Marie von Ebner-Eschenbach
Das Schädliche
Marie von Ebner-Eschenbach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sie hatte gesagt: «Ich bin verloren», und sie war's, und ich war blind. Ich ließ mich in Sicherheit wiegen durch die Überzeugung, daß ich von Edith geliebt wurde über alles. Eine Frau, die liebt, wird nicht treulos, bildete ich mir ein. Die Pflicht ist nur ein schwacher Halt im Vergleich zu dem, den die Liebe bietet, die allgewaltige.

Falsch! – falsch, wie das Generalisieren immer ist, dieser trübe Born, aus dem Dummköpfe ihre Weisheit schöpfen.

Als ich die Gewißheit erlangte, daß Edith ihre unsinnige Rache an mir genommen hatte, nahm ich die meine. Die Frau verstand es, mich verrückt zu machen, und noch mehr ihn, den «armen Teufel». Ein lieber, braver Mensch, um den einem leid sein konnte. Grausam hatte sie ihn die längste Zeit zum Narren gehalten und, als ich sie deshalb zur Rede stellte, lachend gesagt: «Imperator, dulde, daß deine Sklavin vor dir kämpft und siegt.»

Er war kein unerfahrener Jüngling, er war ein Mann. Vor wenigen Jahren hatte ein Zufall mich in die Lage gebracht, ihm einen wichtigen Dienst erweisen zu können. Als ich es erfuhr... Nun, wir waren von Sinnen, er und ich, und fürchteten beide, zu früh wieder zu Verstand zu kommen.

Keine Zeugen, eine Pistole geladen, die andre nicht. Übers Taschentuch wird geschossen, zugleich. Das machten wir aus. Er zitterte, er war wie die Wand, indes ich glaubte, mir müsse das Blut bei den Augen herausspritzen. – Eins, zwei, drei – ich drückte los. Ein kurzer, harter Knall, das Zündhütchen war abgebrannt. Er hatte die geladene Pistole. Ja, was ist das? Er läßt den Arm sinken. «Schieß!» ruf ich ihm zu, «schieß, du...» und geb ihm einen Schimpfnamen, der mich heute noch reut.

«Nenn mich, wie du willst», sagt er, «ich kann auf dich nicht schießen, aber –» und hebt die Pistole und richtet sie gegen sich. Ich schlug sie ihm aus der Hand; unser Benehmen kam mir albern und kindisch vor.

Ich forderte von ihm: «Ertrag dein Dasein, ertrag's, sei's, wie es sei.» Er versprach's, versprach auch, Edith nie wiederzusehen, und hat Wort gehalten.

 

Maud, zu der Edith nach der Entdeckung ratlos und verzweifelt geflohen war, machte sich zu ihrer Fürsprecherin. Sie erlangte von mir, was niemand außer ihr erlangt hätte. Ich verzieh.

Soll ich mich deshalb verachten? Verachtet mich, wer diese in Qual, Scham und Zorn hingeworfenen Bekenntnisse kalten Herzens Seite für Seite durchblättert? Ich bin euch ja nur ein Buchmensch, für den ihr eine andere, viel feinere Moral in Bereitschaft habt als für euch selbst und eure Freunde. Seht euch nur um. Wie viele von euch und von ihnen, mit denen ihr in einem Regiment dient, im Landtag sitzt, im Reichsrat, im Klub und so weiter, haben verziehen. Und ihr drückt ihnen die Hand und nennt sie Ehrenmänner.

Nun, ich bin wie sie und kein Buchmensch, ich bin ein lebendiger Mann und schreibe meine lebendige Geschichte.

Ich verzieh also. Einmal – mehrmals. Das erste Mal, weil es ihrem Anwalt, dieser edlen Maud, gelang, Entschuldigungen für sie zu finden. Später, als es für sie keine Entschuldigung mehr gab – aus Verachtung.

Wir lebten in Wien und auf dem Lande unter einem Dache, wir sahen uns vor Fremden und waren dann höflich gegeneinander. Darin bestand unser Verkehr. Das Kind hatte eine verläßliche Wärterin; seine Mutter, die in Weltfreuden unterging, beschäftigte sich fast nie mit ihm, und das war mir recht.

