Arthur Conan Doyle
Ein Duett
Arthur Conan Doyle

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Die Browning-Gesellschaft

Die Sache begann damit, daß Frau Hunt Mortimer, die elegante, moderne kleine Anwaltsgattin, zu Frau Beecher, der jungen Frau des Bankiers, sagte, in einem kleinen Ort wie Woking sei es schwer geistige Anregung zu finden oder aus dem ausgefahrenen Geleise sich immer wiederholender Gedanken und Gespräche herauszukommen. Frau Beecher hatte erst kürzlich dasselbe gedacht, veranlaßt durch einen Artikel in der »Frauenzeitung«, worin gesagt wurde, daß ein reges Geistesleben das beste Mittel für eine Frau sei, ihre Jugend zu bewahren. Sie suchte den Artikel heraus – denn das Gespräch fand in ihrem Besuchzimmer statt – und las einzelnes daraus vor. »Shakespeare als Schönheitsmittel« war der Titel. Auf Maude machte das tiefen Eindruck, und ehe sich die drei Frauen trennten, hatten sie sich zu einer Literarischen Gesellschaft konstituiert, die sich jeden Mittwoch nachmittags abwechselnd im Hause eines der Mitglieder versammeln und klassische Autoren besprechen sollte. Diese eine Stunde intensiven Denkens und erhöhten geistigen Schwunges sollte der ganzen Woche eintönigen Provinzlebens Ton und Würde geben.

Welchen Dichter sollten sie zuerst lesen? Es war am besten, wenn sie das festsetzten, ehe sie sich trennten, damit sie dann am nächsten Mittwoch gleich mit der Sache selbst beginnen konnten. Maude schlug Shakespeare vor, aber Frau Hunt Mortimer meinte, er sei an vielen Stellen unanständig.

»Was macht das?« sagte Frau Beecher. »Wir sind ja alle verheiratet.«

»Es wäre aber doch nicht hübsch, glaube ich«, versetzte Frau Hunt Mortimer. Sie gehörte in Schicklichkeitssachen zur äußersten Rechten.

»Die Bearbeitung von Bowdler hat doch Shakespeare ganz ehrbar gemacht«, plaidierte Frau Beecher.

»Bowdler hat seine Sache ziemlich nachlässig gemacht. Er hat vieles stehen gelassen, was besser weggeblieben wäre, und vieles gestrichen, was ganz unschuldig war.«

»Wieso wissen Sie das?«

»Weil ich seine Ausgabe mit einer vollständigen verglichen und die Auslassungen nachgelesen habe.«

»Wozu haben Sie das getan?« fragte Maude schelmisch.

»Um mich zu überzeugen, daß sie wirklich ausgelassen wurden«, erwiderte Frau Hunt Mortimer ernsthaft.

Frau Beecher bückte sich, um eine unsichtbare Haarnadel vom Teppich aufzulesen. Frau Hunt Mortimer fuhr fort:

»Dann haben wir natürlich Byron. Aber er ist so anspielungsreich. Es gibt Stellen in seinen Werken –«

»Ich habe nie etwas Arges darin gefunden«, sagte Frau Beecher.

»Das kommt davon, weil Sie nicht wußten, wo diese Stellen zu suchen sind. Wenn Sie seine Werke bei der Hand haben, Frau Beecher, will ich Ihnen überzeugend beweisen, daß er von all denen gemieden werden sollte, die ihre Gedanken unbesudelt erhalten wollen. Nicht? Ich glaube, daß ich Ihnen sogar aus dem Gedächtnis einzelnes zitieren könnte, was Ihnen beweisen würde, daß man besser tut, seine Lektüre zu vermeiden.«

»Lassen wir Byron«, meinte Frau Beecher, ein hübsches, zierliches Frauchen, das anscheinend keines Schönheitsmittels, sei es literarischer oder anderer Art, bedurfte. »Wie wär's mit Shelley?«

»Mein Mann schwärmt für Shelley«, sagte Maude.

Aber Frau Hunt Mortimer schüttelte den Kopf.

»Er verficht stellenweise schreckliche Tendenzen. Er war, wie man mir gesagt hat, ein Theist, oder ein Atheist, ich erinnere mich augenblicklich nicht genau – und ich glaube, wir sollten unsere Zusammenkünfte so gestalten, daß sie so sehr als möglich veredelnd wirken.«

»Tennyson«, schlug Maude vor.

