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IX
Frau Hjelm lüftet den Schleier.

Als Asbjörn Krag sich bequem im Schlitten zurechtsetzte, fragte Bengt ihn mit einem sauersüßen Lächeln:

»Es ist in unserem Hause Sitte, daß wir unsere Gäste weiter als nur bis vor die Tür begleiten. Sie gestatten wohl, daß ich mitfahre?«

»Natürlich«, antwortete Krag, »es wird mir ein großes Vergnügen sein, eine so angenehme Gesellschaft zu haben.«

Bengt bestieg den Schlitten, Krag grüßte die Zurückbleibenden nochmals, und das Gefährt glitt durch das Hoftor und den großen Weg hinunter, von zwei dampfenden Paradepferden gezogen.

Während der Fahrt zur Stadt saß Bengt wortkarg und verschlossen neben Krag. Dieser dagegen war sehr gesprächig. Er ließ sich lang und breit darüber aus, wie gut es sei, daß die Polizei eingegriffen habe. Auf diese Weise vermeide man alles Gerede, das sich sonst sicher an den merkwürdigen Fall geknüpft hätte, denn es wäre doch nicht zu leugnen, daß der alte Herr unter sehr geheimnisvollen Umständen gestorben sei. Und wäre eine Sache erst dem Klatsch ausgeliefert, so würde allerlei hinzugedichtet. Daher sei es ein wahres Glück und so weiter.

Bengt warf nur ab und zu ein vereinzeltes Wort ein. Aber da begann Krag von Bengt selbst zu sprechen. Er sei doch ein junger, vorwärtsstrebender Mann, und zudem reich. Würde er sich nun nicht nach einer Frau umsehen? Und er wies auf Frau Hjelm hin. Er habe heute früh seine Blicke beobachtet. Unleugbar hätte ihr Ausdruck die Gefühle eines Verliebten verraten. Es sei doch eine gute Partie, jetzt, wo der alte Herr tot sei …

Bengt wandte sich verächtlich von ihm ab und murmelte:

»Gott, was für ein roher Kerl!«

Krag aber amüsierte sich herzlich über die Komödie. Noch einmal war es ihm gelungen, den jungen Menschen zu täuschen.

Der Schlitten hielt an der Bahn der kleinen Nachbarstadt.

»Sollten Sie einmal nach Kristiania kommen«, sagte Krag, »so wird es mir ein außer ordentliches Vergnügen sein, Sie bei mir begrüßen zu dürfen. Ich werde mich dann bemühen, Ihnen die interessanten Tage, die ich in Ihrem Hause zubringen durfte, zu vergelten.«

»Die interessanten Tage?!« rief Bengt aus und sah Krag erstaunt an. »Für mich waren die letzten Tage nichts weniger als interessant, aber um so schauriger waren sie.«

»Nun, nun«, sagte Krag und versuchte Bengt auf die Schulter zu klopfen – eine freundschaftliche Annäherung, die jener demonstrativ zurückwies – »wenn ich interessant sage, so meine ich damit natürlich nur, daß es für mich, vom ärztlichen Standpunkt aus ein interessanter Fall war, die Krankheit und Todesart des alten Herrn studieren zu können.«

Bengt wandte sich unwillig von ihm ab.

»Und nun«, scherzte Krag, »muß ich mein kostbares Leben der Gewalt des Schnellzuges überlassen. Er geht in einer Minute ab.«

Bengt sah aus, als wünschte er von ganzem Herzen eine Zugentgleisung mit tödlichem Ausgang für Krag. Aber er sagte:

»Ich werde dem Stationsvorsteher die Sicherung Ihres Zuges ganz besonders ans Herz legen.«

Krag begriff sofort, daß Bengt damit andeuten wolle, er werde es verhindern, daß eine eventuelle Absicht von Seiten Krags, den Zug auf einer Zwischenstation halten zu lassen, zur Ausführung käme. Aber er tat, als fasse er Bengts Bemerkung als einen gelungenen Scherz auf und lachte laut, drückte ihm dann warm die Hand und bat ihn, den Doktor und alle anderen auf dem Gutshof nochmals zu grüßen.

Als der Zug sich in Bewegung setzte, trat Krag an das Fenster seines Abteils und nickte und winkte Bengt eifrig zu, der ihm aber rasch den Rücken wandte.

