Arthur Conan Doyle
Die Réfugiés
Arthur Conan Doyle

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IX. Der Herr von Sainte Marie

Das Fort St. Louis, aus dem die Glocken erklungen waren, rechts liegen lassend, eilten die Flüchtlinge, so schnell sie laufen konnten, weiter, denn die Sonne stand bereits so tief, daß die Büsche in den Lichtungen baumlange Schatten warfen. Da plötzlich gewahrten ihre zwischen den Baumstämmen hindurchspähenden Blicke, wie das Grün des Rasens sich in das tiefe Blau des Wassers wandelte, und gleich darauf standen sie am Rande eines breiten, schnell flutenden Stromes. In Frankreich hätten sie ihn jedenfalls einen mächtigen Strom genannt, jetzt aber war ihr Auge verwöhnt durch die imposante Ausdehnung der weiten Wasserflächen des St. Lorenz. Amos sowohl wie Catinat kannten schon den blauen Richelieu, und beider Herzen schlugen höher bei seinem Anblick, wußten sie doch, daß sein Lauf den einen geradeswegs zur Heimat, den anderen zum Frieden und zur Freiheit führte. Einige Tagereisen den Fluß entlang und einige durch die lieblichen, inselreichen Seen, den Champlain- und den St. Sakrament-See, im Schatten der waldgeschmückten Adirondackberge – und sie hatten die Hauptstationen am Hudson erreicht, und alle ihre Mühseligkeiten und Gefahren dienten dann nur noch als Gesprächsstoff für die langen Winterabende.

Jenseit des Flusses lag das furchtbare Irokesenland, und an zwei Stellen sah man den Rauch eines Feuers zum Abendhimmel emporsteigen. Daß aber keine Abteilung feindlicher Krieger bis jetzt den Strom überschritten, dafür hatten sie das Wort des Jesuiten und verfolgten daher den Pfad, der am östlichen Ufer entlang führte. Doch plötzlich wurde ihr Marsch durch einen rauhen, militärischen Anruf unterbrochen, und zwei Musketenläufe blitzten aus einem Dickicht, das den Weg beherrschte.

»Gut Freund,« rief Catinat.

»Woher des Wegs?« fragte die unsichtbare Schildwache.

»Aus Quebec.«

»Und wo wollt ihr hin?«

»Wir wollen Herrn Charles de la Roue, Seigneur von Sainte Marie, besuchen.«

»Gut. Es ist alles in Ordnung, du Lhut. Sie haben noch dazu eine Dame bei sich. Gnädige Frau, ich heiße Sie im Namen meines Vaters willkommen.«

Von den beiden Männern, die soeben aus dem Gebüsch hervortraten, hätte man den einen ohne weiteres für einen Vollblutindianer gehalten, wenn er nicht diese höfliche Begrüßung im reinsten Französisch gesprochen hätte. Er war ein hochgewachsener, schlanker junger Mann, sehr brünett mit stechenden, schwarzen Augen und einem so harten, eckigen, grimm entschlossenen Zuge um den Mund, wie ihn nur indianische Abstammung verleihen kann. Sein straffes, grobes Haar war zu einer Skalplocke zusammengebunden, und die Adlerfeder darin war sein einziger Kopfschmuck. Ein Anzug von am Rande ausgefranstem Leder und Moccassins von Caribufell hätte als Seitenstück zu Amos Greens Tracht dienen können, wenn nicht die blitzende Goldkette an seinem Gürtel, das Funkeln eines kostbaren Ringes an seinem Finger, und das feingearbeitete, prachtvoll eingelegte Gewehr, das er trug, seiner ganzen Ausrüstung das Gepräge der Vornehmheit gegeben hätten. Ein breiter dunkelgelber diademartiger Strich über der Stirn und ein Tomahawk im Gürtel vermehrten noch die seltsamen Widersprüche seiner Erscheinung.

