwählen, was unser ist, und zurückzuweisen, was nicht unser ist. Gesellschaft müssen wir haben; aber es sei Gesellschaft und kein Austauschen von Neuigkeiten oder gemeinsames Essen am selben Tisch. Bin ich in Gesellschaft, wenn ich auf einem deiner Stühle sitze? Ich kann nicht in die Häuser meiner nächsten Angehörigen gehen, weil ich nicht allein zu sein wünsche. Gesellschaft besteht durch chemische Wahlverwandtschaft – sonst nicht.

Bringe irgend eine Gesellschaft von Leuten zusammen und überlaß sie freier Unterhaltung; sofort findet eine Selbstverteilung in kleine Gruppen und einzelne Paare statt. Den besten wirft man Exklusivität vor. Es wäre richtiger, zu sagen, daß sie sich abscheiden wie Öl von Wasser, wie Kinder von Erwachsenen, ohne daß dies etwas mit Liebe oder Haß zu tun hat, sondern weil eben ein jedes seinesgleichen sucht. Jedes Eingreifen in die Wahlverwandtschaften würde nur das Gefühl des Zwanges erzeugen; man würde nicht mehr frei atmen. Jede Gesprächsunterhaltung ist ein magnetisches Experiment. Ich weiß, daß mein Freund beredt zu sprechen weiß; du weißt, daß er keinen vernünftigen Satz hervorbringen kann: wir haben ihn in verschiedenen Gesellschaften gesehen. Wählt die Teilnehmer Eurer Gesellschaften gut aus, oder ladet niemanden ein! Bringt Stubbs und Coleridge, Quintilian und Tante Miriam paarweise zusammen und sie werden sich alle jämmerlich fühlen. 's ist ein aus dem Stegreif errichtetes Zellengefängnis. Sing-Sing in einem Salon. Laß ihnen die Freiheit, sich ihre eigenen Gesellen zu suchen, und sie werden lustig wie Spatzen sein.

Eine höhere Höflichkeit wird in unseren Sitten eine gewisse, uns verloren gegangene Ehrfurcht wiederherstellen. Was soll man anfangen mit diesen frischen jungen Leuten, die alle Schranken durchbrechen und in jedem Hause tun, wie wenn sie daheim wären? Ich finde es augenblicklich heraus, wenn mein Gesellschafter mich nicht brauchen kann und kein Strick kann mich halten, wenn er mir nicht mehr willkommen ist. Man sollte meinen, die Wahlverwandtschaften sprächen sich mit einer bestimmteren Gegenseitigkeit aus!

Auch hier wieder wie so oft, macht die Natur sich den Spaß, uns zwischen zwei sich bekämpfende Extreme zu stellen und unsere Rettung beruht auf der Geschicklichkeit, womit wir die diagonale Linie innezuhalten wissen. Einsamkeit ist unmöglich und Gesellschaft ist verhängnisvoll. Wir können unseren Kopf in der einen und unsere Hände in der anderen haben. Die Bedingungen sind erfüllt, wenn wir unsere Unabhängigkeit wahren und doch unser Mitfühlen nicht verlieren. Diese wundervollen Pferde brauchen nicht von schönen Händen gelenkt zu werden. Wir brauchen eine Einsamkeit, deren Offenbarungen uns bleiben, auch wenn wir auf der Straße und in Palästen sind; denn die meisten Menschen sind in Gesellschaft eingeschüchtert; sie sagen dir gute Gedanken im Gespräch unter vier Augen, aber in der Öffentlichkeit können sie sie nicht vertreten.

Aber wir wollen nicht das Opfer von Worten werden! Gesellschaft und Einsamkeit sind trügerische Namen. Nicht darauf kommt es an, ob man mehr oder weniger Leute sieht, sondern auf die Schnelligkeit, womit Sympathie sich herstellt und mitteilt. Ein gesunder Sinn wird die Prinzipien derselben durch Nachdenken erkennen, wird sie in immer reinerem Lichte zum hinlänglichen und vollendeten Rechten hinanführen und wird Gesellschaft als das natürliche Element hinnehmen, worin sie zur Anwendung gelangen müssen.

 

Allen Menschen begegnet bald nach Erreichung der Mannbarkeit irgend ein Ereignis oder eine Gesellschaft oder ein Lebensumstand, die den Wendepunkt ihrer irdischen Laufbahn oder das Hauptereignis ihrer Geschichte bilden. Bei der Frau ist es Liebe und Heirat, und das ist noch das Vernünftigere; und doch ist es bedauerlich, daß alle Ereignisse und Ergebnisse eines sich entfaltenden Lebens von einer so jugendlichen Periode der Unbedachtsamkeit, wie das Alter des Freiens und Heiratens für gewöhnlich ist, herdatiert und danach beurteilt werden. Für Männer bilden den entscheidenden Lebenshöhepunkt der Ort ihrer Erziehung, die Wahl eines Berufs, die Niederlassung in einer Stadt oder eine Übersiedelung nach dem Osten oder nach dem Westen oder sonst eine aufgebauschte Lappalie, und alle späteren Jahre und Handlungen gewinnen nur durch ihre Beziehungen zu diesem Ereignis Interesse. Daher kommt es, daß wir gar bald der Unterhaltungskunst eines jeden Menschen auf den Grund kommen und nur seine zwei oder drei Haupterlebnisse zu kennen brauchen, um seine Meinung über jeden neu auftauchenden Gesprächsgegenstand voraus zu wissen. Diese Eigentümlichkeit ist bei sogenannten Gebildeten kaum weniger bemerkbar als bei Ungebildeten. Ich habe bei Universitätsfestlichkeiten gut beanlagte Männer gesehen, die nach zehn, zwanzig Jahren zum erstenmal die alte Halle wiedersahen, aber dem Anschein nach noch genau dieselben Knaben waren, die sie beim Abschied gewesen waren. Dieselben Späße freuten, dasselbe leere Stroh kitzelte sie; Amt und Würden, mit denen diese Männer bei ihrer Rückkehr bekleidet waren, erschienen als bloße ornamentale Masken; unter diesen Masken waren sie immer noch Knaben. Niemals gelingt es uns, Weltbürger zu werden, sondern wir bleiben Kleinstädter, welche denken, in ihrem Nest sei doch alles ein bißchen besser als das betreffende gleiche Ding anderswo. Der Lebensumstand, von dem ich sprach, ist bei jedem ein anderer, aber in jedem bildet er die Kohlen eines ewig brennenden Egoismus. Beim einen war es sein Ergreifen des Seemannsberufes, bei einem andern waren es die Schwierigkeiten, die er überwinden mußte, um die Hochschule besuchen zu können; bei einem dritten seine Reise nach dem Westen, oder seine Seefahrt nach Kanton; bei einem vierten sein Austritt aus der Quäkergemeinde; bei einem fünften seine neue Diät und Lebensweise; bei einem sechsten seine Lossagung von der Sklavenbefreiungspartei; bei einem siebenten sein Eintritt in dieselbe Partei. Es ist ein Leben voller Spielkram und Flittertand. Wir sind zu leicht zufrieden gestellt.

