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X
Der Rotbart.

Der rotbärtige Mann stand wohl eine Minute lang ganz still und starrte Doktor Rasch an. Und dieser wich entsetzt zur Tür zurück.

»Stillgestanden«, befahl der andere in einem merkwürdigen Ton. Es klang, als kämen die Worte aus weiter Ferne.

Und nun sah der Arzt, daß ein Revolver in seiner Hand blitzte. Zu Tode erschrocken, blieb er unbeweglich stehen. Was wollte dieser Fremde von ihm? Wollte er ihn töten? War er vielleicht auf der Jagd nach Asbjörn Krag?

Er nahm all seinen Mut zusammen und fragte ihn so streng, wie er es im Augenblick vermochte:

»Wie können Sie es wagen, sich auf diese Weise in mein Zimmer einzudrängen?«

Der andere antwortete nicht, er spielte nur gleichgültig mit seinem Revolver. Seine Augen blinzelten merkwürdig.

»Es ist Polizei im Hause«, fuhr Doktor Rasch fort, »wenn Sie sich nicht sofort entfernen, rufe ich sie herbei.« Der Fremde lachte.

Plötzlich hob er den Revolver und zielte auf des Arztes Stirn, indem er mit seiner merkwürdigen Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien, sagte:

»Wenden Sie sich augenblicklich mit dem Gesicht nach dem Kamin oder Sie sind des Todes!«

Doktor Rasch wollte sich besinnen.

»Augenblicklich!« rief der Fremde wieder.

Es blieb ihm nichts anderes zu tun übrig, er drehte sich nach dem Kamin um, vor Grauen am ganzen Körper zitternd, denn er fühlte, daß die kleine Revolvermündung beständig auf seinen Nacken gerichtet war.

So stand er etwa eine Minute. Da vernahm er hinter sich ein Lachen, das er zu erkennen meinte. Rasch wandte er den Kopf. Im Sessel vor dem Kamin saß lachend Asbjörn Krag. Auf dem Tisch lag eine rote Perücke und ein roter Bart.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe der Arzt die Sprache wiedergewonnen hatte. Inzwischen ließ Krag seiner Heiterkeit über des anderen Verwirrung freien Lauf.

»Du hast mich fast zu Tode erschreckt«, sagte der Arzt schließlich. »Das war aber denn doch ein etwas grober Scherz.«

»Du wußtest ja, daß ich um Punkt elf Uhr kommen würde. Du wußtest auch, daß ich heimlich und maskiert kommen würde. Es war durchaus kein Scherz.«

»Gott sei gelobt, daß du es warst. Ich glaubte schon, es sei der andere.«

»Welcher andere?«

»Nun, der Mörder, der Mann aus dem Pavillon.«

»Diese Vermutung war gar nicht so dumm von dir. Wenn ich diesen Bart und diese Perücke trage, sehe ich ihm tatsächlich sehr ähnlich.«

»Hast du ihn denn gesehen?«

»Nein. Aber Frau Hjelm hat ihn mir beschrieben. Sie kennt ihn.«

»Oho! Sie ist womöglich mit an dem Morde beteiligt?«

»Nein, absolut nicht. Sie steht vollkommen außerhalb der Sache. Aber den Mörder kennt sie trotzdem.«

»Hält er sich noch immer hier in der Gegend auf?«

»Ja. Und nach allem zu urteilen, befindet er sich ganz in unserer Nähe. Ist während meiner Abwesenheit etwas Verdächtiges vorgefallen?«

»Nein, gar nichts. Bengt hat sich fast die ganze Zeit über in seinen Zimmern aufgehalten.«

»Und der junge Polizeibeamte?«

»Ja, das ist ein drolliger Bursche. Er hat mich immer wieder umkreist und mich in eine Unterhaltung zu ziehen versucht. Es sieht fast aus, als glaube er, ich hätte ihm etwas zu erzählen.« Krag nickte.