Asbjörn Krag stand während der ganzen Zeit am Fenster und betrachtete die an seinen Augen vorübergleitende Landschaft. Der heitere Ausdruck war nun aus seinem Gesicht verschwunden. Ernst heftete er den Blick auf das Kvamberger Gutshaus, dessen weiße Fassade am Horizont aufleuchtete. Plötzlich tanzte die kleine Station Kvamberg an ihm vorüber. Zehn Minuten später passierte der Zug eine andere Station. Bis zur nächsten war noch eine Viertelstunde.

Krag sah auf die Uhr. Er überlegte keinen Augenblick, was er zu tun habe. Als weitere fünf Minuten vergangen waren und der Zug durch eine Ebene sauste, streckte er plötzlich die Hand aus und zog mit einem heftigen Ruck an der Notbremse. Sofort begann der Zug die Fahrt zu verlangsamen.

Groß war in Krags Abteil die Bestürzung über seine Handlungsweise. Die Fahrgäste aus den anderen Abteilen kamen herübergestürzt, jeder wollte wissen, was geschehen sei. Hatte sich ein Unglücksfall ereignet? War jemand erkrankt?

Krag antwortete ruhig, daß gar nichts geschehen sei. Er wolle nur aussteigen. Nun hielt der Zug, und Krag begann unter der beifälligen Heiterkeit der Mitreisenden seine Sachen zusammenzufassen, die Handtasche, den Pelz, Stock und Schirm. Ein englischer Tourist, der den Hergang scheinbar ernst und unberührt, unter absolutem Schweigen und mit halbgeschlossenen Augen blinzelnd beobachtet hatte, erhob sich, drückte Krag die Hand, murmelte »all right« und setzte sich wieder.

Aber da kamen ein paar erschrockene Schaffner herbeigeeilt.

»Wer hat die Notbremse gezogen?« fragten sie durcheinander.

»Ich«, antwortete Krag und suchte sich an ihnen vorüberzudrängen.

»Warum?« schrien sie.

»Weil ich hier aussteigen will.«

Die Fahrgäste lachten. Die Schaffner suchten Krag festzuhalten.

»Das ist ein grobes Vergehen gegen die Verordnungen«, sagte der eine. »Eine hohe Geldstrafe steht darauf.«

»Ist mir ganz gleichgültig«, sagte Krag, indem er seine Kristianer Adresse aufgab. »Ich muß hier aussteigen.«

Die Mitreisenden lachten noch lauter. Aber nun wurden die Schaffner ernstlich böse. »Sie kommen nicht hinaus«, schrien sie. »Wenn der Zug in Kristiania hält, werden Sie festgenommen.«

Anstatt zu antworten, ließ Krag rasch das Fenster herab, warf seine Sachen hinunter in den Schnee, erst den Pelz, dann die Handtasche und schließlich Stock und Schirm.

Nun maß er seine Widersacher vom Scheitel bis zur Zehe, ballte die Fäuste und lachte unaufhaltsam. Man konnte förmlich sehen, wie sich seine starken Muskeln in den Ärmeln spannten.

»All right!« murmelte der Engländer wieder beifällig und sog weiter an seiner Pfeife.

Die Schaffner aber wichen unwillkürlich vor Krag zur Seite, dieser huschte rasch an ihnen vorüber, und mit einem Satz war er draußen bei seinen Sachen. Gleich darauf hatte er einen Zaun übersprungen und befand sich auf der Landstraße. Höhnisch rief er dem erstaunten Zugpersonal zu:

»Machen Sie, daß Sie weiterkommen, ein Schnellzug hat Eile.«

Und sie wußten wirklich nichts anderes zu tun, als den Zug wieder in Gang zu setzen. Als er abging, waren alle Fenster besetzt mit lachenden Gesichtern und winkenden Taschentüchern. Die Schaffner aber schworen ihm eine Rache, die ihm teuer zu stehen kommen solle.

»So muß man es machen«, murmelte Krag vor sich hin, »wenn man nicht als der auftreten will, der man ist, als Detektiv.«

Er ging nun nach dem nächsten größeren Bauernhof und mietete sich einen bequemen Schlitten und ein flinkes Pferd. Krag war bei strahlender Laune. Er stand ja nun am Beginn des letzten und ernstesten Teiles seiner Arbeit.