 

Wir suchen Gesellschaft in sehr verschiedenen Absichten, und die Beschaffenheit der Gespräche ist sehr ungleich je nach den Kreisen. Zuweilen betreffen sie Tatsachen – von den Angelegenheiten der täglichen Notwendigkeit bis zu den letzten Ergebnissen der Wissenschaft – und durchmessen alle Grade von Wichtigkeit; zuweilen suchen wir in dieser Gesellschaft Liebe, den Balsam unserer ersten und unserer letzten Tage; zuweilen Gedanken, gleichsam von einem Menschen, der nur Geist wäre; zuweilen ist diese Gesellschaft wie ein Singen, wie wenn das Herz gleich einem Vögelein alles in Tönen ausströmte; zuweilen ist sie Erfahrung. Manche Menschen suchen darin Debatten; wenn ein Wortgefecht in Aussicht steht, wiehern sie wie Pferde. Wenn keine Argumente ins Spiel kommen, ist nach ihrer Meinung nichts los. Einige Sprecher zeichnen sich durch die Schärfe aus, womit sie ihre Gedanken in Formeln fassen, so daß wir von ihnen etwas mitnehmen, was in unserer Erinnerung bleibt; andere wissen durch eine Art Zauber unser Urteil einzuschläfern. Besonders Frauen brauchen Worte, die keine Worte sind – wie ja auch Tanzschritte keine Schritte sind – sondern geben den Geist der Sache wieder, von der sie sprechen; es ist wie mit dem Klang mancher Glocken, wobei wir nur an die Glocke denken, während fernes Kirchenläuten die Kirche und ihre ernsten Erinnerungen vor unserem Geiste aufsteigen läßt.

 

Feine Gesellschaft ist nur eine Selbstverteidigung gegen den gemeinen Sinn der Straße und der Schenke. Feine Gesellschaft, im landläufigen Sinne des Wortes, hat weder Ideen noch Ziele. Sie leistet uns die Dienste eines Parfümerieladens, einer Waschanstalt – nicht die eines Landgutes oder einer Fabrik. Sie ist eine Ausschließung und eine Absperrung. Sydney Smith sagte: »Ein paar Ellen Entfernung verkitten oder lösen in London Freundschaften.« Feine Gesellschaft ist eine grundsatzlose Äußerlichkeit; es handelt sich dabei um reine Wäsche, Kutschen, Handschuhe, Karten und eleganten Krimskrams. Ein Mann aber hat andere Maßstäbe der Selbstachtung als die Anzahl reiner Hemden, die er täglich anzieht.

 

Es ist keine Höflichkeit, sondern eine Beleidigung, wenn man jemanden nur über Pferde oder Dampf oder Theater oder Essen oder Bücher befragt, und, sobald er sich sehen läßt, aus vermeintlicher Höflichkeit das Gespräch auf den Gegenstand seiner ganz besonderen Vorliebe bringt. Im Himmel unserer nordischen Vorfahren hatte Thors Haus fünfhundertundvierzig Stockwerke; auch des Menschen Haus hat fünfhundertundvierzig Stockwerke. Sein besonderer Vorzug ist die Leichtigkeit der Anpassung und die Fähigkeit, durch viele miteinander in Verbindung stehende Punkte hindurch zu weit voneinander entfernten Gegensätzen und Extremen zu gelangen.

 

Wir tun, was wir müssen, und benennen es mit den besten Namen.

Des Bauern Taler ist schwer und des Schreibers Taler ist flüchtig, rollt ihm aus der Tasche, springt auf Karten- und Pharaotische; aber noch merkwürdiger ist seine Empfindlichkeit für metaphysische Veränderungen. Er ist das feinste Barometer sozialer Stürme und sagt Revolutionen voraus.

