Marie von Ebner-Eschenbach
Das Schädliche
Marie von Ebner-Eschenbach

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Ich muß mich hüten zu überlesen, was ich da geschrieben habe, sonst vergeht mir der Mut, fortzufahren.

Vor zwei Tagen legte ich die Feder weg; heute will ich sie zum ersten Mal wieder aufnehmen. Du wirst vielleicht nicht weniger Mühe haben zu lesen, als ich Mühe habe zu schreiben. Verliere trotzdem nicht die Geduld; ergänze die Lücken in meiner Erzählung, entschuldige die Wiederholungen, berichtige die Widersprüche, suche dich zurechtzufinden, wenn ich verworren werde.

Lore schien nicht nur glücklich, sie war's. Ihr Wille geschah, es ging alles nach ihrem Kopfe. Sich vor den Augen der Welt im Glanze des Ranges und des Reichtums zeigen, jeden Vorteil in Anspruch nehmen, den sie bieten können, und im geheimen die verbotene Frucht genießen und dabei der Narren und Toren spotten, die einen ehren und bewundern, ist genug für den Anfang.

Wie sie Werner Klar dazugebracht haben mag, sich da, wo er Herr sein konnte, zu der Rolle des Günstlings zu erniedrigen? Oder war's, wie sie sagte, wollte er sie nicht zur Frau nehmen? Er ist wohl zu stolz, um eine Braut aus der sogenannten Gesellschaft heimzuführen, aber nicht zu stolz, um sich zum gemeinen Diebe zu machen und das Eigentum eines andern zu stehlen...

Werner Klar zeigte sich wieder in unsrem Kreise und wieder bereit, sich von den Frauen anschmachten zu lassen, was sie redlich besorgten. Glänzend, geistsprühend, voll sonniger Heiterkeit, mit einem Worte, der selbe in den Augen aller, nur nicht in denen Ethels und den meinen. «Menschen wie der und Lore sind nie ganz zu durchschauen», sagte meine Schwägerin. Sie meinte, Lore hätte die Wahl gehabt zwischen Nordhausen und ihm, und war nun überzeugt, daß er das Äußerste tat, um zu verbergen, wie schwer die erlittene Zurücksetzung ihn traf. Ihm kann ein Weib nicht weh tun und überhaupt niemand, er ist der unverwundbare Herrgott, er steht zu hoch, als daß eine Kränkung ihn erreichen könnte. «Das trägt er zur Schau», meinte Ethel; «was in ihm vorgeht, werden wir nie erfahren.»

Sie behielt recht; Werner Klar gehörte zu denen, die nach der Verlobung am wärmsten und herzlichsten Glück wünschten.

Kurz vor dem Vermählungstage kam noch ein moralisch bis an die Zähne Gerüsteter: Rupert. Er wollte seine ehemalige Spielgefährtin zum letzten Mal im Vaterhause begrüßen und sich vorstellen als gereiften, von einer Jugendtorheit geheilten Mann. Im überfüllten Schlosse konnte er nicht aufgenommen werden und war bei seinem Freunde, dem Oberförster, abgestiegen für einen Tag, hieß es.

Er brachte seine Gratulation in guter, natürlicher Haltung vor und empfahl sich.

Das war am Montag. Samstag sollte die Trauung stattfinden. Zwei Tage vorher hatte Emil noch eine Besprechung mit dem Notar und fuhr nach Tische in die zwei Stunden weit entfernte Stadt. Wir alle begleiteten ihn zu seinem Wagen. Er küßte zärtlich die Hände seiner Braut und sagte: «Auf morgen», und als er schon auf dem Kutscherbocke saß und die Zügel in die Hand nahm, kam sie noch heran und reichte ihm eine schöne Rosenknospe. Glückverklärt steckte er sie ins Knopfloch und fuhr davon. Seine Schwester nahm Lore in ihre Arme und küßte und herzte sie.

