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Einleitung.
Geschichte der niederdeutschen Sprache und Literatur in Ostfriesland.

Von Adolf Dunkmann.

Die sprachlichen Unterschiede zwischen hochdeutsch und niederdeutsch ähneln in mancher Beziehung den Verschiedenheiten der Landschaft und des Bodens, wo sie heimatsberechtigt sind. Hochland und Niederung, Gebirge und Ebene Deutschlands scheiden sich, wie die beiden Schwestern der deutschen Sprache. Und diese Scheidung beruht wesentlich in den Einflüssen der Natur auf den Menschen. Klima, Luft und landschaftliche Umgebung wirken nicht nur auf die menschlichen Sprechorgane, sondern auch auf Temperament und Charakter ein. Die klare, leichte Luft des Hochlandes, die enge Begrenzung der Täler, der weiter dringende Ruf von Berg zu Tal, der Widerhall in den Klüften muß naturgemäß ebenso auf die Sprachbildung von Einfluß sein wie in der Ebene, und besonders in den Küstenländern das feuchte Klima mit der nebelschweren, dicken Luft, der endlos sich spannende Horizont, die düstere Weite von Moor und Heide und das Irren und schnelle sich Verlieren jeden Lautes. Wir finden bei den Bewohnern des Hochlandes flüssiges Blut, rasches Handeln, frisches Temperament und leichten Sinn, bei denen der Ebene mehr Ruhe und Schwerfälligkeit, Ernst und zur Träumerei neigendes Sinnen. Und hinsichtlich der Sprache und des Organs dort helle Klanglaute, leichteren Zungenschlag, scharf akzentuierte Konsonanten, hier dunkle Färbung der Lautbuchstaben, weiche verschwommene Konsonanten und in der schweren Zunge begründete Sparsamkeit im Gebrauch des Sprechorgans, oft auch eine Art Müdigkeit des Sprechens. Diese charakteristischen Verschiedenheiten sind auch unterschiedliche Merkmale der hochdeutschen und niederdeutschen Mundart, sie äußern sich auch im Gebrauch des Hochdeutschen bei der niederdeutschen Bevölkerung und lassen andererseits das Niederdeutsche bei den Bewohnern des Hochlandes nicht zu. »Gah man gau na Hus« sagt selbst in bestimmter Aufforderung weich und ohne merklichen Kraftverbrauch der Stimme der Niederdeutsche, »geh nur rasch nach Hause« ganz anders der Hochdeutsche. Auch das fröhliche, jauchzende Lied des Hochländers ist in der Ebene nicht zu Hause, und die getragene, fast schwermütige Weise des niederdeutschen Volksliedes paßt nicht dem Hochländer.

In dieser natürlichen Eigenart liegt zugleich die Lebenskraft der niederdeutschen Mundart. Trotz des Siegeszuges des Hochdeutschen, das schrankenlos alle Hindernisse der Landschaft, alle Kleinstaaterei und Sonderbestrebung in Geschichte und Kulturgeschichte von Jahrhunderten überwand, hat sich die niederdeutsche Volkssprache behauptet. Dabei fand sie keinerlei Halt an Grammatik noch Unterricht, wurde von der Druckerschwärze, dem belebenden und veredelnden Mittel jeder Sprache, nur selten berührt, ja sie mußte sich Erniedrigung und Mißhandlung gefallen lassen! Dennoch wird die plattdeutsche Mundart heute von vielen Millionen Menschen gelegentlich gebraucht und begrenzt verstanden, wodurch sie die tatsächlich am meisten verstandene Sprache der Erde ist. Das erklärt sich durch ihre enge Verwandtschaft mit dem Hochdeutschen, Holländischen, Englischen, Schwedischen und Dänisch-Norwegischen.

Das ostfriesische Niederdeutsch trägt die Merkmale des Niederdeutschen im weiteren Sinne, hat aber seine besondere Eigenart dadurch gewonnen, daß es die altfriesische Sprache ablöste und davon vieles zu sich herübergenommen hat. Es hat einen größeren Bezirk als ihn die jetzigen politischen Grenzen Ostfrieslands bilden, es umfaßt das Ostfriesland des Mittelalters zwischen Lauvers (Laveke, Laubach, einem kleinen holländischen Küstenfluß gegenüber der Insel Schiermonnikoog) und der Weser, während Westfriesland sich von der Lauvers westlich bis zum Zuydersee erstreckte. Nach der heutigen politischen Lage kann man also die holländische Provinz Groningen und das ganze Küstengebiet bis zur Weser das ostfriesische Sprachgebiet nennen.

Wollen wir die Geschichte des ostfriesischen Niederdeutsch aufzeichnen, so müssen wir zunächst die altfriesische Sprache und deren Untergang verfolgen und bis in jene Zeit zurückgehen, wo sich der Sage nach die Friesen mit dem echt friesischen Zurufe begrüßten: » Eala frya Fresena«, wo einer dem andern mit den Worten zutrank: » Het ghilt, eele frye Fryse!« und der andere antwortete: » Faer wael, eele frye Fryse!« und dann seinen Becher leerte.

Das Altfriesische

hier richtiger das Altostfriesische genannt, bildet mit dem Westfriesischen und dem Nordfriesischen die friesische Sprache, die sich in erhaltenen literarischen Denkmälern bis etwa in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zurück feststellen läßt. Ihr Ursprung wird verschieden gedeutet. Wiarda nennt in seiner »Geschichte der alten friesischen Sprache« (Aurich, 1784) diese die älteste deutsche Mundart, die graue Mutter der niederdeutschen und holländischen. Ihre älteste Tochter wäre die angelsächsische Sprache, die sich mit der normannischen zur englischen gemischt habe, ihre jüngere Tochter die holländische Sprache, mit fränkischem und französischem Einschlag. Die neueste Forschung will, daß die friesische Sprache mit den eigentlichen friesischen Bewohnern auf der Marsch und den Inseln von Norden her eingewandert sei. Professor Dr. C. Borchling, der bewährte Forscher und Sprachkenner, dem wir in dieser Frage folgen, rechnet das Altfriesische zu den niederdeutschen Dialekten in weiterem Sinne.

Aus einer gemeinsamen ur-niederdeutschen Sprache, so sagt Borchling, haben sich drei selbständige niederdeutsche Sprachstämme gebildet: die englischen Sachsen, die Friesen und die Altsachsen. Aus dem südwestlichen Winkel Holsteins hervorgegangen, wo zuerst der ägyptische Geograph Ptolemaeus um 150 nach Chr. das kleine Volk der Saxones aufführt, haben die Sachsen in raschem Siegeszuge ganz Nordwestdeutschland erobert. Im Jahre 286 stehen sie bereits am Niederrhein; doch ihr Zug geht weiter, immer an der Meeresküste entlang ... Die Sprache der englischen Sachsen mußte bei der insularen Lage eine ganz andere Entwicklung nehmen als die des Mutterlandes. Ebenso blieben die Friesen, durch unwegsame Sümpfe von den Sachsen abgeschlossen, wie sie überhaupt stets der konservativste Teil des niederdeutschen Stammes gewesen sind, auf einer eigentümlichen älteren Stufe der niederdeutschen Sprache stehen. Gerade das Friesische muß uns jetzt die Brücke zu der ursprünglichen Einheit der drei niederdeutschen Sprachen bilden, da es am meisten von dem Ursprünglichen bewahrt hat. Da das spätere Niederdeutsch vom Altsächsischen abstammt, ist somit ein älterer niederdeutscher Sprachzweig durch einen jüngeren, nahe verwandten abgelöst.

Die altfriesische Sprache ist uns vornehmlich in den Niederschriften des Volksrechtes, von denen die 17 friesischen Küren Westfrieslands das älteste Denkmal sind, erhalten geblieben. Sie sind eine Fundgrube der rechts- und sprachwissenschaftlichen Forschung und als solche in neuester Zeit mehrfach bearbeitet. Irgendwelche poetische Literatur in altfriesischer Sprache findet sich nicht vor. Borchling hat in seiner Abhandlung »Poesie und Humor im friesischen Recht« alles das hervorgesucht und treffend charakterisiert, was an poetischen Schmuckstücken, wie besonders »die drei Nöte« im zweiten Landrechte (vgl. unter Sprachproben), in jenen Rechtsquellen enthalten ist, und er kommt zu dem Schluß, daß die altfriesischen Gesetze den Einfluß einer Dichtung verraten, die dem angelsächsischen Epos nahe gestanden haben muß. Bemerkenswert ist der Reichtum an alliterierenden Wörtern und das stete Bestreben, die spröde Rechtsmaterie in gefällige, ja klangvolle Form zu bringen. Nur von einem einzigen friesischen Sänger, dem blinden Bernlef, der die Heldenlieder seines Volkes zur Harfe sang und vom Bischof Liudger bekehrt wurde, ist uns Kunde geworden. Er ist wohl kaum der einzige friesische Harfner gewesen, wenn auch vielleicht eine seltene Erscheinung seines Stammes; die Sage erzählt, daß er seine Harfe zerschmettert habe, und mit ihr die friesische Dichtkunst zugrunde gegangen sei.

Bis um die Mitte des 14. Jahrhunderts hatte die altfriesische Sprache in Ostfriesland die sprachliche Vorherrschaft, abgesehen von der lateinischen Sprache, die als Schriftsprache für Urkunden und in den Klöstern gebräuchlich war. Die friesische Sprache beherrschte damals, wenigstens literarisch, auch das Gebiet der ostfriesischen Geest. Wie weit die ursprünglich sächsischen Besiedler der inneren Geest ihre sächsische Volkssprache zu Gunsten der friesischen aufgegeben haben, wissen wir nicht. Land und Volk entwickelte sich auf der eng begrenzten eigenen Scholle, mit der Außenwelt gab es wenig Berührungspunkte, bis die Schiffe der zur Seemacht erstarkten Hansa an der Küste erschienen und ihren Einfluß geltend machten. Mehr und mehr öffneten sich da die Pforten des Landes, die Abgeschlossenheit wurde von allen Seiten durchbrochen und die Eigenart, auch die der Sprache, kam ins Wanken. Niederdeutsche Laute klangen bald hier bald dort im Lande und fanden schnelle Aufnahme. Schon 1379 erschien die erste Urkunde in niederdeutscher Sprache, die in der Folge dann bald zur Schriftsprache in Ostfriesland erhoben wurde.

Bevor wir das Zeitalter der ostfriesisch-niederdeutschen Mundart weiter verfolgen, um die vorliegende Sammlung von Dichtungen in den zugehörigen Rahmen zu fügen, erscheint es des besseren Überblickes wegen angebracht, zunächst der altfriesischen Sprache in ihrem Niedergange nachzuspüren. Der Auflösungsprozeß der Sprache eines großen Volksstammes muß um so rascher erfolgen, je mehr fruchtbaren Boden das Neue findet, je größer die Aufnahmefähigkeit ist. Da das Altfriesische verhältnismäßig schnell von dem Niederdeutschen abgelöst wurde, müssen wir annehmen, daß auch, abgesehen von der praktischen Notwendigkeit, sich der neuen Mundart zuzuwenden, eine gewisse Bereitwilligkeit dazu im Volke vorhanden war. Vielleicht sprach hier die eingangs erwähnte Eigenart des Niederdeutschen, die leichtere Anpassungsfähigkeit seines Idioms, schon zugunsten des Übergangs, wir wissen aber auch nicht, ob die altfriesische Schriftsprache, wie sie uns überliefert ist, und die doch nur von den Schriftkundigen, den Gelehrten, aufgezeichnet wurde, sich mit der altfriesischen Volkssprache völlig deckt, ob letztere nicht schon längere Zeit für den Wechsel aus sich heraus sich vorbereitete. Wesentlich ist der Umstand, daß der Kulturzustand damaliger Zeit der Sprache keinen Halt bot. Wenige waren des Schreibens kundig, das Wissen konnte noch nicht der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden, solange die schwarze Kunst des Buchdrucks fehlte. So war die Sprache fast nur das Mittel, sich gegenseitig verständlich zu machen, und das notwendigste Band zum Zusammenschluß von Körperschaften und Sippen in Macht- und Rechtsangelegenheiten; die Kirche mit ihrem Einfluß, die einen festern sprachlichen Hort hätte abgeben können, ging ihre eigenen Wege in fremdem lateinischen Geiste und förderte eher eine Trennung als einen Zusammenschluß.

Es ist schon darauf hingewiesen, daß das Altfriesische auch eine niederdeutsche Mundart in weiterem Sinne zu nennen ist. So war der Übergang zum Mittelniederdeutsch schließlich kein plötzlicher Umschwung, sondern eine Anpassung an modernere, leichtere und nahe verwandte Sprachformen. Und weil ein ostfriesisches Niederdeutsch entstand, war es ein allmähliches Hineinwachsen in neue sprachliche Verhältnisse, die vielleicht gar nicht schwer empfunden wurden, etwa wie ein Umzug von einem älteren in ein den Zeitanforderungen besser genügendes Haus auf heimatlichem Boden, wobei man altes liebes Hausgerät mitnahm und alles Unnötige und nicht mehr Passende zurück ließ.

