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Wie der König den Brigadier hatte.

Ich will durchaus nicht in Abrede stellen, daß Murat ein ganz vortrefflicher Reiteroffizier war; aber er war zu sehr von sich eingenommen, und das hat schon manchen guten Soldaten verdorben. Auch Lasalle war ein tüchtiger Anführer, richtete sich jedoch durch Wein und andere Torheiten zugrunde. Ich dagegen, Etienne Gerard, habe nie mit meinen Vorzügen geprahlt und bin auch stets sehr enthaltsam gewesen – ausgenommen vielleicht am Ende eines Feldzuges, oder wenn ich mit einem alten Kameraden zusammentraf. Und deshalb hätte ich vielleicht das Verdienst für mich in Anspruch nehmen können, der vorzüglichste aller Husarenoffiziere zu sein, wenn ein gewisses Zartgefühl mich nicht davon abgehalten hätte. Allerdings habe ich es nie weiter als bis zum Brigadekommandeur gebracht; aber es ist ja eine bekannte Sache, daß nur solche Männer das Glück hatten, zu den höchsten Aemtern zu avancieren, die den Kaiser auf seinen ersten Feldzügen begleitet hatten. Ich kenne in der Tat außer Lasalle, Labau und Drouet kaum einen General, der nicht bereits vor der Affäre in Aegypten berühmt gewesen wäre. Daraus erklärt sich, daß sogar ich, trotz meiner brillanten Eigenschaften, nur bis zur Spitze meiner Brigade aufrücken konnte und die große Ehrenmedaille – und zwar vom Kaiser selbst – erhielt, die ich zu Hause in einem kleinen Lederetui aufbewahre.

Trotzdem war mein Name wohlbekannt, und nicht nur bei allen denen, die mit mir gedient, sondern auch bei den Engländern. Nachdem die letzteren mich in der eben beschriebenen Weise zu ihrem Gefangenen gemacht, hatten sie ein scharfes Auge auf mich und waren gewaltig auf ihrer Hut, daß ihnen ein so gefährlicher Gegner nicht entwischte. Am 10. August schon wurde ich auf das Schiff gebracht, um nach England befördert zu werden, und ehe der Monat zu Ende war, sah ich mich bereits in dem großen Gefängnis, das man für uns in Dartmoor gebaut hatte. Bei uns Franzosen ging dasselbe unter dem Namen » Hôtel français et Pension«, denn alle von uns waren tapfere Männer, die den Kopf deshalb noch nicht hängen ließen, weil sie zur Zeit im Mißgeschick waren.

Es wurden nur diejenigen Offiziere, die sich geweigert hatten, ihr Ehrenwort zu geben, in Dartmoor eingekerkert, und die Mehrzahl der Gefangenen bestand aus Matrosen und Gemeinen. Nun wundern Sie sich gewiß, daß ich nicht mein Ehrenwort gab, um dadurch derselben Vergünstigungen teilhaftig zu werden, wie meine Kameraden. Nun, es hatten mich eben zwei Gründe davon abgehalten, die – meiner Meinung nach – triftig genug waren.

Erstens war mein Selbstgefühl so stark, daß ich keinen Zweifel an der Möglichkeit einer Flucht hegte. Ferner stammte ich aus einer zwar vornehmen, aber durchaus nicht reichen Familie, und hätte es nicht über mich gebracht, das schmale Einkommen meiner Mutter in Anspruch zu nehmen. Wiederum hatte ich nicht die mindeste Lust, mich von den Spießbürgern dieses englischen Landstädtchens übertrumpfen zu lassen, oder zu arm zu sein, um den Damen, denen ich gefallen würde, kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen. Aus diesen Gründen zog ich es vor, mich in das elende Gefängnis von Dartmoor einsperren zu lassen.

Und nun sollen Sie von meinen Abenteuern in England etwas hören und auch, inwieweit Wellington ein Recht hatte, zu behaupten, daß sein König mich hatte.

Hätte ich Ihnen nicht soeben versprochen, von mir zu reden, bis tief in die Nacht könnte ich Ihnen interessante Geschichten von Dartmoor selbst und von den wunderbaren Dingen, die sich dort ereigneten, erzählen. Meiner Treu, der seltsamste Ort, den ich je gesehen! Inmitten eines großen, wüsten Landstriches erbaut, diente er sieben- bis achttausend Menschen zum Aufenthaltsort – lauter Soldaten, müssen Sie wissen, von denen die meisten zahlreiche große Schlachten gesehen hatten. Doppelte und dreifache Mauern, ein Graben, Wärter und Soldaten bewachten sie – aber man versuche es nur, Menschen wie Kaninchen in einen Stall zusammenzupferchen! Einzeln, zu zweien, in Scharen entflohen sie; und dann donnerten die Kanonen und ganze Abteilungen Soldaten rückten aus, sie zu suchen. Und die Zurückgebliebenen lachten und sangen und schrien: »Es lebe der Kaiser!« bis die Wachen, bleich vor Wut, ihre Waffen gegen uns richteten. Und dann hatten wir unsere hübschen kleinen Meutereien, und herangerasselt kamen Soldaten und Geschütze von Plymouth, denen wir wiederum unser »Es lebe der Kaiser!« entgegenbrüllten, als ob sie uns in Paris hören sollten! Ja, ja, wir waren ein bewegliches Völkchen in Dartmoor und hatten unsere Freude daran, diejenigen, die uns umgaben, auch in Bewegung zu halten.

Lassen Sie sich sagen, mes amis, daß wir Gefangenen dort unseren eigenen Gerichtshof hatten, in dem wir übereinander Urteil sprachen und den Uebeltätern ihre Strafen zudiktierten. Diebstahl und Rauferei wurden geahndet, aber am allermeisten der Verrat. Kurze Zeit nach meiner Ankunft hatte ein Mann aus Rheims, Meunier, verraten, daß ein Fluchtversuch geplant wurde. Nun konnte man ihn aus irgend einem Grunde an demselben Abend noch nicht aus der Reihe der anderen Gefangenen entfernen, sondern ließ ihn, obgleich er jammerte und flehte und sich am Boden wälzte, unter den Kameraden, die er verraten hatte. In derselben Nacht fand durch einen unsichtbaren Richter ein Verhör gegen einen geknebelten Gefangenen statt, es gab eine geflüsterte Anklage und eine geflüsterte Verteidigung. Als man endlich am Morgen mit der Vollmacht zu seiner Freilassung erschien – ja, da war von dem Manne nicht so viel übrig geblieben, wie man auf einen Fingernagel legen konnte. Oh, die Gefangenen waren sehr erfinderische Leute, die sich zu helfen wußten.

Wir Offiziere bewohnten einen besonderen Flügel und bildeten ein gar seltsames Völkchen. Man hatte uns unsere Uniform gelassen, und es gab kaum eine Waffengattung, die nicht unter uns vertreten war. Da sah man grüne Jäger, Husaren wie ich, blaue Dragoner, Lanciers, Grenadiere, Artilleristen und Genieoffiziere. Die meisten von uns waren jedoch Marineoffiziere, denn die Engländer waren uns zur See weit überlegen, welche Tatsache mir erst vollständig klar wurde, als ich von Oporto nach Plymouth segelte, wo ich sieben Tage so krank war, daß ich mich nicht hätte rühren können, selbst wenn der Regimentsadler vor meinen Augen genommen worden wäre. War es doch in demselben mörderischen Wetter, daß wir den kürzeren vor Nelson ziehen mußten!

Kaum war ich in Dartmoor angekommen, so begann ich auch schon, Pläne zur Flucht zu schmieden, und es dauerte gar nicht lange, so sah ich meinen Weg klar vor mir liegen – denn die letzten zwölf Kriegsjahre waren meiner geistigen Entwicklung sehr zu statten gekommen.