Ethel und alle anderen gingen zu den Spielplätzen im Garten. Ich begab mich auf mein Zimmer. Ich dachte: vielleicht sucht Lore mich auf. Es bleiben ihr nur wenige Stunden zur freien Verfügung; vielleicht will sie eine davon bei mir zubringen vor der langen Trennung, die uns bevorsteht. Ich wartete und wartete – sie kam nicht. So gab ich denn Befehl, mein Pferd zu satteln. Ein tüchtiger Ritt in solcher Stimmung, wie die meine war, hat sein Gutes.

Dann ging ich aber doch, sie auf ihrem Zimmer zu suchen. Es war leer. Nun stieg ich die Treppe hinunter und ging zu Johanna. Die wußte Bescheid. «Vor einer kleinen Weile ist sie dagewesen und jetzt mit Creschi» – das war ihr Stubenmädchen – «zum Heger gegangen, Abschied nehmen von ihren kleinen Hunden.»

Für diese kleinen Hunde hat sie merkwürdig viel Interesse gehabt, So viel, daß mich's mißtrauisch machte und daß ich ihr schon mehrmals zum Heger nachgegangen war. Sie erriet meinen unausgesprochenen Verdacht und war auf ihrer Hut und war unendlich viel schlauer als ich.

Mein Befehl war mißverstanden worden; statt des Jagdpferdes führten sie mir ein Pony vor, und zugleich kam mein Jäger mit dem Stutzen und der Jagdtasche. Ich hatte nicht beabsichtigt, «auf den Bock» zu reiten, aber gut. Ich tue, was ich in letzter Zeit oft getan habe, passe den Gesellen ab, nehme ihn aufs Korn, wir sehen einander an, und ich denke: Geh deiner Wege, genieß noch eine Weile dein bißchen Leben. Ich ritt dem Walde zu und hatte ihn kaum erreicht, als mir Creschi entgegenstürzte mit zerrissenen Kleidern, zerzausten Haaren, ganz außer sich, «Ach, Herr, Sie, Sie, Gott sei Dank, Sie! Er hat mich gewürgt; ich hab ihm sagen müssen, wohin sie geht. Ins Waldhaus, Herr, vom Heger aus, durch den Buchenwald. Und er, ich bin's gewiß, Herr, versteckt sich bei den Erlen; jagen Sie zu den Erlen, Herr, Sie kommen noch zurecht, retten Sie...»

«Wer hat Sie gewürgt? Wer versteckt sich?»

«Rupert – der sie erschießen will...»

Sie sprudelte alles heraus. Lore war Werner Klars Geliebte, und Creschi – im Hause erzogen, bisher immer brav und treu – war ihre Helfershelferin. Wo Lores Einfluß waltete, da entsprang ein Quell des Bösen. Die Zusammenkünfte hatten stattgefunden da und dort, und Rupert mußte dahintergekommen sein. Er hatte die Gegend nicht verlassen, verbarg sich beim Förster, lauerte ihr auf. Gestern war er ihr in den Weg getreten und hatte sie bedroht. Vor dem Bräutigam streiche er die Segel, vor dem Geliebten nicht. Sie beschwichtigte ihn, sie verstand das, und er versprach zu schweigen unter einer Bedingung. Da lachte sie ihm ins Gesicht. Creschi fürchtete Rupert und hatte Lore beschworen, nicht zur Waldhütte zu gehen, aber die Antwort erhalten: «Weißt du nicht, daß ich den Rupert in der Tasche habe? In einer Stunde bin ich zu Hause. Geh voraus! Wenn sie nach mir fragen, sag nur, daß ich dir langsam nachkomme.»

Das Mädchen ließ die Zügel meines Pferdes los, die sie gefaßt hatte. «Herrgott, jetzt will ich ihr entgegen, sie zu warnen, und, gottlob! treffe Sie, Herr. Reiten Sie zu den Erlen, Sie kommen noch zurecht.» Sie wandte sich und rannte in den Wald, dem Hegerhause zu.

