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XI
Ein gutgezielter Schlag.

Jim war sich nun darüber klar geworden, daß es dem anderen bitter ernst war, und er hielt sich daher still. Seine Blicke irrten allerdings unruhig im Zimmer umher, als suche er einen Ausweg, auf dem er entkommen könnte. In seinen Augen leuchtete ein unheimlicher Rachedurst. Er gleicht einer gespannten Stahlfeder, dachte Krag, lasse ich ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen, so stürzt er sich auf mich.

Und daher hielt der Detektiv während des folgenden Gespräches die Pistole unverwandt auf des Verbrechers Stirn gerichtet.

»Das sollen sie mir bezahlen«, zischte Jim. »Ich werde mich an die Polizei wenden.«

»Wollen Sie mir den Dienst erweisen, ein Papier aus meiner Rocktasche zu nehmen, Frau Hjelm?« bat Krag. »Das in dem braunen Kuvert.«

Frau Hjelm, die vor Angst und Grausen am ganzen Körper zitterte, zog das gewünschte Papier aus seiner Tasche.

»Übergeben Sie es Herrn Charter«, sagte Krag.

Jim nahm das Kuvert neugierig aus ihrer Hand und öffnete es.

»Satan!« schrie er. »Sie sind also gar nicht Arzt?«

»Nein, wie Sie aus dem Papier erkennen, bin ich Polizist, Detektiv. Wollen Sie sich also an die Polizei wenden, so dürfen Sie mir Ihr Vertrauen schenken. Wie Sie sehen, mache ich es Ihnen sehr bequem.«

Jim Charter lachte höhnisch und warf Kuvert und Papier auf den Tisch.

»Was wollen Sie denn von mir? Erklären Sie sich kurz und lassen Sie uns nicht die Zeit verschwenden.«

»Ich will, daß Sie gestehen sollen.«

»Was soll ich gestehen?«

»Den Mord an dem alten Aakerholm.«

Jim lachte roh auf.

»Ich glaube, meiner Seel', Sie sind verrückt«, sagte er. »Der alte Idiot hat sich ja selbst erschossen.«

»Nein, Sie haben Aakerholm erschossen.«

»Ich? Nun, lassen Sie uns einmal die Möglichkeit erwägen, daß ich ihn erschossen hätte. Dann könnte ich aber bei Gott beweisen, daß es in der Notwehr geschah. Er schoß zuerst auf mich.«

»Warum?«

»Das brauche ich Ihnen nicht zu erzählen.«

»Wissen Sie, Jim Charter, daß Aakerholm sich vor Ihnen fürchtete?«

»Ja, das weiß ich.«

»Wissen Sie auch, warum er sich vor Ihnen fürchtete?«

»Ja, auch das weiß ich. Aber für all das kann Ihnen mein Bruder die beste Erklärung geben.«

Jim sah den Detektiv mit triumphierenden Mienen an, als wolle er sagen: So ist es mir also doch endlich gelungen, dich stutzig zu machen.

Krag aber antwortete ganz ruhig.

»Ja so, Bengt ist also Ihr Bruder.«

»Allerdings. Aber – begreifen Sie denn nicht, wie töricht Sie zu Werk gehen. Wie soll es Ihnen gelingen, den Beweis beizubringen, daß ich Aakerholms Mörder sei? In der ganzen Welt gibt es keinen Gerichtshof, der es wagen würde, mich zu verurteilen.«

»In dem, was Sie soeben gestanden haben, liegt ja bereits ein halber Beweis gegen Sie vor.«

Jim lachte laut auf.

»Hahaha! Das nennen Sie einen halben Beweis? Ich habe mich ja nur auf Ihre Kosten ein wenig lustig gemacht.«

»Wir haben einen Zeugen für unser Gespräch.«

»Frau Hjelm meinen Sie? Die wird schweigen wie das Grab.«

Jim warf ihr einen scharfen Blick zu und fuhr fort:

»Sie wird es wohl nicht wagen, gegen mich auszusagen.«

Frau Hjelm antwortete nicht. Schweigend saß sie da und sah die beiden Männer an. Ihre Augen waren rot vom Weinen, ihre Gesichtszüge verzerrt vor Angst.