»Ich habe gelesen, er sei zu klar und deutlich, um unter die großen Denker unserer Nation gereiht zu werden. Das Erhabene ist notwendigerweise dunkel. Es ist kein Verdienst, ein Gedicht zu erfassen, das vollkommen verständlich ist. Und damit kommen wir zu –«

»Browning!« riefen die beiden andern Damen.

»Ganz richtig. Wir könnten eine kleine Browning-Gesellschaft bilden.«

»Reizend! Reizend!«

Das war also beschlossen.

Nun blieb in dieser ersten Versammlung nur noch ein Punkt zu besprechen, nämlich, die Damen zu wählen, die zum Beitritt zu der literarischen Gesellschaft eingeladen werden sollten. Männer sollten nicht zugelassen werden.

»Sie wirken so ablenkend«, sagte Frau Hunt Mortimer.

Es mußte vor allem darauf gesehen werden, daß nur ernstdenkende Damen eingeladen wurden, solche, von denen zu erwarten war, daß sie sich mit Eifer der Aufgabe widmen würden, sich und andere geistig zu fördern. An Frau Fortescue war nicht zu denken, sie war viel zu gesprächig. Frau Jones war so oberflächlicher Natur. Frau Charles konnte von nichts anderem reden als von ihren Dienstboten. Und Frau Patt-Beatson wollte immer das große Wort führen. Vielleicht war es schließlich am besten, die Gesellschaft vorerst unter sich ins Leben zu rufen und dann allmählich zu vermehren. Die erste Versammlung sollte nächsten Mittwoch bei Frau Crosse stattfinden, und Frau Hunt Mortimer wollte ihre vollständige Ausgabe in zwei Bänden mitbringen. Frau Beecher meinte zwar, daß für den Anfang ein Band genügen würde, aber Frau Hunt Mortimer sagte, es sei besser, eine möglichst große Auswahl zu haben. Maude ging nach Hause und erzählte Frank am Abend von ihrem Vorhaben. Er war erfreut, aber etwas skeptisch.

»Ihr müßt mit den leichteren Sachen beginnen«, sagte er. »Ich würde »Hervé Riel« oder »Goldhaar« empfehlen.«

Aber Maude nahm die reizend unzufriedene Miene an, die ihr so gut stand.

»Wir sind ernste Forscherinnen, mein Herr«, sagte sie. »Wir wollen das allerschwerste Gedicht in dem Buch. Glaube mir, Frank, einer deiner kleinen Fehler ist, daß du die weibliche Intelligenz stets unterschätzest. Frau Hunt Mortimer sagt, obgleich wir vielleicht weniger ursprünglich sind als die Männer, so sind wir doch mehr assimi – assimu –«

»Assimilationsfähig.«

»Das sage ich ja, assimilationsfähig. Du sprichst aber immer so, als ob – o ja, das tust du! Ach, nicht doch! Wie unausstehlich du bist, Frank! Immer, wenn ich ernsthaft mit dir reden will, tust du das und verdirbst alles. Wie würde es dir gefallen, über Browning zu sprechen, wenn am Ende eines jeden Satzes jemand käme und dich küßte? Du würdest nichts dagegen haben? Das glaube ich. Aber du würdest fühlen, daß man dich nicht ernst nimmt. Warte nur, bis du das nächstemal über etwas ernsthaft reden willst, dann sollst du sehen!«

* * *

Die Versammlung war für drei Uhr festgesetzt, und zehn Minuten vor der Zeit erschien Frau Hunt Mortimer mit zwei großen braunen Bänden unterm Arm. Sie war zeitig gekommen, sagte sie, da sie um viertel fünf bei den Dixons zur Probe für die Amateur-Theatervorstellung sein mußte. Frau Beecher kam erst fünf Minuten nach drei. Ihre Köchin hatte sich mit dem Stubenmädchen gezankt und hatte sofort gekündigt, und am Samstag hatte sie fünf Personen zum Abendessen. Die junge Dame war sehr erregt und erklärte, sie wäre nicht gekommen, wenn sie es nicht versprochen hätte. Es sei so schwer, einer Dichtung zu folgen, wenn man die ganze Zeit ans Entrée denken müsse.

»Warum gerade ans Entrée?« fragte Frau Hunt Mortimer, von dem Buch aufblickend, das sie offen in der Hand hielt.