»Nun, du erzähltest ihm aber nichts?«

»Nein. Dagegen berichtete er mir gelegentlich, Bengt habe an alle in der Nähe gelegenen Bahnstationen telephoniert.«

»Was antwortetest du?«

»Nichts von Bedeutung. Ich verstand ja gar nicht, was er damit sagen wollte.«

Krag nickte wieder und murmelte halb vor sich hin:

»Ja, er ist ein wachsamer, heller Bursche.«

Der Detektiv legte plötzlich die Finger an die Lippen, und sie lauschten beide mit angespannter Aufmerksamkeit.

Auf dem Korridor draußen ließen sich schleichende Schritte vernehmen.

Der Arzt machte eine Bewegung nach dem Revolver hin, Krag aber schob ihn beiseite.

»Das ist er!« sagte er.

Gleich darauf pochte es eine bestimmte Anzahl von Malen an die Tür, und Krag rief:

»Herein!«

Es war der junge Polizeibeamte. Er trug Zivil und hatte eine Blendlaterne in der Hand.

»Sehr schön«, sagte der Detektiv. »Lösch die Lampe, Doktor, damit man von draußen nicht die vielen Schatten sieht.«

Der Arzt tat es. Und nun war das Zimmer völlig dunkel, bis auf den breiten weißen Streifen, der sich von der Blendlaterne aus über den Boden zog.

»Ich erhielt Ihr Briefchen«, sagte der junge Mann. »Und ich hoffe, daß ich pünktlich bin.«

»Durchaus.«

»Ist die Zeit zum Handeln da?«

»Noch nicht.«

Die drei Herren saßen eine Weile schweigend beisammen. Dann sagte der Beamte:

»Ich war sehr erstaunt, Sie hier zu treffen, und sagte mir in demselben Augenblick, daß etwas faul sein müsse im Staate Dänemark. Damit hatte ich dann auch gleich die Erklärung für die geheimnisvolle Order des Polizeipräsidenten aus Kristiania.«

»Ja. Mit dem alten versoffenen Polizeidirektor hier wollte ich nicht zusammenarbeiten«, sagte Krag, »er mußte ausgeschaltet werden, und das konnte nur durch eine Anordnung der höchsten Instanz geschehen, da ja nun mal die Ortspolizei für diese Angelegenheit zuständig ist.«

»Wie stehen die Dinge eigentlich? Der alte Herr ist wohl ermordet worden?«

»Ja, ins Herz geschossen.«

»Das dachte ich mir. Von seinem Pflegesohn?«

»Nein, der ist aber Mitschuldiger.«

»So soll er uns nicht entkommen. Er hält sich dort in seinen Zimmern auf. Die ganze Zeit über war er mit Papieren und Schreibereien beschäftigt.«

Der Beamte trat an das nach dem Hof gehende Fenster, von dem aus man die drei Zimmer von Bengts Wohnung sehen konnte.

Asbjörn Krag und der Arzt folgten ihm.

»Löschen Sie die Blendlaterne«, befahl der Detektiv.

Im nächsten Augenblick herrschte tiefes Dunkel im Zimmer.

Krag schob die Vorhänge beiseite.

Nur zwei von Bengts Zimmern waren erleuchtet. Ein sich bewegender Schatten zeichnete sich an der Gardine ab.

»Das ist Bengt«, sagte der Arzt.

»Ja, er muß es sein«, meinte Krag.

An den Schattenbildern erkannten sie, daß Bengt an einem Tisch saß. Plötzlich machte der Schatten eine Bewegung mit der Hand, als ob sie gestikuliere.

»Er spricht mit jemandem«, sagten der Detektiv und der Polizeibeamte wie aus einem Munde.

Die drei Herren blickten in größter Spannung nach dem erleuchteten Fenster. Sie waren sich bald völlig klar darüber, daß Bengt nicht allein war; sicher sprach er mit jemandem, der an der anderen Seite des Tisches saß.

Nun erhob er sich plötzlich, und da trat auch der Schatten des anderen auf der Gardine hervor. Krag sah, daß er ein großer, bärtiger Mann war, im Jagdrock, eine Tasche an einem Lederriemen über der Schulter, eine Pelzmütze auf dem Kopf.

