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Vorwort

In den niederdeutschen Sprachgebieten regt sich erfreulicherweise, dank den Bestrebungen auf dem Gebiete der Heimatkunst, auch das Interesse an der Muttersprache, und die niederdeutsche Literatur der letzten Jahre ist ergiebig an Forschungs- und Sammlungsarbeiten. In Ostfriesland hat es ebenfalls nicht an emsiger Tätigkeit gefehlt, indes zu dem Denkmal der niederdeutschen Dichtkunst, dessen kraftvolle, oft aus Schutt und Trümmern ausgegrabene Quadern, durchsetzt mit kunstvollen Verzierungen jüngerer Meisterhand, zu ragender Bedeutung emporstreben, hat es seinen Baustein bisher nicht beigetragen. Und wer sich darob wunderte, hörte zumeist: » Frisia non cantat,« oder man wies auf Heinrich Heine, der die Ostfriesen ein Volk nannte, das weder singen noch pfeifen könne. Man glaubte, von Ostfriesland wohl Gelehrte, aber keine Poeten, am wenigsten ein plattdeutsches Dichterbuch erwarten zu können.

Wohl liegen einige Versuche literarischer Sammel-Arbeit vor. Im Jahre 1828 erschien in Emden die »Sanghfona, plattdütsk-ostfreeske Rimen, Vertellsels un Döntjes«, aber fast ausschließlich eigene Dichtungen des Herausgebers J. H. Lange und des Verlegers H. Woortman enthaltend. Die 2. Auflage, die 1838 erschien, brachte eine kaum nennenswerte Bereicherung. Wertvoller ist das Büchlein, das der Lehrer W. J. Willms, ein begeisterter Freund der plattdeutschen Mundart, im Jahre 1866 im Dunkmann'schen Verlage zu Aurich unter dem Titel »Redelköst un Schnipp-Schnapp-Schnaren vör Jan un alle Mann ut de ostfreeske Pott upscheppt« herausgab. Es bot zum ersten Male eine, wenn auch unscheinbare Sammlung von Volksreimen und Volksliedern Ostfrieslands und gab auch vielfach Anregung zu weiterer Pflege der heimischen Muttersprache, an der sich dann in der Folge hauptsächlich das von Schulrat Zwitzers in Emden herausgegebene Ostfr. Monatsblatt, sowie das Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer in Emden beteiligten. Den ersten, alte und neue Zeit umfassenden geschichtlichen Überblick über die niederdeutsche Literatur Ostfrieslands gab Professor Dr. Conrad Borchling im Verein für niederdeutsche Sprachforschung zu Emden im Jahre 1902; der Vortrag erschien gedruckt im Jahrbuch dieses Vereins desselben Jahrgangs. Aber er berücksichtigt in der Hauptsache die spärliche ältere Literatur und begnügt sich hinsichtlich der neueren Zeit mit kurzen Hinweisen, ähnlich wie W. Lüpkes in seiner ostfriesischen »Volkskunde«, in der mit Vorliebe nebenbei die Sprichwörter ostfriesischer Mundart behandelt werden.

So schien es an der Zeit, einmal gründlich das Gebiet der niederdeutschen Literatur Ostfrieslands durchzuforschen und den Versuch einer Sammlung ostfriesisch-plattdeutscher Dichtungen alter und neuer Zeit zu wagen, nicht nur um übertriebenen Vorurteilen zu begegnen, sondern auch um Wert und Eigenart unserer Dichtkunst zu zeigen. Dann aber galt es auch, der immer mehr schwindenden niederdeutsch-ostfriesischen Mundart neue Belebung einzuflößen; denn die Strömungen der Kulturzeit nehmen ihr ohne Zweifel Lebenssäfte und -kräfte. Fortschritt und Bildung auf allen Gebieten des geistigen und wirtschaftlichen Lebens lassen die hochdeutsche Sprache als das Universalmittel auch auf dem platten Lande immer weiter Fuß fassen. So sehen wir deutlich nicht nur den Gebrauch, sondern vor allem auch das Ansehn der plattdeutschen Sprache und ihren Wortschatz sich vermindern. Da kann der Versuch, sie einmal wieder als Schriftsprache zur Geltung zu bringen und noch dazu in der würdigen und leichter den Weg zu den Türen und Herzen findenden Form eines heimatlichen Dichterbuches, ihr vielleicht einen festeren Halt in schwankender, ungewisser Lage bieten.