»Wissen Sie«, sagte Frau Beecher, die die Kunst besaß, die einfachsten Dinge so zu sagen, als ob sie tiefe Geheimnisse wären, »wissen Sie, mein Stubenmädchen ist auch eine vorzügliche Köchin, und ich werde mich auf sie verlassen können, wenn Martha wirklich geht. Aber ihre Kochkunst ist beschränkt, und Entrées und Kompots sind die beiden Dinge, in denen sie nicht sattelfest ist. Ich muß daher etwas zu finden suchen, was sie machen kann.«

Frau Hunt Mortimer war stolz auf ihre Hausfraueneigenschaften, das Problem interessierte sie daher. Auch Maude fing an, die Versammlung weniger anstrengend zu finden, als sie gefürchtet hatte.

»Natürlich sind vielerlei Sachen in Betracht zu ziehen«, sagte Frau Hunt Mortimer mit der Miene eines Kronanwaltes, der ein Gutachten abgibt. »Austernpastetchen, oder Austern-vol-au-vents –«

»Austern sind ja nicht an der Zeit«, fiel Maude ein.

»Ich wollte eben sagen«, versetzte Frau Hunt Mortimer mit bewundernswerter Geistesgegenwart, »daß diese Entrées nicht in Betracht kommen können, da sie nicht an der Zeit sind. Garnelen mit Johannisbeeren –«

»Die kann mein Mann nicht ausstehen.«

»Ja, dann freilich. – Was meinen Sie zu Bries en caisse? Sie brauchen nichts dazu als gehackte Schwämme, Schalotten, Petersilie, Muskatnuß, Pfeffer, Salz, Brotkrumen, Speck –«

»Nein, nein!« rief Frau Beecher entsetzt. »Anna würde sich das alles nie merken.«

»Koteletten à la Constance«, fuhr Frau Hunt Mortimer fort. »Die sind ganz einfach. Koteletten, Butter, Hühnerlebern, Hahnenkamm, Schwämme –«

»Bedenken Sie, meine Liebe, daß sie ja nur ein Stubenmädchen ist. Man kann das nicht von ihr verlangen.«

»Hühnerragout, Hühnerpastetchen, Kalbfleischklößchen, braun gebraten –«

»Endlich sind wir wieder bei Browningbrowning = bräunen. angelangt!« rief Maude.

»Du mein Gott!« sagte Frau Beecher. »Das ist meine Schuld. Verzeihen Sie! Bitte, Frau Hunt Mortimer, lesen Sie uns nun etwas aus den schönen Gedichten vor.«

»Man kann kleine Entrées stets fertig in den Läden haben«, fiel Maude plötzlich ein.

»Sie liebes, gutes Geschöpf, das ist eine ausgezeichnete Idee! Natürlich kann man das! Nun also, wir können das Entrée als abgetan betrachten und kommen nun zu –«

»Die pièces de résistance«, sagte Frau Hunt Mortimer feierlich, das Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes durchsehend. »Ich muß Ihnen gestehen, daß meine Bekanntschaft mit dem Dichter bisher eine ziemlich oberflächliche ist. Wir müssen nun den Ehrgeiz haben, ihn so zu bewältigen, daß er fortan einen unverlierbaren Teil unseres Selbst bilde. Ich denke mir, daß die Schwierigkeit ihn zu verstehen stark übertrieben wird, und daß wir mit gutem Willen und Ausdauer seiner wohl Herr werden können.«

Es war eine Erleichterung für Frau Beecher und Maude, zu erfahren, daß Frau Hunt Mortimer nicht mehr von dem Dichter wußte als sie selbst. Sie wagten es, eine etwas zuversichtlichere Miene anzunehmen, da das nun gefahrlos geschehen konnte. Maude runzelte gedankenvoll die Stirn, und Frau Beecher schlug ihre hübschen braunen Augen zu der Gardinenstange auf, als durchliefe sie im Geiste die ganze lange Liste der Werke des Dichters.

»Ich will Ihnen sagen, was wir tun müssen«, sagte sie. »Wir müssen uns fest vornehmen, daß wir um keine Zeile weitergehen, ehe wir die vorhergehende vollkommen verstanden haben. Wenn wir etwas nicht verstehen, wollen wir es wieder und wieder lesen, bis wir es vollkommen erfassen.«

»Ausgezeichnet!« rief Maude mit einem ihrer kleinen Begeisterungsausbrüche. »Das ist eine glänzende Idee von Ihnen, Frau Beecher!«

»Meine Freundinnen nennen mich Nellie«, sagte die kleine Brünette.