»Wer kann das nur sein?« fragte der Polizeibeamte.

»Das will ich Ihnen sagen«, antwortete der Detektiv und drückte heftig des anderen Arm, » es ist der Mörder, der Mann, der Aakerholm erschossen hat.«

»Wollen wir ihn dann nicht sofort festnehmen? Ich habe zwei Schutzleute in der Gesindestube, die auf einen Wink von mir bereit sind, herbeizustürzen.«

»Noch nicht.«

Man vernahm einen knipsenden Laut, und die beiden Herren begriffen, daß Krag in der Dunkelheit seinen Revolver versuchte.

Die Schatten der Gestalten drüben standen nun dicht beisammen.

»Sie verabschieden sich voneinander«, flüsterte der Arzt.

Der Mann im Jagdrock wandte sich um und verließ das Zimmer. Bengt folgte ihm und hielt eine Lampe in der rechten Hand. Die drei Lauscher beobachteten, wie sich die Fenster im Korridor je nach dem Weitergehen der beiden nacheinander erhellten. Schließlich wurde die Tür geöffnet, und eine dunkle Männergestalt schlich auf den Hof hinaus. Bengt kehrte mit der Lampe in sein Zimmer zurück.

»Bewachen Sie ihn«, flüsterte Asbjörn Krag. »Machen Sie kein Geräusch. Sie stehen mir dafür, daß er das Haus nicht verläßt.«

»Sie dürfen mir vertrauen. Er soll …«

Aber Krag war bereits aus dem Zimmer. Rasch ging er auf den Zehenspitzen die Treppen hinunter und durch die Korridore. In dem Augenblick, da er aus dem Hause trat, sah er den Mann im Jagdrock im Dunkel des Parks verschwinden.

Der Detektiv warf einen Blick zu Bengts Fenstern hinauf. Ja, der Schatten saß wieder still am Tisch.

Krag schlich längs der Hausmauer, lautlos wie eine Katze. Er segnete das Tauwetter, das nun auf die Kälte gefolgt war. Der Schnee knirschte nicht mehr unter den Schritten.

Als Krag den Park erreicht hatte, gewahrte er wieder die dunkle Gestalt. Er folgte ihr langsam und so geräuschlos wie möglich.

Der andere nahm den Weg an der Stelle vorüber, an der Aakerholm ermordet worden war. Da blieb er stehen und sah sich um. Aber nur, um sofort wieder weiterzugehen. Asbjörn Krag mußte in seinem stillen Sinn die unerschrockene Kaltblütigkeit dieses Menschen bewundern.

Gleichgültig ging der Fremde an dem niedergerissenen Pavillon vorüber, bog nach links ab und schlug einen der engsten Parkwege ein. Krag war nun ganz dicht hinter ihm.

Plötzlich blieb der andere vor einem baufälligen, alten Lusthaus stehen und spähte ringsum. Es gelang dem Detektiv, sich im letzten Augenblick hinter einem Baum zu verbergen. Der Mann öffnete eine Tür, die in ihren verrosteten Angeln heiser knirschte und trat in das Haus.

Krag wartete etwa fünf Minuten; aber der andere kam nicht wieder heraus. Da murmelte der Detektiv vor sich hin:

»Aha, Jim Charter, nun ist der Augenblick bald da, wo wir miteinander reden werden.«

Er verließ seinen Ausguck und eilte auf demselben Weg zurück, auf dem er gekommen war.

Aber er kehrte nicht wieder in das Haus ein, sondern ging quer über den Hof und bog dann in die kleine Allee ab. Er begegnete unterwegs keiner Menschenseele.

Aus einem der Fenster von Frau Hjelms Villa kam Licht. Krag ging auf den Haupteingang zu und klopfte.

Frau Hjelm öffnete selbst.

»Er war noch nicht hier«, flüsterte sie.