Nach etwa vierstündiger Fahrt war er wieder auf Kvamberger Gebiet angelangt. In der Nähe von Frau Hjelms Villa ließ er den Schlitten halten, bezahlte ihn und legte dem Kutscher ans Herz, daß er so rasch wie irgend möglich zurückfahren, unterwegs nicht halten und mit niemandem reden solle. Das versprach er auch, sehr erfreut über das reichliche Trinkgeld, das er erhalten hatte, und machte sofort kehrt.

Ehe Krag die Villa betrat, versicherte er sich darüber, ob Frau Hjelm auch allein sei. Als er eintrat und sie begrüßte, fiel es ihm auf, daß sie noch nervöser war als am Morgen, und er bemerkte, daß sie geweint hatte.

»Ich muß mich bei Ihnen wegen meines Benehmens heute morgen entschuldigen«, sagte sie. »Aber Ihre Fragen und Mitteilungen kamen mir so ganz unvorbereitet. Es war unüberlegt von mir, Ihnen etwas verbergen zu wollen, und ich bereute es, sobald Sie gegangen waren. Daher erlaubte ich mir, Ihnen den Boten nachzuschicken.«

»Ich dachte es mir«, sagte Krag. »Wollen Sie mir sagen, in welcher Angelegenheit Bengt Sie aufsuchte?«

»Ich versichere Ihnen, daß er völlig unerwartet kam.«

»Das sah ich.«

»Er wollte mir nur einen Besuch machen, um mir den Tod seines Vaters mitzuteilen.«

»So sprechen wir von etwas anderem. Wer war der Herr, der gestern abend um elf Uhr aus Ihrer Villa kam und dann Herrn Aakerholm in der kleinen Allee begegnete?«

Frau Hjelm mußte eine lebhafte innere Erregung unterdrücken, ehe sie zu antworten vermochte.

»Sie dürfen mir volles Vertrauen schenken«, versicherte Krag.

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte sie, »und ich habe ja auch für meine Person nichts zu verheimlichen. Wie Sie vielleicht bereits erfahren haben«, fuhr sie fort, »war ich während meiner ersten Ehe und auch nach meines Mannes Tod viel im Ausland. Reisen war meine größte Freude, und ich lebte vielleicht vergnügter und freier in der Fremde, als mein Ruf hier zu Hause es ertrug. Ich habe in Ostende gespielt, und ich habe in Monte Carlo gespielt.«

»Und verloren?«

»Ich gewann häufig, verlor aber noch häufiger. Nun wissen Sie, wenn Sie Menschenkenner sind, wohl auch, daß Leute, besonders Frauen, die von der Spielwut gepackt sind, nicht mehr sehr empfindlich sind in der Wahl ihrer Verbindungen, wenn diese sie nur ans Roulette führen. So geschah es, daß ich mich einst in Monte Carlo in einer schwierigen Lage befand, aus der mir ein Mann heraushalf, dem ich es nachher teuer bezahlen mußte. Bald war ich mir darüber klar, von welcher Gattung er war – ein berufsmäßiger Spieler und Betrüger, ein Abenteurer, dem beständig die Polizei auf den Fersen war. Als ich diese Entdeckung gemacht hatte, verließ ich sofort die Stadt und das Land, in dem er sich aufhielt. Aber er folgte mir, und es gelang mir nur mit knapper Not, ihm zu entkommen. Erst als ich mich für die Dauer wieder hier zu Hause niederließ, fühlte ich mich sicher. Doch da – denken Sie sich meinen Schrecken – tauchte er eines Tages plötzlich auch hier auf. Er stellte mir nach und verlangte, daß ich Aakerholm die Ehe verweigern sollte. Aber da beschloß ich, diesen Verfolgungen ein für allemal ein Ende zu machen und wies ihn energisch ab. Gestern abend besuchte er mich trotzdem wieder. Dieser Besuch endete mit einer heftigen Szene, er verließ mich in rasender Wut und gelobte, Rache an mir zu nehmen. Als er ging, war es elf Uhr, und er war es, der Aakerholm begegnete. Es ist ein furchtbarer Schmerz für mich, wenn ich mir vorstelle, es könne womöglich der unglückselige Zufall sein, daß Aakerholm diesen Mann aus meiner Villa kommen sah, was ihn veranlaßt hat …«

Sie vermochte nicht weiterzusprechen, die Bewegung schnürte ihr die Kehle zu.