Der andere war unzweifelhaft ein echter Franzose, bereits ältlich, dunkel und behende mit einem struppigen, schwarzen Bart und einem klugen, kühnen Gesicht. Um sein Jagdkleid schlang sich eine grellbunt gestreifte Schärpe, in der zwei lange Pistolen steckten. Sein büffelledernes Wams war vorn herunter mit gefärbten Stachelschweinsborsten und indianischer Perlarbeit verziert. Um seine hohen, ledernen Jagdgamaschen hing ein Kranz tiefroter Waschbärschwänze fransenartig herab. Er stand auf seine lange Büchse gelehnt und beobachtete die Ankömmlinge, während sein Gefährte ihnen entgegenging.

»Sie werden unsre Vorsichtsmaßregeln entschuldigen,« fuhr dieser fort, »wir können nie wissen, was für Tücken diese Schufte ersinnen, um uns zu überlisten. Ich fürchte, gnädige Frau, Sie haben eine lange und beschwerliche Reise hinter sich,«

Die arme Adèle, deren peinliche Sauberkeit selbst bei den Hausfrauen der St. Martinsstraße berühmt gewesen war, wagte kaum auf ihr beflecktes, zerschlissenes Gewand hinabzusehen. Alle Strapazen und Fährlichkeiten hatte sie lächelnden Angesichts ertragen, aber das Bewußtsein, vor Fremden in diesem Aufzuge erscheinen zu müssen, raubte ihr beinahe die Fassung.

»Meine Mutter wird Sie mit Freuden begrüßen und für all Ihre Bedürfnisse sorgen,« fügte er schnell hinzu, als ob er ihre Gedanken gelesen hatte. »Ihnen, mein Herr, bin ich sicher schon einmal begegnet!«

»Und ich Ihnen. Mein Name ist Amory de Catinat, vormals beim Regiment Picardie! Sie aber sind sicherlich Achille de la Roue von Sainte Marie. Ich erinnere mich Ihrer jetzt ganz genau. Sie kamen mit Ihrem Herrn Vater damals immer zu den großen Empfängen beim Statthalter.«

»Ja, das bin ich,« erwiderte der junge Mann und streckte mit etwas gezwungenem Lächeln die Hand aus. »Es nimmt mich nicht Wunder, daß Sie mich nicht gleich erkannten. Sie haben mich damals in einer ganz andern Tracht gesehen.«

Catinat erinnerte sich seiner in der That als eines jener jungen Edelleute, die einmal im Jahr nach der Hauptstadt zu kommen pflegten, um sich nach den neuesten Moden zu erkundigen, über den alten Versailler Klatsch vom vorigen Jahr zu plaudern und einige Wochen lang das Leben zu führen, das den Traditionen ihrer Herkunft entsprach. Freilich sah er jetzt anders aus, hier unter den alten Eichen mit Skalplocke und Kriegsbemalung, mit Flinte und Tomahawk!

»Wir leben ein anderes Leben hier im Walde und ein anderes in den Städten,« sagte Achill, »obwohl mein guter Vater das nicht leiden kann und Versailles überall mit sich führt. Sie kennen ihn von früher her, mein Herr, da brauche ich meine Worte nicht zu erklären. – Die Stunde unsrer Ablösung ist gekommen, wir dürfen Sie deshalb nach Hause geleiten.«

Zwei Männer in der groben Kleidung kanadischer consitaires oder Zinsbauern waren plötzlich zum Vorschein gekommen. Die Art und Weise, wie sie ihre Gewehre schulterten, verriet Catinats geübtem Auge die geschulten Soldaten. Der junge de la Roue gab ihnen einige kurze Befehle und führte dann die Réfugiés auf dem eingeschlagenen Pfade weiter.