»Wie lieb von Ihnen, mir das zu sagen! Ich werde Sie mit Freuden so nennen, wenn Sie es erlauben. Und es ist ein so hübscher Name obendrein. Aber Sie müssen mich auch Maude nennen.«

»Sie sehen aus wie eine Maude«, erwiderte Frau Beecher. »Ich stelle mir eine Maude immer hübsch, lebhaft und blond vor. Es ist merkwürdig, wie gewisse Namen sich mit gewissen Charakteren verbinden. Mary ist immer häuslich, Rose ist kokett, Elisabeth ist pflichtgetreu, Evelyn ist ungestüm, Alice ist farblos, Helene ist befehlshaberisch –«

»Und Mathilde ist ungeduldig,« fiel Frau Hunt Mortimer lachend ein. »Mathilde hat alle Ursache dazu, da sie hier mit einem Band Gedichte vor sich sitzt, während ihr beide euch gegenseitig Komplimente macht.«

»Wir warten ja nur, bis Sie anfangen,« sagte Frau Beecher vorwurfsvoll. »Also bitte, lesen Sie uns etwas vor, denn die Zeit entschwindet in der Tat.«

»Es wäre schade, am Anfang zu beginnen, denn da ist sein Genie noch unreif,« meinte Frau Hunt Mortimer. »Ich denke, daß wir an diesem Eröffnungstage unserer Gesellschaft den Dichter in seinem besten Werke kennen lernen sollten.«

»Wie sollen wir aber wissen, welches sein bestes ist?« fragte Maude.

»Ich denke, wir sollten etwas wählen, dessen Titel Tiefes verrät. ›Ein schönes Weib‹, ›Liebe in einem Leben‹, ›Jede Frau an jeden Mann‹ –«

»Ach, was hat sie ihm gesagt?« rief Maude.

»Ich wollte eben sagen, daß diese Titel eher auf Leichtfertiges schließen lassen.«

»Übrigens ist das auch ein sinnloser Titel,« sagte Frau Beecher, die aus ihrer sechsmonatigen Eheerfahrung heraus gerne generalisierte. »Ein Mann an eine Frau, das wäre verständlich, aber wie kann einer wissen, was jeder Mann zu jeder Frau sagen würde? Niemand kann voraussagen, was ein Mann tun wird. Sie sind solch seltsame Geschöpfe.«

Aber Frau Hunt Mortimer war schon fünf Jahre verheiratet, und sie hielt sich für ebenso berufen, über Männer zu dozieren wie über Entrées.

»Wenn Sie mehr Erfahrung von ihnen haben werden, meine Liebe, so werden Sie finden, daß gewöhnlich irgendein Grund oder doch wenigstens eine Art dunkler Instinkt ihre Handlungen hervorruft. Aber wir müssen nun unsere Aufmerksamkeit ernstlich dem Dichter zuwenden, denn ich muß Punkt vier Uhr fort und habe dann nur zehn Minuten, um Maybury zu erreichen.«

Frau Beecher und Maude nahmen tief aufmerksame Mienen an.

»Also, bitte, lesen Sie!« riefen sie.

»Hier haben wir den ›Rattenfänger von Hameln‹.«

»Das würde mich mehr interessieren, als ich sagen kann!« rief Maude mit leuchtenden Augen. »Ach bitte, lesen Sie uns von dem lieben Rattenfänger vor!«

»Warum?« fragten die andern.

»Wissen Sie,« sagte Maude, »Frank – mein Mann – kam einmal zu einem Kostümball in St. Albans als Rattenfänger. Ich wußte damals nicht, daß das aus Browning war.«

»Was hatte er für ein Kostüm?« fragte Frau Beecher. »Wir sind zu einem Kostümball bei den Astons geladen, und ich möchte etwas Passendes für George.«

»Es war ein reizendes Kostüm. Ganz in Schwarz und Rot, so ähnlich wie ein Mephisto, wissen Sie, und ein spitzer Hut mit einem Glöckchen oben. Dann hatte er natürlich eine Flöte, und vom Gürtel herab hing ein langer, dünner Draht, an dessen Ende eine ausgestopfte Ratte befestigt war.«

»Eine Ratte! Abscheulich!«

»Nun ja, das war dem Märchen entsprechend. Die Ratten folgten alle dem Rattenfänger, und diese Ratte folgte Frank. Wenn er tanzte, steckte er sie in die Tasche, aber einmal vergaß er das, man trat darauf, und der ganze Boden war voll Sägespänen.«

Frau Hunt Mortimer war ebenfalls zu dem Ball geladen, und ihre Gedanken entflohen dem Buche in ihrer Hand.

»Wie gingen Sie, Frau Crosse?« fragte sie.

