Marie von Ebner-Eschenbach
Das Schädliche
Marie von Ebner-Eschenbach

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Als ich vor ein paar Tagen diese Erlebnisse aufzuschreiben begann, war ich ein ruhiger Mensch und mit mir selbst im reinen. Jetzt hat meine Ruhe mich verlassen. Zweifel bedrängen mich. Es taugt doch nichts, in Erinnerungen zu wühlen. Wenn ich nicht so innig und so heiß nach deiner Lossprechung verlangen würde, Freund... aber – mich verlangt nach ihr. Sie ist das Letzte, das ich noch ersehne.

Weiter also!

Der Arzt, ein alter, Verehrung einflößender Mann, empfing mich. Unser Gespräch dauerte nicht lange.

«Keine Hoffnung?»

«Keine.»

«Stündliche Gefahr?»

«Nein, es kann noch einige Tage dauern.»

«Wollen Sie ihr sagen, daß ich da bin?»

«Sie erwartet Sie; sie hat den Augenblick Ihres Eintreffens genau ausgerechnet. Ihr Wegbleiben hätte ihr verhängnisvoll werden können, Ihr Kommen wird ihr wohltun.»

Das Krankenzimmer war groß und hell, die Vorhänge waren weit zurückgezogen. Im Sterben noch brauchte Edith das volle Tageslicht nicht zu scheuen. Wir begrüßten einander stumm. Als ich an ihr Bett trat, griff sie nach meiner Hand und wollte sie an ihre Lippen ziehen; die Kraft dazu fehlte ihr. Lange, forschend, mit strengem Ernst sah sie mir in die Augen.

«Ich sterbe», sprach sie endlich, ganz in ihrer alten Art, das Ärgste zu sagen, ohne bewegt zu scheinen.

Ich behielt ihre Hand in der meinen; ihr Anblick tilgte allen Groll aus meiner Seele.

«Ich habe gebeichtet und kommuniziert», sagte sie; «ich habe auch die letzte Ölung empfangen, Gott hat mir verziehen, verzeih mir auch. Ich verzeih dir.»

«Du verzeihst mir – und was?»

«Ich verzeih dir, daß du mich nicht geliebt hast...»

«Edith!»

«Nicht genug geliebt, nicht so, wie's mich gerettet hätte. Deine Liebe hätte nicht sein dürfen wie die eines Mannes zu einem Weibe – sie hätte sein müssen grenzenlos, göttlich, wie die des Heilands für die Sünderin, für den armen Zöllner. Vorüber... Verzeihen wir einander.»

«Ja! ja!»

«Du liebst mich gar nicht mehr?»

«Du tust mir unsagbar leid.»

«Wirst du bei mir bleiben, bis ich sterbe?»

«Du wirst nicht sterben», sagte ich, wie jeder Teilnehmende zu jedem Sterbenden sagt, und bemühte mich, ihr Trost zuzusprechen. Ich sagte ihr auch, daß Maud und das Kind mich begleitet hätten.

Sie bäumte sich auf: «Du hast Maud mitgebracht? Das tust du mir an?»

«Edith, wie versündigst du dich an ihr und an mir. Ich schwöre...»

«Laß nur – ich hab ja gar kein Recht.»

«So willst du sie nicht sehen?»

«Nein! nein!»

«Und das Kind? Es sehnt sich so sehr nach dir.»

«Liebt es mich denn?... Es soll kommen.»

Ich schickte hinüber. Maud geleitete die Kleine bis zur Tür des Krankenzimmers, kniete dort nieder und betete.

Lore war in die Wohnung Ediths eingezogen wie im Triumph. Ihr Gesichtchen strahlte vor Glück. Sie sah sich um in den reich geschmückten Räumen, sie schwelgte in Wohlgefallen an dem Luxus, der hier herrschte. Beim Anblick ihrer in Spitzen und Seide gehüllten Mutter stieß sie einen Schrei der Bewunderung aus und eilte auf sie zu.

Edith blieb regungslos und starrte sie an: «Mein Gott... Franz... das arme Kind», murmelte sie.

«Ich bin nicht arm, ich bin bei dir!» rief Lore, «und bleibe bei dir immer, immer!»