»Meinen Freund hier werden Sie wohl persönlich nicht kennen,« sagte er, auf seinen Begleiter deutend, »doch bin ich ganz überzeugt, daß sein Name Ihnen nicht fremd ist. Es ist Greysolon du Lhut.«

Amos und Catinat blickten beide voll Neugierde und lebhaftem Interesse den berühmten Häuptling der Waldläufer an. Sein ganzes Leben lang war der Mann nach Westen, immer nach Westen vorgedrungen. Er hatte wenig davon geredet, niemals etwas geschrieben, war aber immer der erste auf dem Plan, wenn es galt, einer Gefahr zu trotzen, ein Hindernis zu überwinden. Weder Glaubenseifer noch Gewinnsucht lockten ihn in jene westliche Wildnis, sondern einzig die Liebe zur Natur und der Durst nach Abenteuern. Dabei war er so gänzlich frei von Ehrgeiz, daß es ihm nie beikam, seine Streifzüge zu beschreiben, und niemand erfuhr, bis wohin er sie ausgedehnt und wo er sich aufgehalten hatte. Er verschwand auf Jahre hinaus von den Ansiedlungen und zog in den weiten Prairien der Dakota oder dem ungeheuren Urwald des fernen Nordwestens umher, um dann eines schönen Tages urplötzlich wieder in Sault La Marie oder einem anderen Vorposten der Kultur aufzutauchen – ein wenig magerer, ein wenig brauner, aber sonst unverändert und so schweigsam wie zuvor. An den entlegensten Teilen des Continents kannten ihn die Indianer so gut, wie sie ihre eignen »Satschem« (Medizinmänner] kannten. Er hatte schon ganze Stämme zu den Waffen gerufen und war den Franzosen zu Hilfe gekommen mit einem Tausend bemalter Kannibalen, deren Sprache niemand verstand, von Gestaden her, die noch niemand besucht hatte. Wenn die wagehalsigsten französischen Forscher nach unzähligen Gefahren einen Landstrich erreichten, den sie für noch unentdeckt hielten – so saß da höchst wahrscheinlich du Lhut gemächlich an seinem Lagerfeuer, die Pfeife im Munde und ein Indianerweib neben sich. Ein ander Mal, wenn Not und Tod ihn bedrohten und auf tausend Meilen keine Hilfe zu finden war, traf dann wohl der Reisende den schweigsamen Mann mit ein oder zwei Gesellen vom gleichen Kaliber, die halfen ihm aus seiner üblen Lage und verschwanden ebenso unerwartet, wie sie gekommen waren. Solcher Art war der Mann, der jetzt mit unsern Freunden am Ufer des Richelieu dahinschritt, und Amos wie Catinat verstanden die unheilvolle Bedeutsamkeit seiner Anwesenheit, denn sie wußten, daß der Ort, den Greysolon du Lhut sich zum Aufenthalt wählte, stets der am schwersten bedrohte war.

»Was halten Sie von den Feuern drüben, du Lhut?« fragte der junge de la Roue.

Der Abenteurer stopfte seine Pfeife mit dem betäubenden indianischen Tabak, den er mit dem Skalpmesser von einer zusammengepreßten Rolle abschabte. Dann sah er nach den beiden kleinen Rauchsäulen hinüber, die sich scharf vom roten Abendhimmel abhoben.

»Sie gefallen mir nicht,« meinte er.

»Sind es Irokesenfeuer?«

»Nun wenigstens beweist das, daß sie noch jenseit des Flusses sind.«

»Im Gegenteil, es beweist, daß sie auf dieser Seite sind.«

»Was?«

Du Lhut zündete seine Pfeife an einem Streifen Zunder an. »Die Irokesen sind auf dieser Seite,« wiederholte er, »sie setzten südlich von uns über.«

»Und Sie haben nichts davon gesagt! Woher wußten Sie denn, daß sie übersetzten, und warum sagten Sie es nicht?«