Etliche Weisheit entspringt jeder natürlichen und unschuldigen Handlung. Der häusliche Mensch, dem keine Musik so lieb ist wie das Ticktack seiner Küchenuhr und die Lieder, die die knisternden und prasselnden Holzscheite seines Herdfeuers ihm vorsingen – er hat Tröstungen, von denen andere Leute sich nichts träumen lassen. Die Aufwendung bestimmter Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke führt zum Siege auf einem Bauernhof oder in einem Laden so gut wie in den Feldzügen der Parteikämpfe oder wirklicher Kriege – und wo Sieg ist, da ist auch Siegesgesang. Der gute Hausvater findet beim Aufstapeln von Feuerung in einem Schuppen oder beim Verwahren seines Obstes im Keller Methode ebenso nützlich wie bei spanischen Feldzügen oder bei der Ordnung der Akten des Staatsdepartements. An Regentagen macht er sich eine Drehbank oder setzt sich mit seinem Gerätschaftskasten, der wohlausgerüstet ist mit Nägeln, Bohrer, Zange, Schraubenzieher und Meißel, in die Ecke der Scheunendiele. Hierin kostet er eine alte Freude seiner Jugend und Kindheit wieder durch: die katzenartige Vorliebe für Dachkammern, Schränke und Kornböden und für die Behaglichkeit des Zuhausebleibens. Sein Garten oder sein Hühnerhof erzählen ihm manche hübsche Anekdote. Man könnte in der überreichen Flut dieser zuckersüßen Lust in jedem Winkel und Eckchen unserer guten Welt einen Beweisgrund zugunsten des Optimismus erblicken. Ein Mensch halte das Gebot – irgend ein Gebot – und sein Weg wird mit Befriedigungen besät sein. Die Verschiedenheit unserer Freuden gibt sich mehr in Qualität als in Menge kund.

 

Der Haushalt ist das Heim des Mannes, wie es das des Kindes ist. Die Ereignisse, die sich dort zutragen, berühren uns näher und inniger als alle, die von Senaten und Akademien durchforscht werden. Häusliche Ereignisse gehen uns ganz gewiß an. Die sogenannten öffentlichen Ereignisse können uns angehen, können uns aber auch nicht angehen. Wünscht jemand sich mit der wirklichen Geschichte der Welt bekannt zu machen, mit dem Geist seines Zeitalters, so braucht er nicht erst ins Kongreßhaus oder zu Hofe zu gehen. Der feine, flüchtige Geist des Lebens muß in Tatsachen gesucht werden, die näher bei der Hand liegen. Die Ereignisse und Leiden unseres Haushaltes, unseres Wesens, unseres Temperaments, unserer persönlichen Geschichte – diese haben das tiefste Interesse für uns. Tatsachen sind besser als Phantasiegebilde – ja, wenn wir nur immer reine Tatsachen haben könnten! Meinst du, irgend ein Redner, irgend ein Dichter könnte dein Ohr der weisen Zigeunerin abspenstig machen, die ohne Abweichung von der Wahrheit das wirkliche Geschick eines Menschen voraussagen könnte? die deinen sittlichen Charakter und deine natürliche Entwicklung miteinander versöhnen könnte? die deine Mißgeschicke, deine fieberhaften Gelüste, deine Schulden, dein Temperament, deine Denkweise, deine Liebhabereien erklären könnte? und die bei jeder Erklärung dich nicht von dem Ganzen schiede, sondern dich mit dem Ganzen verbände? Ist es nicht klar, daß nicht in Senaten, an Höfen oder in Handelskammern, sondern im Wohnhause der wahre Charakter und die Hoffnung der Zeit gesucht werden muß? Diese Tatsachen sind freilich schwerer zu lesen. Es ist leichter, die Einwohnerzahl festzustellen oder die Quadratmeilenzahl eines Landes zu messen, dessen Politik, Bücher, Kunst zu kritisieren als an die Personen und Häuser der Menschen heranzugehen, ihren Charakter zu lesen und auf ihre Lebensführung seine Hoffnung zu setzen. Und dennoch flattern wir immer nur um diese bessere Ahnung herum. In der einen oder der anderen Form kehren wir immer wieder zu ihr zurück. Die Physiognomik und Phrenologie unserer Tage sind ja recht oberflächliche und mechanische Systeme, und doch, sie beruhen auf ewigen Grundlagen. Wir sind sicher, daß es nicht die heilige Gestalt des Menschen ist, die wir in diesen phantastischen, erbärmlichen, traurigen Masken sehen – Masken, die wir tragen, Masken, denen wir begegnen – in diesen aufgedunsenen oder zusammengeschrumpften Leibern, kahlen Köpfen, blöden Augen, in dieser Kurzatmigkeit, in dieser kümmerlichen zarten Gesundheit, in diesem frühen Sterben, wir leben als Ruinen unter Ruinen. Die großen Tatsachen sind die nahen. Die Erklärung für den Leib ist in der Seele zu suchen. Die Geschichte deines Glücks ist in deinem Leben schon vorausgeschrieben.

 

Es ist eine hinreichende Anschuldigung gegen unsere Lebensweise, daß heutzutage Reichtum vonnöten ist, um unsere Begriffe von häuslicher Behaglichkeit durchzuführen. »Gib mir die Mittel!« sagt die Frau, »und dein Haus soll nicht mehr deinen Geschmack beleidigen oder deine Zeit über Gebühr in Anspruch nehmen.« Wenn wir solche Worte hören, begreifen wir, wie diese ›Mittel‹ auf Erden so allmächtig haben werden können. Und in der Tat, die Liebe zum Reichtum scheint hauptsächlich aus der Liebe zum Schönen entsprossen zu sein. Der Wunsch nach Geld gilt nicht dem Golde. Man hat keine Sehnsucht nach viel Essen, Kleidern, Haushaltungssachen. Aber das Geld ist das Mittel, Freiheit und Wohlergehen zu genießen. Wir verachten Notbehelfe; wir wünschen die Eleganz des Überflusses; wir möchten doch wenigstens unseren Eltern, Verwandten, Gästen oder Dienstboten gegenüber nicht zu knausern brauchen; wir wünschen in unserer Stadt den fürstlichen Wohltäter zu spielen, wünschen, daß der Fremde unser Tor anstaunt, daß der Dichter, die Schönheit, der Mann oder die Frau von Bedeutung bei uns einkehren. Wie können wir das, wenn die Bedürfnisse jedes Tages uns zu einer Gefängnisarbeit um Gelderwerbes willen zwingen, uns zu einer beständigen Wachsamkeit nötigen, daß wir uns nicht zu irgend einer Ausgabe verlocken lassen?

