Annette von Droste-Hülshoff
Das Geistliche Jahr
Annette von Droste-Hülshoff

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Am neunzehnten Sonntage nach Pfingsten

Evang.: Vom vornehmsten Gebote

Ob ich dich liebe, Gott, es ist
Mir unbewußt.
Oft' mein' ich, daß nur du es bist,
Was diese Brust
In aller andern Liebe Schein
Und dämmerndem Verlangen
Wie eine Sühnungsfackel rein
Hält gnadenvoll umfangen.

Wenn zu dem Edelsten der Geist
Sich frei erhebt,
Was als Gedanke ihn umkreist
Und dennoch lebt,
Unsichtbar, wesenlos doch nicht,
Fern, dennoch allerwegen,
Des Spur aus Menschenauge spricht
Und aus der Träne Segen:

Dann bin ich wohl getröstet, und
Gebet entsteigt
So zuversichtlich meinem Mund,
Als sei gereicht
In fremder mir und deiner Lieb',
– Wer hat es je ergründet? –
All was des Sehnens würdig blieb'
Und deinen Odem kündet.

Doch fühl' ich dann zu andrer Zeit
Wie Haar dem Haupt
Der finstren Erde mich geweiht,
Fast machtberaubt;
Wenn in dem Freunde mich entzückt
Selbst wie ein Reiz das Fehlen,
Die Schwächen, an mein Herz gedrückt,
Mir Keiner dürfte stehlen:

Da wär' es Gottes Zeichen nur,
Was ich erkannt?
Und nicht die sündige Natur
Böt' ihre Hand,
Wenn der Geliebten Tugend ich
In Ehrfurcht mag ertragen,
Doch fleckenloser sicherlich
Mein Herz würd' kälter schlagen?

Gleich einer kalten Wolke fährt
Es über mich,
Wie dem Damokles unterm Schwert
Die Wange blich;
Wie Einem, der an Ufers Rand
Sich spiegelt, lächelt, trinket,
Wenn sacht entschlüpft der falsche Sand
Und seine Stätte sinket.

O Retter, Retter, der auch für
Die Toren litt,
Erscheine, eh' die Welle mir
Zum Haupte glitt!
Greif' aus mit deiner starken Hand,
Noch kämpf' ich gen die Wogen;
So Manchen hast du ja ans Land
Aus tiefem Schlamm gezogen!

Hab' ich dem Schlamme mich entwirrt
So ganz und recht,
Dann erst zu deinem Bildnis wird
Die Sehnsucht echt;
Dann darf ich lieben stark, gesund,
Ohn' alle Schmach und Hehle,
Aus meines ganzen Herzens Grund
Und meiner ganzen Seele.




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