Es war schrecklich. Das Kind vermochte nicht, ihr eine mütterliche Regung abzugewinnen. Und wie die Kleine sich mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an sie schmiegte und die Sterbende mit geheimem Grauen zu ihr niederblickte, überlief's auch mich; ich mußte der Worte Ediths gedenken: «Das bin ja ich, das bin noch einmal ich.»

Viel Selbstüberwindung kostete es sie, ihre Tochter zu küssen und zu segnen. «Werde anders», sprach sie und legte ihr die Hand aufs Haupt, «werde anders als deine Mutter. Leb wohl. Sie soll fort, Franz, und du bleib bei mir.»

Lore bat nicht mehr, sie weinte auch nicht. Sie biß die Zähne zusammen, und ein Ausdruck von unaussprechlicher Bitterkeit verzog ihren Mund. Sie ging, und ich – hätte ihr nacheilen mögen...

Aber ich blieb den ganzen Tag, die ganze Nacht und noch einen Tag und noch eine Nacht. Edith ist schwer gestorben. Herr, mein Gott, du hast eine Entschädigung für alle Leiden des Lebens, du hast ein Zeichen der Vergebung für alle Schuld. Herr, mein Gott, gönne jedem einzelnen des gequälten Menschenvolkes diese Entschädigung, gib jedem dieses Zeichen – schenke jedem einen sanften Tod.

Meine Schwiegereltern fanden im ersten Augenblick einen Trost in dem Gedanken, daß Edith losgesprochen von ihren Sünden und versöhnt mit Gott gestorben war. Dann aber kam die Reue. Sie nahmen den größten Teil des Unrechts, das ihre Tochter im Leben begangen hatte, auf sich. Edith wäre anders geworden, wenn sie ihr mehr Liebe gezeigt hätten, meinten sie. Dieser Selbstvorwurf vergällte ihnen ihre letzten Jahre.

Es fiel mir auf, daß Karl und Ethel ihre Kinder nicht mehr nach Niedernbach mitnahmen und mich auch nicht mehr aufforderten, Lore zu ihnen zu bringen. Warum? Ich ließ Ausflüchte nicht gelten, fragte ganz bestimmt: «Meint ihr, daß Lore einen schlechten Einfluß auf eure Kinder nimmt?» – «Sie sind ihr zu klein, zu gering, sie neckt und quält sie, ist auch für sie viel zu gescheit, weiß zu viel», lautete die so schonend als möglich hervorgebrachte Antwort. «Laß einige Jahre vorübergehen, der Unterschied im Alter wird sich dann weniger geltend machen. Ganz ehrlich» – damit kamen sie zuletzt heraus -, «es würde einem manches an ihr nicht auffallen oder man würde ihm keine Bedeutung zuschreiben, wenn sie nicht Ediths Tochter wäre.»

Zu gescheit! Lieber Gott, ihre Gescheitheit wäre mir feil gewesen um ein wenig Unbefangenheit, Gedankenlosigkeit, um einen Hauch Wärme und Liebe... Und: wenn sie nicht die Tochter Ediths wäre! Sie hatte es also schon angetreten, das mütterliche Erbe – die vorgefaßte Meinung... Wenn ihre Nächsten sich von diesem Vorurteil nicht befreien konnten, was hatte das Kind von der Nachsicht Fremder zu erwarten? Ein namenloses Mitleid erfüllte mich...

Der Blick getrübt, die Hand unsicher. Ich spähe, ich taste, statt zu schauen, zu greifen. Die Farben des düstern Bildes, das ich zu malen unternommen habe, weil ich mußte, weil ich nach Befreiung lechze, schwimmen ineinander. Hilf nach, wo mein Können versagt! Ordne, stell alles an seinen rechten Platz, wo ich verworren werde!

In dem Jahre, in dem Lore ihren vierzehnten Geburtstag beging, schieden meine guten Schwiegereltern aus dem Leben. Mein Schwiegervater ging zuerst, seine Frau starb ihm nach. Buchstäblich. Man stirbt nicht aus Gram, sagen die Leute. Sie sollten sagen: Es stirbt nicht aus Gram, wer will; den ersten besten trifft's nicht, man muß dazu etwas Rechtes sein. Ich scheine zu jenen ersten besten zu gehören. Beim Tode ihres Großvaters war Lore ganz gleichgültig geblieben. Während ihre Vettern und Basen, die großen und die kleinen, in Tränen schwammen, verbarg sie die Freude nicht, die ihre Trauertoilette ihr machte. Maud sagte nicht mehr: «Das ist Kinderart», sie sagte: «Lore ist ebenso ergriffen wie die andern, sie will's nur nicht zeigen.»