»Ich ging als ›Nacht‹.«

»Sie mit Ihrem braunen Haar?«

»Nun ja, Papa sagte, es sei keine sehr finstere Nacht. Ich war in Schwarz, wissen Sie, mein gewöhnliches schwarzes Abendkleid. Dann hatte ich einen silbernen Halbmond über der Stirn und einen schwarzen Schleier auf dem Haar, Rock und Taille ganz mit Sternen besät, und einen langen Kometen über die ganze Vorderseite. Papa goß mir beim Abendessen eine Tasse Milch über das Kleid und sagte nachher, das sei die Milchstraße gewesen.«

»Es ist zum Totärgern, wie die Männer über die ernstesten Dinge ihre Witze machen,« sagte Frau Hunt Mortimer. »Ihr Kostüm muß sehr effektvoll gewesen sein, meine Liebe. Ich für meinen Teil habe daran gedacht, als ›Herzogin von Devonshire‹ zu gehen.«

»Reizend!« riefen Frau Beecher und Maude.

»Das Kostüm ist nicht schwer zusammenzustellen. Ich habe einige alte Point d'Alençon-Spitzen, die seit hundert Jahren in der Familie sind. Von diesen gehe ich aus. Das Kleid kann ganz glatt sein –«

»Seide?« fragte Frau Beecher.

»Ich denke, ein weißer, geblümter Brokat –«

»Ja, und mit Perlen geputzt.«

»Nein, meine Liebe, ich will es ja mit meinen Spitzen putzen.«

»Richtig, das sagten Sie ja.«

»Und ein Musseline-Fichu so hier herüber.«

»Ach, wie entzückend!« rief Maude.

»Die Taille hoch geschnitten, mit Puffenärmeln. Und dazu selbstverständlich ein Gainsborough-Hut mit einer großen Straußfeder.«

»Das Haar gepudert, natürlich?« sagte Frau Beecher.

»Gepuderte Locken.«

»Das wird Sie entzückend kleiden! Sie sind groß genug für das Kostüm und haben auch die Gestalt dazu. Ich wollte, ich wäre in bezug auf das meinige ebenso sicher.«

»Was für eines wollen Sie denn wählen?«

»Ich habe an ›Ophelia‹ gedacht. Glauben Sie, daß das passen wird?«

»Gewiß. Haben Sie schon eine Idee für die Ausführung?«

»Wissen Sie, meine Liebe,« sagte Frau Beecher wieder in ihrem liebenswürdig vertraulichen Tone, »ich habe mir natürlich schon einiges zurechtgelegt, und ich würde so gerne Ihre Ansicht darüber hören. Ich habe Hamlet nur einmal gesehen, und da war Ophelia weiß gekleidet, mit einem durchsichtigen Nonnenschleier darüber. Ich dachte nun, ein weißes Unterkleid aus Pongée und darüber einen duftigen –«

»Crêpe de Chine,« fiel Maude ein.

»Aber zur Zeit Ophelias kannte man diesen Stoff noch nicht,« bemerkte Frau Hunt Mortimer. »Ich denke eher ein Silber-Netzstoff –«

»Ganz recht!« rief Frau Beecher, »mit Edelsteinen darauf. Das war auch meine Idee. Natürlich muß es griechisch geschnitten und drapiert sein – meine Schneiderin ist solch ein Juwel – mit Goldstickerei auf dem weißen Unterkleid.«

»Crewelstich,« sagte Maude.

»Oder ein einfaches Kreuzstichmuster. Auf dem Kopf ein Perlendiadem. Shakespeare –«

Beim Aussprechen dieses Dichternamens fühlten alle drei zugleich einen Stich im Herzen. Sie sahen erschrocken einander an und dann auf die Uhr.

»Nein, nun müssen wir aber doch endlich mit dem Lesen fortfahren!« rief Frau Hunt Mortimer. »Wie sind wir denn auf diese Kostüme gekommen?«

»Es war meine Schuld,« sagte Frau Beecher zerknirscht.

»Nein, meine,« sagte Maude. »Sie erinnern sich, es kam davon, daß ich erzählte, Frank sei damals als Rattenfänger von Hameln auf das Kostümfest gekommen.«

»Ich werde das erste Gedicht vorlesen, das ich aufschlage,« sagte Frau Hunt Mortimer unbarmherzig. »Ich sollte beinahe schon gehen, aber wir können doch vielleicht noch einige Seiten überfliegen. Also! – ›Setebos.‹ – Was für ein komischer Titel!«

»Was bedeutet er?« fragte Maude.