Zahlreiche Reste der altfriesischen Sprache finden sich denn auch noch heute im ostfriesischen Niederdeutsch, besonders in den Eigen-, Flur- und Wegenamen, sowie in den Bezeichnungen des täglichen wirtschaftlichen Lebens. Friesische Wörter wie Diemat (nd. Dachmat), schat = Vieh (Schathaus), pet, püt = Brunnen, ehe, ee = fließendes Wasser, hern, hörn = Ecke, luka, luken = ziehen, friesische Endungen, wie das pluralische = er in Theener, Escher, Komper, Heller, Polder, eigenartige Kompositionen wie Schienfat, Jierquabbe, und manches andere, geben ein Beispiel dafür. Immerhin liegen wenig Nachrichten aus der Zeit des Überganges und des Aussterbens vor. Wir wissen nur, daß das Schwinden der altfriesischen Sprache von Westen nach Osten sich vollzog, daß sich in den abseits der Heerstraße liegenden Gegenden förmliche Sprachinseln bildeten, die der Vertriebenen Schlupfwinkel boten, und daß noch bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts hinein sichtbare Reste des Altfriesischen zu finden waren.

Von besonderem Interesse für das allmähliche Schwinden der altfriesischen Sprache in Ostfriesland ist das im Jahre 1691 von Johann Cadovius Müller, Pastor zu Stedesdorf im Harlingerland, verfaßte

Memoriale linguae Frisicae,

das in vier verschiedenen Handschriften erhalten ist. Dies Memoriale enthält in der gegen Ende des 17. Jahrhunderts im Kirchspiel Stedesdorf noch gebräuchlichen Sprache »oistfriesische Vocabula, Verba, etliche frisische Redensarten, wie auch die Oist-Frisische Müntz, Maas, Gewicht, Zahl mit den kleinen und großen Einmahlein, ein Register der meisten friesischen Nahmen, wie auch die fünff Hauptstücke des catechismi Lutheri mit der Lehre und formula der Beicht und Absolution und den Symbolis des concilii Niceni und S. Athanasii.« Es liegt außerhalb der Aufgabe dieses Buches, näher auf das Memoriale einzugehen, ein Beispiel daraus findet sich unter den Sprachproben, sowie das in neuerer Zeit wieder ans Licht gezogene alt-ostfriesische Tanzlied »Buhske di Remmer« in Abteilung 1. Cadovius ist 1650 zu Hamburg geboren und wurde 1675 Prediger zu Stedesdorf, ist also kein geborener Ostfriese und deshalb vielleicht für seine Niederschrift nicht eine ganz einwandfreie Autorität. Er sagt selbst, daß er sich bemüht habe, »so viel als möglich gewesen ist, so zu schreiben, wie es muß pronuncieret werden« und daß er »von der alten Oistfrisischen Sprache alsz ein Frembdlinger und kein eingebohrener Oistfrise doch ausz Liebe zu der alten oistfrisischen Sprache auf Anmahnen eines gueten und lieben Freundes allen Oistfrisen zu Dienste« es habe mitteilen wollen. Immerhin sind seine Aufzeichnungen ein wertvoller Beleg für die Reste einer altostfriesischen Mundart, der die erst in unsern Tagen völlig erloschene friesische Sprache der Insel Wangeroog am nächsten stand. Hier auf Wangeroog fand sich noch lange als besondere Eigentümlichkeit das aspirierte th des Altfriesischen (Aussprache wie rundes, weiches s), das von dem Englischen festgehalten ist, in allen deutschen Dialekten aber verschwand. Eine ähnliche friesische Sprachinsel ist das oldenburgische Saterland, dessen Sprache noch im 19. Jahrhundert ein reiches Trümmerfeld des Altfriesischen ist. (Vergleiche die mitgeteilte Sprachprobe.)

G. W. Bueren, der schöngeistige Stadtsyndikus zu Emden, äußerte sich in einem Vortrage, den er 1837 hielt und in seinem »Jahrbüchlein« 1838 zum Abdruck brachte: »Noch ist sie nicht untergegangen, diese so schöne, so kräftige, uralte Sprache der Friesen. Noch ist sie erhalten wie durch ein Wunder und fast ohne Beispiel in der Geschichte, in ihrer Reinheit und Kraft, nicht blos in ehrwürdigen Schriftzügen auf den Urkunden grauer Vorzeit, nein, lebendig im Munde des Volkes! Ja, die grauen Weisen, die vor einem Jahrtausend unter den heiligen Eichen Upstallsbooms das Wohl des friesischen Vaterlandes berieten – wenn sie wiederkehrten aus dem Grabe in ihre friesische Heimat, noch würden sie von einigen, wenn auch leider nur wenigen ihrer Enkel begrüßt werden in den reinen, unausgearteten Lauten ihrer Muttersprache.« Die in der Landschaftlichen Bibliothek zu Aurich befindliche Handschrift des Cadovius'schen Memoriale enthält eine spätere Notiz, durch die die etwas übertrieben klingenden Worte Buerens eine gewisse Bestätigung erfahren. Darnach soll noch 1839 Amtmann Suur gesagt haben, er habe einen alten Landmann gekannt, der der im Kirchspiel Stedesdorf gesprochenen altfriesischen Sprache kundig gewesen sei. Fast 300 Jahre liegen zwischen dem ersten schriftlichen Gebrauch der niederdeutschen Sprache und den Aufzeichnungen des Cadovius Müller und noch fast 150 Jahre zwischen diesen und dem spätesten Zeugnis für die altfriesische Sprache in Ostfriesland – wahrlich ein langer Zeitraum, ein Beweis der Zähigkeit im Festhalten der sprachlichen Überlieferung und der Abgeschlossenheit einzelner ostfriesischer Landesteile.

Die niederdeutsche Sprachherrschaft in Ostfriesland.

Es wurde bereits erwähnt, daß die älteste ostfriesische Urkunde in niederdeutscher Sprache aus dem Jahre 1379 uns erhalten ist, und daß diese dann bald in der Urkunden- und Schriftsprache allgemein zur Geltung kam. Eine ältere niederdeutsche, Ostfriesland betreffende Urkunde liegt noch aus dem Jahre 1346 vor, doch ist sie in der Kanzlei des Bischofs zu Münster entstanden, ein Beweis, daß dort schon früher das Niederdeutsch das bisher gebräuchliche Lateinisch verdrängt hatte. Die politischen und kirchlichen Beziehungen zu den Bischöfen von Bremen und Münster waren es auch wohl in erster Linie, die Ostfriesland zum Aufgeben seiner alten Sprache drängten. Dann kam von der Seeseite der mächtige Einfluß der Hansa, die das Banner der niederdeutschen Verkehrs- und Schriftsprache überall an der Küste zeigte. Seekaper und Seeräuber machten die Nordsee unruhig und trieben, besonders zurzeit der Vitalienbrüder gegen Ende des 14. Jahrhunderts, unter Führung des Störtebeker und Gödeke Michael, ihr Unwesen auch in den ostfriesischen Häfen. Edo Wiemken, Häuptling zu Rüstringen, fand ebenfalls Gefallen an diesem einträglichen Gewerbe und zog die Schiffe der Hansa wiederholt in die heimischen Gewässer. Da konnte es nicht ausbleiben, daß mit der Macht der Hansa auch deren Sprache sichtbaren Einfluß auf Ostfriesland ausübte.

1431 setzten sich die Hamburger in Emden fest und legten im folgenden Jahre die Festungen Leerort und Stickhausen an. Unter ihrer Herrschaft kam Handel und Wandel Emdens zur Blüte, sodaß auch hier Befestigungen angelegt, Mauern und Tore errichtet und eine Garnison geschaffen wurde. Inzwischen waren weitere Einbruchs-Versuche fremder Gewalten von Süden her erfolgt; Okko ten Broek hatte in seiner blutigen Fehde gegen Fokko Ukena Bündnisse mit Bremen, Oldenburg, den Grafen von Hoya, Diepholz und Mecklenburg geschlossen, deren gewaltige Truppenmacht 1426 bei Detern vernichtet wurde. Fremdes Element, mit der zwar neuen, aber doch keineswegs fremdartigen Sprache, zog so durch die geöffneten Tore Ostfrieslands, und als 1439 die Hamburger sich, wenn auch nur scheinbar, zurückgezogen und Edzard Cirksena, dem durch Tüchtigkeit und Weitblick zum Alleinherrscher emporgewachsenen Häuptling von Greetsiel, Emden übergaben, da geschah es wohl in dem Bewußtsein, daß Ostfriesland, durch das grüne Band des Meeres mit der Hansa verbunden, stets abhängig von ihr bleiben werde.

Welch großen Einfluß die Blütezeit der Hansa auf die Entwicklung der Sprache hatte, erkennt man heute noch an ihrer fast zu internationaler Bedeutung gelangten Schiffersprache, die ganz auf niederdeutscher Grundlage sich aufbaut und fast alle verwandten lebenden Sprachen in sich aufgenommen hat. So sagt Klaus Groth mit Recht:

Gah op de See, so wit se reckt,
Wohin en Strom sin Över streckt,
Wohin en Schipp dat Segel föhrt,
Dar ward uns ole Plattdütsch hört.
Keen Stück an 't Schipp, un hett 't en Nam,
So is he ut dat Plattdütsch kam.
Keen Woord opt Schipp ward kummandeert,
Man hett 't toerst op Plattdütsch lehrt.
Wenn 't nu ook engelsch, hochdütsch ludt:
Ut 't Plattdütsch neem se dat herut.

Im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts, so darf man annehmen, war die niederdeutsche Mundart in Ostfriesland schon allgemein bekannt und im Gebrauch und hatte sich dabei im Volksmunde durch Festhalten an vielen eingewurzelten altfriesischen Lauten und Begriffen zur Eigenart des ostfriesischen Niederdeutsch herausgebildet. Um 1450 hatte sie auch das Rechtswesen Ostfrieslands schon vollkommen ergriffen. Als 1464 das Haus der Cirksena die Grafenkrone erhielt, wurde Plattdeutsch Hofsprache. Aber auch die Beziehungen des Landes zu den anderen Mächten wurden immer reger. Ulrich, der erste Graf, ließ bereits seine Söhne außer Landes wissenschaftliche Bildung sich aneignen; Edzard der Große unternahm 1489 eine Reise in ferne Lande, nach Italien und Jerusalem. So kam schon durch den Hof und die Vornehmen des Landes von selbst die Anpassung an fremde Kultur und an die allgemeine Sprachen-Entwicklung.

Die niederdeutsche Literatur bis 1600.

Wenn wir uns nun in der ersten Periode des Ostfriesisch-Niederdeutsch, von den Anfängen bis zum Verlust der Vorherrschaft, den Zeitraum von etwa 1350 bis 1600 umfassend, nach einer Literatur des Landes, vornehmlich dichterischen Versuchen, umsehen, so bringt auch die eifrigste Nachforschung nur Enttäuschung. Um so wertvoller aber achten wir das Wenige, was uns erhalten ist, und was in der Hauptsache in der ersten Abteilung der vorliegenden Sammlung chronologisch zusammengestellt ist. Schon im Altfriesischen fanden wir nur mühevoll Spuren poetischer Kunst; sicher ist auch die Übergangszeit sprachlichen Wechsels für jede literarische Betätigung ungünstig. Die Kunde von den Minnesängern, die im 12. und 13. Jahrhundert am Niederrhein Lyrik und Heldengesang zur schönsten Blüte entfalteten, drang kaum nach Ostfriesland; die nüchternen, steinernen Häuptlingsburgen hatten keinen Remter, wo nach ernster Waffenarbeit bei frohem Spiel und Gelag der Sänger holden Frauen und tapferen Rittern huldigte. Höfische Sitten, von französischer Leichtlebigkeit beeinflußt, blieben unbekannt, bis zu ihrem eigenen und des Landes Schaden erst im 17. Jahrhundert ostfriesische Grafensöhne die »verfeinerte« Lebensweise in Paris lernten. Versuche, den Boden und Ursprung des Gudrunliedes in unserer Gegend zu finden, im Volk der Hegelinge die Harlingerländer zu erkennen, haben wenig Erfolg für sich und beruhen auf etymologischen Mutmaßungen. Auch das vortrefflichste Erzeugnis der alten moralisierenden Tiersage, den Reineke Vos in seiner ersten niederdeutschen Bearbeitung, die 1498 zu Lübeck im Druck erschien, kann Ostfriesland, wie das lange Zeit geschah, nicht mehr für sich in Anspruch nehmen.

Nikolaus Baumann

galt für den Urheber dieses alten Tierepos, das Goethe in Hexametern bearbeitete. Baumann ist etwa 1450 zu Emden geboren, kam als Geheimer Sekretär in die Dienste des Herzogs von Jülich, später als Rat in die des Herzogs von Mecklenburg und war zuletzt Professor der Geschichte und Politik zu Rostock, wo er 1526 verstarb und begraben wurde. In verschiedenen Literatur-Geschichten wird er noch als Verfasser des »Reynke Vos« genannt. Besonders hat sich Enno Johann Heinrich Tjaden in seinem »Gelehrten Ostfriesland« (Aurich 1785) mit voller Wärme bemüht, den Nachweis für Baumanns Autorschaft zu erbringen. »Er lieget in dem Buche selbst. Es sind darin auf allen Seiten so viele Ost-Friesische Idiotisme vorhanden, daß es in die Augen fällt, daß es kein Niederländer, kein Mecklenburger, auch sonst kein Niedersachse geschrieben habe, noch geschrieben haben könne. Ich könnte ein paar ganze Seiten davon abschreiben, die uns Ost-Friesen ganz eigentümlich sind, und welche, außer Friesland in ganz Niedersachsen nicht gebräuchlich sind, auch nicht verstanden werden können, bey uns aber fast alle noch jetzt gebräuchlich sind.« Leider haben aber die Beweisführungen Tjadens und die späteren Fürsprecher Baumanns neuerer Forschung nicht Stand halten können. Er ist nach den Untersuchungen Fr. Zarnckes endgültig aus der Diskussion über die Urheberschaft ausgeschieden. Die niederdeutsche Fassung, allerdings die viel berühmtere, gilt als eine bloße Übersetzung des niederländischen Textes von Heinrich v. Alkmaar; der Übersetzer, der in der beigefügten Glosse manches Eigene hinzugetan hat, ist bisher unbekannt geblieben.