Sie hatte den Toten durchaus nicht sehen und ich hatte sie dazu nicht zwingen mögen. An den Sarg ihrer Großmutter führte ich sie trotz ihres Widerstrebens. Die schöne alte Frau in ihrer tiefen Ruh bot ein edles Bild des Friedens. Der Anblick machte auf Lore keinen andern Eindruck als den einer angenehmen Überraschung. Ich kannte sie nicht ganz, aber doch genug, um ihr den Gedanken vom Gesicht abzulesen: Sieh nur, der Tod ist nicht so häßlich, wie ich geglaubt habe.

«Niederknien!» flüsterte ich ihr zu. Es waren Leute im Sterbezimmer. Sie sah zu mir hinauf mit ihrem ewig verneinenden, ewig rebellischen Blick; er sagte: Ich knie nicht, ich weine auch nicht. Du willst es, ich weiß recht gut, du willst, daß ich weine, aber ich weine nicht. Der Zorn übermannte mich. Ich legte die Hände auf ihre Schultern und zwang sie nieder. Ihre Muskeln waren wie aus Stahl, sie stemmte sich mit ihrer ganzen Kraft... Heute noch fühl ich den zarten, jungen Leib mit Widerstreben und schmerzlichem Zucken nachgeben unter der Wucht meiner Hände.

Lache mich aus! Ich fühle auch noch, wie damals der Haß des Kindes mich anfiel wie etwas Körperliches und mir zuraunte in lautloser Sprache: Mich überwindest du nie.

Am Abend beim Gutenachtwünschen sagte sie: «Du hast mich gezwungen zu knien, du bist der Stärkere; aber nur meine Knie haben sich gebeugt. In Wirklichkeit beuge ich mich vor keinem Menschen mehr, das habe ich meiner toten Mutter auf den Knien versprochen.»

 

Ich ermüdete nicht im Kampf um diese Seele. Die Nachsicht hatte sich ohnmächtig erwiesen, nun wurde ich streng, streng bis zur Härte.

Sie war immer geistig rege gewesen und blieb es auch. Ihre Gedanken arbeiteten rastlos. Wer ihr aber zumutete, diese Gedanken auf ernste Dinge zu richten, erschien ihr als eine komische Person. Darin glich sie ihrer Mutter und den allergewöhnlichsten Weibern. Das Interesse, das Lore als Kind, ohne es zu wissen und zu wollen, an ihrem Studium genommen hatte, schwand mit den Jahren immer mehr. Sie lernte unglaublich leicht und unglaublich flüchtig. Wenn ich staunte, wie rasch sie vergaß, was sie eben erst gewußt hatte, lachte sie triumphierend.

«Ich wüßt's, wenn ich mir's merken wollte; ich will mir's aber nicht merken. Wozu?» sagte sie mir einmal in einem Anfall von Aufrichtigkeit. «Atme ich lieber und leichter, wenn ich weiß, woraus die Luft besteht? Gefallen mir die Sterne, die Blumen, die Bäume, die Berge und Flüsse besser, wenn man mich in die Intimitäten ihres Privatlebens einführt? Und die Geschichte, mit der ihr mich plagt! Die alte ist gewiß nicht wahr, und die neue erlebe ich. Ich lebe, lebe, will leben, nur leben, mich freuen, mich unterhalten, glücklich sein!»

Als sie so sprach, hatte sie kürzlich ihr sechzehntes Jahr erreicht. Wir standen auf einer Wiese im Garten. Es war ein sonniger Frühlingsmorgen. Die Erde, das feine, üppige Gras, das junge Laub, die jungen Blüten dufteten, der Wasserfall rauschte, die Vöglein sangen ihre verbuhlten Lieder. Und mein Kind, in seinem Trotz und Liebreiz, erschien mir wie eine Verkörperung der blinden, brutalen Lebens- und Triebkraft, die nichts will, das heißt nichts muß, als sich durchsetzen, und dabei nebenher alle die Licht-, Duft-, Klangerscheinungen hervorruft, die uns entzücken.