Vor allem kam mir jetzt eine gewisse Bekanntschaft mit der englischen Sprache sehr gelegen. Wie Sie wissen, verdankte ich sie dem Adjutanten Obriant vom Regiment der Irländer, einem Abkömmling der alten Könige jenes Landes. Während der Monate, wo wir vor Danzig lagen, hatte er mich seine Sprache gelehrt, und da ich überhaupt sehr schnell von Begriffen bin, war ich in kurzer Zeit imstande, mich nicht nur ziemlich geläufig auszudrücken, sondern ich hatte auch schon die eigentümlichen Wendungen und viele der besonderen Redensarten erfaßt. Hatte mir doch Obriant beigebracht, » be jabbers« ebenso geläufig zu sagen, wie wir Franzosen » ma foi«, und » the curse of Crummle«, was ganz gleichbedeutend ist mit unserem » ventre bleu«. Was Wunder, daß die Engländer vor Vergnügen strahlten, wenn sie mich so korrekt sprechen hörten!

Wir Offiziere bewohnten je zwei eine Zelle, und ich kann nicht gerade behaupten, daß mir diese Einrichtung sehr behagte, denn ich hatte als Zimmergenossen den Artilleristen Beaumont, der von der englischen Reiterei vor Astorga gefangen genommen worden war.

Nun habe ich zwar in meinem Leben nicht viele gesehen, mit denen ich mich nicht hätte befreunden können, denn mein ganzer Charakter und die ganze Art, mich zu geben – doch wozu längst Bekanntes nochmals erörtern? Aber Beaumont hatte nie ein Lächeln für meine lustigen Späße, nie ein Verständnis für meinen Kummer. Stundenlang sah er da und stierte mich mit seinen verdrossenen Augen an, so daß ich manchmal meinte, seine zwei Jahre Gefangenschaft hätten ihm den Verstand geraubt. Oh, wie sehnsüchtig wünschte ich oft, daß der alte Bouvet oder irgend ein anderer meiner früheren Kameraden da an seiner Stelle gesessen hätten! Nun, das war aber einmal nicht der Fall, und ich mußte mit ihm auszukommen suchen. Da es auf der Hand lag, daß ich an keinen Fluchtversuch denken konnte, ohne ihn ins Geheimnis einzuweihen, begann ich, hie und da ein Wörtchen hinzuwerfen; ich redete allmählich eine deutlichere Sprache, bis es mir schien, als ob er gewillt sei, mein Wagnis zu teilen.

Nun unterzog ich Wände, Fußboden und Decke einer gründlichen Untersuchung, fand aber zu meiner großen Enttäuschung, daß alles sehr stark und solid war. Die Türe war von Eisen, sie war mit einem sehr starken Schloß versehen und besaß ein Gitter, durch welches der Wärter zweimal nachts in die Zelle blickte. In dieser selbst aber befanden sich außer den beiden Betten, zwei Stühlen und den Waschtischen gar keine anderen Geräte. Und das genügte mir auch vollkommen – wo hatte ich einen solchen Luxus in den vergangenen zwölf Jahren gehabt? Aber wie entkommen? Und doch verging keine Nacht, in der mir nicht meine fünfhundert Husaren im Kopfe herumgegangen wären und ängstliche Träume mich verfolgt hätten. Da brauchte mein ganzes Regiment neue Fußbekleidung; meine Pferde waren von Grünfutter dick aufgebläht; sechs Schwadronen Husaren blieben vor den Augen des Kaisers im Schlamme stecken. Dann wachte ich, in Schweiß gebadet, auf und machte mich von neuem daran, meine Zelle zu untersuchen, denn wann hätte jemals ein offener Kopf mit einem Paar geschickter Hände nicht vermocht, die größten Schwierigkeiten zu überwinden?

Unser Gefängnis besaß ein einziges kleines Fenster, welches in einen großen, von einer doppelten Mauer umgebenen Hof ging. Dasselbe war so schmal, daß nicht einmal ein Kind durchschlüpfen konnte, und wurde außerdem noch durch einen starken Eisenstab verwahrt. Das sah nun allerdings nicht verheißungsvoll aus, und doch kam ich immer mehr zu der Ueberzeugung, daß nur von dort aus meine Rettung möglich war. Deshalb faßte ich Mut und begann, meine Vorbereitungen zu treffen.

Zunächst verschaffte ich mir ein Werkzeug in Gestalt eines Stückchen Eisens, das ich von meiner Bettstelle brach, und lockerte damit den Mörtel an der Eisenstange. So arbeitete ich jede Nacht drei Stunden lang, schlüpfte dann, sobald der Wärter seinen Rundgang machte, ins Bett, um darnach wieder, und oft noch ein drittesmal, in meinen Bemühungen fortzufahren, denn Beaumont zeigte sich so langsam und ungeschickt, daß ich fast gänzlich auf mich selbst angewiesen war.

Aber was spornte mich immer von neuem an, an mein mühseliges Werk zu gehen? Nun, ich redete mir eben ein, meine Husaren hielten mit ihren Pauken, Fahnen und Schabracken aus Leopardenfellen vor dem Fenster draußen. Dann schaffte ich wie toll darauf los, bis mein Eisen mit Blut überzogen war wie mit Rost. Und so fuhr ich fort, jede Nacht den harten Mörtel abzulösen und ihn in meinem Kopfkissen zu verbergen, bis der Eisenstab endlich locker sah; dann ein scharfer Ruck – ich hielt ihn in der Hand, und der erste Schritt zu meiner Befreiung war getan.

Sie werden nun fragen, inwiefern ich nun besser daran war als zuvor, da das Fenster doch sogar für ein Kind zu klein war. Das will ich Ihnen erklären. Ich hatte nun zweierlei erlangt – ein Werkzeug und eine Waffe. Mit dem ersteren gedachte ich, die Oeffnung zu erweitern, und mit der anderen konnte ich mich verteidigen, nachdem ich durchgeschlüpft war. Und so begann ich ohne Zeitverlust, mit dem spitzen Ende der Eisenstange den Mörtel rund um den unteren Stein zu entfernen. trug aber natürlich Sorge, daß während des Tages die Füllung wieder vollständig an ihrem Platze war und daß nicht das kleinste Fleckchen am Boden dem Wärter meine Arbeit verriet. Nach Verlauf von drei Stunden hatte ich auf diese Weise den Stein locker gemacht. Ich zog ihn heraus, und siehe da – das Loch, durch welches bisher nur vier Sterne geschaut hatten, gewährte zu meinem Entzücken mir jetzt den Anblick von zehn. Nun war alles für uns bereit; ich brachte den Stein wieder an seine Stelle zurück und ebnete mit etwas Ruß und Fett die Lücken, die erst der Mörtel ausgefüllt hatte. In drei Tagen hatten wir Neumond, und das schien die beste Zeit für unsern Fluchtversuch zu sein.

Soweit war alles ganz gut, und ich hegte nicht den mindesten Zweifel, in den Hof zu gelangen. Wie aber aus diesem herauskommen? Und doch schauderte ich vor dem Gedanken, nach aller Mühe und Arbeit vielleicht in das elende Loch zurückkriechen zu müssen oder von der Wache draußen entdeckt und zur Strafe in eine der dumpfen, unterirdischen Zellen geworfen zu werden. Nein, eine solche Möglichkeit durfte nicht riskiert werden, und ich begann deshalb, mir meinen Plan zurechtzulegen.