Du mußt wissen, die Laubhütte steht auf einer Anhöhe unter dichten Bäumen. Bei den Erlen trennt sich ein schmaler Pfad, der zu ihr hinauf führt, vom ebenen Waldwege. Wenn Lore aus dem Hegerhause kommt, schneidet sie die Ecke ab, geht schräg unter Buchen, die ziemlich schütter stehen, auf die Erlen zu, dem Mörder gerade in den Schuß. Creschi hat sich das alles ganz richtig ausgedacht; einen besseren Stand auf das Wild, dem er auflauert, konnte der Mörder nicht finden. Ich habe nichts im Kopfe als: vorwärts! Der Waldboden ist weich und elastisch, der Hufschlag meines kleinen Gauls unhörbar. In der Nähe der Erlen steigst du vom Pferde, denke ich, schleichst ihn an und springst ihm an den Hals.

Nur zu, nur zu! Und da seh ich schon die Erlen ihre zarten Wipfel im Winde wiegen.

Du mußt mir alles glauben, was ich sterbender Mann dir sage, so unwahrscheinlich es auch herauskommt, weil ich zur Mitteilung der Gedanken, die ich in einer Sekunde gedacht habe, eine Minute brauche. Wie ich die Erlen erblicke, besinne ich mich, daß Lore als kleines Kind dort immer Verstecken gespielt hat. «Wo ist sie hingekommen?» – «Fort auf Nimmerwiedersehen», mußte man fragen und antworten, bis ein köstlich nachgeahmter Wachtelschlag sich im Busche hören ließ. Nun galt's staunen: «Eine zahme Wachtel! Sie hört uns und fliegt nicht davon.» – Da trat sie hervor und weidete sich an unserer Überraschung; ihre Augen leuchteten – leuchteten mir Seligkeit ins Herz. Sie war so unsagbar lieblich und so entzückend dumm.

Nein, es ist unmöglich: den Mann, der ihr seine Ehre, sein Lebensglück anvertraut, im voraus betrügen kann sie nicht. Sie ist das Kind ihrer Mutter, aber auch das meine. Hat sie nicht gesagt: «Ich bin ihm gut und will ihn glücklich machen?»... Wie sie ihm eben erst die Rosenknospe in den Wagen hinauf gereicht hat und zu sagen schien: das bin ich und bringe mich dir dar...

Nein, nein, nein! es ist unmöglich. Die Todesangst, die mich quält, ist krankhaft, die Begegnung mit Creschi ein Traum; ich bin im Fieber, Wahnvorstellungen narren mich. Ich stieg ab, band das Pferd an einen Baum, schlich vorwärts und horchte in die regungslose Stille hinein. Ein dürres Blatt fällt von einem Ast zur Erde, ich wende den Kopf und – meine Haare sträuben sich. Nicht viele Menschen haben empfunden, was ich in diesem Augenblick, sonst müßte es mehr Verrückte geben.

Unter den Buchen kommt eine schlanke Gestalt leichten, raschen Ganges einher. Ihr mattweißes Kleid, die weißlich grauen Stämme sind kaum voneinander zu unterscheiden. Ich aber habe Jägeraugen, ich meine auf dem Gesicht der Nahenden helle Freude schimmern zu sehen... Einmal wieder betrüg ich euch alle. Was ihren Schritt beflügelt, ist ein sieghaftes Glücksgefühl.

Ich wollte aufschreien: «Zurück!», aber das Wort starb mir im Munde. Alle Pein der Vergangenheit und Gegenwart, alle Schauder vor der Zukunft ballten sich in eine Anklage zusammen. Sie lebt zum Unheil eines jeden, der ihr naht, ist das Schädliche; fort mit dem Schädlichen aus der Welt. Das Schicksal walte! Laß es geschehn!

Das ging wie ein Blitz durch meinen Kopf. Im nächsten Augenblick aber stürze ich vor, sie mit meinem Leibe zu decken. Ein Schuß fällt. Kommt nicht von den Erlen her, streift mich. Ich juble: «Gefehlt!» und bin bei ihr.