»Ich erkannte es erst, als ich die Feuer drüben sah.«

»Wie konnten Sie das daraus erkennen?«

»Ganz einfach. Ein indianisches Wickelkind würde das erkennen,« sagte du Lhut ungeduldig. »Ein Irokese auf dem Kriegspfade thut nichts ohne Absicht. Sie bezwecken also etwas damit, wenn sie uns den Rauch zeigen. Wenn der Stamm noch drüben wäre, hätte das keinen Zweck. Deshalb müssen ihre Krieger über den Fluß gekommen sein. Nördlich von uns konnten sie nicht übersetzen, ohne vom Fort aus gesehen zu werden, folglich ist es weiter südlich geschehen.«

Amos nickte lebhaften Beifall. »Das stimmt,« sagte er, »so machen es die Hallunken, ich wette, er hat recht.«

»Dann können sie ja rund um uns her in den Wäldern stecken. Wir müssen in Gefahr sein!« rief de la Roue.

Du Lhut nickte und that einen Zug aus seiner Pfeife.

Catinat ließ den Blick in die Runde schweifen über die dicken Baumstämme, das fahle Laub und den glatten Rasen darunter, auf dem die abendlichen Schatten in langen Streifen lagen. Wie schwer war es doch, sich klar zu machen, daß hinter all dieser friedlichen Schönheit eine so tödliche und grauenhafte Gefahr lauerte, davor selbst ein lediger Mann für sich erbeben mochte, um wie viel mehr der, welcher das geliebte Weib dicht neben sich wandeln sah. Mit einem aus tiefstem Herzen kommenden Seufzer der Erleichterung erblickte er eine Palissadenschanze inmitten einer großen Lichtung und das sich dahinter erhebende steinerne Herrenhaus. In gleicher Linie mit den Palissaden standen etwa ein Dutzend kleiner Häuser mit Schindeldächern aus Cedernholz im normannischen Stil rings umher. Ihre Bewohner lebten im Schutze des herrschaftlichen Schlosses – ein merkwürdiges kleines Pfropfreis des Feudalsystems tief im amerikanischen Urwalde! Beim Näherkommen wurden sie über dem Haupteingang eines ungeheuren Holzschildes gewahr mit einem darauf gemalten Wappen: in silbernem Felde ein schwarzweißer Sparren mit drei scharlachroten Krönchen. An jeder Ecke der Einfriedigung guckte eine kleine Messingkanone aus einer Schießscharte hervor. Als sie das Thor durchschritten hatten, wurde es von dem Thürhüter verschlossen und mit gewaltigen Holzbalken verriegelt. Eine kleine Schar Männer und Frauen und Kinder umstanden das Schloßportal, wo in einem hochlehnigen Sessel auf der Schwelle ein Mann saß.

»Sie kennen meinen Vater,« sagte der junge Mann achselzuckend. »Er thut, als ob er niemals sein normannisches Schloß verlassen hätte und als ob er noch immer der Freiherr von La Roue wäre, der vornehmste Mann im Umkreis einer Tagereise von Rouen, vom edelsten Blut der Normandie. Er nimmt jetzt seinen Lehnsleuten den Treuschwur und die jährlichen Steuern ab, und würde es für unpassend halten, eine so erhabene Ceremonie zu unterbrechen, und wenn der Gouverneur in eigner Person ihn besuchen käme. Wenn es Sie interessiert, so treten Sie hierher und sehen Sie zu, bis er fertig ist. Sie aber, gnädige Frau, will ich sogleich zu meiner Mutter führen, wenn Sie mir gütigst folgen wollen.«

