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Es war zehn Uhr vorbei, als wir in die Bierstube zum schwarzen Rosse traten, und doch war Brzetislav noch nicht da. Er war nun einmal ein entschiedener Zuspätkommer, der gelehrte und interessante Brzetislav, man mußte sich, wollte man ihn treffen, darein schicken und ihn eben erwarten. Indessen waren wir durch seine Abwesenheit keineswegs auf uns allein angewiesen, was in einer Bierstube für zwei Damen, selbst wenn ein Mann sie begleitete, doch immer etwas Peinliches gehabt haben würde. Der Theaterdirektor, ein sehr netter, heiterer Mann, saß bei einem Glase Grog, ein deutsch-böhmischer Dichter speiste Hachépastetchen, zwei oder drei Doktoren und Journalisten tranken Pilsner und rauchten. Die Literatur in Prag rauchte sehr stark, besonders in der Bierstube zum schwarzen Rosse, wo sie mit der Musik und mit dem Theater zusammentraf, wenn es sich gerade traf, denn bestimmte Zusammenkünfte wurden nicht gehalten, der Eine kam, der Andere fehlte, die Gegenwärtigen fragten nach den Fehlenden, und getreu dem Sprüchwort: les absents ont tort, bekam jeder Abwesende einen kleinen freundschaftlichen Hieb, der ihm weiter Nichts schadete, und den er bei nächster Gelegenheit wieder geben konnte.
Im Ganzen war's ein angenehmer Verkehr in der Bierstube. Keiner von denen, welche hinkamen, ließ es sich einfallen, den Großen zu spielen. Es gab in Prag keine von den kleinen literarischen Königen, welche in einigen anderen Städten sowohl für ihre Kollegen wie für das Publikum so ermüdend und unbequem sind, und setzte sich etwa Der oder Jener in selbstgeschaffener Majestät in einen Schmollwinkel, so ließ man ihn, ohne ihn im mindesten durch Beräucherung zu stören, so lange und so ruhig sitzen, wie es ihm nur immer gefallen mochte.
Aus dieser anempfehlenswerthen Gleichheit erklärt es sich, daß der anwesende Dichter seine Hachépasteten aß, ohne zu glauben, daß er etwas Außerordentliches thäte, wofür ihm eine enthusiastische Bewunderung gebühre. Als er fertig war, leistete er mit großer Bereitwilligkeit der Aufforderung Folge, sich der Sängerin vorstellen, oder »aufführen« zu lassen. Sie sagte ihm, wie außerordentlich sie sich freue, ihn noch am Leben zu finden. Da er sich nicht bewußt war, todt gewesen zu sein, sah er sie mit einer sehr begreiflichen Verwunderung an. Endlich erklärte es sich, daß sie ihn mit einem anderen deutsch-böhmischen Dichter verwechselt habe, der für gewöhnlich sich in Paris aufhielt und kürzlich auf einem der italienischen Seen beinah ertrunken sein wollte.
Es war von dem Dichter sehr anerkennenswerth, daß er der Sängerin ihre Unbekanntschaft mit seiner Existenz und seinen Leistungen so nachsichtig lächelnd hingehen ließ. Sie schien gar nicht zu merken, daß sie gefehlt. Es war eine unbekümmerte Natur, welche des Eindrucks, den sie hervorbrachte, sich sicher glaubend, sorglos über Das hinfuhr, was sie nicht wußte, und was sie versehen hatte, augenblicklich vergaß. Ohne die Mutter, nur durch mich, die doch eigentlich ganz Fremde, gehalten und geschützt, und in der ihr doch jedenfalls ungewöhnten Umgebung von lauter Männern, war sie von so munterer Unbefangenheit, als befände sie sich im vertrautesten Raum und zwischen vollkommen bekannten Gesichtern, und doch kannte sie Niemand, als den Theaterdirektor, bei dem sie gastirt hatte, als er Dirigent des Rigaer Theaters gewesen war. Er fragte sie denn auch: ob sie Nachricht von ihren Anbetern in Riga habe. Sie blickte ihn mit dem Verziehen des Mundes an, welches die Franzosen faire la moue nennen, und sagte: »es sind ihrer zu viele, als daß ich von ihnen hören könnte.«
»Was?« fragte der Theaterdirektor, sich verwundert stellend, Sie zählen sie nach Dutzenden?«
Die Sängerin blickte noch schnippischer als vorher zu ihm auf und antwortete noch kürzer: »Anbeter dutzendweise sind immer besser –«
»Als stückweise,« ergänzte der Theaterdirektor. »Da haben Sie sehr recht,« setzte er mit einer gewissen väterlichen Miene hinzu.
