Annette von Droste-Hülshoff
Das Geistliche Jahr
Annette von Droste-Hülshoff

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Am zwölften Sonntage nach Pfingsten

Evang.: Vom Pharisäer und Zöllner

Ja, wenn ich schaue deine Opferflamme
In eines frommen Auges reiner Glut,
Dann schimmert es, als ob sie mich verdamme;
Der scharfe Strahl fährt in mein schuldig Blut.
Wie blendet mich das Licht!
Die Augen darf ich nicht erheben;
Ich darf es nicht,
Und meine Wimpern beben.

Und unter den geschloßnen Lidern fahren
Die Schatten alter Sünden hin und her.
Was dann sich muß dem Hirne offenbaren,
O, meinem Feinde werd' es nicht so schwer!
Aus Grund und Wänden auch
Sie dampfen, schweben durch die Zimmer,
Gebild' aus Rauch;
So war und bleibt es immer.

Wenn eine milde Tat ich seh' vollbringen,
So recht aus übervollen Herzens Grund,
So klar die heißen Liebesquellen springen,
Nur achtend, was dem Bruder sei gesund;
Wenn, ganz ein Gotteskind,
Sich unbewußt am Gnadenkleide scheinet
Die Träne lind,
Nicht fragt, warum sie weinet:

Dann wühlt in meinem Busen das Gewissen,
Schutt und Geröll stellt sich mein Wirken dar,
Das Geben und das Streben mir zerrissen
Von Grübelns Dornen, wie der Einfalt bar;
Ja überall mein Fuß
An Gitter stößt, an Kerkerschragen,
Und zitternd muß
An meine Brust ich schlagen.

Vor Allem, ach, wenn eine fromme Stimme
Mir flüstert zu ein einfach heilig Wort,
So sicher, daß mein Herz in Glauben schwimme,
So unbesorgt um meines Lebens Port,
Mir deiner Gnade Laut
Unschuldig beut als Losungszeichen
Und ganz vertraut
An meine Brust will schleichen:

Dann müssen alle Worte sich empören,
Die frevelnd ich gesprochen einst und je,
Und Alles, was noch jetzt mich kann verstören,
Das steigt und wirbelt um mich wie ein See;
Dann fühl' ich in dem Schaum
Noch heut' mich keiner Bande ledig,
Dann stöhn' ich kaum:
Gott sei mir Sünder gnädig!




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