Wie Sie wissen, Messieurs, ist es mir leider nicht möglich gewesen, der Welt meine Geschicklichkeit als General zu zeigen, obgleich ich nach einem oder zwei Glas Wein oft die erstaunlichsten Einfälle gehabt habe und der festen Ueberzeugung bin, daß Frankreich jetzt anders bestehen würde, wenn Napoleon mir ein Armeekorps anvertraut hätte. Jedenfalls konnte ich es in bezug auf Erfindungsgabe und Scharfsinn mit irgend einem Kameraden von der leichten Reiterei aufnehmen, und dieses Bewußtsein erfüllte mich jetzt mit neuem Mut.

Die innere Mauer, die ich zu erklimmen hatte, bestand aus Ziegeln; sie war zwölf Fuß hoch und oben mit einer Reihe engstehender, eiserner Spitzen verwahrt. Die äußere hatte ich nur ein- oder zweimal gesehen, wenn zufällig die Türe des Hofes offen stand – meiner Schätzung nach mußte sie ungefähr von derselben Beschaffenheit sein wie die erste. Der Zwischenraum mochte wohl gegen zwanzig Fuß betragen, und wie es mir schien, wurden bloß die beiden Pforten bewacht. Dagegen hatte ich in Erfahrung gebracht, daß vor dem Gefängnis draußen eine ganze Reihe Wachtposten stand, und dieser Umstand war eben die harte Nuß, die ich mit meinen beiden Händen zu knacken hatte.

Nun war glücklicherweise mein Kamerad Beaumont ein sehr großer Mann. Er mußte wenigstens seine sechs Fuß messen, und wenn ich auf seine Schultern stieg und mit meinen Händen die Spitze der Mauer erreichen konnte, war es mir ein leichtes, mich hinaufzuschwingen. Nun fragte es sich nur noch, ob es mir möglich sein würde, ihn hinter mir heraufzuziehen; denn, so wenig Vorliebe ich auch für diesen Menschen hatte, fiel es mir doch nicht ein, ihn im Stich lassen zu wollen. Er selbst schien sich indes über diese Schwierigkeit durchaus keine Gedanken zu machen, wahrscheinlich hatte er Ursache, seiner eigenen Geschicklichkeit zu trauen.

Nun hieß es, die Schildwache auszuwählen, die zur Zeit unseres Fluchtversuches auf Posten sein sollte. Die Soldaten wurden alle zwei Stunden abgelöst, aber da ich sie nachts genau beobachtet hatte, wußte ich ganz gut, daß sie im Punkte der Wachsamkeit sehr verschieden voneinander waren. Während manche sich so eifrig zeigten, daß ihnen auch keine Ratte entgehen konnte, machten sich's andere möglichst bequem und schliefen, auf ihre Flinten gestützt, so fest, als ob sie zu Hause in ihren Federbetten gelegen hätten. Da war mir besonders einer aufgefallen, ein dicker, schwerfälliger Mann, der sich regelmäßig in den Schatten der Mauer zurückzog und dort so gemütlich seine Zeit verschlummerte, daß ich schon Kalkstückchen von meinem Fenster aus vor seine Füße geworfen hatte, ohne daß er erwacht war. Unglücklicherweise hatte der Bursche gerade in der Nacht, wo wir zu entwischen gedachten, von zwölf bis zwei Uhr die Wache.

Je weiter der Tag vorrückte, von desto größerer Unruhe wurde ich erfaßt, bis ich schließlich alle Herrschaft über mich verlor und wie eine Maus in ihrer Falle unaufhörlich in meiner Zelle auf und ab rannte. Jeden Augenblick fürchtete ich, der Wärter würde den Eisenstab untersuchen, oder die Schildwache den losen Stein entdecken, den ich von außen nicht so wohl hatte verwahren können, wie von innen. Mein Gefährte hingegen saß, stumpf vor sich hinbrütend, auf seinem Bette, schielte mich von Zeit zu Zeit von der Seite an und kaute an seinen Nägeln wie jemand, der tief in Gedanken versunken ist.

»Mut, mein Freund,« tröstete ich, ihm auf die Schulter klopfend. »Sie werden Ihre Kanonen wieder haben, ehe der Monat sein Ende erreicht hat.«

»Das ist alles wohl recht schön,« war seine Antwort, »aber wohin wollen Sie fliehen, wenn Sie draußen sind?«

»Nach der Küste; ich kehre stracks in mein Regiment zurück, einem tapferen Manne glückt alles.«

Doch er lachte höhnisch auf und versetzte: »Werden höchst wahrscheinlich eher mit den Löchern ein Stockwerk tiefer Bekanntschaft machen, oder gar mit einem von den alten Schiffen in Portsmouth.«

»Ein rechter Soldat fürchtet sich nicht, nur der Feigling wittert überall Gefahr.«

Meine Worte trieben eine jähe Blutwelle in seine fahlen Wangen, und ich freute mich darüber, denn nun sah ich, daß noch nicht alles Gefühl in ihm erstorben war. Seine Hand fuhr nach dem Wasserkruge, wie um ihn mir an den Kopf zu schleudern – aber nein; er zuckte nur mit den Schultern, zog die Brauen finster zusammen und setzte sich schweigend wieder zurecht, wie zuvor. Und als ich ihn so da kauern sah, legte ich mir unwillkürlich die Frage vor, ob ich der Artillerie nicht einen schlechten Dienst erwies, wenn ich ihr wieder zu einem solchen Individuum verhalf.

Nie in meinem ganzen Leben ist mir eine Nacht so langsam dahingeschlichen wie jene. Bei anbrechender Dämmerung hatte sich ein leichter Wind erhoben, der mit jeder Stunde stärker wurde, bis endlich ein wütender Orkan über das ganze Meer dahinbrauste. Ich vermochte von meinem Fenster aus auch nicht das kleinste Sternchen zu erspähen, denn es hingen dicke, schwarze Wetterwolken am Himmel, und der Regen goß in Strömen. Ich beugte mich weit hinaus, um auf den Schritt der Schildwache zu lauschen, aber umsonst – das böse Unwetter verschlang jedes Geräusch. Diese letzte Entdeckung kam mir durchaus nicht ungelegen, denn wenn ich den Mann weder sehen noch hören konnte, war es nicht sehr wahrscheinlich, daß er mich gewahr wurde, und so harrte ich denn mit der größten Ungeduld, bis der Inspektor seinen gewohnten Rundgang gemacht hatte. Nun noch ein Blick in die Nacht hinaus – nichts regte sich: die Wache mochte sich wohl vor dem Regen unter irgend einen Vorsprung geflüchtet haben – ich fühlte, daß der Augenblick gekommen war. Und so entfernte ich denn schnell die Eisenstange, zog den Stein heraus und bedeutete meinem Gefährten, durchzukriechen.

»Nach Ihnen, Oberst!« sagte dieser.

»Wollen Sie nicht zuerst hinaus?«

»Zeigen Sie mir lieber den Weg!«

»Nun, so folgen Sie mir nach, aber Vorsicht, wofern Ihnen Ihr Leben lieb ist!«

Ich hörte, wie des Burschen Zähne klapperten, und fragte mich bei mir selbst, ob wohl je zuvor ein Mann in einer ähnlichen Lage einen solchen Genossen gehabt hatte. Dabei ergriff ich die Stange, stieg auf den Stuhl und fuhr mit Kopf und Schultern durch die Oeffnung. Schon hatte ich mich ein gut Stück durchgezwängt, als mich jener plötzlich an den Knien packte und aus vollem Halse rief: »Hilfe! Hilfe! Ein Gefangener will entfliehen!«

Ah, mes amis, wie soll ich Ihnen beschreiben, wie mir da zumute war! Natürlich durchschaute ich sofort den Plan dieses gemeinen Geschöpfes. Was brauchte er seine Haut zu Markte zu tragen und Mauern zu ersteigen, wo er doch gewiß war, von den Engländern freiwillig freigelassen zu werden, wenn er einen so gewichtigen Mitgefangenen an der Flucht verhinderte? Als Feigling und Duckmäuser hatte ich ihn ja längst kennen gelernt, in diesem Augenblicke erst wurde mir die ganze Tragweite seiner niedrigen Gesinnung klar. Nun ja, wie hätte sich jemand, der sein ganzes Leben hindurch mit Gentlemen und Ehrenmännern verkehrt hatte, auch so etwas träumen lassen können!