Im Ganzen gefiel die Sängerin diesen Abend. Es lag etwas Belustigendes und Anregendes in ihrer Art, in alle Gespräche, auch wenn dieselben sie weiter nichts angingen, keck hineinzusehen, wie etwa ein muthiges Pferd über die Barriere in die Rennbahn. Dem Blick der Verwunderung, mit welchem ihre Einmischung aufgenommen wurde, folgte bald ein wohlwollendes Lächeln. Man hörte ihr zu, antwortete ihr und erwartete mehr, um ihr weiter antworten zu können, aber sie hatte schon wieder an einer andern Ecke des Tisches ein Wort gehört, worauf sie etwas zu sagen hatte, und weg war sie in der andern Unterhaltung, um in den nächsten Minuten mit einem neuen Sprung zu dem verlassenen Gespräch zurückzukehren.
Brzetislav, der denn zuletzt auch kam und wie gewöhnlich betheuerte, er habe nicht anders gekonnt, als so lange warten lassen, Brzetislav beobachtete »das Kind des Sanges« am genauesten und gab sich dem anziehenden Einflusse, welchen sie je länger je mehr ausübte, am wenigsten hin. Er hatte die ganze Ruhe der großen, blonden Männer, dazu noch die derjenigen Menschen, welche leise und gemessen sprechen. Ich sah ihn einige Male fragend an, er lächelte, weil er meinen Blick verstand und ihn doch nicht beantworten wollte. Die Bekanntschaft zwischen ihm und der jungen Dame war leicht zu Stande gebracht; naiv, wie die Sängerin nun einmal war, ließ sie ihn ohne Umstände merken, wie viel ihr an seinem Urtheil, sagen wir es frei heraus, an seiner Eroberung gelegen war. Gern hätte ich sie am Aermel ihres schwarzen Moirékleides gezupft und ihr zugeflüstert: »der läßt sich nicht erobern, bei dem muß man warten, bis er sich selbst in Bewegung setzt, um zu huldigen.« Aber mein »Sangeskind« war »unzupfbar,« viel zu weit drinnen in einer unschuldigen und unschädlichen, wenn auch völlig nutzlosen Koketterie. Ich mußte sie eben gewähren lassen, gerade wie Brzetislav es that.
Während wir an unserm Tische, einem der letzten, saßen, plauderten und Pilsner tranken, war hinter uns und seitwärts von uns ein beständiges Wechseln von Gästen gewesen, deren Gehen und Kommen ich vernommen hatte, ohne weiter darauf zu hören. Jetzt, wo die Sängerin sich bemühte, Brzetislav in Erstaunen zu versetzen, und ich folglich nicht gerade unmittelbar etwas zu thun hatte, drehte ich mich einmal halb um und sah nach, was oder wer wol da wäre? An dem Tische, der uns zunächst war, saß eine große dunkle Gestalt. »Sollte es?« dachte ich, nahm unbemerkt mein Lorgnon, und richtig, es war der Geheimnißvolle.
Wie hatte er herausgefunden, daß sie diesen Abend im Rosse war? Er mußte gut wachen, denn gehört konnte er unsere Verabredung nicht haben, er saß zu entfernt. Und dann verstand er wol auch nicht einmal deutsch. Wie er es aber auch immer angefangen haben mochte, das Ergebniß war dasselbe: er saß da und sah aus wie ein Wintergewitter, welches, wie bekannt, immer tückischer und gefährlicher ist, als selbst das stärkste und schlimmste im Sommer. Warum er solch ein gelassen wüthendes Gesicht machte, das war nicht schwer zu errathen, Brzetislav war ein sehr schöner Mann, und die Sängerin flimmerte hin und her vor ihm wie ein Goldkäfer, welcher im Sonnenlicht funkeln will. Der Geheimnißvolle war mit einem Worte eifersüchtig. Das stand ihm frei, so lange er es nur hübsch manierlich im Stillen blieb. Eine Scene wäre unangenehm gewesen, ich machte der Sängerin bemerkbar, daß es spät sei. Sie hatte noch gar keine Lust zum Fortgehen, ich fragte nach der Uhr – es war fast Mitternacht. Ich machte mein Recht als Vicemama geltend und stand auf. Natürlich brachte das den Tisch in Bewegung, oder vielmehr die Gesellschaft am Tisch, man stand auf, half uns, grüßte uns. Brzetislav reichte mir, sich von seiner Höhe niederbeugend, mein Lorgnon und frug mich dabei leise: »wer ist denn der Schwarze dort an dem Tische?« »Haben Sie ihn auch bemerkt?« war meine Antwort. – »Er sitzt schon die längste Zeit da und verschlingt das Fräulein mit den Augen, und ich glaube, mich auch.« – »Ja, Sie theilen das Verschlungenwerden.«
»Aber wer ist's denn?«
»Wenn ich's erst wissen werde, sollen Sie es auch erfahren.«
»Aber wann werden Sie es denn wissen?«
»Ich sehe schon, ich muß aus Mitleid mit Ihnen aktiv neugierig werden, während ich es bisher nur passiv war. Die Männer sind doch immer neugieriger als wir. Gute Nacht – ich werde morgen fragen.«