Gib uns Reichtum und das Heim soll da sein. Aber das ist eine sehr unvollkommene und unrühmliche Lösung des Problems – und daher überhaupt keine Lösung. »Gib uns Reichtum!« Du verlangst zu viel. Reichtum haben nur wenige; ein Heim aber müssen alle haben. Die Menschen werden nicht reich geboren; und im Erwerben des Reichtums wird gewöhnlich der Mensch geopfert und wird oft geopfert, ohne überhaupt Reichtum zu erlangen. Abgesehen davon – das kann die richtige Antwort nicht sein; gegen Reichtum läßt sich mancherlei vorbringen. Reichtum ist ein Notbehelf. Der Weise angelt nur mit sich selber und mit keinem geringeren Köder. Der ganze Gebrauch, den wir vom Reichtum machen, bedarf der Überprüfung und Besserung. Großmut besteht nicht darin, daß man Geld oder Geldeswert gibt. Diese sogenannten ›Güter‹ sind nur Schatten vom Guten. Einem Leidenden Geld zu geben, heißt nur sich loskaufen. Es ist nur ein Aufschieben der wahren Zahlung, eine Bestechung, um sich Schweigen zu erkaufen – ein Kreditsystem, wobei ein papiernes Zahlungsversprechen vorläufig statt der Abrechnung dienen mußte. Wir schulden dem Menschen höhere Hilfe als Nahrung und Feuer. Wir schulden dem Menschen – den Menschen. Wenn er krank, unfähig, gemeindenkend, widerwärtig ist, so liegt der Grund darin, daß so vieles, was zu seiner Natur gehört, unrechtmäßigerweise ihm vorenthalten wird. Du solltest ihn in seinem Gefängnis besuchen, um die bösen Geister zu vertreiben, ihn mit mannhafter Ermutigung aufzurichten, nicht mit erbärmlichem Bedauern, daß du kein Geld für ihn habest, oder höchstens mit schnödem Anerbieten von Geld – sondern mit deinem Heroismus, deiner Reinheit, deinem Glauben. Du mußt mit dir den Geist bringen, der da ist Verständnis, Gesundheit, Selbsthilfe. Ihm statt dessen Geld anbieten, heißt ihm dasselbe Unrecht zufügen, wie wenn der Bräutigam der ihm verlobten Jungfrau eine Summe Geldes anbietet, damit sie ihn aus seinen Verpflichtungen entlasse. Große sind groß durch ihr Herz, nicht durch ihre Börse. Genius und Tugend sind wie Diamanten am besten in einfacher Fassung – in Blei gefaßt, in Armut gefaßt. Der größte Mann der Weltgeschichte war der ärmste. Wie war es mit den Feldherren und Weisen von Griechenland und Rom, mit Sokrates, mit Epaminondas? Aristides wurde zum Schatzverwalter Griechenlands bestellt, um den Tribut einzusammeln, den jeder Staat zum Kampf gegen die Barbaren beizutragen hatte. »Arm,« sagt Plutarch, »als er sein Amt antrat, ärmer als er es niederlegte.« Wie wars mit Ämilius und Cato? Was für ein Haus führten Paulus und Johannes, Milton und Marvel, Samuel Johnson, Samuel Adam in Boston, Jean Paul Richter in Bayreuth?

 

Könige, sagt man, haben lange Arme – aber jeder Mensch sollte lange Arme haben und sollte seinen Beruf, seine Werkzeuge, seine Kraft und sein Wissen von Sonne, Mond und Sternen pflücken. Ist es also nicht ein berechtigter Wunsch, reich zu sein? Indessen, ich habe noch niemals einen reichen Mann gesehen. Niemals habe ich einen Menschen gesehen, der so reich gewesen wäre, wie alle Menschen sein sollten, mit anderen Worten, der die Herrschaft über die Natur besessen hätte, worauf die Menschheit Anspruch hat. Kanzel und Presse donnern mit vielen Gemeinplätzen gegen den Durst nach Reichtum; aber wenn die Menschen diese Moralprediger beim Worte nehmen und nicht mehr nach Reichtum streben wollten, dann würden die Herren Moralisten schleunigst diese Liebe zur Macht in den Leuten mit allen Mitteln wieder zu entfachen suchen – und mit Recht, weil sonst die ganze Zivilisation zugrunde gehen würde. Die Menschen werden von ihren Ideen angestachelt, die Herrschaft über die Natur zu erlangen. Ganze Zeitalter empfangen Kultur vom Reichtum römischer Cäsaren, eines Leo des Zehnten, prachtliebender Könige von Frankreich, kunstliebender Großherzöge von Toskana, in England eines Herzogs von Devonshire, Townley, Vernon, Peel oder sonst eines reichen Mannes. Es liegt im Interesse aller Menschen, daß es Vatikane und Louvres voll edler Kunstwerke gibt; ein Britisches Museum, einen Pariser Pflanzengarten, eine Naturwissenschaftliche Akademie in Philadelphia, eine Ambrosianische, Königliche Bücherei.