Der Dummkopf schien nicht einmal einzusehen, daß er selbst in größerer Gefahr war als ich. Ich kroch in der Finsternis wieder herein, erwischte ihn am Halse und versetzte ihm zwei Schläge mit meiner Stange. Da heulte er erst laut auf, wie ein Hund, den man auf die Pfote getreten hat, und sank dann stöhnend zu Boden. Ich aber setzte mich auf das Bett, um ruhig abzuwarten, was man über mich verhängen würde. Jedoch die Minuten verstrichen, und es ließ sich nichts hören als das schwere Röcheln des erbärmlichen Menschen zu meinen Füßen. Sollte man die Hilferufe in dem furchtbaren Sturm überhört haben? Die schwache Hoffnung in mir wurde allmählich zur Gewißheit, denn weder auf dem Korridor noch im Hofe entstand der geringste Alarm; so wischte ich denn den kalten Schweiß von meiner Stirne und begann von neuem, Pläne zu schmieden.

Eins stand fest: der Mann da mußte sterben, damit er mich nicht etwa doch noch verraten konnte. Nun wagte ich aber nicht, Licht zu machen, sondern tappte im Dunkeln umher, bis meine Hand etwas Feuchtes berührte. Das mußte sein Kopf sein! Schon erhob ich das Eisen – da, Messieurs, sprach etwas laut in mir und hielt meine Hand zurück. In der Hitze des Gefechtes hatte ich schon manchen erschlagen – ja, auch manchen braven Mann, der mir nichts zuleide getan. Aber das hier war ein Elender, eine Kreatur, zu faul, um zu leben; und obwohl er vorgehabt hatte, mich schwer zu schädigen, brachte ich es doch nicht über mich, ihm den Garaus zu machen. Ein Mann von Ehre, wie ich, überläßt dergleichen Taten anderen Leuten, meinetwegen dem spanischen » partida« – oder auch den Sanskulotten von St. Antoine.

Das mühsame Atmen des Burschen ließ mich hoffen, daß noch eine geraume Zeit verstreichen würde, ehe er das Bewußtsein wieder erlangen konnte; also knebelte ich ihn und band ihn mit Streifen aus meiner Bettdecke dergestalt an das Bett fest, daß er auf jeden Fall nicht vor dem nächsten Besuche des Wärters freikommen konnte. Aber nun stellten sich mir plötzlich neue Schwierigkeiten in den Weg; hatte ich nicht auf seine Länge gerechnet, die mir auf die Mauer hinauf helfen sollte? Oh weh, – jetzt drohte mir der Mut zu sinken! Ich hätte mich niedersetzen und Tränen der Verzweiflung vergießen können, aber der Gedanke an meine Mutter und den Kaiser hielt mich aufrecht. »Mut!« sprach ich zu mir. »Mut! Wäre dem Name nicht Etienne Gerard, so wärst du jetzt allerdings übel dran, aber das ist ein Mann, der sich nicht so leicht werfen läßt!«

Ohne Zaudern machte ich mich da ans Werk. Ich zerschnitt Beaumonts und mein Bettzeug in lange Streifen und flocht sie zu einem vortrefflichen Seil zusammen, welches ich nun recht fest in der Mitte meines ungefähr einen Fuß langen Eisenstabes befestigte. Darauf stieg ich in den Hof hinab, wo der Regen strömte und der Wind noch lauter heulte als zuvor. Ich hätte mich nicht im Schatten der Gefängnismauer dahinschleichen brauchen, denn es war so dunkel, daß ich die Hand nicht vor den Augen zu sehen vermochte, und wenn ich nicht geradezu in die Schildwache hineinlief, hatte ich nichts von ihr zu befürchten. Jetzt war ich an der Mauer angelangt, ich schleuderte meinen Stab hinauf, und zu meiner Freude blieb er sogleich zwischen den Eisenspitzen hängen. Nun kletterte ich an dem Seile hinan, zog es nach und ließ mich auf der anderen Seite wieder nieder. Die zweite Mauer nahm ich auf dieselbe Weise; schon saß ich oben darauf mitten zwischen den Spitzen, als ich in der Dunkelheit unter mir etwas Glänzendes schimmern sah. Es war das Bajonett der Wache unten, und da diese Mauer etwas kleiner war als die erste, war mir die Waffe so nahe, daß ich die Spitze leicht ergreifen konnte, wenn ich mich etwas vorwärts beugte. Da stand der Mann, dicht an die Mauer gekauert und summte ein Liedchen vor sich hin – hätte er nur geahnt, daß, wenige Schritte von ihm entfernt, ein Mann in seiner Verzweiflung daran dachte, ihm mit seiner eigenen Waffe das Herz zu durchbohren! Schon setzte ich zum Sprunge an, da schulterte der Mann das Gewehr, stieß eine Verwünschung aus und stampfte durch den Morast davon, um seinen Rundgang wieder aufzunehmen. Ich aber schwang mich an meinem Seile herab, ließ es hängen und lief in größter Eile über das Moor.

Potz tausend, wie ich in Wind und Wetter dahinjagte! Der Regen durchnäßte mich bis auf die Haut und der Sturm benahm mir fast den Atem, bald fiel ich in ein Erdloch, dann wieder zwischen Buschwerk und Dornen. Das Blut rann mir von Gesicht und Händen herab, die Zunge klebte mir am Gaumen, meine Füße waren bleischwer, das Herz klopfte mir zum Zerspringen. Aber ich gönnte mir keinen Augenblick der Rast, immer wieder raffte ich mich auf und rannte weiter.

Jedoch nicht planlos, dürfen Sie denken! Alles war wohl überlegt. Unsere Flüchtlinge wendeten sich immer der Küste zu; ich aber war entschlossen, landeinwärts zu gehen, und das um so mehr, als ich Beaumont das Gegenteil gesagt hatte. Während ich nach Norden zueilte, sollte man mich im Süden suchen. Sie fragen, wie ich mich in einer solchen Nacht in der Himmelsrichtung zurechtfinden konnte? Nun, ganz einfach nach dem Winde! Ich hatte im Gefängnis beobachtet, daß er aus Norden kam, und so lange ich ihm mein Gesicht zuwendete, mußte ich eben in der richtigen Richtung sein.

Als ich noch so dahinjagte, tauchten plötzlich zwei glänzende Lichter vor mir in der Dunkelheit auf. Da stutzte ich und blieb einen Moment unschlüssig stehen. Sie müssen wissen, daß ich noch in meiner Husarenuniform war, und es war äußerst wichtig, daß ich mir andere Kleidung verschaffte, um mich nicht zu verraten. Wahrscheinlich kamen die Lichter aus einer Hütte, wo ich sicher war, das zu finden, was ich brauchte. So näherte ich mich denn vorsichtig und bedauerte nur lebhaft, meine Eisenstange nicht bei mir zu haben, denn ich war fest entschlossen, lieber bis aufs Blut zu kämpfen, als mich wieder gefangen nehmen zu lassen.