Eggerik Beninga

dem Verfasser der »Cronica der Fresen«, verdanken wir die ältesten Zeugnisse ostfriesisch-niederdeutscher Poesie, die aus dem Ende des 15. und dem 16. Jahrhundert stammen. An seinen Namen, so schreibt schon Tjaden in seinem »Gelehrten Ostfriesland«, könne kein Ostfriese ohne die dankbarste Verehrung denken, solange die Welt steht.

Das Geschlecht der Beninga ist ebenso alt und angesehen wie das der Cirksena. Eggerik Beninga, zu Grimersum, Borssum, Jarssum, Widdelsweer Häuptling, wurde 1490 auf dem Hause Grimersum geboren und im Kloster zu Hinte, wo sein Vater Propst war, erzogen. Graf Edzard der Große nahm sich seiner an und schickte ihn schon in dem jugendlichen Alter von 24 Jahren in wichtiger politischer Gesandtschaft nach Groningen, bestellte ihn 1525 zum Drosten in Leer und später zum Propst in Weener. Edzards Sohn und Nachfolger in der Regierung, Enno II., zog ihn ebenfalls als Ratgeber zu sich, und während der Reformationszeit wie auch in allen politischen Angelegenheiten hat Beninga ihm und dem Vaterlande wertvolle Dienste geleistet. Als Enno 1540 starb und die Regierung von der Gräfin Anna vormundschaftlich übernommen wurde, hat Eggerik Beninga in aufopfernder Treue weiter gewirkt, in seinen letzten Lebensjahren, 1557 bis 1562, als Drost zu Leer, nachdem ihn Gräfin Anna 1546 »umb seine getreuve Dienste, die he Unsern Kindern, Vorfadern gedaan und noch hinfürder mit getreuven Raadt dersolvigen Bestes tho wethen und werth tho setten willig ist« seinem Hause zu Leer Befreiung von allen bürgerlichen und andern Lasten verliehen hatte.

Eggerik Beningas Leben fällt in die bewegteste Zeit der ostfriesischen Geschichte. Er war Augenzeuge des kriegerischen Ruhms Edzards des Großen, Beistand in der klugen, wechselvollen auswärtigen Politik dieses Bedeutendsten der Cirksenas, er sah mit der Einführung der Reformation die Morgenröte einer neuen Zeit heranbrechen, nicht ohne sein Herz zu bekümmern durch all die Irrnisse und Wirrnisse, die sie im Gefolge hatte. Seine Chronik, außer den Rechtsquellen das älteste und bedeutendste Werk niederdeutscher Prosa Ostfrieslands, in der er die Geschichte seiner ostfriesischen Heimat niederschrieb, diente zum Teil seinem größeren Nachfolger in der Geschichtschreibung Ubbo Emmius als Grundlage, wird aber als wissenschaftlich nicht anerkannt, weil es ihm an umfassenden Quellenstudien fehlt und er seiner Phantasie zu sehr die Zügel schießen läßt, ja auch, weil man ihm mangelnde allgemeine und historische Bildung besonders vorwirft. Beninga selbst ist bescheiden genug, für sich keinen Ruhm als Geschichtschreiber zu beanspruchen; er schreibt in seiner Vorrede: »Ick hebbe uth natuirliker leve, de mi tho minen Vaderlande bewagen, den Arbeit gantz willich angenahmen, und dat uth vele Chroniken gecolligeert und versamlet, und gevuget, so vele de Almachtige gunnen wil, nah minen hochsten vermogen, wo wol ick nicht vor een Gelehrten, sunder as ein schlichten einfuldigen leie, mi gantz ungeschickt dat tho doonde achte ...«

Aus diesen Worten leuchtet uns die ganze prächtige Persönlichkeit Beningas entgegen. Die natürliche Liebe zu seinem Vaterlande war die Triebkraft seines Lebens und Strebens, kein Gelehrter wollte er sein, ein Volksfreund, ein echter Ostfriese, in dessen Herzen das Gold der Heimatliebe sich birgt und jedes Denken und Tun beeinflußt. Und mit seinem Ernst und Sinnen, tief hineindringend in alle Schächte der Volksseele, verband sich ein empfängliches poetisches Gemüt, das zwar nicht die Sprache zu schönen Formen zu meistern wußte, aber doch Freude und Begeisterung für alles, was die ostfriesische Heimat anging, zu empfinden und zu betätigen verstand. So wollen wir den alten trefflichen Drosten von Leer hier schätzen und würdigen, nicht nach seiner rein wissenschaftlichen Betätigung.

Fast alles, was wir an historischen Reimen besitzen, zumeist wohl Bruchstücke alter Soldatenlieder, mit denen Söldner und Landsknechte singend und über die Besiegten spöttelnd die Heerstraße entlang zogen, verdanken wir der Aufzeichnung Beningas in seiner Chronik, die sich 140 Jahre hindurch als Handschrift erhielt, dann 1706 zuerst von dem holländischen Rechtsgelehrten Antonius Matthäi, und 1723 von Harkenroht herausgegeben wurde. Als ältestes Lied finden wir das über Folkmar Allena mit den auffallenden historischen Unrichtigkeiten über Kaiser Karl VII. und seine Gemahlin »Frouv Lysa«. Auch die sonstigen Reimverse der Chronik haben keinerlei poetischen Wert, oft muten sie geradezu naiv an, und das große Epitaphium des Grafen Edzard, fast 700 Verse umfassend, ist gewiß nicht ein hervorragendes Heldenepos zu nennen. Aber über eine literarische Kritik hinaus geht das Gefühl der Dankbarkeit und aufrichtigen Freude, daß Beninga in seiner Liebe zur heimatlichen Geschichte und Volkskunde das alles gesammelt und niedergeschrieben hat, daß wir seinem Fleiß diese ältesten poetischen Versuche der ostfriesisch-niederdeutschen Literatur verdanken.

Ober sollte er vielleicht einen größeren Anteil an diesen Reimversen haben als den des eifrigen Sammlers und Aufzeichners? Ich möchte behaupten, daß manches davon eigene Arbeit oder Zutun Beningas sei, so bei dem Lied auf Folkmar Allena, gerade der charakteristischen geschichtlichen Phantasien halber. Beninga sagt zwar, das Lied sei friesischen Ursprungs und zu seiner Zeit noch von den Alten gesungen, wahrscheinlich aber nur als kurzes Bruchstück, das er dann selbst vervollständigte. Und dann das, wie etwas ganz Selbstverständliches in die Chronik eingefügte Epitaphium des Grafen Edzard, ein Denkmal, das der treue Diener voller Bewunderung der Größe seines Herrn ihm setzte. »Ick Pasquillus« nennt sich zwar anonym der Dichter im zehntletzten Verse, aber die ganze Bescheidenheit Beningas, die schon im Vorwort seiner Chronik zum Ausdruck kommt, tritt hier zu Tage und läßt trotz der merkwürdigen Selbstbezeichnung den Schluß auf die Autorschaft Beningas zu. Der Dichter Beninga zeigt sich ja auch in seinen Versen gegen die Trunksucht und Prunksucht in Ostfriesland, als Schluß eines langen Briefes 1543 an Reiner Melchers, Prediger zu Jarssum, geschrieben, worin er ausführlich für eine strenge Polizeiordnung zur Besserung der schlechten Sitten in Ostfriesland eintritt, die denn auch von der Gräfin Anna später erlassen wurde. Als treuer Ekkehard seines Volkes zeigt er sich in allem, mahnend klingt seine Stimme durchs Land, wo immer es sich um das Festhalten am guten Alten und an ostfriesischer Eigenart handelt. »Wy Fresen mogen uns des wol schemen, dat wy nich by unse Sprake un Kledinge bliven.« Und an anderer Stelle seiner Chronik: »Uns Fresen were ook vele roemliker, dat wy ook by unse Sprake bleven.« Wahrlich, einen begeisterten Freund seiner Heimat und seines Volkes lernen wir in Beninga schätzen, je mehr wir ihn und seine Zeit zu verstehen uns bemühen. Er stand, ein Mann des praktischen, vielseitigen Lebens, mitten in diesem. Seine Tüchtigkeit, seine Stellung führten ihn auf die Höhe einflußreicher Tätigkeit, immer nur zum Besten Ostfrieslands, und veredelt durch den für alles Schöne und Gute empfänglichen Heimatssinn.

Für das ostfriesische Niederdeutsch des 16. Jahrhunderts ist neben dem um 1520 entstandenen »Ostfr. Landrecht« die Beningasche Chronik einer der wichtigsten Belege. Von geringerer Bedeutung ist die Reimchronik des Hieronymus Grestius von 1555, sowie der wohl aus derselben Zeit stammende »Denckzedel der Kloster.« Kleinere Gelegenheitsreime müssen das dürftige Bild der Literatur dieser Zeit vervollständigen. Das Störtebeker-Lied, das wohl dem Anfang des 15. Jahrhunderts angehört, darf hier nur angedeutet werden, da es schwerlich seinen Ursprung in Ostfriesland hat, wenn es auch sehr volkstümlich hier war, schon wegen der nahen Beziehungen zu den Vitalienbrüdern. Es ist auch in seiner ursprünglichen niederdeutschen Fassung nur in der ersten Strophe erhalten geblieben, und zwar merkwürdigerweise in einer, in Ostfriesland entstandenen Parodie, einem Liede auf den Überfall der gräflichen Residenz Aurich durch die Emder Truppen im Jahre 1609. (Vgl. S. 15).

Die Mahnung Eggerik Beningas an seine Landsleute, ihre Sprache in Ehren zu halten, deutet schon darauf hin, daß ihr inzwischen ein Nebenbuhler entstanden ist.

Das Zeitalter der Reformation

war angebrochen, mit ihr das siegreiche Vordringen der hochdeutschen Sprache, der Sprache Luthers. Für den Kampf des Geistes, der in den deutschen Landen ausgefochten wurde, war die niederdeutsche Mundart kein genügendes Mittel; die kraftvolle, markige Sprache des Wittenberger Mönches klang über alle Dialekte hinweg, und unter der Führung der Theologie stellten sich alle Wissenschaften auf den gemeinsamen Boden der hochdeutschen Sprache. Auch Ostfriesland wurde schnell von der großen geistigen und geistlichen Bewegung ergriffen, obwohl die katholische Kirche hier keineswegs in schlechtem Ansehen oder Verfall stand. Edzard der Große, der Luthers Auftreten mit Interesse verfolgte, ließ bereits 1519 den lutherischen Prediger Brun in Aurich zu, ohne indes irgend welchen Druck auf seine Untertanen auszuüben. Er dachte in religiösen Dingen freimütig und gestattete völlige Glaubensfreiheit im Lande, die es aber auch den verschiedensten reformatorischen Richtungen preisgab. Lutheraner, Zwinglianer, Wiedertäufer, Mennoniten suchten Anhänger für ihre Lehre zu gewinnen, und haltlos sah sich das Volk dem Eifer der aus aller Herren Länder gekommenen Werber überliefert. Unter Enno II. trat die größere Scheidung zwischen Lutheranern und Reformierten zutage, erstere fanden ihren Stützpunkt am Hofe, letztere an dem benachbarten Holland.

Nun erkennen wir deutlich den Einfluß dieses bedeutsamen konfessionellen Konfliktes auf die sprachlichen Verhältnisse des Landes. Das Niederdeutsch gerät allmählich in arge Bedrängnis, es muß sich, ohne einen festen Rückhalt zu besitzen, gefallen lassen, das Vorrecht als Verkehrs- und Schriftsprache zu verlieren und zur minderwertigen Volkssprache herabzusinken, von der einen Seite durch das hochdeutsche, von der andern durch das holländische Element bedrückt. Der Hof stellte Generalsuperintendenten an, die von 1568 an auch lutherische Hofprediger waren. Mit wenigen Ausnahmen waren sie Nichtostfriesen und gebrauchten ihren amtlichen Einfluß zugunsten der hochdeutschen Sprache. Länger hielt sich das Niederdeutsche als Kanzel- und Erbauungssprache in der reformierten Kirche, bis sich auch hier, aber erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts, die fremde Schriftsprache, und zwar in Gestalt der holländischen Sprache, zur alleinigen Herrin machte. So bildete sich hier jener absonderliche Gegensatz heraus, der Ostfriesland in zwei, nicht nur konfessionell, sondern auch sprachlich getrennte Teile zu zerspalten drohte und der fast 200 Jahre Bestand hatte.