Das Schauspiel, das sich ihnen darbot, war den Amerikanern wenigstens ganz neu. Eine dreifache Reihe von Männern, Frauen und Kindern war im Halbkreise aufgestellt. Die Männer waren rauhe, sonnverbrannte Gesellen, die Frauen sahen schlicht und sauber aus in ihren zierlichen, weißen Häubchen, die Kinder standen da mit weit offnen Augen und Mündern; offenbar zu ungewohnter Sittsamkeit vermocht durch die ehrfurchtsvolle Haltung ihrer Eltern. Der ältliche Herr, auf dem hochlehnigen geschnitzten Stuhle vor ihnen, saß sehr steif, sehr aufrecht und mit ungemein feierlichem Gesichte da. Es war ein sehr schöner Mann, hochgewachsen und breitschulterig mit starken, glattrasierten und tief gefurchten Zügen. Seine Nase hatte einen mächtigen Haken, und dicke, struppige Augenbrauen wölbten sich fast bis zu der großen Perücke, die er noch ebenso lang und kraus trug, wie das in seiner Jugend in Frankreich Mode gewesen war. Auf der Perücke saß ein keck an einer Seite aufgekrempter weißer Hut, um den eine wallende rote Feder sich wand. Der zimmetbraune Tuchrock mit Silberstickerei an Aufschlägen und Taschen war noch immer sehr schön, obgleich er deutliche Spuren häufigen Bürstens und Ausbesserns zeigte. Schwarzsammetne Kniehosen und hohe, blankgewichste Stiefel vollendeten ein Kostüm, wie Catinat es nicht in den Urwäldern Kanadas zu sehen erwartet hätte.

Jetzt trat ein Landmann aus der Menge hervor, kniete auf einem viereckigen Teppich nieder, legte seine Hände in die des Herrn und sprach:

»Herr von Sainte Marie, Herr von Sainte Marie, Herr von Sainte Marie! Ich gelobe Ihnen die Treue und die Lehnspflicht, die ich Ihnen schulde, wegen meines Lehngutes Herbert, das ich als Ew. Gnaden treuer Lehnsmann verwalte.«

»Sei treu, mein Sohn! Sei tapfer und treu!« sagte der Edelmann feierlich, unterbrach sich dann aber plötzlich in gänzlich verändertem Tone: »Was ins Teufels Namen schleppt deine Tochter da an?«

Ein junges Mädchen, die ein großes Stück Baumrinde trug, worin ein Haufe toter Fische lag, war vorgetreten.

»Das ist ja das elfte Gericht Fische, das ich Ihnen laut meines Lehnseides liefern muß,« erklärte der censitaire, »Hier sind dreiundsiebzig Fische, denn achthundert habe ich im Monat gefangen.«

»Pest und Tod!« rief der Edelmann. »Bildest du dir etwa ein, André Dubois, daß ich meine Gesundheit mit deinen dreiundsiebzig Fischen ruinieren werde? Denkst du etwa, ich und meine Leibdiener, mein persönliches Gefolge und die übrigen Glieder meines Haushaltes hätten nichts Besseres zu thun, als deine Fische zu essen? Zukünftig wirst du von deiner Abgabe nie mehr als fünf auf einmal erstatten. Wo ist der Hausmeister? Theuriet, laß die Fische auf den Mittelspeicher bringen, und sorge dafür, daß der Geruch nicht in das blaue Gobelinzimmer oder in die Gemächer der gnädigen Frau ziehe.«

Ein Mann in sehr fadenscheiniger, schwarzer Livree, die verschossen und voller Flecke war, brachte eine große Zinnschüssel herbei und trug darauf den Haufen weißlicher Fische hinweg. Nun traten die Lehnsleute der Reihe nach vor, legten ihren altväterischen Huldigungseid ab, und jeder steuerte einen Teil seines Erwerbes zum Unterhalt seines Herrn bei. Der eine brachte einen Scheffel Weizen, der andere eine Tonne Kartoffeln, noch andere Reh- oder Biberfelle, Der Hausmeister trug alles fort, bis endlich alle ihren Tribut abgeliefert hatten und damit die eigentümliche Ceremonie zum Abschluß kam. Als der alte Herr sich erhob, nahm sein mittlerweile zurückgekehrter Sohn Catinat beim Arm und führte ihn durch die Menge.

»Vater,« sagte er, »hier ist Herr von Catinat, dessen du dich wohl noch von Quebec her entsinnen wirst.«

Der Schloßherr verbeugte sich mit großer Leutseligkeit und drückte Catinats Hand.