 

In allen unseren geschäftlichen Beziehungen findet eine selbsttätig wirkende Regulierung statt, die Feilschen überflüssig macht. Du willst ein Haus mieten, mußt es ab er billig haben. Der Eigentümer kann den Mietpreis herabsetzen, aber infolgedessen ist er außerstande, die notwendigen Reparaturen zu machen, und der Mieter bekommt nicht das Haus, das er haben wollte, sondern ein schlechteres; außerdem leiden auch ein wenig die Beziehungen zwischen Hausherrn und Mieter. Du entläßt deinen Arbeiter, sagst ihm: »Patrick, ich werde dich holen lassen, sobald ich ohne dich nicht mehr fertig werden kann.« Patrick geht ab und ist ganz zufrieden, denn er weiß, daß mit den Kartoffeln auch das Unkraut wachsen wird, daß nächste Woche die Reben eingesetzt werden müssen, und daß, magst du es wollen oder nicht, die Zuckermelonen, Flaschenkürbisse und Gurken ihn werden holen lassen. Wer müßte nicht wünschen, daß alle Arbeit und aller Wert so einfach und sicher zu Markte stände? Wenn es in ihrer Art die beste Arbeit ist, so wird es der Fall sein. Wir müssen Tischler, Schlosser, Gärtner, Priester, Dichter, Arzt, Koch, Weber und Hausknecht haben; im Lauf des Jahres kommt ein jeder an die Reihe.

 

Es ist ein philosophischer Lehrsatz, daß der Mensch ein Wesen ist, das verschiedene Stufen repräsentiert, daß es nichts in der Welt gibt, was nicht in dem menschlichen Körper sich wiederholte, so daß dieser Körper eine Art von verkleinertem Abbild oder Abzug der ganzen Welt ist; ferner, daß in seinem Körper nichts ist, was nicht wie in einer Himmelssphäre sich in seinem Geiste wiederholte; ferner, daß in seinem Hirn nichts ist, was nicht in einer höheren Sphäre, in seinem sittlichen Systeme, sich wiederholte.

Nun, so ist es also in der Natur. Alles bewegt sich in aufsteigender Richtung, und für die Ökonomie gilt das königliche Gesetz, daß sie ebenfalls nach oben streben muß – will sagen: daß alles, was wir tun, stets einen höheren Zweck haben muß. So gibt es den Grundsatz, daß Geld eine Art Blut ist: » Pecunia alter sanguis«. Das heißt: eines Menschen Besitz ist nur eine Art von größerem Körper, und es lassen sich dafür Gesetze aufstellen, die den Gesetzen des Blutumlaufs im menschlichen Körper entsprechen. So gibt es denn keinen einzigen kaufmännischen Grundsatz, der sich nicht auch in erweitertem Sinne anwenden ließe: wie z. B. »Der beste Gebrauch, den man vom Gelde machen kann, ist: Schulden zu bezahlen« – »Jedes Geschäft zu seiner Zeit« – »Die beste Zeit ist ›heute‹« – »Die beste Geldanlage ist, Werkzeuge für deinen Betrieb zu kaufen« u. dgl. m. Die Grundsätze des Kontors frei ausgelegt sind Weltgesetze.

 

Die Reichen tadeln an der Armut die Knechtesart und sklavische Unterwürfigkeit, aber sie sollten bedenken, was für einen Eindruck die Menschen auf eine empfängliche Vorstellungskraft machen, wenn sie in ihnen die Beherrscher der Natur sieht. Ja! Wären die Reichen so reich, als sie in der Vorstellung der Armen sind! Ein Knabe hört eine Militärkapelle abends auf dem Felde spielen, sogleich hat seine Phantasie ihm Könige und Königinnen und eine erlauchte Gefolgschaft greifbar vorgezaubert. Oder er hört in einer hügeligen Landschaft das Echo der Hörner, in den Notch Mountains zum Beispiel: Die Berge werden ihm zur Äolsharfe, und das übernatürliche Tiralira versetzt ihn mitten in die dorische Mythologie, Apollo, Diana und alle göttlichen Jäger und Jägerinnen ziehen an ihm vorüber. Können ein paar melodische Töne so wohlig sein und erhaben schön! Dem armen jungen Poeten erfüllt sich die Vorstellung von der Gesellschaft mit solchen Fabelgestalten, er ist ergeben, er achtet die Reichen, und doch sind sie nur für seine Phantasie so reich, und wie unglückselig wäre seine Phantasie, wenn sie nicht reich wären. Es bildet ja den Grundstock, auf den er seine Romane aufbaut, daß sie irgend einen hochumzäunten Wald haben, den sie Park nennen, daß sie in größeren und vornehmer eingerichteten Salons leben, als er je gesehen hat, daß sie in Kutschen fahren, sich nur in gewählter Gesellschaft bewegen, nach Badeorten und fernen Städten reisen. Damit verglichen sind die wirklichen Besitzungen der Reichen Baracken und Hundezwinger. Die Muse selbst täuscht ihren Sohn und übertreibt die Herrlichkeiten des Reichtums und hochgeborener Schönheit, sie verleiht ihnen einen Glanz, der eigentlich in der Luft, in den Wolken, und den Wäldern rings am Wege heimisch ist: – sie gibt ihnen damit einen erlauchten Beweis ihrer Gunst, wie sie die Söhne hohen Adels sich gegenseitig erweisen: es begrüßen sich die Aristokratien der Natur, die Herren der Macht und Luft.

 

Der einzelne hat immer Unrecht. Er plant vieles und will andere Einzelwesen zu seinen Hilfskräften machen; er streitet sich dabei mit einigen oder auch mit allen umher, begeht selbst ungeheure Fehler, und schließlich ist etwas zustande gebracht: Sie haben alle Vorteil davon gehabt, der einzelne aber bleibt im Irrtum befangen. Es ist etwas Neues zustande gekommen, aber nicht das, was sich jener versprochen hatte.