Einige wenige geistliche Lieder in niederdeutscher Sprache aus dem 16. Jahrhundert sind uns erhalten (S. 29-39). Verfasser sind die Geistlichen Hindrik Rese zu Norden, Gellius Faber zu Emden und Menso Alting zu Emden, von letzterem außer den zum Abdruck gebrachten »Articulen des Christliken Gelovens« noch vier andere, die aber unbedeutend sind. Die Lieder von Faber und Alting befinden sich im ältesten bisher bekannten Emder Gesangbuch von 1630, dessen letzte Ausgabe 1651 gedruckt ist. Größer ist die Zahl der niederdeutsch abgefaßten Bekenntnis- und Erbauungsschriften, von der derben Streitschrift des Junkers Ulrich von Dornum (1527) an bis zu dem erbaulichen, aber langweiligen »Oestfrießlandisch Klenodt« des Daniel Bernhard Eilshemius (1612), die hier nur kurz erwähnt zu werden brauchen.

Das 17. und 18. Jahrhundert.

Für eine zweite Periode der ostfriesisch-niederdeutschen Literatur kann man das 17. und 18. Jahrhundert zusammenfassen. Außerordentlich dürftig ist die Ausbeute an poetischen Erzeugnissen auch dieses Zeitraums, da die niederdeutsche Sprache immer mehr zurückging. Dafür dürfen wir aber wohl die Entstehung vieler alter Volkslieder und -Reime, mit ihren mannigfachen Anklängen an die kirchlichen Zustände, in diese Zeit hineinsetzen. Das Niederdeutsch wurde nun »Platt«deutsch und als solches von den gelehrten und gebildeten Ständen nicht mehr anerkannt. In einer Beschreibung Ostfrieslands vom Jahre 1658 (Ostfr. Monatsblatt 1885) heißt es: »Die Frießländer Sprach ist von andern weit zu unterscheyden, zumahl sie im Land selbst so unterschiedlich ist, daß sie selbst, wann sie einander nit offt besprechen, nit verstehen können. Doch reden die Westfrießen zierlicher denn die Ostfrießen, doch geht bey den Inwohnern gemeiniglich die deutsche Sprach vor.« Fremdes Kriegsvolk zog während des 30 jährigen Krieges durchs Land und erhöhte die Unsicherheit der Dialekte. Das Hochdeutsch des 17. Jahrhunderts war auch nichts weniger als schön und geschmackvoll, und die Menge der Flüchtlinge, die ihres Glaubens wegen aus den benachbarten Ländern die Freiheit Ostfrieslands aufsuchten, haben gewiß zu dem Sprachenwirrwarr ihr Teil redlich beigetragen. Kein plattdeutscher Reim ist uns aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überliefert. Es gab um 1660 einen ostfriesischen poeta laureatus Hinrich Sterenburch oder Stürenburg, aber wir wissen nichts von ihm, und ein ostfriesischer Prediger Hermann Mesander zu Norden verfaßte mehrere Gedichte, aber in lateinischer Sprache. Als 1699 Fürst Christian Eberhard auf einige Tage in Emden weilte und mit festlichem Jubel empfangen wurde, hatte man es an Namen-Versen (Akrostichen), Freuden-Gesängen und Dichtungen auf zahlreichen Ehrenbögen nicht fehlen lassen, aber sie alle sind in holländischer Sprache verfaßt.

Aus dem Ende des 17. Jahrhunderts stammt auch das Memoriale linguae Frisicae des Johann Cadovius Müller, das schon oben S. XIX als interessantes Sprachdenkmal erwähnt wurde. Es enthält u. a. das Tanzlied »Buhske di Remmer«, vielleicht noch aus der altfriesischen Zeit stammend und in die Übergangszeit, die im Stedesdorfer Kirchspiel so lange anhielt, mit hinübergenommen. In seiner Einleitung bemerkt Cadovius zu diesem Lied, daß es das einzige wäre, das ihm bekannt geworden sei. »Es müssen auch die alten Oistfriesen gahr keine Francoisische Curtisanen gewest seyn, weil man nicht mehr alsz ein eintziges recht Oistfrisisches Lied in ihrer Sprache findet, welches ich alsz die eintzige reliquiae der alten Oistfrisischen Poeterey benebenst seiner eigenen melodia habe beyfüegen wollen. Sie haben zwar alte niehdersächsische Lieder in ihrer Frisischen Sprache vertiret alsz: Störtebehker uhn Gödeke Michael etc. und dergleichen mehr, aber von ihren eigenen Landesliedern habe ich außer disz eintzige keines erfahren können. Wan sie ja eine zugetragene Sache in Reimen bringen wollen, ist es alle Zeit nach dem metro und melodia ihres einzigen bucolici: Buhske di Remmer etc. eingerichtet worden.«

Wenn man das Ostfriesland damaliger Zeit nicht mit Unrecht arm an schöner Literatur nennt, und strengere Kritik an den Erzeugnissen der Dichtkunst wenig bestehen läßt, so muß man bei einer Begründung dieser Tatsache die verworrenen sprachlichen Verhältnisse berücksichtigen. Eben erst war das an dem Altfriesischen sich emporrankende Niederdeutsch zur Geltung gekommen und hatte die ersten hoffnungsfreudigen Ansätze genommen, als Gemeingut in weiteren Grenzen Wurzel zu fassen und auch einzelne literarische Blüten zu treiben. Da zeigten sich schon als fremde Eindringlinge das Hochdeutsch und Holländisch und überwucherten die Quellstätten des geistigen Lebens. Und das zu einer Zeit, wo Bildung und Kultur zaghaft es wagten, aus den Klostermauern heraus die Schwingen zu regen, wo Sinn für Großes und Schönes, für wissenschaftliche Freiheit und Betätigung des menschlichen Geistes das Volk ergriff. Wie aber konnte solche Bewegung in einem nur dünn bevölkerten Ländchen zum gebührenden Ausdruck kommen, wo keine Einheit der Sprache vorhanden war, wo die Sprache den kleinen Zirkel der Intelligenz in Konfessionen und Klassen trennte? Wir hätten sicher ein reicheres geistiges und vor allem literarisches Leben Ostfrieslands im 16. und 17. Jahrhundert zu verzeichnen, wenn die Sprachenwirrnis nicht eingetreten wäre, wenn das Erwachen der Geisteskräfte ein sprachlich einheitlich entwickeltes Volk vorgefunden hätte. Andererseits dürfen wir uns gewiß freuen, daß die hochdeutsche Sprache als eins der wertvollsten Geschenke der Reformation auch Ostfriesland zuteil wurde und es für das große Vaterland deutscher Zunge mit vorbereitete.

Mit dem 18. Jahrhundert beginnt ein regeres literarisches Leben, leider aber ohne daß die plattdeutsche Sprache daraus hätte Nutzen ziehen können. Im Gegenteil, je mehr der Sinn für die hochdeutsche Sprache erwachte und man sie zur Vervollkommnung und Reinheit pflegte, um so weniger wollte man von der überlebten niederdeutschen Volkssprache wissen. Zu Anfang dieses Jahrhunderts lag auch noch der in den Kreisen der Theologie merklich fühlbare Pietismus, dem auch Fürst Christian Eberhard eifrig oblag wie ein Bann auf dem Geistesleben, aber bald hob es seine Flügel höher, und eine ganze Gallerie hochdeutscher ostfriesischer Schriftsteller wird uns genannt, so:

Joachim Christian Ihering, Prediger,
Eilerd Folkard Harkenroht,
Jacob Isebrand Harkenroht, (die Harkenrohts schrieben meist holländisch)
Meent Kettwig, Advokat und Rechtsgelehrter,
Enno Rudolph Brenneisen, Historiker,
Eduard Meiners, Prediger,
Sebastian Eberhard Ihering, Volkswirtschaftler,
Sebastian Anton Homfeld, Jurist und Diplomat,
Andreas Arnold Gossel, Theologe,
Matthias von Wicht, Jurist,
Johann Joachim Röling, erst Prediger und nach seiner wegen Freidenkerei erfolgten Amtsentlassung Krämer,
Enno J. H. Tjaden, Jurist,
Gerhard Julius Coners, Generalsuperintendent.

Die beiden ersten Präsidenten der preußischen Regierung in Ostfriesland, Lenz und v. Derschau, von denen ersterer 1748, letzterer 1751 das Amt antrat, waren Männer von feinem Geschmack und regem Kunstsinn und förderten eifrig die literarische Bewegung. Besonders Derschau verstand es, einen Kreis feinsinniger Leute zur Pflege der Dichtkunst um sich zu sammeln, und war selbst ein über den Durchschnitt damaliger Zeit hinausragender Poet. Friedrich der Große, der bekanntlich nicht viel von den deutschen Poeten wissen wollte, sagt in seiner Schrift »Über die deutsche Literatur« bei der Erwähnung einer v. Derschau'schen Ode über die zu Emden 1751 errichtete ostindische Handelskompagnie: »Ich möchte behaupten, daß diese Art von Versifikation sich am besten für unsere Sprache schikke und sehr große Vorzüge vor dem Reim habe.« Aus dieser Zeit finden wir ferner an »deutschen« Dichtern den Regierungsrat Coldewey, Konsistorialrat Bertram, den Jurist E. L. Franzius, dessen Trauerspiel »Pilades und Orestes« in Wien zur Aufführung gelangte, und der auch eine sehr beachtenswerte und prächtig ausgestattete Gedichtsammlung »Andenken für meine Freunde« herausgab.

»Wenn ich, von Sorgen matt, aus zankenden Gerichten
Zum liederreichen Hain und bunten Garten schlich,
vom richterlichen Ernst die Seele frey zu dichten,
Dann gab die Muse Trost, Gedanken reimten sich.«

So schildert er den Quell seiner Poesie, die sich auch auf geistliche Gedichte erstreckt. Zu erwähnen ist ferner Konsistorialrat Smid, der in der Zeitschrift »Pallas« der erste echte Sohn der Musen genannt wird, der in diesem Jahrhundert aus dem bis dahin nur dürren und öden Boden der ostfr. Poesie hervorging. Seine Ode »Der Krieg, ein heiliger Gesang« (1758) nennt Herder »eine wahre Anthologie aus Propheten und Psalmen; seine Sprache ist so rein, schön und edel, als der lyrische Gang des Stückes gesetzt und erhaben fortschreitet.« Mitte des 18. Jahrhunderts finden wir auch eine Dichterin, eine Kaufmannsfrau Dorothea Furken, geb. Haaren, zu Neustadtgödens, der von der Gräfin von Bentinck nach damaliger Sitte der Ehrenkranz aufgesetzt wurde und die feierlich als eine Dichterin gekrönt wurde.

Es liegt zwar außerhalb der Grenzen meiner Aufgabe, länger in dieser wirklich liederfrohen Zeit zu weilen. Doch scheint es mir zur Vervollständigung des Überblickes wohl angebracht, die hochdeutsche Dichtkunst nebenbei hier zu streifen. Aus der immer allgemeiner und stärker werdenden Zuneigung zu ihr ergibt sich ja auch ein weiterer Grund für die Vernachlässigung des Plattdeutschen im 18. Jahrhundert. Neben ernster zu nehmenden literarischen Bestrebungen finden wir gegen Ende des 18. Jahrhunderts aber auch einen auffallenden Dilettantismus, eine Folge des Aufblühens der periodischen Literatur. Musenalmanache und Zeitschriften, wie z. B. die »ostfr. Mannigfaltigkeiten« 1784–86 und 1795, werden der Tummelplatz aller möglichen Poeten, die sich mit ihrer Empfindsamkeit und lyrischen Schwärmerei breit machen. Hymnen und Schäferstückchen waren nach dem Zeitgeschmack, man sang nach Anakreon und Ossian und natürlich auch nach allen französischen Vorbildern und stimmte die Leier so weich und wehmütig als möglich. So singt Chr. Gittermann von der Liebe:

»Die Liebe flößt dem Manne Leben ein
Und mildert auch die Wut ergrimmter Karabossen!
Das Herz ist ohne sie so fühllos als ein Stein
Und jedem Mitgefühl verschlossen.
Der Mensch ist ohne sie ein halber Hottentott
Und diese schöne Welt – ein gräßliches Schavott!
Wol wäre sie mit lauter wilden Faunen
Auch nur ein Stall, der Mensch ein Vieh;
Allein die Welt – was wäre sie
Mit lauter türkischen Kapaunen?
Das Menschenleben nichts als Wut,
Die Welt ein Mördernest, in höchstem Grade,
Die Menschen eine Tigerbrut,
Wie Teufel aus der Messiade!
    usw.

Daß sich bei solcher Geschmacksverirrung, die eine überfeine Bildung verraten sollte, die derbe, unverfeinerte Schwester der hochdeutschen Mundart nicht hervorwagte, ist selbstverständlich. Die niederdeutsche Volkspoesie mußte warten, bis nach natürlichen Gesetzen ein Rückschlag eintrat und ihr wieder einige Anerkennung brachte. Das geschah bald zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nachdem eine etwas phantastische Bewegung zugunsten des Niederdeutschen, das man einer allgemeinen »sassischen« Verkehrssprache zugrunde legen wollte, sich im Sande verlaufen, aber doch einen gesunden Sinn zur Pflege der immer mehr in den Hintergrund getretenen plattdeutschen Muttersprache zurückgelassen hatte.