Bald wurde ich gewahr, daß ich mich in meiner Annahme geirrt hatte, denn die Lichter kamen nicht aus einem Häuschen, sondern erwiesen sich bei näherer Besichtigung als ein Paar Laternen an einem Wagen, der auf einer breiten Landstraße hielt. Zwei Pferde waren davor gespannt, ein kleiner Postillon stand daneben und eins der Räder lag auf der Straße. Während ich mir aus dem Gebüsch hervor die Sache noch so betrachtete, die rauchenden Tiere, den winzigen Kutscher, sowie die schwarze, vom Regen triefende Kutsche auf ihren drei Rädern – da wurde das Fenster niedergelassen und ein hübsches kleines Gesicht schaute unter einem Hute hervor.

»Was soll ich nur anfangen?« rief die Dame dem Kleinen zu, »Sir Charles läßt sich nicht blicken, und ich werde wohl die ganze Nacht auf dem Moor zubringen müssen.«

»Vielleicht kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Madame,« sagte ich, indem ich aus dem Gebüsch hervor in das helle Licht trat – ein Weib in Bedrängnis ist mir immer ein heilig Ding gewesen – und dieses hier war noch zum Entzücken schön. Vergessen Sie auch nicht, meine Herren, daß ich damals zwar bereits Oberst war, aber immerhin erst achtundzwanzig Jahre zählte.

Himmel, wie sie aufschrie und wie der Junge mich mit offenem Munde anstarrte! Und kein Wunder, denn meine Erscheinung war nach den jüngsten Ereignissen durchaus nicht geeignet, einer Dame in der Nacht auf einsamem Moor Vertrauen einzuflößen. Nachdem sie sich von dem ersten Schreck etwas erholt hatte, bot ich ihr nochmals meine ergebenen Dienste an und konnte nun in ihren hübschen Augen lesen, daß meine Haltung und mein ganzes Benehmen einen günstigen Eindruck hervorgebracht hatten.

»Es tut mir leid. Sie erschreckt zu haben,« sagte ich zu ihr, »aber ich war zufällig Zeuge Ihrer Worte und konnte nicht umhin, Ihnen meinen Beistand anzubieten.« Dabei verbeugte ich mich. Nun, Sie kennen ja meine Verbeugungen und können sich also denken, daß mein Wert in den Augen der Dame um ein beträchtliches stieg.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, mein Herr,« war die Antwort. »Unsere Reise von Tavistock her ist entsetzlich gewesen: schließlich haben wir nun gar noch ein Rad vom Wagen verloren und sitzen auf offenem Moore fest. Sir Charles, mein Gatte, ist zwar fortgegangen, um Hilfe herbeizuschaffen: allein ich fürchte, er hat sich verirrt.«

Eben war ich im Begriffe, der Dame Trost zuzusprechen, als mein Auge auf einen schwarzen Reisemantel fiel, der wahrscheinlich ihrem Reisegefährten gehörte. Das war ja genau, was ich brauchte! Allerdings war mir der Gedanke, hier den Straßenräuber zu spielen, anfangs etwas fatal; aber ›Not kennt kein Gebot‹ und – befand ich mich nicht in Feindeslande? Und so machte ich denn kurzen Prozeß.

»Das ist wohl der Mantel Ihres Gatten? Verzeihen Sie, Madame, daß ich mich genötigt sehe!« – Damit zog ich das fragliche Kleidungsstück aus dem Fenster heraus.

Ich las auf ihrem hübschen Gesicht das Erstaunen, die Furcht und den Abscheu, die sie über meine verwegene Tat empfand, und dieser Anblick verursachte mir großes Mißbehagen.

»O,« begann sie, »wie habe ich mich in Ihnen getäuscht! So sind Sie also gekommen, um mich zu berauben und nicht, um mir beizustehen! Ich habe Sie Ihrem Wesen nach für einen Gentleman gehalten, und Sie stehlen meines Gatten Mantel!«

»Madame,« erwiderte ich, »ich bitte, verdammen Sie mich nicht, ehe Sie alles gehört haben. Die Not zwingt mich jetzt zu diesem Schritt; aber sagen Sie mir, wer das Glück hat, Ihr Gemahl zu sein, und ich verspreche Ihnen, ihm den Mantel zurückzusenden.«

Ihre Züge verloren etwas von ihrer früheren Strenge, als sie antwortete: »Mein Gatte ist Sir Charles Meredith. Er ist auf einer Reise nach dem Gefängnisse Dartmoor begriffen, wo er wichtige Regierungsgeschäfte zu erledigen hat. Wenn ich Ihnen raten soll, so gehen Sie Ihrer Wege und vergreifen Sie sich nicht an seinem Eigentum.«

»Ich neide ihm bloß einen Teil seines Besitztums, Madame!«

»Und den haben Sie aus dem Wagen genommen!«

»O nein,« erwiderte ich galant, »der ist noch darin!«

Sie lachte fröhlich auf, ehe sie versetzte: »Wenn Sie lieber den Mantel zurückgeben wollten, statt mir hier Komplimente zu machen –«.

Ich unterbrach sie. »Madame, das ist ganz unmöglich. Erlauben Sie mir, zu Ihnen in den Wagen zu steigen, damit ich Ihnen auseinandersetze, wie unentbehrlich mir dieses Kleidungsstück ist.«

Der Himmel mag wissen, zu welchen Torheiten ich mich noch hätte verleiten lassen, hätten wir nicht in diesem Augenblick ein schwaches »Hallo« aus der Ferne vernommen, das von dem Knirps kräftig beantwortet wurde. Zu gleicher Zeit sah ich, wie eine Laterne sich uns rasch näherte.

»Madame, ich muß Sie zu meinem großen Bedauern jetzt verlassen!« Mit diesen Worten verabschiedete ich mich von der Dame, aber nicht, ohne trotz meiner Eile einen feurigen Kuß auf ihre kleine Hand gedrückt zu haben, die sie mit einer allerliebsten Bewegung des Unwillens über meine Kühnheit zurückzog. Darüber war die Laterne ganz nahe herangekommen, und der Kleine schien den Mut gefunden zu haben, sich meiner Flucht widersetzen zu wollen. Ich aber nahm meine kostbare Beute unter den Arm und stürmte in die Dunkelheit hinaus. Nun war ich darauf bedacht, mich während der übrigen zwei Nachtstunden noch so weit wie möglich von dem Gefängnis zu entfernen: ich bot also mein Gesicht wieder dem Winde dar und rannte, bis ich vor Erschöpfung niederfiel. Aber nur wenige Minuten der Rast, dann wieder auf und davon! War ich doch jung und kräftig und hatte Muskeln wie von Stahl! So hielt ich es noch drei Stunden lang aus. Meiner Schätzung nach mußte das Gefängnis nun gegen zwanzig englische Meilen hinter mir liegen. Als der Morgen dämmerte, bemerkte ich, daß ich mich in einer hügeligen, reichlich mit Heidekraut bewachsenen Gegend befand. Hier konnte ich mich gut bis zum Abend verbergen – ich kroch also zwischen die Büsche hinein, wickelte mich in meinen schönen warmen Mantel und legte mich, wie ich so oft schon getan, in Wind und Regen zum Schlafen nieder.

Aber es war kein erquickender Schlummer; eine Reihe böser Träume verfolgten mich, in denen mir alles schief ging. Zuletzt griff ich mit einer einzigen Schwadron Husaren auf ermüdeten Pferden eine ganze Phalanx ungarischer Grenadiere an – gerade wie ich es damals zu Elchingen getan. Ich stand in den Steigbügeln und rief » Vive l'Empereur!«, worauf meine Soldaten als Antwort » Vive l'Empereur!« zurückgaben. Darüber wachte ich auf und sprang von meinem harten Bett empor, während jener Ruf immer noch in meinen Ohren klang. Ich rieb mir die Augen und fragte mich, ob ich denn wirklich wach sei, denn derselbe langgezogene Ruf wurde jetzt aus wohl fünftausend Kehlen wiederholt. Nun lugte ich aus dem schützenden Gebüsch hervor, und was ich da im hellen Morgenlicht erblickte, war wohl das letzte, was ich erwünscht oder erwartet hätte!