Sie liegt auf dem grünen Waldesgrund. Ein Blick genügt. Den Schatten, der sich über ihr Angesicht breitet, den wirft der Tod. Mein armes, vielgeliebtes, mein verlorenes Kind!

Ich knie nieder, ich bette ihren Kopf an meinem Herzen. «Einen Gedanken an den Allbarmherzigen, Lore – einen Gedanken der Reue! – du stirbst.»

«Ich sterbe?» Ein furchtbares Entsetzen malte sich in ihren Zügen. Ihre Lippen verzogen sich wie die eines Kindes, das in Weinen ausbrechen wird. Sie sah meine Verzweiflung, hörte mein Beschwören und bezwang sich noch und blieb sich treu bis zuletzt! Ihr Blick richtete sich mit unerbittlichem Trotze auf mich, und sie flüsterte: «Ich sterbe – auch gut.»

Eine seltsame Fügung. An ihrem Todestage hat Lore nur eine Gedankensünde begangen. Werner Klar war zu dem Stelldichein, das ihr das Leben kostete, nicht gekommen. Einige Wochen später fand Maud, in der Laubhütte versteckt, einen Brief von ihm.

«Lore, ich komme nicht. Ich liebe dich mehr, als wir beide ahnten; wenn ich dich heute in meine Arme nehme, gebe ich dich lebend nicht mehr frei. Du warst schon mehr als einmal, wenn du dich von mir losrissest, dem Tode sehr nahe. Leb wohl; ich sage nicht: Auf Wiedersehen, denn ich will nicht teilen, ich will aufhören, dich zu lieben. Leb wohl, Lore. Du hast mich glücklicher gemacht, als ich glaubte durch ein Weib werden zu können.»

 

Das Gehirn könnt man sich zuschanden denken und fände keine Antwort auf die Frage: Wie war's möglich, daß ich gezögert habe, ihr zu Hilfe zu eilen?

Lieber Freund, ich will dir ein Geheimnis anvertrauen: Es braucht nicht alles möglich zu sein, was geschieht. Kein Logiker wird das gelten lassen, und es ist doch so.

Eine Erklärung dafür, wie ich zögern konnte, werde ich nie finden. Die Erinnerung hätte mir nicht kommen dürfen. Die Erinnerung an die holde Kinderzeit Lores, der plötzliche Anblick dieses Geschöpfes auf dem Wege zum schändlichsten Verrat... Das war's. Und es war gut, sollte mich nicht reuen. Wir sind der Schmach entgangen, die sie über sich und uns gebracht hätte. Die wenigen Wissenden schweigen, die übrigen erzählen einander die traurige Geschichte von ihrem Jugendgespielen, dem armen Rupert, der im Irrenhause starb. Er hatte den Verstand verloren aus Liebe zu der Unerreichbaren und sie am Vorabend ihrer Vermählung erschossen.

Nordhausen betrauerte sie lange, nahm dann eine schöne, brave Frau und lebte glücklich. Welche Zukunft hätte ihn an Lores Seite erwartet? Und ihre Kinder – wieviel Unheil hätten die über die Welt bringen können? – können... Da stehen wir wieder vor einem Fragezeichen. Vielleicht auch Heil. Unzählige Beispiele im Leben und in der Geschichte beweisen... aber freilich – was sind Beweise?...

*

Die Erzählung bricht hier ab. Was folgt, ist ein mit verzweiflungsvoller Leidenschaft geführtes Plaidoyer für die Todesstrafe. Es ruft auf zum Vernichtungskampf gegen das Böse; und der feurige Haß, der aus ihm flammt, hat etwas Hinreißendes.

In diesem Haß hat der Mann Rettung vor dem Zweifel gesucht, der ihn mit wachsender Qual bedrängt haben mag, während er seine traurige Geschichte niederschrieb.

Als sein Freund sie gelesen hatte, eilte er zu ihm, fand ihn aber nicht mehr am Leben.


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