In der Zeitschrift »Pallas« vom Jahre 1801 finden sich »Rhapsodien über die Nationaltugenden der Ostfriesen«, worin auch über den damaligen, also zu Anfang des 19. Jahrhunderts herrschenden Sprachenzustand ein Überblick gegeben wird, der die Lage des Plattdeutschen deutlich erkennen läßt. Es heißt da:

»Der Ostfriese hält auf seine Provinzialsprache sehr viel. Zwar ist das Hochdeutsche die Gerichtssprache (doch nicht zu vergessen der lieben lateinischen Brokken), auch wird bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts darin gepredigt. Sodann wird unter den höheren und gebildeteren Klassen größtenteils hochdeutsch gesprochen (doch noch nicht sehr lange), so wie selbst unter dem Bürgerstande das Interesse für die hochdeutsche Sprache immer mehr zunimmt. Aber der gemeine Mann vergibt es nur seinen Obern und der vornehmen Klasse wie auch seinem Prediger, wenn hochdeutsch mit ihm gesprochen wird. Weiter herab dünkt es ihm unter seinen Landsleuten Gekkheit und Windbeutelei zu seyn, und zwingt ihm ein kleines Lächeln ab, wenn z. B. Kaufleute, Schreiber und Schulmeister in hochdeutscher Sprache mit ihm konversieren wollen. Doch wäre es (beiläufig gesagt) gar sehr zu wünschen, daß die letzteren, die Schulmeister in Ostfriesland, mehr damit bekannt wären, sich mehr um die deutsche Sprache, als – um das große Glück bekümmerten, den Merkur vor der Sonne zu sehen, und in der Schule mit ihren Kindern durchaus nichts als hochdeutsch sprächen. Auch sollten die ostfriesischen Prediger es sich billig zum Gesetz machen, das Volk immer mehr an die hochdeutsche Sprache zu gewöhnen. Man weiß, daß dies nicht jederzeit geschieht. Man weiß, daß auch in Gerichten, oft ganz unnötiger Weise die plattdeutsche Sprache gebraucht wird. Nicht minder ist noch unter den vornehmeren und im ganzen Mittelstande das Hochdeutsche blos die Sprache der Etikette und wird nicht ohne Zwang geredet. Dagegen ist das plattdeutsch-ostfriesische die Haus- und Familiensprache, die Sprache der Vertraulichkeit und Freundschaft, besonders auch der Frauenzimmer in ihren Haus- und Herzensgesprächen, und es mögen in unsern Städten sehr wenige, fast gar keine Gesellschaften, sowohl in öffentlichen als Privathäusern stattfinden, worin nicht mitunter auch plattdeutsch geredet wird ... Aber warum suchen wir in einem Punkte eine Originalität, die uns nicht sonderlich nutzt, sondern zugleich schadet? Die plattdeutsche Sprache wird nie zur Büchersprache erhoben werden. Zugleich ist sie ein wahres Hindernis für die gesellschaftliche Kultur.«

Man fühlt aus dieser etwas scharfen kritischen Auslassung heraus deutlich die Stellung des Plattdeutschen als Volkssprache und ihre bescheidene Zurückhaltung gegenüber dem vornehmeren Hochdeutschen, die auch heute noch sie kennzeichnet, nur daß inzwischen auch die Schule und mehr und mehr der Kreis der Gebildeten ihr verloren gegangen ist. Der Zustand der Rivalität zwischen den beiden Mundarten war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch vorhanden, man vermochte nicht die Berechtigung beider anerkennen, sondern glaubte, eine auf Kosten der andern hervorheben und fördern zu müssen.

In derselben Zeitschrift »Pallas« von 1802 wird eine »Ansicht der wissenschaftlichen Kultur Ostfrieslands vom Anfang des 19. Jahrhunderts« mitgeteilt, die literaturgeschichtlich nicht ohne Interesse ist. »Man muß in Ostfriesland den Flor der Wissenschaften nicht suchen oder verlangen, den man in Sachsen, im Brandenburgischen, in Hannover, Braunschweig, Weimar, Gotha und andern ähnlichen Städten findet; doch kann es sich verhältnismäßig immer mit andern Provinzen des westphälischen Kreises messen. Es enthält überhaupt gar kein geistloses Geschlecht, vielmehr hat es eben jetzt mehrere Literaturfreunde und, wie ich glaube, im Verhältnis gegen die Größe des Landes viele Männer von Geist, von Kenntnissen und Geschmack.« (Ostfriesland hatte damals etwa 100 000 Einwohner, mit etwa 200 Predigern und Lehrern an lateinischen Schulen, 100 Juristen und Kameralisten, 15-18 Ärzten.) »Im Ganzen genommen ist der ostfr. Klerus an Kenntnissen, an innerer und äußerer Bildung, ansehnlich vorgerückt, wenn man auch nur 2 bis 3 Dezennien zurückblickt. Im Anfang des 18. Jahrhunderts und unter den Reformirten noch vor wenigen Jahrzehnten gab es mehrere unstudierte Prediger, die vorher – mirabile dictu – Bäcker, Böttcher und Soldaten gewesen waren.«

»Zu den Blüthen der wissenschaftlichen Cultur eines Landes,« so heißt es in dem Aufsatz weiter, »gehört die Schriftstellerei. Ich muß gestehen, daß Ostfriesland wenigstens bis jetzt noch nur wenig schriftliche Produkte hervorbringt. Die Provinz ist von den literarischen Märkten Deutschlands weit entlegen. Der innere Buchhandel beschäftigt sich blos mit dem Absatz fremder Produkte, und hat vielleicht auswärts zu wenig Konnexion, um sich mit vielen und kostbaren einheimischen Verlagsartikeln zu befassen. Auch fehlt es noch aus der Nachbarschaft an großen und bedeutenden Buchhandlungen, die den ostfr. Gelehrten Gelegenheit verschaffen könnten, ihre Geistesprodukte öffentlich mitzuteilen.«

Der weitere Einfluß der Kirche.

Bei dem großen Einfluß, den, wie wir vorher schon sahen, die kirchlichen Verhältnisse auf die Sprachentwicklung ausübten, dürfen wir es nicht unterlassen, zunächst auch diese während des 18. und 19. Jahrhunderts kurz weiter zu verfolgen. Während in den lutherischen Gemeinden das Hochdeutsche immer mehr durchdrang, wurde bei den Reformierten und in deren Hochburg Emden das Holländische fast ausschließlich zur Predigtsprache erhoben. Daran änderte auch nichts, daß 1751 die preußische Regierung den Besuch fremdländischer Universitäten verbot, und die reformierten Theologen nun nicht mehr nach Groningen ziehen durften. Generalsuperintendent D. Bartels schreibt in einer kurzgefaßten Geschichte der holländischen Sprache in Ostfriesland: »Sowohl der Aufschwung der deutschen Literatur als der Kriegsruhm Friedrichs des Großen gingen an dem reformierten Ostfriesland vorüber, ohne im geringsten das erstorbene deutsche Bewußtsein wieder zu erwecken.« In Emden brauchte von 6 reformierten Pastoren nur einer hochdeutsch predigen zu können; tat er es, so fand er meist nur leere Bänke und Stühle. Die Bekanntmachungen der Kirchenbehörden wurden in der ersten preußischen Zeit (1744 bis 1806) zugleich in holländischer und in deutscher Sprache erlassen. Als dann das holländische Regiment über Ostfriesland kam, fand es natürlich in den sprachlichen Verhältnissen einen erheblichen Stützpunkt und die holländische Sprache sollte allgemein, auch in den lutherischen Gemeinden, durchgeführt werden. Diese leisteten heftigen Widerstand, da kam 1810 mit der französischen Herrschaft abermals eine schwerwiegende Neuordnung der sprachlichen Zustände. Französisch wurde Amtssprache, ohne aber darüber hinaus Bedeutung zu gewinnen; vereinzelt finden wir heute allerdings noch französische Wörter in der Volkssprache, meist zur Bezeichnung bisher unbekannter, aber eingeführter Gegenstände, wie z. B. lit de camp = Feldbett. Als Ostfriesland 1815 hannoversch wurde, kam es wieder zu dem früheren sprachlichen Zustand: lutherisch = hochdeutsch, reformiert = holländisch. Das Verbot fremder Hochschulen wurde auch wieder aufgehoben und den Reformierten die Universität Groningen wieder zugänglich. Es wird aber darüber geklagt, daß sie sich während des Studiums der Pflege der reinen holländischen Sprache nicht genügend widmeten, daß sie in landsmannschaftlichen Vereinigungen nur plattdeutsch sprächen, infolge dessen später im Amt auch kein klassisches Holländisch verbreitet, sondern nur dazu beigetragen hätten, daß besonders auch in den Schulen, in denen erst 1845 die deutsche Sprache zur Unterrichtssprache erhoben wurde, plattdeutsch mit starkem holländischem Einschlag gesprochen wurde. Im Volk bildete sich durch den konfessionell-sprachlichen Unterschied die Meinung aus, daß der echte Gottesdienst der holländisch-calvinistischen Kirche sich in keiner andern als der holländischen Sprache ausdrücken lasse, und man sagte: »He lehrt luthersch«, wenn ein reformierter Prediger sich der deutschen Sprache bediente. Das hannoversche Konsistorium übte allmählich einen Druck zugunsten der hochdeutschen Sprache aus. Es verfügte 1818, nur solche Kandidaten auf die Wahl zu setzen, die der deutschen Sprache wenigstens so weit mächtig wären, daß sie alle 4 bis 6 Wochen eine Predigt darin halten könnten. 1845 kam, wie schon erwähnt, die Verordnung der hochdeutschen Unterrichtssprache. 1848 beschloß dann auch der Coetus der reform. Prediger, seine Verhandlungen im Wesentlichen in der deutschen Sprache zu halten. Ende 1865 aber hatte das Holländische noch das Übergewicht in 50 reformierten Gemeinden, gegen 20, wo zwar deutsch gepredigt, aber holländisch gesungen wurde. Daß mit solchem sprachlichen Wirwarr unter neuer preußischer Regierung dann endgiltig aufgeräumt wurde, dürfen wir mit Genugtuung feststellen. Aus dem Auge lassen wollen wir dabei aber nicht, daß durch die merkwürdige Absonderung der Reformierten von der übrigen sprachlichen Entwicklung des Landes das Plattdeutsche einen festeren Halt an dem Holländischen als an dem Hochdeutschen hatte und sich so leichter in unsere Zeit hinüberretten konnte. – Immerhin müssen die kirchlichen Verhältnisse und die auch in ihnen sich zeigende schwierige Mittelstellung Ostfrieslands zwischen den übrigen deutschen Ländern und den Niederlanden, wodurch von allen Seiten her starke Einflüsse sich äußerten, für die Lage der niederdeutschen Sprache wesentlich in Berücksichtigung gezogen werden.

Die neuere Zeit.

Mit dem 19. Jahrhundert beginnt der dritte Zeitabschnitt der ostfr. niederdeutschen Literatur, den wir bis in unsere heutige Zeit hineingehen lassen: das Neuerwachen plattdeutscher Poesie mit der Erkenntnis der Eigenart und des Wertes unserer Volkssprache. Noch 1799 erschienen in Norden »Gedruckte Blätter« mit plattdeutschen Gedichten von J. G. Gerdes, vermutlich eine kleine Sammlung von solchen und dann die erste, die in der Literaturgeschichte zu verzeichnen ist. Ich habe sie nirgendwo aufgefunden, einzelnes daraus findet sich aber in späteren Sammlungen und ist so erhalten geblieben. Ein Jeveraner namens Christian Hinrich Wolke, russischer Hofrat, folgte 1804 ebenfalls mit einer Ausgabe eigener Gedichte in merkwürdiger Mundart, Schreibweise und ohne inneren Wert. Da wir uns ausschließlich an das Ostfriesische halten, kommt Wolke für uns nicht weiter in Betracht. Den friesischen Titel

Sanghfona

zu deutsch etwa Liedermädchen oder Singfee, trug eine mit großem Beifall aufgenommene Sammlung »plattdütsk-ostfreeske Rimen, Vertellsels un Döntjes«, die 1828 in Emden bei H. Woortman jr. erschien und zumeist Gedichte von J. L. Lange und dem Verleger Woortman enthält. Die ersteren zeichnen sich durch echt volkstümliche, dabei sprachlich gewandte Behandlung aus, während die W.'schen Dichtungen inhaltlos und in der Sprache holperig sind. Das Ganze stellt aber einen durchaus gelungenen Versuch dar, die niederdeutsche Dialektdichtung wieder zu Ehren zu bringen. Aus älterer Zeit bringt die Sammlung nur den Abdruck des Buhske di Remmer und des alten Sünder-Marten-Liedes. Auch mehrere Übersetzungen aus dem Hochdeutschen sind darin enthalten, um zu zeigen, wie die plattdeutsche Sprache auch größerer Aufgaben fähig sei; so Bürgers »Abt von St. Gallen«, Schillers »Mannenweerde« (Manneswürde) wie »Weest lüstig« nach Hölty. Lange war geborener Emder und betrieb einige Zeit eine Tabaksfabrik. Schwächliche Gesundheit veranlaßte ihn aber zur Aufgabe seines Berufes und zur Übersiedelung nach Loga, wo er 1835 im jugendlichen Alter von 37 Jahren verstarb. Eine längere didaktische, aber weniger ansprechende Dichtung von ihm erschien 1830 unter dem Titel »Bello de Hund of Lewensloop van eenen Pudel, dör hum sülven vertelld.« Die zweite vermehrte Auflage der Sanghfona (1838) sollte er nicht mehr erleben. Aus beiden Ausgaben der Sanghfona ist das beste in die vorliegende Sammlung aufgenommen.