Um der kleinen Lore willen hätte ich einen Skandal gern vermieden. Edith provozierte ihn. Es war die letzte Probe, auf welche sie meine feige Langmut stellte. Auch die versagte endlich, und wir trennten uns. Sie brachte ihr Leben fortan teils auf Reisen (an aufmerksamer Begleitung fehlte es ihr nicht), teils in Paris zu. Ich löste mein Haus in der Stadt auf und zog mich vom politischen Leben zurück. Der Eigennutz unter der Maske der Fürsorge für das allgemeine Wohl, der mir dort auf allen Gebieten begegnete, ekelte mich zu sehr an.

Beschäftigung hatte ich genug. Mein Schwiegervater übertrug mir die Leitung seines Gutes, und in Niedernbach gab's vollauf zu tun. Die Wirtschaft war zurückgegangen, seitdem mein alter Verwalter unter der Erde schlief, die er geliebt und gepflegt, und seitdem ich meinen kleinen Wirkungskreis vernachlässigt hatte, um in einem großen – nichts zu leisten.

Von Vereinsamtsein war keine Rede. Mein Schwager und Ethel besuchten mich oft und brachten ihre lieben, schönen Kinder mit. Maud, die entschlossen war, unverheiratet zu bleiben, und das Leben einer weltlichen Klosterfrau führte, zog mit Erlaubnis ihrer Eltern nach Niedernbach, nahm sich der Erziehung Lores an und brachte den außer Rand und Band geratenen Haushalt wieder ins Geleise.

Meine Schwiegereltern – seien sie noch im Grabe gesegnet, die Vortrefflichen, sie waren für mich wie Vater und Mutter – sagten: «Jetzt sind wir wieder allein», fügten sich aber in diese Tatsache mit sehr freudiger Ergebung.

An jedem Ersten des Monats schickte Maud einen Bericht über Lore an Edith ab. Es kam manchmal eine höhnische und gehässige, ein andres Mal eine im Sturm des Schmerzes und der Sehnsucht geschriebene Antwort. Es kamen auch Briefe an mich. Ich antwortete nie, las überhaupt nur die ersten; ich litt zu viel dabei.

Ich habe einen guten Bekannten gehabt, der war ein Kinderfeind: «Kinder! Tiere mit menschlichen Angesichtern, egoistisch, gefräßig, grausam! Pfui!» Er ging ihnen aus dem Weg. Fand er bei seinen liebsten Freunden die Kinder im Salon, an der Tür kehrte er um. Er hätte gern geheiratet; aus Angst vor den möglichen Folgen blieb er ledig. Erst als alter Junggeselle verliebte er sich so ernstlich und flößte so ernstliche Gegenliebe ein, daß er sich endlich doch an den Traualtar wagte. Sich und seiner sehr lieben, aber nicht mehr jungen Frau hatte er eingeredet: «Wir kriegen keine Kinder mehr.»

Statt dessen war schon nach kurzer Ehe Aussicht auf Nachkommenschaft vorhanden, und der Kinderfeind geriet außer sich und quälte seine Gattin bis aufs Blut mit den Drohungen, die er gegen das Ungeborene ausstieß. Es erschien, und im Momente erwachte in dem bärbeißigen Manne der zärtliche Vater. Er war nicht wegzubringen von der Wiege, verstand jeden Quietsch, den das Würmchen tat, besser als Hebamme und Wärterin. Wenn er seinen Sprößling für einige Stunden verlassen mußte, sprach er wenigstens von ihm, langweilte damit alle Welt und brachte seine Frau in die größte Verlegenheit.