Ohne Zweifel bietet einem Menschen von gesundem Verstand Reisen Vorteile dar. So viele Sprachen er beherrscht, so viele Freunde er hat, so viele Künste und Berufe er kennt – so vielmal ist er ein Mensch. Ein fremdes Land ist dazu gut, um durch den Vergleich damit sein eigenes Land beurteilen zu können. Einer von den Vorteilen, die das Reisen bietet, ist der, daß es die Bücher und Werke der Heimat uns wert macht – wir gehen nach Europa und werden dort Amerikaner – ein anderer, daß wir Menschen finden. Denn wie die Natur die Früchte auf verschiedene Zonen verteilt hat, eine andere Frucht auf jeden Breitegrad, so bringt sie Wissen und schönen sittlichen Wert in Menschen unter, die weit voneinander entfernt wohnen. Und so trifft es sich oft, daß von den sechs oder sieben Lehrern, die jeder Mensch unter seinen Zeitgenossen nötig hat, einer oder zwei auf der anderen Seite der Welt leben.

 

Die Grundlage guter Manieren ist Selbstvertrauen. Notwendigkeit ist das Gesetz aller derer, die sich nicht selber zu beherrschen wissen.

 

Großstädte geben uns Konflikte. Man sagt, London und New York treiben einem Menschen den Unsinn aus. Ein großer Teil unserer Erziehung beruht auf Wirkungen des Freundes- und Bekanntenkreises. Knaben und Mädchen, die unter gut unterrichteten und geistig überlegenen Leuten erzogen worden sind, zeigen in ihrem Benehmen eine unschätzbare Anmut. Fuller sagt: Graf Wilhelm von Nassau habe dem König von Spanien jedesmal, wenn er seinen Hut abgenommen, einen Untertanen abspenstig gemacht. Ein einzelner wohlerzogener Mensch ist nicht zu haben – es muß eine ganze Gesellschaft von solchen da sein. Diese erhalten sich gegenseitig auf dem Höhepunkt. Besonders gilt dies von Frauen; um eine einzige Madame de Staël hervorzubringen, sind eine große Menge feingebildeter Frauen nötig, ganze Salons voll glänzender, eleganter belesener Frauen, die an Reichtum und Verfeinerung, an Schauspiele und Gemälde, Bildhauerwerke, Dichtungen und elegante Gesellschaft gewöhnt sind. Der Inhaber eines großen Handelshauses oder ein führender Rechtsanwalt oder Politiker kommt täglich in Berührung mit Haufen von Menschen aus allen Teilen des Landes, und zwar sind diese Menschen auch wieder die Triebräder, die geschäftlichen Vertreter jedes Landesteils; daher kann man für einen Mann mit leichter Fassungsgabe sich kaum eine gewähltere Bildung vorstellen. Außerdem müssen wir bedenken was für gesellschaftliche Bildungsmöglichkeiten eine Million von Menschen bietet! Der schönste Reiz, den das heutige London für unsere Einbildungskraft hat, ist der, daß man hoffen darf, unter einer so ungeheueren Mannigfaltigkeit von Menschen und Verhältnissen auch Raum für Menschen von romantischem Charakter zu finden, und daß der Dichter, der Mystiker und der Held erwarten dürfen, Geistesverwandten zu begegnen.

 

Während wir Großstädte als Mittelpunkte nötig haben, wo die besten Dinge zu finden sind, erniedrigen uns ebendieselben Städte, indem sie nichtigen Tand übertreiben. Der Landmann findet, die Stadt sei nur eine Garküche, ein Barbierladen. Er hat die großen Linien des Horizontes verloren: Berge und Ebenen und mit ihnen Einfachheit und Erhabenheit. Er ist unter eine kriechende, glattzüngige Bande geraten, die nach leerem Schein hascht und sklavisch sich der öffentlichen Meinung fügt. Das Leben wird zu einem Radau voll erbärmlicher Sorgen und Mißgeschicke herabgezogen. Ihr sagt, die Götter sollten ein Leben achten, dessen Zwecke auch die ihrigen sind; aber in den Städten haben sie euch an eine Wolke nichtssagender Belästigungen verraten:

Mirmidons, race féconde,
Mirmidons,
Enfin nous commandons,
Jupiter livre le monde
Aux mirmidons, aux mirmidons.
(Béranger)

Was ist so widerwärtig wie Lärm und Menschen, die schreien und wehklagen? Menschen, deren Windfahne stets nach Osten weist, die da leben um zu essen, die nach dem Doktor schicken, sich verhätscheln, ihre Füße am Kaminfeuer rösten, deren Sorge es ist, sich einen Polsterstuhl zu sichern und eine Zimmerecke, die vor Zug geschützt ist? Laß sie nur einmal mit der Aufzählung ihrer Gebrechlichkeiten beginnen, und die Sonne wird untergehen, ehe sie mit ihrer Geschichte fertig sind! Von diesen Nörglern mögen wir lernen, den kleinen Bequemlichkeiten des Lebens nicht allzu große Wichtigkeit beizulegen. Einem Menschen, der an der Arbeit ist, macht der Frost nur rote Backen: Regen und Wind hat er vergessen sobald er wieder sein Haus betrat. Laßt uns lernen, derbe Kost zu essen, uns einfach zu kleiden, auf hartem Lager zu schlafen. Der geringste Sieg, den wir über die Ansprüche unseres Gaumens gewinnen, hat gewisse gute Folgen, deren Bedeutung nicht leicht zu schätzen ist. Deshalb wollen wir uns aber noch nicht in eine kleinliche Enthaltsamkeit hineintreiben lassen. Es ist Aberglaube, sich auf eine bestimmte Ernährungsweise zu versteifen. Schließlich besteht alles aus denselben chemischen Atomen.