Krag fragte:

»Wie heißt er?«

»Ich kenne ihn unter dem Namen Jim Charter.«

»Amerikaner?«

»Ja.«

»Wie erfuhr er, daß Sie nach Norwegen gegangen waren?«

»Er wußte es gar nicht. Als ich ihm hier begegnete, sagte er mir, daß sein Erstaunen, mich hier zu treffen, ebenso groß sei, wie das meine, ihn hier zu sehen.«

Da steigerte sich Krags Interesse und Eifer noch mehr.

»Das konnte ich mir denken«, murmelte er. »Wie sieht dieser Jim Charter aus?« fragte er dann.

»Er ist groß, muskulös, hat rotes Kopf- und Barthaar und graue, stechende Augen. Er ist etwa vierzig Jahre alt.«

»Sprach er niemals von seinem Äußeren?« fragte Krag. »Zum Beispiel von seinem roten Haar?«

Frau Hjelm sah ihn erstaunt an. »Ja«, antwortete sie, »jetzt, da Sie mich darauf hinweisen, erinnere ich mich ganz bestimmt, daß er einmal die Bemerkung machte, sein Äußeres sei viel Geld wert.«

Der Detektiv sprang auf.

»Ausgezeichnet«, rief er aus, »da hätten wir also das letzte Glied der Kette.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich denke an die drei Zimmer.«

»An die drei Zimmer?«

Krag trat näher auf Frau Hjelm zu, die ihn mit reuigen, fragenden Blicken ansah.

»Glauben Sie wirklich, daß Aakerholm Selbstmord beging?« fragte er.

»Ja, wie sollte ich es nicht glauben …?«

»Nein, Frau Hjelm, er wurde erschossen, ermordet.«

»Großer Gott! Ermordet? Und von wem?«

»Von Jim Charter.«

»Das begreife ich nicht.«

»Sie werden es bald genug begreifen.«

Frau Hjelm barg das Gesicht in die Hände und sank weinend in ihren Stuhl zurück.

Krag sah sie mitleidig an und murmelte:

»Arme, unglückliche Frau! Aber du sollst gerächt werden, ehe der Tag graut.« – –

 

Gegen elf Uhr abends saß Doktor Rasch in seinem Zimmer und wartete auf Krag. Alle Menschen waren bereits zur Ruhe gegangen, im Hause herrschte absolute Stille.

Der Arzt öffnete das nach dem Park hinausgehende Fenster und löschte die Lampe, um sich in der Dunkelheit draußen besser orientieren zu können.

Eine merkwürdige Stimmung überkam ihn, während er am Fenster saß und in den finsteren Park hinausschaute, in dem sich vor kaum vierundzwanzig Stunden das fürchterliche Drama abgespielt hatte.

Er vermeinte Gestalten zu sehen, die sich zwischen den Bäumen bewegten; aber es waren nur die Schatten der vom Winde erfaßten Zweige.

 

Nun war der Zeitpunkt da, für den sie Krags Rückkehr verabredet hatten. Und richtig, da kam eine menschliche Gestalt über den Hof herangeschlichen.

Sie blieb vor seinem Fenster stehen, und der Arzt vernahm ein Pfeifen.

Er beantwortete es, indem er ein Seil hinunterließ, dessen Ende an dem Fensterpfosten befestigt war.

Der Arzt hörte, daß jemand an dem Seil emporkletterte. Einen Augenblick später sprang ein Mann durch das Fenster ins Zimmer herein. Doktor Rasch zündete die Lampe an.

Aber da schien ihm das Blut in den Adern gerinnen zu wollen:

Es war nicht Asbjörn Krag, der durch das Fenster gekommen war.

Der Arzt dachte an Aakerholms Mörder und den geheimnisvollen Mann im Pavillon, und seine Pulse flogen vor Grauen. Vor ihm stand, ernst und drohend, ein großer, muskulöser Mann mit rotem Bart.


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