Ein zweites Knäblein kam, ein drittes, die Leutchen brachten es auf vier, und jeder neue Ankömmling war in den Augen des begeisterten Vaters immer der schönste, der meistversprechende. Bei jedem avancierte der Papa von der Wärterin zur Kindergärtnerin, von dieser zum Lehrer und zum Korrepetitor. «Wo ist jetzt dein Kinderhaß?» fragte ich ihn einmal. «Wo soll er sein? Da ist er, immer der selbe», gab er mir zur Antwort. «Kinder, gräßlich; pfui!» – «Aber die deinen?» Er riß die Augen weit auf und war grenzenlos verwundert. «Die meinen? Du wirst doch meine Kinder nicht mit andern vergleichen wollen!»

Das Beispiel dieses übrigens ganz tüchtigen und gescheiten Menschen warnte mich. Ich war nur zu sehr geneigt, in seinen Fehler zu verfallen. Mir schien Lore auch etwas ganz Unvergleichliches. Ich setzte mich nur zur Wehre gegen mich selbst, wenn ich spöttelte über das Entzücken, das sie allenthalben hervorrief. Im stillen gab ich ihr süßere Namen, als irgend jemand ersinnen konnte. Sie war das Licht meines Lebens, Hoffnung und Erfüllung.

Ihr Spielplatz lag den Fenstern meines Arbeitszimmers gegenüber. Das sogenannte Kapuzinergärtchen stieg da terrassenförmig empor, fast bis zur Höhe des ersten Stockes, und gerade vor mir, auf der Wiese, hüpfte die Kleine herum, schlug den Reif, den Ball oder bepflanzte ein Beet mit den winzigsten Blumen, die sie auftreiben konnte: Augentrost, Flor, zwerghafte Hauswurz. Von den großen Blumen sagte sie: «Die sind alt, die mag ich nicht.» Alles Alte flößte ihr Scheu ein, sie fürchtete sich vor alten Menschen, vor alten Tieren. Ich freute mich immer über das gute, frische Aussehen meiner Schwiegereltern; es täuschte das Kind, und sie bekamen nie von ihm den grausamen Ausspruch zu hören: «Ich mag euch nicht, ihr seid alt.»

Ihretwegen hätte Lore ihn freilich ohne weiteres tun dürfen und – was nicht? Ihre Großeltern würden es allerliebst gefunden haben. Über Edith urteilten C.s klar und unbefangen, über die Enkelin waren sie verblendet und blieben es, Gott sei Dank, bis ans Ende. Einen entschuldbareren Irrturn wüßte ich nicht zu finden. Das Kind war wirklich ein holdes, bezauberndes Geschöpf. Ich stand oft stundenlang am Fenster, hinter dem Vorhang versteckt, und sah ihr zu. Alles gelang ihr, alles gedieh unter ihren geschickten Händchen. Ihr Gärtlein wurde ein Schmuck der Wiese. In ihre Arbeit konnte sie sich versenken bis zur Weltvergessenheit. Da saß sie auf einem Puppensessel unterm Tannenbaum und stickte ein selbsterfundenes Muster auf durchlöchertes Papier oder auf irgendeinen Stoff, ein Kleidungsstück. Eine Mantille Tante Mauds fand man einmal so verziert. «Ich mache kleine, junge Stiche, damit ich nicht so oft einfädeln lassen muß, weißt du, Johanna!» sagte sie zu ihrer Kinderfrau und stichelte und stichelte! Manchmal hielt die eifrige Arbeiterin ihr Werk weit von sich, um zu sehen, wie sich's aus der Entfernung machte, und fuhr dann fort mit einem Fleiß, einer Ausdauer...

«Nein», jubelte ich, «sie wird nicht werden wie ihre Mutter, die Ähnlichkeit ist nur eine äußere. Fleiß, Ausdauer waren Edith fremd.»