 

Was wir einen unbedeutenden Lebensberuf oder eine plebejische Gesellschaft nennen, sind Lebensberufe und Gesellschaften, deren poetische Momente noch nicht entdeckt sind, die du aber heute noch ebenso beneidet und berühmt machen kannst, wie es die anderen sind. Laßt uns in unserer Wertschätzung von den Königen lernen. Das Königtum verleiht der Gastfreundschaft, der Familienbeziehung, der Eindringlichkeit des Todes und tausend anderen Dingen die eigene Wertschätzung, eine königliche Gesinnung erfordert das. Neuen Werten Allgemeingültigkeit geben – das ist Entwicklung.

 

Der Mensch ist eine Art Gesetz, eine immer wechselnde Reihe von Kombinationen, ein Prinzip der Auswahl, das alles, was ihm genehm ist, um sich vereinigt, und zwar überall, wo dieser Mensch hinkommt. Er sucht sich immer nur selbst aus der Vielheit heraus, die an ihm vorbeifließt und sich um ihn sammelt. Er ist einem jener Hafenbäume zu vergleichen, die wir von dem Ufer aus in die Flüsse hinausschieben, um das Treibholz aufzuhalten, oder dem Magnet unter Stahlsplittern. Ereignisse, Worte und Personen machen sich in seinem Gedächtnis heimisch, ohne daß er imstande wäre zu sagen warum, und sie bleiben dort, weil ihre Beziehung zu seinem Ich für sein Leben sehr wesentlich ist, wenn auch noch völlig unaufgeklärt. Sie werden ihm zu Gleichnissen für seine Wertschätzung und können Teile seines zweiten Bewußtseins erleuchten, für die er in der konventionellen Bildersprache der Bücher oder anderer Erklärer vergeblich nach einem Ausdruck suchen würde. Was meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, soll ihr zu eigen werden, ebenso wie ich dem Mann entgegen gehe, der an meine Tür klopft.

 

Ich erzeuge dieselbe Machtwirkung überall. Auf solche Art geht das gewaltige Ideal vor uns her, und niemand sah es jemals hinter sich. Bisher kam noch kein Mensch an eine Erfahrung heran, die ihn satt machte, denn sein Gutes kündigt ein Besseres an. Vorwärts, immer vorwärts! In hochausblickenden Stunden wissen wir, daß immer noch eine neue Vorstellung vom Leben und den Pflichten möglich ist. Auch in vielen Geistern um uns herum sind die Elemente zu einer solchen Lebensanschauung vorhanden, aber das Leben selbst wird noch jeden Bericht, den wir niederzuschreiben vermögen, überflügeln. Und die neue Weltanschauung wird den Skeptizismus und das Selbstvertrauen der Gesellschaft umspannen, ein neuer Glaube soll noch außerhalb des Unglaubens geboren werden, denn der Skeptizismus ist nicht allein aus uns oder gegen die Gesetzmäßigkeit, sondern er ist ein Vorschreiten bis an die Grenze der bejahenden Weltanschauung. Die neue Philosophie muß noch diese Grenzen umschließen und muß von neuem jasagen lernen außerhalb der letzten Weltanschauung und ihres letzten Skeptizismus, die neue Philosophie muß aber auch außerdem noch den ältesten Glauben in sich eingeschlossen haben.

 

Ich kenne nichts, das im Leben eine solche Befriedigung gewährt, als wirkliches tiefgehendes Sichverstehen. Es kann zwischen zwei tüchtigen Menschen auch nach einem langen Hin und Her von geschäftlichen Aufträgen eintreten, denn jeder von ihnen ist seiner selbst und seines Freundes sicher. Darin liegt ein Empfinden, das an innerer Befriedigung alle anderen Geschenke hinter sich läßt und die Politik, Handel und Kirche gering erscheinen läßt. Wenn sich die Menschen einander gegenüber treten, wie sie es tun sollten, jeder einzelne ein Wohltäter, ein Sternenregen, mit Gedanken, Taten und Erfüllungen ausgerüstet, so wird die Natur in ihrer Begegnung ein Fest feiern, denn sie verkündet alle Wirklichkeiten. Die Liebe der Geschlechter ist das erste Anzeichen für eine solche Freundschaft, wie alle Dinge wiederum sinnbildliche Liebe sind. Diese Beziehungen zu den besten Menschen hielten wir einst für Jugendschwärmerei, mit der Entwicklung des Charakters werden sie unsere gegenständlichste Lust.

Daß doch unsere Beziehungen zu den Menschen aufrichtiger wären! – Daß wir es unterlassen könnten, etwas von ihnen zu fordern, ihr Lob, ihre Unterstützung, ihr Mitleid, und uns damit begnügten, die ältesten Gesetze des Austausches zu verwirklichen! Sollten wir denn nicht einigen – oder doch wenigstens einem Menschen gegenüber nach ungeschriebenen Vorschriften handeln und uns ein Bild von der Spannkraft seiner Seele machen können? Sollten wir nicht unserem Freunde lieber die Höflichkeiten der Wahrheit, des Stillschweigens und der Duldsamkeit zukommen lassen? Müssen wir ungeduldig sein, uns mit ihm zu treffen? Wenn wir wirkliche Beziehungen zu ihm haben, müssen wir uns ja begegnen. Nach einer Überlieferung konnte in der alten Welt sich kein Gott vor einem anderen Gott durch eine Metamorphose verbergen. In einem griechischen Verse heißt es: »die Götter kennen einander.« Freunde befolgen ebenfalls diese göttlichen Gesetze, sie streben zueinander hin und können nicht anders:

»Wo einer sich im anderen verliert,
Der Freund dem Freunde höchste Lust gebiert.«

Ihre Beziehungen sind nicht von ihnen geschaffen, sondern sie haben sie nur zugelassen. Die Götter ziehen ohne Seneschall in unseren Olymp ein, und sie richten sich dort schon selbst in der Reihenfolge ihres göttlichen Alters ein.