Aus solcher Absicht des vorliegenden Buches ergaben sich von selbst die Gesichtspunkte für Sammlung und Behandlung des Stoffes. Eine literarisch-kritische Sichtung nach streng künstlerischem Maßstabe mußte unterbleiben, wenn auch mancherlei völlig Wertloses keine Aufnahme gefunden hat. Die plattdeutsche Mundart ist dem schlichten Volke eigen, ihre Poesie Volkspoesie, und erst in neuerer Zeit hat man in ihr die Klang- und Formschönheiten der Kunstpoesie entdeckt und gewertet. Wollte man da ausschließlich echtes dichterisches Gold münzen, so würde vorläufig noch die Ausbeute gering sein; wer nur dieses sucht, findet ja auch die Gelegenheit zu einer feiner gesiebten Auslese in der größeren Auswahl der Sammlung und wird Dichtungen wie die von F. H. Müller, Enno Hektor, Harbert Harberts, Brons, A. Dreesen und einzelne andere gerne für sich nehmen. Aber je eifriger man auf dem Gebiete der plattdeutschen Poesie sammelt und dabei erfahren muß, wie spärlich sie sich findet, wie wenig zugänglich und wie selten ihre Drucke geworden sind, um so mehr drängt sich die Notwendigkeit auf, in einer möglichst umfassenden Sammlung alles vor der Vergessenheit zu bewahren, was uns in poetischer Form aus den verschiedenen Zeitabschnitten der plattdeutschen Sprache überliefert ist, und was uns einen Einblick in das dichterische Können und Schaffen unseres Volksstammes gewährt. Auch was schlichter, naiver Volks- und Kindermund birgt, was in fadenscheinigem Reimgewand oft nur die Lust am Fabulieren erkennen läßt, gewinnt da an Wert und Bedeutung, zumal für die Volks- und Sprachkunde einer so eigenartigen Landschaft, wie Ostfriesland sie unter den niederdeutschen und deutschen Gauen bildet. Hinzu kommt, daß der Ostfriese alles mit besonderer Liebe erfaßt, was dem Boden seiner Heimat entsprossen und was nur ihm eigen ist, auch wenn es über die Landesgrenze hinaus keine besondere Bewertung beanspruchen kann.

Bis in die Anfänge der niederdeutschen Poesie greift die Sammlung zurück und bietet in ihrem ersten Abschnitt »Ut olle Tiden« ziemlich alles, was uns daraus erhalten blieb. Poetisch ziemlich wertlos, trägt es doch die kostbare Patina der ersten Spuren, der ältesten Reste niederdeutscher Poesie und ist auch geschichtlich und kulturgeschichtlich von Interesse.

Ebenso in dem zweiten Abschnitt »Wat dat Volk seggt un singt« hat absichtlich keine Kritik den Umfang begrenzt, weil gerade eine größere Sammlung der Volksreime und alter Volkslieder nicht vorhanden ist und für Volks- und Heimatkunde wertvoll erscheint. Nur aus der Unmenge der vorhandenen Sprichwörter, die auch verschiedentlich bereits gesammelt sind, vor allem auch in der Lüpkes'schen Volkskunde ausgiebig behandelt werden, ist alles ausgeschieden, was keine poetische Form zeigt. Die unversiegbare Quelle der Sprichwörter liegt in der bildlichen und sprachlich originellen Ausdrucksweise gerade des Volksidioms; vielfach finden sich aber bei uns Sprichwörter nur als Übersetzungen aus anderen Mundarten oder in Anlehnung an diese, und täglich lassen sich neue sammeln, wenn man den Begriff des Sprichwortes nicht allzu eng begrenzt. Deshalb sind Sprichwörter im allgemeinen vorsichtig und besonders zu werten.