Nach der schwulstigen hochdeutschen Reimerei, die Mode gewesen war, atmet die Sanghfona eine herzerfreuliche Frische und Natürlichkeit. Das Plattdeutsche wurde seit langer Zeit wieder der Druckerschwärze gewürdigt und fand, gerade in der poetischen Form, viel Anklang, sodaß fortan bald hier bald dort in der periodischen Literatur plattdeutsche Gedichte auftauchen. Selbst

G. W. Bueren

Stadtsyndikus zu Emden, Herausgeber der »Jahrbücher« (1835-42) eines sehr anerkennenswerten Unternehmens, der zahlreiche hochdeutsche Gedichte und Übersetzungen verfaßte und eine tonangebende literarische Persönlichkeit gewesen zu sein scheint, kann es sich nicht versagen, »Glückwünsk« und »Kransspröken bi Amtmann Teltings sülvern Hochtied« 1838, sowie die Volksballade »De twe Königskinder« und das kräftige Lied »Ostfreeske Freeheit« zu dichten.

1842 trat dann in der Zeitschrift »Frisia«, später in dem »Ostfriesischen Unterhaltungsbuch« und in seinem »Vagabund« der volkstümlichste aller ostfriesischen Dichter,

Enno Hektor

auf den Plan und hielt Freunde und Gegner lange Jahre hindurch in begreiflicher Aufregung.

Enno Wilhelm Hektor wurde am 21. November 1820 zu Dornum geboren, wo sein Vater am Gräflich Münsterschen Patrimonialgericht als Schreiber angestellt war. Er erhielt bis zum 12. Jahre die übliche Dorfschulbildung, um dann ebenfalls Schreiber zu werden, obwohl schon in jungen Jahren seine Begabung zum Dichten und Zeichnen sich auffällig zeigte. 1838 trat Hektor als Schreibergehilfe bei dem Auktionator Rulffes zu Pewsum in Dienst, 1842 übernahm er mit 60 Talern Jahreslohn die Stellung seines inzwischen verstorbenen Vaters, um die Stütze der in kümmerlichen Verhältnissen zurückgebliebenen Familie zu werden. Eifrig war er beschäftigt, seine Kenntnisse zu vermehren und sich durch allerlei Nebenbeschäftigung, auch durch literarische Arbeiten, einen besonderen Groschen zu verdienen. Seine scharfe satirische Feder machte ihn aber recht unbeliebt, und dadurch kam er in solch unerquickliche Lage, daß er im Herbst 1849 Ostfriesland, seiner innig geliebten Heimat, den Rücken kehrte und als Journalist an den Rhein zog, zunächst nach Bonn, dann 1850 als Redakteur des Kreisblattes nach Dernau an der Ahr, wo er in Heimweh nach seiner ostfriesischen Heimat das bekannte »In Ostfreesland is't am besten« dichtete. Mit Unterstützung einiger Gönner wurde es Hektor dann ermöglicht, zwei Jahre lang Universitätsstudien in Nürnberg obzuliegen; mißliche Erfahrungen und innere Haltlosigkeit trieben den Bedauernswerten 1852 zu einem Selbstmordversuch, indem er sich aus seiner im 3. Stock belegenen Wohnung in die Pegnitz hineinstürzte. Mit Hilfe seines Bruders Heinrich gelang es, ihm wieder Selbstvertrauen und Mut zu weiterer Arbeit einzuflößen. So besuchte er dann noch die Universität zu München. 1857 trat er als Bibliothekssekretär beim Germanischen Museum zu Nürnberg ein, wo er bis zu seinem am 21. Januar 1874 erfolgten Tode verblieb.

In einem Nachruf, den der Direktor des Nationalmuseums, Professor Dr. G. Frommann, dem langjährigen Mitarbeiter widmete, heißt es: »Hektor zeichnete sich durch Fleiß und wissenschaftliches Streben in einer Weise aus, welche ihm das Vertrauen der Direktoren des Instituts und die Achtung und Freundschaft seiner Kollegen an demselben erwarb. Später zum Sekretär des Museums ernannt, wirkte er in dieser Stellung bis zu seinem Tode mit vollster Berufstreue und Gewissenhaftigkeit in der Bibliothek-Abteilung, insbesondere tätig für die Herstellung des Literatur-Repertoriums. Neben seinen emsigen Studien über altnordische Literatur zeichnete er sich auch als Dichter aus. Eine Menge meist humoristisch-satyrischer Gedichte von ihm sind seinen Freunden bekannt, wenige davon zerstreut in einzelnen Blättern erschienen. Außerdem sind Dichtungen in seiner heimatlichen Mundart und ein größeres lyrisches Gedicht ›Tannengeister‹ im Buchhandel von ihm herausgekommen. Auch Dr. Frommanns ›Deutsche Mundarten‹ und das Album des literarischen Vereins, dessen Mitglied Enno Hektor lange Jahre war, enthalten Aufsätze und Gedichte von ihm. An seinem Grabe hatte sich, außer den sämtlichen Beamten des Museums, eine Anzahl Freunde versammelt, welche den nicht allen zugänglichen, zuweilen verschlossenen, ja selbst abstoßend erscheinenden Charakter des Verblichenen, der jedoch in Wahrheit ein edler, tieffühlender und besonders treuer und wahrheitsliebender war, zu würdigen wußten.«

Hektors bekannte derbkomische Scenen von Harm Düllwuttel nebst einigen seiner Gedichte sind 1905 von F. W. van Neß, mit einem Lebensbilde des Dichters von Fr. von Harslo (Fr. Sundermann) neu herausgegeben.

In seinem äußeren Leben, in den bedrückten Verhältnissen und in der bewegten politischen Zeit seiner Sturm- und Drangperiode spiegelt sich die Eigenart Enno Hektors wieder. Schon in jungen Jahren erwacht sein Feuergeist, seine ursprüngliche Dichternatur wird angefacht von ungebändigten Freiheitsidealen; aber sein verschlossenes Wesen, seine dürftige Lage mit dem unbefriedigten Hunger nach Bildung und größerer Betätigung des hochfliegenden Geistes bieten ihm keine Gelegenheit, einen festen Halt und eine geklärte Anschauung zu gewinnen. Ungestüm wirft sich der Jüngling in die Wogen des Tagesstreites und wird zur demokratischen Kampfnatur, die rücksichtslos mit Hohn, Spott und Satire alles bewirft, was sich ihm entgegenstellt. Seine außergewöhnliche schriftstellerische Begabung, seine im Grunde edlen Bestrebungen, seine glühende Vaterlandsliebe werden dadurch angekränkelt und gelangen nicht mehr zur reinen Entfaltung; und schließlich schwindet die innere Kraft, verkümmert und verbittert lebt er dahin, um nach vielen Enttäuschungen und Irrfahrten in fremder Erde Ruhstatt zu finden. Ein tragisches Geschick, das wir gerade deshalb so bedauern müssen, weil Hektor ganz das Zeug in sich hatte, ein echter volkstümlicher ostfriesischer Dichter, in der Darstellungskunst und Kleinmalerei ein Fritz Reuter, in der Behandlung der Sprache ein Klaus Groth Ostfrieslands zu werden.

Von Hektors hochdeutschen Dichtungen ist wenig allgemein bekannt geblieben, von seinen plattdeutschen, die hauptsächlich in die Zeit seines dichterischen Werdeganges fallen, ist »Harm Düllwuttel« volkstümlich beliebt geworden. Er macht den Polderknecht und später selbständigen Bauern zum Mittelpunkt kurzer dramatischer Scenen und schildert »Harm up Ball, up Freersfooten, up't Dorn'mer Markt, auf der Bürgerversammlung und in de dür Tied.« Mit einer Derbheit, die oft die Grenzen des erlaubten streift, stattet er seinen Volkshelden aus und spielt dessen Originalität gegen die Überhebung der Gesellschaft und die Zeitverhältnisse aus. Wir finden heute diese derben Späße nicht mehr geschmackvoll, sie tragen auch nicht zum literarischen Ruhm Hektors bei und muten oft als eine Bloßstellung ländlicher Sitten an, aber in der Schilderung des Volkslebens behalten sie als Kulturbilder ihren Reiz und Wert und erinnern an die platten Bauerngestalten, die uns der Meisterstift Dürers hinterlassen hat. Vor allem ist aber die plattdeutsche Sprache Hektors ein bleibender Schatz und eine Fundgrube für den Sprach- und Volksfreund. Besonders auch ist der Redestreit »'n groot Prammel um 'n paar Drüpp Natt«, womit er in Frommanns Zeitschrift »Die deutschen Mundarten« auftrat und sich seine Anstellung am Germanischen Museum zu Nürnberg erwirkte, ein Stück mustergiltigen ostfriesischen Plattdeutsch Gedichte in seiner heimatlichen Mundart hat Hektor verhältnismäßig wenig hinterlassen.

Größer als Enno Hektor und der bedeutendste ostfr. plattdeutsche Dichter des 19. Jahrhunderts ist

Fooke Hoissen Müller.

Er wurde am 15. Juli 1798 zu Aurich als Sohn eines Kaufmanns geboren, besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt und sollte anfänglich Uhrmacher werden. Doch seine Begabung, besonders auf dem Gebiet der Mathematik, war die Veranlassung, daß er schon bald wieder seiner Lernbegierde nachgehen und dem Studium der Mathematik sich hingeben durfte. Als Lehrer war er einige Zeit in Aurich, später in Halle, dann an der Kriegsschule in Torgau angestellt, um zuletzt als Professor des Gymnasiums zum grauen Kloster in Berlin berufen zu werden, wo er am 8. Oktober 1856 starb. Sein Leben war an Prüfungen reich, er verlor seine Frau und Kinder mit Ausnahme einer Tochter. Lange und schwer hatte er an Gesichtskrebs zu leiden, bis ihn der Tod erlöste.

Ein nicht sehr umfangreiches Oktavbüchlein von Dichtungen unter dem Titel »Döntjes und Vertellsels in Brookmerlander Taal, de verbreedste Ostfreeske Mundart« ist F. H. Müllers Hinterlassenschaft, auch erst nach seinem Tode bekannt geworden. Die Dichtungen bestehen aus einem größeren, 20 Gesänge umfassenden epischen Gedicht »Tjark Allena« und 18 Gedichten meist lyrischen Inhalts, durchweg Perlen der niederdeutschen Poesie, und durch hervorragende Behandlung der Sprache sich auszeichnend. Man darf sagen, daß F. H. Müller es verstanden hat, den Stoff der Volkspoesie in die Form der Kunstdichtung so glücklich zu meistern, daß man seine Gedichte beiden Gattungen zurechnen darf, und daß er wie kaum ein anderer die Fähigkeit der plattdeutschen Sprache auch für höhere poetische Anforderungen, solange sie ihren Heimatboden nicht verläßt, belegt. Stücke wie »Meesken will vreejen« oder »Wat sück de Schwaalkes vertellen« sind köstliche Zeugnisse dafür und beweisen die einzigartige Aufgabe und Schönheit unserer plattdeutschen Sprache. Man lese die erste Strophe des letzten Gedichtes:

      Schwaalkes, leev' Schwaalkes,
      Seggt, wat verteil ji jo? –
Van 'n Jungje, 't was der de best in 't Loog,
Van 'n Meisje, so nüver un blau van Oog.
He gung alleen, se satt alleen
Un sung hör söt Döntjes hier up de Steen
      In Dunkel under de Boom.

Und dagegen die hochdeutsche Übersetzung:

      Schwalben, liebe Schwalben,
      Sagt, was erzählt ihr euch?
Vom Burschen, der war so schmuck und schlank,
Vom Mädchen, das war blauäugig und blank.
Er ging allein, sie saß allein
Und sang süß ihr Liedchen hier auf dem Stein
      Im Dunkeln unter dem Baum.

Unschwer wird man erkennen, daß das Hochdeutsche jeden Reiz des Plattdeutschen vermissen läßt und allen poetischen Klanges entbehren muß. Man hat vor einiger Zeit versucht, Müllers sämtliche Gedichte in solcher Übersetzung weiteren Kreisen zugänglich zu machen, ein Unternehmen, das mir völlig verfehlt erscheint und, soviel ich weiß, auch keine Verwirklichung gefunden hat. Nur in seiner Brookmerländer Originalsprache ist F. H. Müller ein Dichter von Gottes Gnaden, und wenn er bisher als ein Vergessener galt und seine »Döntjes und Vertellsels« – ein Titel, der den Gaben seiner Dichtkunst kaum gerecht wird – selten geworden waren, so wird hoffentlich die vorliegende Sammlung, die fast alle seine Gedichte aufgenommen hat, dazu beitragen, ihn aufs neue und für immer zu verdienten Ehren zu bringen.

In »Tjark Allena«, von dem als Probe ein einzelner Abschnitt zum Abdruck gelangt ist, schildert er das Schicksal eines ostfriesischen Marschbauern, der seine Kraft im Kampf mit dem wogenden Element messen und durch seinen Deich es fesseln will. »Ick dwing di Düvel doch!« ist sein vermessener Wahlspruch. Immer wieder reißt der Deich, ja selbst den einzigen Sohn raubt ihm die Flut. Endlich wird Tjark des Kampfes müde und sucht nun Zerstreuung bei Kartenspiel, bei der Flasche und auf Reisen ins Ausland, kehrt als ein Fremder zurück und wandert verdrossen nach Amerika aus, wo er seine Tatkraft in der Gründung einer großen ostfriesischen Polderwirtschaft »Neu-Bunde« beweist und in dieser Arbeit seine Befriedigung findet. Die Dichtung enthält im einzelnen viel dichterisch Schönes, als Ganzes steht sie aber nicht auf der Höhe der Müller'schen Lyrik; ihr fehlt die dramatische Entwicklung, und der Stoff reicht nicht aus, auch die Sprache will nicht recht mit, wenn sie, fern von der ostfriesischen Heimat, Tjark auf seinen Irrfahrten begleitet. Kraft und Eigenart liegt aber auch in diesem Epos, der einzigen größeren und selbständigen poetischen Erzählung, die unsere Literatur aufzuweisen hat.