»Aber ich habe noch andere Beweise gegen Sie«, sagte Krag. »Warten Sie nur, bis Sie vor den Schranken stehen, dann werden Sie sehen, was alles ans Licht kommt.«

»Vor den Schranken? Wie töricht! Wer sollte mich dorthin führen?«

»Ich.«

»Sie machen sich ja geradezu lächerlich. Wollen Sie allein mich verhaften?«

»Ja, ich allein.«

»Aber verstehen Sie denn nicht, daß das einzige, was mich daran hindert, meiner Wege zu gehen, das kleine Ding ist, das Sie dort in der Hand haben? Sie beabsichtigen vielleicht, mir mit einer Hand Fesseln anzulegen, während Sie in der anderen den Revolver halten? Glauben Sie wirklich, daß Ihnen das gelingen würde? Sobald Sie mir zu nahe kommen, schlage ich Ihnen ins Gesicht. Ich bin zehnmal so stark wie Sie.«

»Wissen Sie auch«, erwiderte Krag, »daß nur drei Minuten von hier, im Kvamberger Gutshause, sich ein Polizeibeamter befindet nebst zwei kräftigen Schutzleuten und außerdem mein Freund Doktor Rasch? Wenn ich nun Frau Hjelm bitte, hinauszugehen, meinen zweiten Revolver aus meiner Rocktasche zu nehmen und damit einen Schuß in die Luft abzugeben, so kommen meine Freunde sofort herbeigeeilt. Und dann wären Sie also unser Gefangener.«

Jim runzelte die Brauen.

»Nun, tuen Sie es«, sagte er. »Wir wollen sehen, ob es glückt. Sie sind übrigens schlauer, als ich es erwartet hatte.«

»Aber diese Arbeitsweise«, fuhr Krag unbeirrt fort, »würde zu großes Aufsehen erregen. Ich könnte zum Beispiel riskieren, daß mein guter Freund Bengt, Ihr edler Bruder, dadurch Argwohn schöpfen würde. Daher ist es meine Absicht, Ihre Festnahme auf eine andere, einfachere Art vorzunehmen.«

Er näherte sich Jim, immer mit erhobenem Revolver.

Jim ballte die Hände. Es waren zwei gewaltige behaarte Fäuste.

»Ja, ich sehe sehr wohl, daß Sie Kraft haben«, sagte Krag mit unverändertem Gleichmut. Er sprach in leichtem Unterhaltungston, der von den rohen Ausbrüchen des anderen auffällig abstach.

»Sie sind vielleicht auch Boxer?« fragte er.

»Ob ich Boxer bin?« fragte Jim zurück. »Ich habe die kräftigsten schwarzen Boxer in Amerika zu Boden geschlagen. Hüten Sie sich.«

Krag war nun ganz dicht bei ihm und sah, wie die groben Knöchel seiner Fäuste weiß wurden und zitterten. Ein Hieb von ihnen konnte einen Ochsen zur Strecke bringen. Krag aber blieb völlig ruhig. Er hielt den Revolver in der linken Hand.

»Ach, wirklich?« sagte er. »Selbst Neger haben Sie überwunden? Ja, ich glaube fast, ich würde ein paar tausend Dollar auf Sie wagen.«

Er maß ihn sachkundig von oben bis unten, wie ein sportinteressierter Lord sich die Boxer vor einem Wettkampf anzusehen pflegt.

»Unerhörte Kräfte«, sagte er.

Der andere wurde ein wenig verwirrt angesichts dieser merkwürdigen Erwägungen. Und das gerade war Krags Absicht. Er fuhr fort:

»Unerhörte Kräfte, eine breite, starke Brust, viel Ausdauer, aber soweit ich es beurteilen kann, fehlt es Ihnen an Geschmeidigkeit und Schnelligkeit. Dazu kommt, daß Sie die allerneuesten, sich auf die Anatomie stützenden Boxergriffe nicht studiert haben. Was sagen Sie zum Beispiel zu diesem –«

Schnell wie ein Pfeil hatte Krag die rechte Faust unter des anderen Unterkiefer gestoßen – eine der empfindlichsten Stellen des menschlichen Körpers. Jims Gesicht wurde aschfahl, das Blut sickerte zwischen seinen Lippen hervor, und er sank der Länge nach zu Boden. Im Fallen zog er einen kleinen Tisch mit hinab.