»Seien Sie mir herzlich willkommen auf meinen Gütern, Sie und Ihr Gefolge –«

»Es sind meine Freunde, Herr von Sainte Marie. Erlauben Sie mir, Ihnen Herrn Amos Green und Herrn Kapitän Savage vorzustellen. Meine Frau begleitet mich auch – Ihr liebenswürdiger Herr Sohn hat bereits die Güte gehabt, sie zu Ihrer Frau Gemahlin zu führen.«

»Es ist mir eine Ehre – eine große Ehre!« rief der alte Mann mit einer Verbeugung und zierlichen Handbewegung. »Ich erinnere mich Ihrer sehr wohl, mein Herr, denn hier zu Lande begegnet man nicht zu häufig Männern von Stande. Ich erinnere mich auch Ihres Herrn Vaters sehr wohl, denn wir kämpften zusammen bei Rocroy, er bei der Infanterie freilich und ich bei Grissots roten Dragonern. Nicht wahr, Sie führen eine gestümmelte Amsel am Balken in azurblauem Felde im Wappen? Dabei fällt mir ein, die zweite Tochter Ihres Urgroßvaters heiratete den Neffen eines La Roue von Andelys, einer Nebenlinie unsres Hauses. Vetter, seien Sie mir willkommen!«

Damit umarmte er den überraschten Catinat und klopfte ihm dreimal auf den Rücken.

Der ehemalige junge Offizier war nur zu glücklich, eine so herzliche Aufnahme gefunden zu haben.

»Ich will Ihre Gastfreundschaft nicht lange in Anspruch nehmen,« sagte er. »Wir reisen nach dem Champlainsee und hoffen sehr, in ein bis zwei Tagen wieder aufbrechen zu können.«

»Eine Reihe Gemächer soll Ihnen zur Verfügung stehen, so lange Sie mir die Ehre erweisen, hier zu bleiben. Peste! Es passiert mir nicht alle Tage, daß ich meine Pforten einem Manne von guter Familie aufthun darf! Ach, mein Herr, das entbehre ich am schmerzlichsten in meinem Exil, denn wo fände ich hier meines Gleichen! Da haben wir den Gouverneur, den Quartiermeister, vielleicht ein paar Priester und ein paar Offiziere, aber vom alten Adel kaum einer! Sie kaufen sich hier drüben ihre Titel, wie ihre Pelze, und hier gilt eine Bootsladung Biberfelle mehr als die Abstammung von Roland. Doch ich vergesse ganz meine Pflicht. Sie werden müde und hungrig sein und Ihre Freunde gleichfalls. Kommen Sie nach dem Speisesaal, wir wollen sehen, ob mein Haushofmeister etwas zu Ihrer Erquickung besorgt hat. Wenn ich mich recht erinnere, spielen Sie Piquet? Ich bin leider sehr aus der Übung gekommen und würde gern meine Geschicklichkeit durch ein paar Partien mit Ihnen wieder auffrischen.«

Das Herrenhaus war ein hoher fester Bau aus grauem Stein und Holzfachwerk. Die große, eisenbeschlagene Thür, die ihnen Einlaß gewährt hatte, war mit Schießlöchern für das Musketenfeuer versehen und führte zu einer ganzen Reihe von Gewölben und Speichern, in denen Runkelrüben, Möhren, Kartoffeln, Kohl, Pökelfleisch, geräucherter Aal und andere Wintervorräte aufbewahrt wurden. Eine steinerne Wendeltreppe führte in eine große, luftige, gepflasterte Küche, von wo aus sich die Wohnräume der Dienstboten abzweigten, die der alte Herr aber stets »Vasallen« zu nennen liebte.