Fooke Hoissen Müller's Dichtungen wurden 1857 von seinem Bruder J. D. Müller, dem späteren Bürgermeister von Aurich, herausgegeben; auch von ihm liegen mehrere Gedichte vor, die in den »Auricher Nachrichten« und im »Ostfr. Monatsblatt« seinerzeit veröffentlicht wurden.

Inzwischen war im Osten der Stern Klaus Groths und Fritz Reuters aufgegangen und hatte viele Freunde der plattdeutschen Volkssprache zu poetischen Versuchen angeregt. In den Zeitschriften und Zeitungen finden sich häufiger mehr oder weniger Anerkennung verdienende Dichter, sichtlich bemüht, volkstümlich zu werden. Von ihnen muß rühmend

W. J. Willms

genannt werden, 1839 zu Reithamm geboren, 1861 bis 1867 Lehrer zu Aurich, später zu Schott, gestorben 1881. Er beteiligte sich an der Herausgabe des Kalenders »Ostfr. Volksbote«, gab 1866 die verdienstvolle kleine Sammlung »Redelköst« und 1869 im Verein mit Pastor Hölscher die mit einem Vorwort von Dr. W. J. Jütting versehene umfangreiche Sprichwörter-Sammlung »Ostfriesland wie es denkt und spricht« heraus. Wir sehen in Willms einen trefflichen Vertreter der ostfriesischen Lehrerschaft, die sich um die Erhaltung und Förderung unserer Volkssprache stets eifrig und mit Erfolg bemüht hat.

Karl Tannen

ein geborener Leeraner, später nach Bremen verzogen, wo vorzugsweise seine literarische Tätigkeit sich entfaltete, aber auch sein Dialekt beeinflußt wurde, gab 1861 eine plattdeutsche Ausgabe des Reineke Vos heraus, eine Bearbeitung des Lübecker Druckes von 1498, die Klaus Groth einer Einleitung würdigte. Der Altmeister der niederdeutschen Sprache schreibt darin u. a.: »Wir halten die hochdeutsche Sprache nicht auf, die Haupt- und Heldensprache, wie sie von Leibniz ist genannt worden – nein, wir hoffen ihr Saft und Kraft zuzuführen, indem wir Stamm und Wurzeln retten, die zu verdorren drohten, da sie doch sich wert gezeigt, eigene Blüten und Früchte zu tragen.« In der Sammlung »Dichtungen un Spreekwoorden up syn Moermerlander Oostvrees« legte Tannen die mannigfachen Geschenke seiner Muse nieder, die manches Hübsche und Sinnige enthalten, vor allem aber die Liebe zu seiner Heimat und zu seiner Muttersprache atmen.

»Min Modertaal, di dank ick alls,
Dat mutt ick singen un seggen,
Du hollst min Seel un Harte gral,
Bet se in 't Bed mi leggen.«

Harbert Harberts

ein geborener Emder, später Journalist in Hamburg, war ein fruchtbarer lyrischer Dichter, Verfasser der Sammlungen »Wilde Rosen« und »Rote Ranken«; schade, daß wir nicht noch mehr Plattdeutsches von ihm haben. Was ausfindig zu machen war, ist zum Abdruck gelangt; es reiht sich ebenbürtig dem Besten an, was wir aus jener Zeit besitzen – man lese das ergreifende »Dat Huske an de Diek« (S. 141) – und weckt aufrichtiges Bedauern mit dem Schicksal des jungen Dichters, das ihn zu früh seinem Berufe entriß.

Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts haben zwar noch, ebenso wie das jüngste Jahrzehnt, mehrere literarische Erscheinungen auf dem Gebiete unserer plattdeutschen Dichtkunst gebracht, aber nur weniges ist von einigem Wert. 1867 und 1870 gab Edzard Edzards in Emden ein »Friesisches Jahrbuch« heraus, wohl nur zu dem Zweck, sich selbst gedruckt zu sehen. Plattdeutsche Prosa und einige Gedichte, aber bedeutungslos, enthält das Jahrbuch; ferner ein Stück aus dem alten »Reynke Vos« mit Verherrlichung des vermeintlichen Dichters Nicolaus Baumann.

Lehrer Fr. Wegener zu Aurich beweist sich vornehmlich als Freund der Sprichwörter und Redensarten, die er als »Spräk- und Stäkriemen« in den letzten Jahrgängen des Ostfr. Monatsblattes veröffentlicht.

Unter dem Titel »Wat de Kiewit sprook« gab Louis Victor Israels zu Weener seine Gelegenheitsgedichte, mit denen er zur Verherrlichung von Bismarcks Geburtstag beitrug, und einiges Andere heraus, später noch weitere kleinere Gedichtsammlungen, alles in rheiderländer Mundart.

Ober-Postsekretär Jacobs, ein Krummhörner Kind, brachte 1897 »Rinen und Vertellsels in Krummhörner Plattdüüts«, zumeist komisch zugespitzte Stückchen im Stile von Läuschen und Rimels, der flüchtigen Unterhaltung dienend.

Wiard Lüpkes, Superintendent in Esens, der Verfasser der ostfr. Volkskunde, ist vielfach schriftstellerisch mit Erfolg tätig, hauptsächlich auf dem Gebiet des Sammelns alter Volksreime und deren Untersuchung in etymologischer und geschichtlicher Beziehung. Eine wertvolle Sammlung sind die von ihm zusammengestellten Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten über Seewesen, Schiffer- und Fischerleben in den germanischen und romanischen Sprachen. Seine »Volkskunde« ist eine vortreffliche, erschöpfende Behandlung alles dessen, was Kulturgeschichte und volkstümliches Leben Ostfrieslands betrifft.

An dieser Stelle dürfen wir auch nicht das große Wörterbuch der ostfriesischen Sprache vergessen, das wissenschaftliche Lebenswerk des Geh. Kommerzienrats J. ten Doornkaat Koolman in Norden, das 1879-1884 erschien, und an ein kleineres Wörterbuch des Rats Stürenburg in Aurich sich anschließend, den großzügigen etymologischen Aufbau der ostfriesisch-plattdeutschen Sprache mit außerordentlichem Fleiß und reichen Kenntnissen unternahm.

Besonders fesselnde dichterische Eigenart finden wir bei

Bernhard Brons jr.

dessen mannigfache Dichtungen zumeist in der »Ostfr. Zeitung« seiner Heimatstadt Emden zuerst abgedruckt sind, kürzlich aber auch in einem Sammelbande »Aus Ostfriesland« zum Besten eines Turnhallen-Neubaues in Emden erschienen sind. Glühende Freiheitsliebe und die Kraft nordischer Poesie steckt in seinen hoch- und plattdeutschen Gedichten; Ibsen begeistert ihn zu einer plattdeutschen Übersetzung des Peer Gynt, wie er auch sonst vieles den nordischen Sprachen entlehnt; tiefe religiöse, aber kirchenfremde Gesinnung treibt ihn zur poetischen Auslegung von Bibelsprüchen; Menschliches und Persönliches aus reicher Lebenserfahrung weiß er zu werten und kunstvoll zu formen, oft auch in ein lebenswahres Lokalkolorit einzurahmen. Und wenn er oft auch allzu trutzig und kühn erscheint, man gewinnt ihn doch lieb und sieht sein Bild wie eine reckenhafte Gestalt, die im hochragenden Wikingerkahn durch die brandende Flut des Lebens fährt. Während des Druckes dieser Sammlung, die er freudig unterstützte, ereilte den fast Achtzigjährigen in Gronau, während eines Besuches bei einer verheirateten Tochter, der Tod.

Ein jüngerer Emder Dichter ist Joh. Fr. Dirks, als Buchdrucker an der Emder Zeitung beschäftigt, der Verfasser der 1903 erschienenen Sammlung »Struukwark«. Die Gedichte sind meist lyrische, in schlichtem Volkston abgestimmte Empfindungen der Liebe und Sehnsucht, zwar ohne viel Abwechslung und Eigenart, aber treu und warm durchhaucht.

Von Joh. Esk, jetzt Seminarlehrer in Osnabrück, liegt unter dem Titel »Heimat« ein bunter Liederstrauß vom Nordseestrand vor, auch einige plattdeutsche Versuche enthaltend, darunter eine poetische Behandlung der Störtebeker-Sage.

Auch eine begnadete Dichterin, die in ihrer Heimat bisher fast unbekannt geblieben ist, dürfen wir unser eigen nennen:

Toni Wübbens,

in Timmel 1850 als Tochter des Dr. med. Töpfer geboren und in Hannover, ihrer zweiten Heimat, wo sie sich 1875 mit dem Kaufmann A. Wübbens verheiratete, am 15. Dezember 1910 an den Folgen eines Unglücksfalles verstorben, als eben ihr stadthannoverscher Roman »Die Altenhofens« im Hannoverschen Tageblatt erschienen war. Wie sehr sie ein Kind der ostfriesischen Erde geblieben war und trotz jahrzehntelanger Trennung mit ihrem ganzen Fühlen und Denken in der Heimat wurzelte, beweisen ihre reizenden plattdeutschen Gedichte, die in einem, von ihrer Tochter Fanny zeichnerisch ausgeschmückten Bändchen »Ut min Dörp« gedruckt vorliegen. Wiederholt sind diese an niedersächsischen Vortragsabenden vorgelesen worden und haben stets großen Beifall gefunden.

Ein nur für Verwandte und Freunde bestimmtes Büchlein »Musenküsse, de min Ohm in sien jungen Jahren mit affkregen hett« verrät, daß auch der 1842 in Aurich geborene, jetzt in Kiel lebende Geh. Admiralitätsrat Franzius ein Freund der plattdeutschen Muse war und mehrere komische Döntjes in Reime schmiedete.

Viele andere Namen begegnen uns noch in unserm Dichterbuch, die in gelegentlichen Dichtungen die plattdeutsche Sprache poetisch behandeln. Da aber selbständige Sammlungen von ihnen im Druck nicht erschienen sind, sei für diese nur auf das Inhaltsverzeichnis, nach den Namen der Verfasser geordnet, hingewiesen.

Den Beschluß unserer literargeschichtlichen Übersicht, die uns inzwischen schon in das jüngste Jahrhundert und damit in einen neuen Zeitabschnitt hinübergeführt hat, soll das Brüderpaar Dreesen aus Norden bilden.

Dr. Willrath Dreesen

der am 14. Mai 1878 zu Norden geboren wurde und nach philologischen Studien jetzt ganz den schönen Wissenschaften in Hersel bei Bonn am Rhein lebt, trat zuerst 1904 mit einem Bändchen Gedichte »Meer, Marsch und Leben« vor die Öffentlichkeit, dem schon im nächsten Jahre ein friesischer Balladenkranz » Eala frya Fresena«, dann der große Roman »Ebba Hüsing«, 1910 das Drama »Sturmflut« und zuletzt ein neuer Band Gedichte folgten. Im Fluge ward ihm die Anerkennung literarischer Kreise, und seine Dichtungen, die fast alle in heimatlichem ostfriesischen Boden wurzeln, berechtigen fernerhin zu den schönsten Hoffnungen. Besonders in »Ebba Hüsing« zeigt sich der Dichter als Meister künstlerisch entworfener ostfriesischer Stimmungsbilder und als feinsinniger Kenner von Land und Leuten. Heute schon dürfen wir ihn den erfolgreichsten Dichter Ostfrieslands und mit Stolz den Unsern nennen. Allerdings nur ein paar Gedichte in plattdeutscher Mundart sind in »Meer, Marsch und Leben« enthalten und in die vorliegende Sammlung aufgenommen. Sollen und dürfen wir bedauern, daß Willrath Dreesen von der plattdeutschen Poesie sich abgewandt hat? Ich meine nicht. Die Schwingen seiner Kunst mußten ihn weiter und höher, über die engen Grenzen seiner Heimat hinaus, tragen. Und wir dürfen uns ihres hohen Fluges freuen, weil er nun doch ein ostfriesischer Dichter ist und bleiben wird. »Ich bin immer mehr von der Dialektdichtung abgerückt,« schreibt er mir, »versteht sich: als Schaffender. Aber ich liebe sie außerordentlich, wenn sie vor künstlerischem Urteil bestehen kann.«

Ich bin Willrath Dreesen besonders dankbar dafür, daß er mich auf seinen Bruder

Arend Dreesen

aufmerksam gemacht hat, den man heute schon zu unsern besten plattdeutschen Dichtern zählen kann. Er wurde 1883 zu Norden geboren, wo er als Kaufmann und Geflügelzüchter lebt. Die ganze Ursprünglichkeit, Frische und Gestaltungskraft seines Bruders sind auch Arend Dreesens Eigenart, die tönende, klingende Sprache für seine poetische Begabung findet er aber im Plattdeutschen und die Vorwürfe seiner Dichtungen aus sinniger Betrachtung des Natur- und Tierlebens. Seine Gedichte, von denen bisher nur einige veröffentlicht sind, ähneln denen von F. H. Müller; auch sie zeigen, daß aus der schlichten Sprache und Art des Volkes kunstvolle Formschätze zu heben sind. Das gurrt und kirrt und schwirrt in den Vogelliedern Dreesens, daß man erstaunt ist, die plattdeutsche Sprache solcher Tonbildung fähig zu sehen. Hoffentlich schöpft das Bruderpaar Dreesen, jeder in seiner Weise, aus dem Born Poesie noch vieles, das uns zur Freude und der ostfriesischen Dichtkunst zur Zierde gereicht.