Krag achtete nicht auf Frau Hjelms hysterisches Geschrei. Er nahm ein Paar Handfesseln aus der Tasche, die innerhalb zweier Sekunden des anderen Gelenke umschlossen. Darauf benetzte er sein Taschentuch mit dem Inhalt einer kleinen Flasche, die er aus der Westentasche zog. Es war Chloroform. Er hielt das Taschentuch eine kleine Weile vor Jims Nase.

»Nun ist er für mindestens eine Stunde unschädlich«, sagte er.

Frau Hjelm sah ihn mit entsetzten Augen an.

»Ist er auch nicht tot?« fragte sie.

»Nein«, antwortete Krag lächelnd. »Er schläft nur. Er hatte heute einen unglücklichen Tag, der rote Jim Charter.«

»O Gott, was werden die Leute sagen!«

»Seien Sie beruhigt, Frau Hjelm«, sagte Krag – er stand bereits in Hut und Mantel. »Niemand soll erfahren, was hier vorgegangen ist. In einer Stunde werden wir den Burschen abholen, und Sie brauchen sich keine Sorge um ihn zu machen. Er befindet sich nun in der Welt der Phantasie …«

Krag ging.

Als er sich dem Gutshause näherte, bemerkte er, daß Bengts Zimmer noch immer hell war. Der Polizeibeamte und Doktor Rasch erwarteten ihn mit Ungeduld. Der letztere fragte, ob er den geheimnisvollen Fremden erreicht habe.

»Ja«, antwortete der Detektiv. »Ich habe ihn erreicht. Er liegt betäubt und gefesselt in der Villa der ›Modedame‹. Es ist nun bewiesen, daß er der Mörder des alten Aakerholm ist. Er heißt Jim Charter und ist Bengts Bruder.«

Darauf berichtete Krag in aller Kürze den Vorgang bei Frau Hjelm und erteilte seine Anordnungen für das, was nun geschehen sollte.

Er und der Polizeibeamte wollten Bengt verhaften, der, wie es schien, noch wach war und bei der Arbeit saß.

Inzwischen sollte der Arzt mit den beiden Schutzleuten in den Park hinuntergehen und sorgfältig das alte Lusthaus durchsuchen, in dem Krag Jim Charter hatte verschwinden sehen.

Es verhielt sich so, wie Krag es angenommen hatte: Bengt saß in seinem Zimmer und schrieb. Als der Polizeibeamte und Krag eintraten, wollte er gegen den letzteren als den vermeintlichen »Doktor Krag« auffahren. Der Beamte aber hielt ihn zurück, und Krag stellte sich nun als der vor, der er in Wirklichkeit war; als Detektiv Asbjörn Krag aus Kristiania.

Bengt fragte, was sie wünschten, und als ihn der Beamte wegen Beteiligung an dem durch seinen Bruder an Aakerholm verübten Morde festnahm, war er so verblüfft, daß er es ruhig geschehen ließ. Ohne Widerstand ließ er sich die Handfesseln anlegen.

Krag und sein Gehilfe warteten nun noch einige Minuten auf die Rückkehr des Arztes und der Schutzleute.

»Sieh her, was wir fanden!« rief Doktor Rasch schon in der Tür.

Sie brachten ein ganzes Paket Kleidungsstücke mit; Krag untersuchte eins nach dem anderen. Es waren merkwürdige Sachen: alte Lederhosen, Goldgräbergürtel, buntfarbige Schärpen, Ledertaschen, schwere hohe Stiefel und so weiter.

»Ganz, wie ich es mir dachte«, murmelte Krag. »Hätte ich gewußt, daß er dort sein Arsenal hat, so wäre das Drama früher gelöst und das Leben des alten Aakerholm vielleicht erhalten worden.«

Ehe Bengt abgeführt wurde, hatte Krag eine zwei Minuten lange Unterredung unter vier Augen mit ihm. Danach sagte der Detektiv zu seinem Gehilfen:

»Alles bereit. Fuhren Sie Herrn Aakerholm ab, und fahren Sie mit ihm bei Frau Hjelm vorüber. Holen Sie den dort gefesselt liegenden Boxer aus dem Hause. Es ist eine leichte Arbeit, denn er wird nicht erwachen, ehe er in seiner Zelle ist.«

Kaum eine Viertelstunde später verließ Bengt in seinem eigenen geschlossenen Wagen in Gesellschaft des Polizeibeamten und der beiden Schutzleute den Gutshof.


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