Die Dichtkunst der neueren Zeit kommt in den folgenden Abschnitten zu Worte, und zwar geordnet nach speziell ostfriesischen Vorwürfen und Beziehungen (»Land un Lü«), nach rein lyrischer Behandlung (»Bladen un Blössems«), nach epischer und humoristischer Darstellung (»Teilkes un Döntjes«). Hier konnte, ohne den Zweck der Sammlung zu beeinträchtigen, einiges ausgeschieden werden, was sich gedruckt vorfand. Immerhin wollte ich auch hier ein möglichst vollständiges Gesamtbild unserer heimischen Dichtkunst und damit einen Ueberblick über die zerstreute Literatur, die heute nur noch mit Mühe zusammenzustellen ist, bieten. Manches Neue, bisher Unbekanntes und Ungedrucktes, kam hinzu, und jüngere Dichter gaben Beiträge, die einen erfreulichen Aufschwung unserer plattdeutschen Dichtkunst erhoffen lassen. Fast wider Erwarten wuchs mir so unter den Händen ein farbenbunter Strauß, zwar schlicht und anspruchslos wie Feldblumen, aber doch auch wie sie reizvoll durch Frische und Natürlichkeit, die den Kenner und Liebhaber entzücken kann – ein Blütenstrauß vor allem, wie er nur auf ostfriesischem Boden gewachsen sein kann, der den Erdgeruch von Moor und Heide, Marsch und Geest atmet, und das tief verschlossene Gemüt, den treuen Sinn und die innige Heimatliebe seiner Bewohner merken läßt. Ein Blütenstrauß, der auch würdig befunden werden kann, mit hoch erhobener Hand gezeigt zu werden, und der besonders am heimischen Herd über Sommer und Winter prangen darf.

Die Bedeutung der niederdeutschen Sprache wird leider noch immer viel verkannt, man kennt sie oft nur von ihrer »platten«, derben Seite, höchstenfalls erwartet man von ihrer poetischen Gestaltungskraft und von dem Formvermögen ihrer Dichter, besonders seit Reuters Läuschen un Rimels, irgend etwas Drastisch-Komisches, einen in zweifelhafte Poesie eingekleideten durchschlagenden Witz. Man vergißt aber, daß die so als minderwertig eingeschätzte und leider etwas ominös »platt«deutsch genannte Mundart Jahrhunderte hindurch das Ausdrucksmittel, die Muttersprache großer Volksstämme war, die alle Regungen und Empfindungen der Volksseele wiederzugeben befähigt und berufen war. Gewiß, sie kennt keinen feinen Salonton, kein aufgeputztes Gewand. Aber reine hohe Freude ebenso wie tief im Herzen nagendes Weh, inniges Vertiefen und Sinnen über Natur und Naturgebilde, irdisches und himmlisches Heimweh vermag sie in einfältiger, aber um so mehr natürlicher Weise wiederzugeben wie jede andere Mundart. Und daß sie dazu klangvolle, schöne Ausdrucksweise, echte Poesie, zu finden vermag, davon gibt auch diese Sammlung beachtenswerte Proben.

Zur Beurteilung der Art und des Wertes der niederdeutschen Sprache und Literatur ist die Kenntnis ihrer Geschichte Vorbedingung. Nur aus den vielfachen Wandlungen, aus dem steten, von allen Seiten auf sie wirkenden Druck erkennt man ihren Kern und Lebenskraft. In dem Kampf mit der ihr überlegenen schöneren und stolzeren hochdeutschen Schwester mußte sie unterliegen. Und wenn man von dem höheren Gesichtspunkt deutschen Kulturfortschrittes solchen Sieg auch nicht bedauert, so wird man mit der Unterlegenen doch Mitleid empfinden, sie aufrichten, lieb gewinnen und wertschätzen können. Deshalb habe ich dieser Sammlung eine kurze Studie über die Geschichte unserer ostfriesisch-plattdeutschen Sprache und zugleich einen literargeschichtlichen Überblick vorgeschickt. Auch sind einige Sprachproben besonders interessanter Sprachperioden beigefügt, sowie für diejenigen, die sich näher mit dem Einzelnen beschäftigen wollen, ein Wegweiser durch die einschlägige Literatur. Am Schluß befindet sich ein Verzeichnis solcher Wörter nebst Uebersetzung, die seltener und weniger bekannt sind.