Zwei Fragen drängen sich auf und wollen eine Antwort. Die erste ist

Frisia non cantat?

Aus der verneinenden Behauptung, die in der häufigen Form ihrer Anwendung schon etwas abgeschmackt klingt, mache ich die Frage: Ist das Urteil, daß Ostfriesland für die schöne Kunst der Poesie kein Boden ist, aufrecht zu erhalten, wo in vorliegendem Buche allein in der plattdeutschen Mundart eine solche Fülle von Dichtungen geboten wird? Frei von Vorurteil, aber auch ohne lokalpatriotische Überhebung muß die Frage behandelt werden, wenn man zu einem sicheren Schluß kommen will. Zunächst muß da gesagt werden, daß in der eigentlichen Bedeutung des Wortes Frisia non cantat, d. h. Friesland singt nicht, eine durchaus zutreffende Wahrheit liegt. Das Singen ist den Friesen, wenigstens den Ostfriesen, nicht gegeben; in den Schulen, Kirchen, Gesangvereinen, auf den Märkten und in den Straßen, auf den Heuwagen, die aus der Meede hochbeladen ins Dorf fahren, bei der Musterung der Rekruten wie bei der Entlassung der Reservisten, oder wo sonst einmal Gelegenheit zum Singen sich bietet: man merkt deutlich genug, daß die natürliche Beanlagung zum Singen unserm Volk fehlt. Klimatischer Einfluß, Eigenart des Temperaments und Verschlossenheit des Wesens mögen die Gründe hierfür sein. Aber auch in der übertragenen Bedeutung, daß Ostfriesland keine Sänger, keine Dichter hätte, daß das platte, nüchterne Land und Volk für die Reize der Poesie nicht empfänglich sei, hat man dem Ausspruch » Frisia non cantat« bisher die Richtigkeit nicht absprechen zu können geglaubt. W. Lüpkes läßt den altfriesischen Barden und Heldensänger aus der Zeit Luidgers, den blinden Bernlef, Frieslands letzten Sänger sein:

»So stieg er auf Engelshänden,
Bernlef, in das feuchte Grab,
Nahm mit seiner goldnen Harfe,
Friesland, deinen Sang hinab.«

Und in seiner Volkskunde sagt er: »Dichter sind Ostfriesland so wenig eigen wie Sänger: › Frisia non cantat‹. Dazu ist sein Volk zu nüchtern, um nicht zu sagen zu prosaisch. Das Sprichwort ist bei uns des Volkes Scheidemünze.« – Der Abschnitt »Sang der Ostfriesen« fällt in der Lüpkes'schen »Volkskunde« denn auch leider nur dürftig aus, bewegt sich vornehmlich in dem Rahmen des rein Volkstümlichen, der Volksreime, und nimmt dem alten Vorurteil nichts von seiner vermeintlichen Berechtigung. Schade, gerade in einer umfassenden neuen Volkskunde hätte Ostfrieslands Dichtkunst auf die gebührende Stufe erhoben werden können und müssen.

Borchling fußt in seinem Urteile » Frisia non cantat, Frisia ratiocinatur« (Friesland singt nicht, es sinnt) auf den spärlichen Resten altfriesischer Literatur und den geringwertigen Reimereien des 17. und 18. Jahrhunderts. »Der Friese ist von Haus aus unmusikalisch und der dichterischen Produktion abgeneigt. Ihm fehlt vor allem eines, das gestaltende Formtalent, die eigentliche künstlerische Begabung. Seine Phantasie geht leicht in die Weite, wie seine Fröhlichkeit in das Gewaltsame und sein Humor ins Schneidendscharfe.« »Alle tausend Jahre einmal nur ersteht der friesische Mann, der das friesische Herz zum Sprechen bringen kann, dann aber ist diese friesische Poesie kostbar wie der edelste Trank, es ist das Herzblut des Dichters. Solch eine Poesie steckt in den »drei Nöten«, so und nicht geringer ist Theodor Storms Lyrik zu werten.« (Poesie und Humor im friesischen Recht, Aurich 1908.)

Nach meinem Dafürhalten läßt sich ein einigermaßen zutreffendes Urteil von Ostfrieslands Poesie und Poeten, bis in die neueste Zeit hinein, gewinnen, wo in der vorliegenden Sammlung zum ersten Male die Garben unserer plattdeutschen Dichtkunst aufgelesen und gebunden sind. Und aus diesem, durch Farbe und Stimmung wohl allgemein überraschenden Bilde läßt sich meines Erachtens manch hartes Urteil und Vorurteil beträchtlich mildern, selbst bei strengerem kritischen Maßstab. Soviel steht fest, daß bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nur dürftige Beweise einer poetischen Volkskunst in unserer Heimat vorliegen. Die eigenartigen sprachlichen Verhältnisse waren es besonders, die keinen Halt zum Ranken und Blühen boten und alle Triebe überwucherten. Aber dann erwachen mehr und mehr die geistigen Kräfte, Seele und Gemüt des Volkes streben zum Licht, und von der Mitte des 19. Jahrhunderts ab, als man auch den Schatz und Reichtum der Volkssprache erkennt, fehlt es nicht an beachtenswertem Streben in der veredelnden Kunst der Sprach- und Gedankenschönheit. Und die neueste Zeit kann in dieser Kunst Formen und Gebilde aufweisen, die feingoldenen Filigrangeschmeiden gleichen. Sie hat es denn auch ermöglicht, daß unsere ostfriesische Heimat jetzt einen würdigen Baustein zum Denkmal der niederdeutschen Literatur herbeitragen darf.

Was vor reichlich 100 Jahren, und damals noch ohne größere Berechtigung, jemand in den »gemeinnützigen Nachrichten« dichtete, dürfen wir heute als richtig und zutreffend uns aneignen und im Selbstbewußtsein behaupten:

» Frisia cantat!

Immer noch hört man das Sprichwort: nulla Frisia cantat!
Wer es am ersten gesagt, sah nicht vor Bäumen den Wald,
Und wer 's jenem nachspricht, den strafen die Götter mit Taubheit!
Nur die Nachtigall fehlt! Sänger gibt 's sonsten genug!«

Dabei wollen wir in aller Bescheidenheit ablehnen, was in einer der folgenden Nummern jenes Blattes ein gerade nicht überaus milder Töne fähiger Nachtigallen-Schwärmer hinzudichten zu müssen glaubt:

»Freilich vernimmt nicht jeder der Nachtigall schönere Lieder,
Nimmer – tückischer Neid, nie phlegmatischer Schlaf!«

Die andere Frage, die aus diesem literarischen und sprachgeschichtlichen Überblick sich aufdrängt, lautet:

Was läßt sich zur Pflege unserer niederdeutschen Sprache und Dichtkunst tun?

Von ihrer siegreichen, zur alleinigen Herrschaft emporgestiegenen Schwester niedergezwungen, durch Jahrhunderte hindurch verkannt und wenig geachtet, hat sich die »platte« Volkssprache dennoch von Mund zu Mund fortgepflanzt und eine Zähigkeit und Ausdauer bewiesen, die von einer unverwüstlichen Lebenskraft zeugt. Und jemehr in unserer Zeit ausgeglichen und uniformiert wird, jemehr Kultur und Bildung durch Schul- und Soldatenwesen, durch Zeitungen und gemeinnützige Bestrebungen, natürlich alles in hochdeutscher Form und Fassung, über Land getragen wird, fast um so lieber pflegt man daheim am stillen Herd oder in Freundeskreisen die traute alte »Modersprak«. Neuerdings hat sich die Vorliebe für Volkskunde und Heimatkunst auch ihrer angenommen, man hat Reichtum und Schönheit in ihr entdeckt und ist nun bestrebt, sie in allen Ehren wieder ans Licht zu ziehen.

Wir in Ostfriesland sind in dieser Beziehung noch etwas zurück, obwohl die uns eigene niederdeutsche Mundart sich allezeit ebenso großer schwärmerischer Anhänglichkeit zu erfreuen hatte wie die meerumwogte Scholle, die unsere Heimat ist. Aber vielfach geschah es unbewußt, oft auch maniriert, um möglichst originell zu erscheinen, wenn man der plattdeutschen Sprache Treue bewies. Eine eigentliche Pflege war es nicht, und so ist es auch wohl gekommen, daß sich ihr Wortschatz in den letzten Jahrzehnten bereits sichtlich vermindert hat. Ein untrügliches Zeichen des Niederganges, dem wir energisch entgegenarbeiten müssen. Eine richtige Pflege unseres ostfriesischen Plattdeutsch muß seine Eigentümlichkeiten wie die jeder besonderen Sprache behandeln und lernen, immer tiefer in sie einzudringen. Vor allem auch muß die Ansicht bekämpft werden, daß das Plattdeutsche nur zur Einkleidung mehr oder weniger platter Witze benutzbar sei, als ob ihm Ernst, Gemüt und die Ausdrucksfähigkeit des vollen Seelenlebens fehle. Alles das, was lediglich eine humoristische Seite zeigt, verliert zu leicht an Würde und Ansehen, deshalb möge man bedacht sein, die plattdeutsche Sprache behutsam vor dem Übermaß solcher Behandlung zu schützen. Das Volksleben ist mannigfaltig genug, es bietet gewiß viele derbe und komische Seiten, an denen sich jeder gerne ergötzt; aber auch viel Lust und Last, Weh und Wehmut, Trauer und Tragik birgt es, und aus dem Leben muß die lebendige Sprache des Volkes schöpfen.

In den Familien, wo das Plattdeutsch noch schönes Hausrecht genießt, in plattdeutschen Vereinen und ostfriesischen Freundeskreisen innerhalb wie außerhalb des Landes sollte man deshalb getrost auch einmal ernstere Saiten erklingen lassen und sich mit der geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Eigenart der Sprache beschäftigen. Überall, wo im Lande Plattdeutsch gesprochen wird, zeige man, daß man die Sprache des Volkes gern hört, und befleißige sich ihrer selbst in dem vollen Bewußtsein, sich in einer Sprache zu üben, die es durchaus wert ist. Es braucht ja im Volke die plattdeutsche Sprache die hochdeutsche keineswegs auszuschließen; bei der zunehmenden Bildung wird man sehr wohl beide nebeneinander gebrauchen und beherrschen können, jede zu ihrer Zeit und an dem ihr zukommenden Platze. Dann wird man jedenfalls noch Jahrhunderte hindurch die weichen, wohligen Laute wie die kernigen Ausdrücke der alten friesisch-niederdeutschen Muttersprache am ostfriesischen Herd hören.

Ein fester Halt für jede Sprache und ihre Pflege ist die Literatur, besonders die Dichtkunst. Da wird es denn hoffentlich auch diesem Buche vergönnt sein, in weitesten Schichten, über den Kreis der Gebildeten und Volksfreunde hinaus, anregend auf Sprache und Dichtkunst Ostfrieslands zu wirken, und ein frisch sprudelnder Quell zu bleiben. Ganz besonders möchte ich wünschen, daß nun auch in den höheren und Volksschulen unserer plattdeutschen Literatur ein wenig Beachtung geschenkt und damit zugleich der Pflege der Sprache eine wesentliche Förderung gegönnt würde. Der Lehrplan des deutschen Unterrichts gestattet gewiß hin und wieder einen Hinweis auf die heimische Sprachen- und Literaturgeschichte, womit zugleich die Heimatkunde eine erfreuliche Erweiterung erführe und vor allem auch den zukünftigen Geschlechtern Ostfrieslands die Liebe zur engeren Heimat fest ins Herz gelegt würde.

Vielleicht daß auch die Dichtkunst selbst Anregung durch diese Sammlung erhält, und daß bei einem etwaigen späteren Neudruck neue Sänger sich ihrem Volke zeigen. Damit sollen natürlich keineswegs dilettantische Dichterlinge geweckt werden! Aber in der Stille und im Verborgenen erblüht gar oft ein selten schönes Blümlein. Viel dichterischen Stoff birgt noch Geschichte und Sage unserer Heimat, ihr Volksleben ist unversiegbar für den schöpfenden und gestaltenden Künstler, und ihre Sprache – das zeigt manches Gedicht dieser Sammlung – hat reine Harfenklänge, ist den Anforderungen höherer Dichtkunst ebenso gewachsen wie denen der Volkspoesie. Nur muß der Dichter, wenn er sie meistern will, mit ganzer Liebe und vollem Herzen selber in ihr wurzeln; er darf sie vor allem nicht auf Empfindungen und Gedanken stimmen, die ihr nicht eigen, die ihr fremd sind. Unsere ostfriesisch-plattdeutsche Sprache und Dichtkunst ist durchaus ein bodenständiges Erzeugnis ihrer Landschaft, wenn auch deren enge Grenzmarken nicht ihren Wert und ihre Bedeutung einschränken. Einen würdigen Platz in der niederdeutschen Literatur darf sie schon heute beanspruchen.

Aurich, 1911.
Adolf Dunkmann.


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