Das Gefängnis von Dartmoor! Da lag das finstere, langgestreckte Gebäude ganz nahe vor mir; ja, wäre ich noch einige Minuten in der Dunkelheit weiter gelaufen, ich wäre mit dem Kopf an die Mauer gerannt. Der Anblick verblüffte mich anfangs so, daß ich ganz erstarrt war; aber mit einem Male sah ich den Zusammenhang klar vor mir und schlug nun vor Verzweiflung die Hände gegen meine Stirn. Der Wind war während der Nacht von Norden nach Süden umgesprungen, und da ich ihm immer entgegengegangen war, war ich zehn Meilen nach Norden und ebenso viele zurückgelaufen, um schließlich hier wieder anzulangen. Also darum meine Jagd, das Stolpern und Wiederaufraffen, das Stürzen und Weiterhinken! Und wie ich noch so über mein Abenteuer nachdachte, da erschien mir die ganze Geschichte auf einmal so lächerlich, daß mein Kummer sich in die ausgelassenste Heiterkeit verwandelte, und ich lachte und lachte, bis ich mir die Seiten halten mußte. Endlich wickelte ich mich wieder in meinen Mantel und überlegte.

Mein bewegtes Leben hatte mich gelehrt, kein Ereignis als ein Unglück zu betrachten, ehe es sich vollständig abgespielt hat, denn bietet nicht jede Stunde neue Gesichtspunkte dar? Auch jetzt kam ich bald zu der Einsicht, daß der Zufall mir einen vortrefflichen Dienst geleistet hatte. Natürlich begannen meine Verfolger ihre Nachforschungen nach mir von dem Orte aus, wo ich mich in den Besitz von Sir Charles Merediths Mantel gesetzt hatte, und wirklich konnte ich sie von meinem Versteck aus die Landstraße jenem Platz zueilen sehen. Keinem einzigen von ihnen fiel es ein, daß ich möglicherweise zurückgelaufen sein konnte; so machte ich mir's in dem Gesträuch auf dem Kamm des Hügels ganz bequem und richtete mich ein, den Tag über dazubleiben. Den Gefangenen war natürlich meine Flucht nicht unbekannt geblieben, und sie gaben nun ihrer Freude darüber durch lauten Jubel Ausdruck – mir ein willkommenes Zeichen von Teilnahme und kameradschaftlicher Gesinnung. Ich sah ganz deutlich, wie dieses Völkchen unfreiwilliger Müßiggänger sich im engen Hof des Gefängnisses erging, oder in Gruppen beisammenstand, um sich über meinen glücklichen Erfolg zu unterhalten. Einmal schlugen laute Verwünschungen an mein Ohr, und aufschauend gewahrte ich Beaumont, der, von zwei Wärtern geführt, mit verbundenem Kopfe über den Hof schritt. Dieser Anblick erfüllte mich mit Freude – wußte ich doch nun, daß ich ihn wirklich nicht getötet hatte, und sahen doch meine Mitgefangenen, daß ich nicht hatte ohne ihn entfliehen wollen! Und so lag ich den ganzen Tag und lauschte auf den Ton der Glocke unten, die die Stunden verkündete.

Zum Glück war ich reichlich mit Brot versehen, welches ich mir von meiner täglichen Ration aufgespart hatte, und als ich die Taschen des geliehenen Mantels einer Prüfung unterzog, fand ich eine silberne Flasche mit vortrefflichem Kognak, so daß ich es den Tag über wohl aushalten konnte. Außerdem zog ich noch ein seidenes Taschentuch, eine Schildpattdose, sowie einen blauen, rotgesiegelten Brief hervor, der die Adresse des Gefängnisdirektors von Dartmoor trug. Ich nahm mir vor, die ersteren beiden Gegenstände bei der ersten Gelegenheit ihrem Eigentümer zurückzuschicken, aber der Brief verursachte mir mehr Kopfzerbrechen, denn der Direktor hatte sich stets sehr anständig gegen mich benommen, und es widerstrebte meinem Gefühl, einen an ihn gerichteten Brief zu unterschlagen. Aber konnte ich ihn denn nicht unter einen Stein am Eingangstor schieben? Doch nein, das würde ihnen ja verraten haben, wo ich zu suchen war! Als mir nun gar nichts einfallen wollte, barg ich ihn einstweilen in meiner Tasche und hoffte, ihn bald an seine Adresse befördern zu können.

Die Sonne schickte warme Strahlen vom Himmel herab und trocknete in kurzer Zeit meine ganz durchnäßten Kleider. Die einbrechende Nacht fand mich zu meiner Reise gerüstet, und diesmal konnte ich nicht wieder fehlgehen, denn ich nahm die Sterne zu meinen Führern und legte bald ein tüchtiges Stück Wegs zurück. Meine erste Sorge war nun die, mir von der ersten besten Person, auf die ich stoßen würde, einen vollständigen Anzug zu verschaffen und dann nach der nördlichen Küste vorzudringen, wo es Schmuggler und Fischer in Menge gab, welche sich sehr gern die Belohnung verdienten, die der Kaiser denjenigen auszahlte, die entflohenen Kriegsgefangenen halfen, über den Kanal zu kommen. Um die Aufmerksamkeit nicht auf mich zu lenken, hatte ich den Federbusch von meinem Tschako entfernt, aber ich fürchtete immer noch, daß trotz des schönen Mantels meine Uniform mich verraten würde, und war deshalb ernstlich darauf bedacht, mich als Zivilist zu kleiden.

Jetzt dämmerte der Morgen und ich erblickte zu meiner Rechten einen Fluß, links aber eine kleine Stadt. Nun hätte ich der letzteren für mein Leben gern einen Besuch abgestattet, um die Sitten und Gebräuche der Engländer etwas näher kennen zu lernen, denn man hatte mir wunderbare Dinge davon erzählt. Aber so viel Vergnügen es mir auch gemacht haben würde, sie ihr rohes Fleisch essen zu sehen, wagte ich es doch wegen meiner Uniform sowohl als auch wegen meines Schnurrbartes und meiner Sprache nicht. Ich blieb meiner Absicht, so schnell wie möglich nach dem Norden zu gelangen, treu, und hielt dabei fleißig Umschau, ohne indes die geringste Spur von meinen Verfolgern zu entdecken.

Gegen Mittag kam ich in ein entlegenes Tal und erblickte vor mir ein einsames Hüttchen, das überhaupt das einzige Gebäude in der ganzen Umgegend zu sein schien. Das hübsche kleine Häuschen hatte einen grün überwachsenen Eingang mit einem Gärtchen davor, in dem sich eine ganze Schar Geflügel umhertummelte. Dieser Anblick reizte mich – ich duckte mich in das hohe Farnkraut, um mich genau zu orientieren. Hier fand ich gewiß alles, was ich brauchte! War doch mein Brot aufgezehrt, und ich verspürte einen scharfen Appetit nach meiner langen Reise. Also schnell den Feldzugsplan entworfen. Zunächst das Terrain kurzerhand erforschen, dann drauf los marschieren, zur Uebergabe zwingen und sich schließlich aneignen, was da nottat. Auf jeden Fall mußte ich hier ein Huhn und eine Omelette erwischen.