Darüber befanden sich die eigentlichen Wohnzimmer, die rings um den Speisesaal mit seinem gewaltigen Kamin und seiner rohen, ländlichen Einrichtung lagen. Auf dem braungestrichenen Fußboden lagen überall weiche Bären- und Rehfelle, und an den Wänden prangten vielendige Geweihe zwischen reihenweise aufgehängten Jagdflinten und langen Büchsen. Auf einem breiten, roh behobelten, schwerfälligen Ahorntische, der die Mitte des Gemaches einnahm, standen eine Wildpretpastete, ein halber geräucherter Lachs und eine riesige Preißelbeertorte. Die hungrigen Wanderer ließen sich die guten Sachen schmecken. Der Wirt erklärte zunächst, er habe bereits gespeist und wolle ihnen nur Gesellschaft leisten, aß dann aber noch mehr als Ephraim Savage, trank mehr als du Lhut und gab schließlich ein französisches Liebesliedchen mit einem Tralala-Refrain zum besten, dessen Text glücklicherweise – denn sonst wäre es wohl mit dem Frieden der Tafelrunde aus gewesen – dem Kapitän aus Boston völlig unverständlich blieb.

»Madame nimmt eine kleine Erfrischung im Boudoir meiner Gemahlin ein,« erklärte er, als man die Schüsseln entfernt hatten »Du kannst eine Flasche Frontignac aus Abteilung 14 heraufholen, Theuriet. Sie werden sehen, meine Herren, daß wir selbst in den Hinterwäldern etwas – allerdings nur sehr wenig – haben, das nicht ganz zu verachten ist. Sie kommen also direkt von Versailles, Catinat? Es wurde erst nach meiner Zeit erbaut; aber wie gut entsinne ich mich noch des alten Lebens am Hofe zu Saint Germain, ehe Ludwig fromm wurde! Ach, was waren das doch noch für unschuldige, glückliche Zeiten, als Frau von Nevailles die Fenster der Hofdamen vergittern ließ, um sie vor dem König zu schützen, und wir Kavaliere, acht Mann hoch, früh morgens zum Duell auf den Rasenplatz zogen! Beim heiligen Dionys! Die kunstgerechte Wendung des Handgelenks habe ich noch nicht vergessen, und so alt ich bin, ein tüchtiger Gang auf geschliffene Rapiere würde mir nicht schaden!«

Gravitätisch schritt er zur Wand hinüber, wo Rapiere und Dolche hingen, und fing an, an der Thür Ausfälle zu machen, fuhr hinein und wieder hinaus, parierte eingebildete Stöße mit seinem Dolch, stampfte mit dem Fuß auf und ließ dazu ein: »Punto! riverso! stoccata! dritta! mandritta« und den ganzen Jargon der Fechtschule hören. Schweratmend, mit verschobener Perücke, setzte er sich endlich wieder zu ihnen.

»Das war unsre alte Fechtübung,« sagte er. »Natürlich habt ihr Jüngeren schon wieder alles verbessert; aber sie hat bei Rocroy gegen die Spanier und sonst an manchem Ort, den ich nennen könnte, gute Dienste geleistet. Wie ich höre, versteht man indes bei Hofe noch immer zu leben. Es gibt da noch immer Liebeshändel und Blutabzapfen. Wie mag es Lauzun bei seinem Werben um Fräulein von Montpensier ergangen sein? Wurde es bewiesen, daß Frau von Clermont der Giftmischerin le Vie ein Fläschchen abgekauft hatte, zwei Tage, ehe ihrem Mann die Suppe so schlecht bekam? Was that der Herzog von Biron, als sein Neffe mit der Herzogin durchging? Ist es wahr, daß er ihm zum Dank für seine That sein Einkommen um fünfzigtausend Livres erhöhte?«

So fuhr der Freiherr fort, nach Konflikten von vor zwei Jahren zu fragen, deren Entwicklung und Lösung man am Richelieufluß noch immer nicht erfahren hatte. Zu später Nachtstunde, als seine Kameraden schon längst in ihren Betten schnarchten, saß Catinat noch immer nickend und gähnend da und mühte sich ab, die Neugierde des alten Höflings zu befriedigen und seine Kenntnisse durch Versailler Klatschgeschichten neuesten Datums mit den kleinsten Einzelheiten zu vervollständigen.


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