»Wir werden es wahrscheinlich später verstehen,« meinte Frau Hunt Mortimer. »Wir werden Zeile für Zeile durchnehmen und ihren vollen Sinn erfassen. Die erste Zeile lautet:

»Sich räkelt, da der Tag am heißesten –«

»Wer räkelt sich?« fragte Frau Beecher.

»Ich weiß nicht. So steht es hier.«

»Die nächste Zeile wird das wahrscheinlich erklären.«

»Flach auf dem –

Mein Gott, ich hatte keine Ahnung, daß Browning so schreibt!«

»Lesen Sie, bitte!«

»Das kann ich unmöglich. Mit Ihrer Erlaubnis will ich zur nächsten Strophe übergehen.«

»Wir haben uns doch vorgenommen, nichts auszulassen.«

»Wozu aber lesen, was uns weder belehren noch erheben kann. Beginnen wir die nächste Strophe und hoffen wir auf Besseres. Die erste Zeile lautet – ob das wohl richtig sein kann, so wie es hier steht?«

»Bitte, lesen Sie!«

»Setebos und Setebos und Setebos.«

Die drei Mitglieder der Browning-Gesellschaft sahen einander mutlos an.

»Das ist schlimmer, als ich mir vorgestellt habe«, sagte die Vorleserin.

»Wir müssen die Zeile auslassen.«

»Aber wir lassen ja alles aus.«

»Es ist der Name einer Person,« meinte Frau Beecher.

»Oder dreier Personen.«

»Nein, nur einer.«

»Warum ist er aber dreimal wiederholt?«

»Des Nachdrucks wegen.«

»Vielleicht,« sagte Frau Beecher, »war es ein Herr Setebos, eine Frau Setebos und ein kleiner Setebos.«

»Wenn Sie die Sache ins Lächerliche ziehen, höre ich auf vorzulesen. Ich denke aber, es ist falsch, Zeile für Zeile vorzunehmen. Satz für Satz wird es wohl leichter verständlich sein.«

»Ganz richtig.«

»Nehmen wir also die nächste Zeile dazu, die den Satz vollendet. Sie lautet:

Denket, er lebt in dem blinkenden Mond.«

»Es war also nur ein Setebos!« rief Maude.

»Offenbar. Es ist ganz verständlich, wenn man es in Prosa ausdrückt. Dieser Setebos befindet sich in dem Glauben, daß er sein Leben auf dem Monde verbringt.«

»Das hat doch aber keinen Sinn!« rief Maude.

Frau Hunt Mortimer sah sie vorwurfsvoll an. »Es ist sehr leicht, alles, was wir nicht verstehen, sinnlos zu nennen,« sagte sie. »Ich bin überzeugt, daß Browning eine tiefe Bedeutung hineinlegen wollte.«

»Was bedeutet es also?«

Frau Hunt Mortimer sah auf die Uhr.

»Ach Gott, ich muß gehen!« rief sie. »Ich kann leider nicht anders. Gerade, wo wir so schön bei der Sache waren, – es ist wirklich ärgerlich. Nächsten Mittwoch sehe ich Sie bei mir, nicht wahr, Frau Crosse? Und Sie auch, Frau Beecher? Adieu, adieu, schönen Dank für den angenehmen Nachmittag!«

Aber ihre Röcke hatten kaum aufgehört durch den Korridor zu rauschen, als die Browning-Gesellschaft durch Beschluß der Zweidrittelmehrheit ihrer sämtlichen Mitglieder aufgelöst war.

»Was soll uns das?« rief Frau Beecher. »Von zwei Zeilen habe ich effektiv Kopfschmerzen bekommen, und es sind zwei ganze Bände!«

»Wir müssen einen andern Dichter wählen.«

»Wollen wir nächstens Tennyson nehmen?«

»Das wäre jedenfalls viel besser.«

»Aber Tennyson ist ganz leicht verständlich, nicht wahr?«

»Vollkommen.«

»Wozu sollen wir also zusammenkommen, um über ihn zu diskutieren, da es nichts zu diskutieren gibt?«

»Sie meinen, wir könnten ihn ebensogut jede für sich lesen?«

»Das wäre jedenfalls leichter.«

»Allerdings.«

Und so fand nach einer Stunde schwächlichen Lebens Frau Hunt Mortimers Gegenseitige geistige Förderungsgesellschaft zur Erläuterung Brownings ein vorzeitiges Ende.

 


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