Wenn Lore endlich doch arbeitsmüde wurde, sprang sie auf und rief ihrer Johanna zu: «Jetzt schau, jetzt werd ich fliegen wie eine Schwalbe.» Sie breitete die Arme aus und stob über den Rasen hin, leichtfüßig, anmutig, in großen Kreisen, in kleinen Kreisen, geradeaus. Jetzt rasch ein paar Flügelschläge mit den Armen angedeutet, ein Gezwitscher, dem Vogel, den sie nachahmte, abgelernt, eine rasche Wendung und wieder ein sanftes Hingleiten, das wahrlich einem Fluge glich. Ihre dunklen, seidenweichen Haare, die sie halblang und offen trug, flatterten; sie streckte den Kopf vor, richtete ihre Augen aufmerksam und regungslos in die Ferne, drückte den Mund fest zu und hielt in ihrem Flug nur inne, um ihre Johanna anzurufen: «Schau nur, schau, mach ich ein rechtes Schwalbengesicht?»

Ich hätte auflachen und zu ihr stürzen, sie in meine Arme nehmen, ihr Spielgefährte sein mögen, ihr Neger, ihr Hund.

Ich rang mit den zerschmelzenden Gefühlen, die mich beim Anblick dieser Kleinen, meines höchsten, des einzigen mir ganz zugehörenden Gutes, überfielen. Ich beherrschte mich immer. Ich habe das Kind nicht verwöhnt, nicht verzogen, ich bin mir keiner Schuld gegen meine Tochter bewußt, ich war im Anfang nicht zu mild, in der Folge nicht zu streng.

Lore stand im vierten Jahre, als ihre Mutter uns verließ. Sie hatte einen stummen, tränenlosen Abschied von der Kleinen genommen, und diese suchte sie am Abend im ganzen Hause, fragte jeden nach ihr, und als es hieß, sie sei fortgefahren, lief das Kind zum Tor des Hofes und wollte dort auf die Mama warten. Man mußte sie endlich mit Gewalt in ihr Bettchen bringen. Am zweiten Tage war sie halb, am dritten ganz getröstet. Vergessen hatte sie ihre Mutter nicht, ich merkte es oft. Sie sprach nur selten von ihr; sie erriet mit wunderbarem Instinkt, daß sie's nicht sollte, nicht zu Hause und nicht bei ihren Großeltern. Die Anbetung, die sie für Edith gehabt hatte, übertrug sie auf mich – eine Zeitlang. Dann wurde der Großvater von ihr vergöttert. Bei ihm war sie am liebsten, bei ihm unterhielt sie sich am besten, es war nirgends so schön wie bei ihm. Auch diese Begeisterung legte sich, und Tante Maud trat in Gunst, und dann einer ihrer Vettern und dann ihr Pony. Sie trieb stets Götzendienst mit irgendeinem Wesen oder mit irgendeiner Sache, und mir schien die jeweilige Vorliebe immer mehr aus der Phantasie als aus dem Herzen zu kommen. Die Treulosigkeiten Lores beunruhigten mich.

Maud fand das ganz ungerechtfertigt. In ihren Augen war Treue das Höchste, die Blüte und Frucht der edelsten Kräfte im Menschenherzen. Zur Treue wie zur Dankbarkeit müsse man heranreifen; sie von einem Kind verlangen, sei töricht.

Wie gern ließ ich mich beschwichtigen! Doch gab es kein Ende für meine Sorgen; es traten immer neue an die Stelle der alten. Ich mußte der Kleinen nach und nach ihren Hund, ihr Lamm, ihre Vögel wegnehmen, denn sie quälte diese Tiere. Nur dem Pony ließ sie Ruhe, weil es sie einmal tüchtig gebissen hatte. Den Armen ging sie aus dem Wege, nicht nur den greisen, auch den jungen, denn wenn sie selbst nicht alt waren, so trugen sie doch alte Kleider.

Und so schrecklich dies alles mir war, trostlos machte es mich nicht. Unter den vielen Fehlern Lores entdeckte ich nicht einen von ihrer Mutter ererbten. Angeboren war das Schlechte ihr nicht, es konnte ausgerottet werden. Der Körper des Kindes entwickelt sich nicht gleichmäßig, warum sollten seine Seelenkräfte sich gleichmäßig entwickeln? Lore war gescheit weit über ihre Jahre, gut hatte sie noch zu werden, und gut sollte sie werden. An dieser Hoffnung hielt ich fest.


 << zurück weiter >>