Da unser ostfriesisches Plattdeutsch als etwas Ganzes und Einheitliches nur sehr selten als Schriftsprache angewandt wird, habe ich geglaubt, dem auch durch tunlichste Vereinheitlichung und Vereinfachung der Schreibweise, hin und wieder auch des Dialektes, Rechnung tragen zu müssen. Man findet zudem bei plattdeutschen Niederschriften so viel Willkür in der Schreibweise, daß sich beim Sammeln und bei der Drucklegung eines, aus dem ganzen Lande aufgelesenen Materials geradezu die Notwendigkeit ergibt, wenn auch ohne zwingende Regeln von Grammatik und Rechtschreibung, doch wenigstens ein einheitliches, gleichmäßiges Bild zu erzielen, um dadurch auch äußerlich die Zusammengehörigkeit des Ganzen zum Ausdruck zu bringen. Selbstverständlich ist hierbei jegliche berechtigte Eigenart gewahrt geblieben, und der Dialekt nur in soweit berührt, als die Schreibweise der Vokale geregelt ist, die bald nach holländischem Beispiel, bald aus dem Bestreben, ihre Klanglaute einer verschwommenen Aussprache nach Möglichkeit anzupassen, in den verschiedensten Formen sich findet. Für die Schreibweise der Gedichte habe ich mit Ausnahme derjenigen der alten Zeit, die nach den Originalen wiedergegeben sind, als einheitliche Grundlinie die des broekmerländer Dialekts gewählt. Die Veranlassung dazu bot vornehmlich der Umstand, daß das Meiste und Bedeutendere unserer heimischen Dichtkunst in broekmerländer Mundart vorliegt. Um Fooke Hoissen Müller, dessen Dichtungen in »broekmerländer Taal, de verbreedste ostfreeske Mundart« geschrieben sind, gruppieren sich viele andere, sodaß es fast den Anschein gewinnt, als wäre die von ihm angewandte Schriftsprache nicht ohne Einfluß gewesen. Es kommt hinzu, daß die broekmerländer Aussprache und demgemäß auch deren Schreibweise verhältnismäßig die klarste und einfachste, dazu für weitere Kreise die leichtest lesbare ist und den dialektischen Abweichungen der einzelnen Gegenden Ostfrieslands genügend Raum bietet.

Wenn auch meine Sammlung einen weiten, fast erschöpfenden Überblick gibt, so findet sich an verstecktem Orte hier und da doch wohl noch einiges, was mir verborgen blieb, wahrscheinlich auch in Privatbesitz Ungedrucktes, was größerer Beachtung wert erscheint. Für eine etwaige neue Ausgabe dieser Sammlung bitte ich um Mitteilung und Einsendung, um das vorliegende Buch auf diese Weise auch für später zu einer Sammelstätte ostfriesisch-plattdeutscher Dichtkunst zu machen und alles, sonst leicht der Vergänglichkeit Anheimfallendes fürsorglich aufzubewahren.

Kurz vor Abschluß des Manuskriptes erfuhr ich zufällig, daß Herr Fr. Sundermann zu Norden, der frühere Herausgeber des Ostfr. Schulblattes, der warmherzige Volksfreund und eifrige Förderer aller literarischen Bestrebungen in Ostfriesland, seit einer Reihe von Jahren schon eine ähnliche Sammelarbeit betrieben habe. Ich weiß nicht, ob sie von gleichen Gesichtspunkten aus erfolgt ist wie die meine; in der Hauptsache kann es sich nur um den gleichen Stoff handeln. Ich habe mich deshalb sofort mit dem Herrn in Verbindung gesetzt, um das Ergebnis seiner Arbeit mit verwerten zu können, leider aber ohne Erfolg, da ernste Erkrankung infolge hohen Alters Herrn Sundermann an weiteren Verhandlungen hinderte.

Für die Förderung meiner Arbeit, die mir von vielen Seiten zuteil wurde, insbesondere auch durch Herrn Geh. Archivrat Dr. Wachter zu Aurich, sowie Herrn Professor Dr. C. Borchling in Hamburg, der mir für den sprachgeschichtlichen Teil meiner Einleitung viele wertvolle Aufschlüsse gab, sage ich an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank.

Aus der Liebe zur engeren Heimat entstand dieses Buch. Und wieder Heimatsliebe will es bei allen Landsleuten nah und fern wecken, sie mit den Banden trauter Muttersprache enger fesseln und deren Schönstes, Heiligstes und Ureigenes, ihre Poesie, zu verdienten Ehren bringen.

Aurich, im August 1911.
Adolf Dunkmann.


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