 

Es ist etwas unbestimmtes in all den Wörtern, die wir gebrauchen, um das Vornehme in den Umgangsformen und der sozialen Kultur zu bezeichnen, denn ihre Erscheinungsformen sind flüchtige, und die letzte Wirkung wird von unsern Sinnen meist für die Sache selbst gehalten. (Das Wort gentleman hat kein entsprechendes Abstraktum, die Eigenschaft zu bezeichnen. Gentility ist zu demütig, und gentilesse ist veraltet. Unsere Muttersprache macht einen Unterschied zwischen fashion, einem Wort mit begrenzter und ernster Bedeutung, und jenen heldenhaften Eigenschaften, die dem Wort gentleman zugehören. Indessen müssen die gebräuchlichen Wörter jedesmal vorgezogen werden: man wird entdecken, daß sie die Sache in ihrer Wurzel erfassen.) Der wesentliche Unterschied bei allen diesen Namen, wie Höflichkeit, Ritterlichkeit, Vornehmheit und dergleichen besteht darin, daß zumeist nur die Blume und die Frucht, nicht aber der Same des Baumes Beachtung findet. Man sieht das schöne Gewand, in das sich jedesmal die Gegenwart hüllt, nicht aber ihren Wert. Und nun handelt es sich darum, ob der Erscheinung noch über die Bezeichnungen hinaus, die das Empfinden des Volkes zum Ausdruck bringen, etwas Wesentliches zugrunde liegt.

 

Um von dem vornehmen Geschmack so viel Gutes zu sagen wie möglich: – er beruht auf Wirklichkeit und haßt nichts so sehr wie den Protzen; – es freut ihn immer, wenn er Protzen ausschließen oder irreführen und sie in lebenslänglichen Bann tun kann. Alle anderen großen Fähigkeiten der Leute von Einfluß auf diese Welt lernen wir der Reihe nach geringer zu bewerten, doch niemals verlieren wir den Hang, gerade in kleinen und kleinsten Dingen uns an unsere eigene Wahrnehmung und Bewertung zu halten, und das macht gerade den Grundstock aller Ritterlichkeit aus. Es gibt kaum eine Form des Selbstvertrauens, die der vornehme Geschmack nicht gelegentlich annimmt, wenn das Selbstvertrauen gesund und in seinen natürlichen Grenzen bleibt. Ja, die allgemeine Sitte gibt ihm volle Bewegungsfreiheit in ihrem Salon. Eine gesunde Seele ist immer vornehm und hat, wenn sie will, in den sorgsamst gehüteten Kreis ungehinderten Zutritt. Und will Jock der Fuhrmann sich bei Gelegenheit irgend einer Umwälzung hineindrängen, so hat auch er Aussicht auf Erfolg. Doch hüte er sich, daß seinem Kopf nicht in der neuen Umgebung schwindelig wird, wenn seine eisenbeschlagenen Schuhe im Walzer und im Kotillon mitmachen wollen. Denn die Umgangsformen sind nicht starr, die Gesetze der Lebensart passen sich der Willenskraft des einzelnen an. Das junge Mädchen, das zum erstenmal eine Ball besucht, der Mann vom Lande, der in der Hauptstadt eingeladen ist, glauben, daß es irgend eine starre Vorschrift gibt, nach der jede Handlung und jede Begrüßung vor sich gehen muß, daß, wenn man sie verfehlt, man aus dieser Gesellschaft ausgewiesen werden kann. Später machen sie die Erfahrung, daß ein feines Verständnis und ein selbständiger Charakter sich ihre Formeln in jedem Augenblick selbst machen und uns auf eine ganz neue und ursprüngliche Weise sprechen oder schweigen heißen, Wein annehmen oder verweigern, verweilen oder gehen, sich in einen Stuhl setzen oder mit den Kindern auf dem Flur umherspielen oder auf dem Kopfe stehen oder sonst irgend etwas anderes lassen. Und dieser klar handelnde Wille bleibt immer innerhalb des vornehmen Geschmacks, selbst wenn alle anderen sich ungebildet benehmen. Alles was der Geschmack erfordert, ist eine gesammelte Ruhe und Selbstgenügsamkeit. Ein Kreis von wohlerzogenen Männern würde eine Gesellschaft feinfühliger Einzelwesen ergeben, in der jedes einzelnen angeborene Umgangsformen und sein Charakter in die Erscheinung zu treten vermöchten. Wenn der formvollste Mensch nicht diese Eigenschaft hat, dann ist es nichts mit ihm.

 

Unser Widerwillen wächst mit der Anwesenheit von Eindringlingen, die ein lebhaftes Haus mit Tamtamschlagen und Umherrennen erfüllen, weil sie irgend einer armseligen Konvention nachkommen müssen. Ebenso unsympathisch ist mir jenes niedrige Sichgemeinmachen mit des Nachbars Alltagsbedürfnissen. Warum sollen wir den Gaumen unseres Nächsten zu unserem Vertrauten machen? wie närrische Personen, die lange miteinander gelebt haben, es merken, wenn irgend einer unter ihnen nach Salz oder nach Zucker verlangt. Mein Begleiter mag mich um Brot bitten, wenn er das Brot haben will, oder mich um Lorbeerblatt oder Arsenik bitten, wenn er es braucht, und nicht nur die Hand ausstrecken, als könnte ich ihm die Wünsche von seiner Nase ablesen. Jede natürliche Verrichtung kann durch Überlegung und durch die Einsamkeit geadelt werden. Die Hast wollen wir den Sklaven überlassen. Unsere Art der Begrüßung und die Lebensformen unserer Erziehung sollten zum mindesten ein schwaches Anklingen an den Reichtum unseres Erlebens sein.


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