»Ich weiß es«, antwortete Krag. »Aber er folgt mir sicher auf den Fersen. Beeilen Sie sich, schließen Sie die Tür.«

Als Krag eingetreten war und Frau Hjelms Gesicht gesehen hatte, sagte er:

»Sie müssen sich bemühen, ruhiger zu scheinen, er ist sicher sehr mißtrauisch.«

»Ich will mich so sehr wie irgend möglich beherrschen«, sagte sie. »Aber bedenken Sie doch, welche peinliche, entsetzliche Szene meiner wartet. Übrigens habe ich hier ein sehr gutes Versteck für Sie ausgefunden.«

Sie wies auf eine der Türen. Da konnte Krag, hinter einer schweren Portiere verborgen, alles beobachten, was im Zimmer vorging, ohne selbst gesehen zu werden.

»Haben Sie auch eine Waffe bei sich?« fragte Frau Hjelm nervös.

Krag zeigte ihr seinen Revolver.

»Aber er ist sicher ein guter Schütze.«

Krag lachte.

»Er wird keine Gelegenheit finden, seine Geschicklichkeit zu beweisen«, sagte er.

Sie hatten kaum fünf Minuten gewartet, als sie auf der Treppe Schritte vernahmen.

Der Detektiv eilte in sein Versteck. Er hielt den Revolver in der Hand.

Frau Hjelm öffnete die Tür. Durch ein kleines Loch in der Portiere erkannte Krag den Mann im Jagdrock. Er hatte ein rotbäckiges, brutales Gesicht.

»Bist du es, Jimmi?« hörte er Frau Hjelm sagen. »Ich erwartete dich nicht so zeitig. Du schriebst, daß du um zwölf Uhr kommen würdest.«

Der Rotbart murmelte ein paar unverständliche Worte und schleuderte die Jagdtasche auf den Tisch.

»Ich komme, um mir endlich eine entscheidende Antwort von dir zu holen«, sagte er. »Gehst du mit mir oder nicht?«

»Aber wann willst du denn abreisen?«

»Sobald wie möglich. Meine Arbeit hier ist vollbracht.«

»Deine Arbeit?«

»Ja, meine Arbeit. Das ist übrigens eine Angelegenheit, die dich absolut nichts angeht. Nun, wie lautet also deine Antwort?«

»Und wenn ich nun nein sage?«

»Das tust du nicht. Du wagst es nicht.«

»Wenn ich es aber dennoch täte?«

»Sei doch nicht so dumm. Du weißt, daß ich dann einen Skandal herbeiführen würde. Ich wecke das ganze Haus und erzähle jedem, der es hören will, wie wir zueinander standen. Du erinnerst dich doch wohl noch eines schönen Julitages in Monte Carlo?«

»Ich will aber doch nicht.«

Der Rotbart packte sie hart um das Handgelenk, so daß sie einen leisen Schrei ausstieß.

In diesem Augenblick trat Asbjörn Krag hervor. Mit einem Fluch ließ Jim ihren Arm los.

»Verdammter Spion!« schrie er und suchte in seinen Taschen.

»Hallo!« rief Krag in scherzhaftem Ton und trat dicht auf ihn zu. »Wie Sie sehen, habe ich das kleine Ding rascher bei der Hand als Sie. Ich kann Ihnen versichern, daß alle Läufe geladen sind.«

»Was, zum Donnerwetter, soll das bedeuten?«

»Es soll bedeuten, daß Sie sich vollkommen ruhig zu verhalten haben, sonst schieße ich.«

»Sie schießen?«

»Ja. Ebenso ruhig und kaltblütig, wie Sie den armen Aakerholm erschossen haben. Mörder!«

Der Rotbart sank in einen Stuhl, sein Gesicht überzog sich mit einer fahlen Blässe.

»Was wollen Sie von mir?« fragte er.

»Das werden Sie bald erfahren. Seien Sie so freundlich und verschließen Sie die Tür, Frau Hjelm. Ich möchte nicht gestört werden, während ich mit dem Manne hier abrechne.«


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