Während ich noch so aus meinem Hinterhalt hervor rekognoszierte, trat ein munteres Bürschchen aus der Tür heraus, dem ein älterer Mann mit zwei großen Keulen in den Händen folgte. Jetzt überreichte er sie seinem jüngeren Begleiter, und dieser schwang sie, schnell wie der Blitz, auf und nieder und rund herum. Der andere stand mit wichtiger Miene daneben und schien von Zeit zu Zeit dem Burschen eine Weisung zu geben. Endlich ergriff der letztere ein Springfell und machte sich, nach Art der Kinder, daran, damit zu hüpfen, während der ältere ihn immer noch beobachtete. Sie können sich denken, daß ich mich über diesen Vorgang nicht wenig wunderte – war der eine vielleicht ein Doktor, der seinen Patienten einer sonderbaren, mir noch unbekannten Heilweise unterworfen hatte?

Indem ich noch so grübelte, holte der eine einen Ueberrock heraus, der jüngere zog ihn an und knöpfte ihn bis an das Kinn hinauf zu. Ich schüttelte erstaunt den Kopf – war doch der Tag ziemlich warm! Wenn ich jedoch geglaubt hatte, die Uebungen seien nun zu Ende, so hatte ich mich geirrt, denn der Kleine begann nun, trotz seines schweren Rockes, zu laufen, und zwar gerade auf mich zu. Inzwischen war der ältere wieder in das Haus getreten, und dieser Umstand paßte mir ganz vortrefflich, denn ich gedachte, mich schleunigst in Besitz der Kleider des kleinen Mannes zu setzen, dann nach irgend einem Dorfe zu eilen und dort Nahrungsmittel zu kaufen. Die Hühnchen waren zwar sehr verlockend, aber da ich unbewaffnet war, und es sich überdies herausgestellt hatte, daß wenigstens zwei Männer in dem Häuschen waren, hielt ich es doch für klüger, davon zu bleiben.

Ich verhielt mich unter meinen Farnkräutern ganz ruhig. Jetzt kam der ungeheure Rock mit dem Läufer näher, ich sah, wie ihm der Schweiß von der Stirn tropfte. Er schien ein ganz kräftiger Mann zu sein – aber klein, ja, so klein, daß ich fürchtete, sein Anzug würde mir nicht viel helfen. Als ich mich auf ihn zustürzte, blieb er stehen und blickte mich höchst verwundert an.

»Potz tausend! Wen haben wir denn da erwischt? Zirkus, oder so was Aehnliches, eh?«

Das waren seine Worte, aber was er damit sagen wollte, verstand ich nicht.

»Entschuldigen Sie gefälligst, Monsieur,« erwiderte ich höflich, »ich muß Sie bitten, mir Ihren Anzug zu geben!«

»Was zu geben?«

»Ihren Anzug!«

»Meiner Six, das lobe ich mir! Warum soll ich Ihnen meinen Anzug geben?«

»Weil ich ihn brauche.«

»Wenn ich aber nun nicht will?«

» Be jabbers! Dann muß ich ihn mir eben nehmen!«

Er steckte die Hände in die Taschen, stellte sich vor mir hin und sah mich mit seinem viereckigen, glattrasierten Gesicht belustigt an.

»So, so, also nehmen wollen Sie sich! Hm! Scheint mir gar kein übler Kumpan zu sein, aber diesmal sind Sie doch vor die falsche Schmiede gekommen! Denken wohl, ich weiß nicht, wer Sie sind? So 'n durchgebranntes Franzoschen aus dem Gefängnis unten erkennt unsereiner schon mit 'nem halben Auge. Aber Sie kennen wohl mich nicht, lieber Mann! Möchte Ihnen wohl sonst schwerlich einfallen, sich an mir vergreifen zu wollen! Da, sehen Sie hier: bin der Herkules von Bristol – neun Stein in jeder Hand!«

Der Kleine schien zu erwarten, daß diese Mitteilung mich zu Boden schmettern würde, aber ich lächelte, zwirbelte meinen Schnurrbart und musterte ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Endlich entgegnete ich:

»Das alles will ich durchaus nicht bestreiten, aber wenn ich Ihnen sage, daß Sie vor dem Oberst der Husaren von Conflans, Etienne Gerard, stehen, dann werden Sie doch wohl die Notwendigkeit einsehen, mir Ihre Sachen ohne weitere Umschweife abzutreten.«

»Na, hören Sie 'mal, Mosje, jetzt lassen's aber genug sein, sonst setzt es 'was Gepfeffertes!«

»Ihren Anzug her, Monsieur!« schrie ich und ging wütend auf ihn ein.

Statt aller Antwort warf er seinen schweren Ueberrock ab, streckte den einen Arm weit von sich, legte den anderen gegen die Brust und schaute mich in dieser seltsamen Stellung eigentümlich lächelnd an.

Nun verstehe ich zwar von der Methode, nach welcher dergleichen Leute kämpfen, nicht das geringste; aber ob bewaffnet oder nicht, ob zu Pferde oder zu Fuß – ich bin immer bereit, es mit jedermann aufzunehmen. Es wäre doch auch unbillig, wollte der Soldat von jedem Gegner verlangen, mit ihm nach seiner Weise zu kämpfen. Wenn man unter Wölfen ist, muß man eben mit ihnen heulen.

Und so stürzte ich denn mit einer Art Kampfgeschrei auf ihn zu, um ihm mit beiden Füßen ein Paar gewaltige Stöße zu versetzen. In dem nämlichen Moment flogen meine Fersen in die Luft; ich sah so viel Funken sprühen wie damals bei Austerlitz, und fiel, mit meinem Kopfe gegen einen Stein schlagend, zu Boden.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem äußerst dürftig ausgestatteten Zimmer auf einem Feldbett. Der Kopf dröhnte mir zum Zerspringen, und als ich an meine Stirn faßte, fühlte ich eine Beule wie eine Walnuß groß über meinem Auge. Ein scharfer Geruch durchdrang das ganze Zimmer – ich fand bald, daß er von einem mit Essig getränkten Streifen Papier herrührte, welchen man mir aufgelegt hatte. In einer Ecke des Gemachs saß jener schreckliche kleine Mann mit verdrießlicher Miene; er hatte sein Knie entblößt, und der ältere rieb es mit einer Salbe ein, wobei er fortwährend schalt.

»So 'ne Eselei ist mir doch im ganzen Leben nicht vorgekommen!« hörte ich ihn sagen. »Hab' mich 'nen vollen Monat mit dir 'rum geplagt und nun, wo du endlich geschmeidig bist, wie 'ne Schmerl' im Bach, läßt du dich zwei Tage vor dem Rennen mit so 'nem hergelaufenen Ausländer in Händel ein!«

»Nu' hören Sie aber endlich mal auf!« unterbrach ihn der andere ärgerlich. »Sind 'n ganz guter Trainer, Jim, aber Ihr Geschwätz können Sie sich sparen.«

Aber jener ließ sich nicht irre machen.