Eine Libelle kam vom Teiche her geschwirrt und rastete auf einem Grashalm. Vorsichtig hob Lore den Fuß und zertrat sie. «Warum tust du das?» fragte ich. «Weil sie mich ärgert; sie darf tun, was sie will – ich werde wie eine Sklavin gehalten.»

«Aber wartet nur, meine Zeit kommt», hatte sie offenbar hinzusetzen wollen. Es schwebte ihr auf den Lippen. Ich sah's, ich kannte sie so gut. Doch besann sie sich und schwieg und lächelte mich mit spöttischer Drohung an.

Damals hatte sie angefangen, ihr großes musikalisches Talent mit leidenschaftlichem Eifer auszubilden. Ihre Lehrerin war einst eine sehr gefeierte Künstlerin gewesen. Durch eine unglückliche Heirat ins tiefste Elend gebracht, fand sie in meinem Hause eine Zufluchtsstätte und an Maud eine Freundin. Unsere Absicht war, sie bei uns absterben zu lassen, geschützt vor Armut und Not und vor den Erpressungen ihres nichtsnutzigen Mannes.

Lore hatte anfangs Abgötterei mit ihr getrieben und in hellem Entzücken über ihr geniales Klavierspiel mehr als einmal ausgerufen: «So spielen wie Frau Mitter und dann sterben!» Aber sie spielte nicht wie Frau Mitter. Sie spielte wie das frühreife, leidenschaftlich veranlagte Kind, das sie war. Ihr ganzes, zugleich kaltes und unbändiges Naturell kam zutage in ihrem Spiele, damals schon – und später erst... Am Klavier ließ ihr scharfer Verstand sie im Stiche, und sie verriet von ihrem eigensten Wesen mehr, als sie wollte. Große Kälte bei großer Sinnlichkeit. Eine unvergleichliche Kunst, Feuer anzulegen, ohne selbst Feuer zu fangen. Moralische Mordbrennerei.

Um wie vieles schlechter war sie doch als ihre Mutter, die nicht nur hinriß, die sich hinreißen ließ, hingerissen werden konnte.

Ich setzte die Zahl der Stunden fest, die sie der Musik widmen durfte, und wies Frau Mitter an, den Unterricht auf das Studium der Klassiker zu beschränken. Sie tat es, und ihre Schülerin rächte sich dafür. Sie setzte ein System von kleinen raffinierten Quälereien ins Werk, die sich nicht bezeichnen, also nicht rügen ließen. Scheinbar harmlose, in Wirklichkeit bis aufs Blut verletzende Anspielungen, fortwährende Mißverständnisse. Sie brachte die Unglückliche dahin, das Haus zu verlassen und in ihre jammervolle, immer bedrohte Existenz zurückzukehren. Natürlich brachten Maud und ich die alte Dame in Sicherheit; davon aber erfuhr Lore nichts. Maud versuchte eine Regung der Reue in ihr zu wecken und sagte ihr eines Tages plötzlich: «Du hast sie vertrieben; sie wird im Elend untergehen durch deine Schuld.» Aber das Kind ließ sich nicht verblüffen, war gleich bei der Hand mit seiner rohen und altklugen Weisheit: «Warum soll sie nicht einen andern Platz finden? Es gibt noch mehr Leute, die Klavierlehrerinnen brauchen.»

Bald darauf kam eine Zeit, in der sie Fügsamkeit heuchelte. Sie wurde freundlich gegen mich, aufmerksam gegen Maud. Sie protestierte nicht mehr gegen die «eiserne Fuchtel», wie sie sich ausdrückte, unter der ich sie hielt. Sie ließ sich meine Wachsamkeit gefallen und spottete ihrer und durfte ihrer spotten, denn trotz all und allem wußte sie sich ihr zu entziehen. Das einzige, was sie wohl je wirklich geliebt hat, war das Böse. Weil sie aber nicht treu sein konnte, war sie auch dem Bösen manchmal untreu.

Sie hatte Anwandlungen von Frömmigkeit, sie, die Skeptikerin, die an nichts glaubte als an sich, an die Macht ihrer Schönheit und ihres Liebreizes. Manche Menschen hielten sie für gut. Sie hatte eine kühle, überzeugte Art zu schmeicheln, die dem Geschmeichelten wunderbar einleuchtete. Den Spott, der ihr dabei tief innerlich falsch aus den Augen blickte, auf den Lippen tanzte, sah nur ich.


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