»Ja, ja,« fuhr er fort, »da soll einer noch nicht mal böse sein! Wenn das Knie da bis nächsten Mittwoch nicht geheilt ist, geht's schief mit dir, so wahr ich Jim heiße, und nachher hat's gute Weile, bis einer wieder auf dich setzt.«

»Was, schief gehen?« knurrte der andere, »so was gibt's bei mir nicht! Haben wohl vergessen, daß ich schon neunzehnmal gewonnen habe! Was hätten denn Sie getan, wenn Ihnen so 'n Strolch die Kleider vom Leibe reißen wollte?«

»St! St! Hätte sie dem Kerl ruhig gelassen und hernach die Soldaten hinter ihm hergehetzt, wie wir's jetzt auch getan haben. Hätte meine Sachen bald wieder haben wollen!«

»Zum Kuckuck auch! Laß mich gewiß nicht so leicht stören, wenn ich beim Ueben bin! Wenn einem aber so 'n windiges Franzoschen in den Weg läuft, der noch nicht 'mal 'n rechtschaffen Loch in 'nen Butterwecken drücken kann, da läuft unsereinem die Galle auch mal über! Hatte doch auch nicht gedacht, daß er gleich mit Füßen stoßen würde!«

»Dachtest wohl, er hätte Broughtons Regeln studiert? So 'ne Idee! Die drüben verstehen vom Fechten gerade so viel wie der Blinde von der Farbe!«

Das war mir zu stark! » Messieurs,« begann ich, »ich bin zwar aus Ihrer Unterhaltung nicht ganz klug geworden: aber Ihre letzten Worte waren sehr töricht! Wir Franzosen verstehen uns aufs Fechten so gut, daß wir beinahe jeder Hauptstadt in Europa einen Besuch abgestattet haben und uns binnen kurzem auch London ansehen werden. Aber wir kämpfen, wie es Soldaten zukommt, und nicht wie Straßenjungen! Verstanden? Sie schlagen mich auf den Kopf, ich stoße Sie mit den Füßen – das ist Kinderspiel. Geben Sie mir einen Degen und nehmen Sie selbst einen in die Hände, damit ich Ihnen zeige, wie's drüben über dem Kanal bei uns Sitte ist!«

Die beiden hatten mich während meiner Rede in ihrer offenen, englischen Art verwundert angeschaut, und der Aeltere bemerkte jetzt: »Na, das freut mich ja, Mosje, daß Sie nicht ganz tot sind! Sah nicht so aus, wie wir Sie hereingetragen haben! Na, sehen Sie, Ihr Kopf ist immer noch nicht zu dick für die beste Faust in Bristol!«

»Waren aber auch 'n komischer Kauz,« fiel der andere ein, »kamen auf mich gestiegen gerade wie ein junger Hahn. Ich nicht faul, rechts ausgeholt – plautz, lagen Sie dort! 's war nicht meine Schuld, Mosje, ich hatte Sie gewarnt!«

»Na, lassen 's gut sein,« tröstete mich Jim, und seine Worte klangen gleich einem Glückwunsch, »'s ist und bleibt 'ne schöne Erinnerung für Sie. Können doch sagen, Sie haben die beste Faust in Bristol kennen gelernt, die bei Jim Hunter in Schule gewesen ist!«

»Ich bin an harte Püffe gewöhnt,« sagte ich stolz, indem ich die Uniform aufknöpfte und das Fußgelenk entblößte, um ihnen meine Narben zu zeigen; auch die Stelle am Auge mußten sie besichtigen, wo der Spitzbohrer des Priesters eingedrungen war.

»Meiner Seel', der kann mehr als Brei essen!« sagte der Kleine anerkennend.

»Mit dem könnte unsereiner auch Ehre einlegen!« warf der andere dazwischen, »sechs Monate Training und du solltest sehen! Schade, daß er ins Gefängnis zurück muß!«

Diese letzte Bemerkung gefiel mir gar nicht; ich knöpfte meinen Rock zu und stand vom Bett auf, indem ich sagte: »Nun möchte ich Sie bitten, mich weiter ziehen zu lassen.«

Doch der Trainer versetzte: »Kann nicht helfen, Mosje! Kommt mich hart an, so einen, wie Sie sind, wieder hinzuschicken: aber Geschäft bleibt Geschäft, und hier gilt's zwanzig Pfund Belohnung. Sie waren schon heute früh nach Ihnen da, und es wird nicht lange dauern, so kommen sie wieder.«

Da stand mir das Herz beinahe still. »Das soll doch nicht heißen, daß Sie mich verraten wollen?« rief ich aus. »Zweimal zwanzig Pfund sollen Sie haben, sobald ich in Frankreich lande, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf!«

Doch sie schüttelten nur die Köpfe. Ich bat, ich flehte, ich sprach von der englischen Gastfreundschaft, von der Kameradschaft tapferer Männer – alles umsonst! Ja, ich hätte mich ebenso gut an die beiden hölzernen Keulen wenden können, die da vor mir standen; denn auf ihren Gesichtern war auch nicht die geringste Spur von Mitleid zu lesen.

»Geschäft bleibt Geschäft,« wiederholte der Alte, »und wie könnte übrigens der da nächsten Mittwoch zu den Rennen gehen, wenn's 'rauskäme, daß er einen Kriegsgefangenen hat entwischen lassen? Nein, nein, so 'was wird nicht riskiert.«

Das war also alles, was ich mit aller Arbeit und Mühe gewonnen hatte! Ich sollte wie ein armes, dummes Schaf, das durch die Hürden gebrochen ist, wieder zurückbefördert werden! Nein, so etwas durfte nicht geschehen, so lange ich es hindern konnte! Ich hatte genug gehört, um zu wissen, was die schwache Seite dieser Leute war, und wollte ihnen nun beweisen, daß Etienne Gerard am furchtbarsten war, wenn ihn alle Hoffnung zu verlassen schien. Mit einem einzigen Satze war ich bei den Keulen, riß eine an mich und schwang sie drohend über dem Haupte des kleinen Herkules.

»So tun Sie, was Sie nicht lassen können,« rief ich, »aber ich will Ihnen wenigstens für Mittwoch das Spiel verderben.«

Der Bursche stieß einen Fluch aus und machte Miene, sich auf mich zu stürzen; aber sein Lehrer umschlang ihn mit den Armen und drückte ihn auf einen Stuhl nieder, indem er mit lauter Stimme schrie:

»Nichts da! Ich will dich wohl lehren, Junge!« Und zu mir gewendet: »Laufen Sie, laufen Sie, Franzoschen! Zeigen Sie den Rücken! Schnell, schnell, sonst kommt er los!«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und rannte zur Türe hinaus. Aber kaum fühlte ich die frische Luft an meiner Stirne, so überfiel mich ein Schwindel, ich mußte mich anlehnen, um nicht zu fallen. Was hatte ich aber alles auch durchgemacht! War es denn ein Wunder, daß sogar ich, nach den Entbehrungen und Anstrengungen der letzten Tage an den Grenzen meiner Kraft angelangt war?

Da stand ich nun mit meinem schweren Rock und dem zerstoßenen Tschako, der Kopf war mir vornüber gesunken, die Augen fielen mir zu. Ich hatte getan, was ich konnte. Nun ging es nicht mehr. – Endlich ließ mich das Geräusch von Pferdehufen aufschauen, und da gewahrte ich den graubärtigen Gouverneur von Dartmoor, der mit sechs berittenen Soldaten keine zehn Schritte von mir hielt!

»So, so, Oberst,« sagte er bitter lächelnd, »da hätten wir Sie ja wieder.«

Wenn der tapfere Soldat sein möglichstes getan hat und ist dennoch unterlegen, dann ist die Art und Weise, wie er sich ergibt, der Gradmesser seiner Bildung, und ich, ich zog den Brief, den ich in der Tasche hatte, hervor, tat einige Schritte vorwärts und überreichte ihn dem Gouverneur mit vollendetem Anstand.

»Ich bedauere, mein Herr, daß ich genötigt war, einen Ihrer Briefe aufzuhalten.«

Er sah verwundert auf mich nieder und winkte den Soldaten, mich festzunehmen. Dann erbrach er das Siegel, und sein Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an.

»Das muß der Brief sein, den Sir Charles Meredith verloren hat,« bemerkte er.

»Er befand sich in der Tasche seines Rockes.«

»Sie haben ihn zwei Tage mit sich herumgetragen?«

»Seit vorgestern abend.«

»Und nicht gelesen?«

Ich erwiderte nichts, ließ ihn aber deutlich fühlen, daß er eine Frage getan hatte, die ein Gentleman dem andern nicht vorlegt.

Zu meiner Ueberraschung brach er in ein schallendes Gelächter aus, und es bedurfte geraumer Zeit, ehe er sich wieder fassen konnte. Endlich wischte er sich die Tränen aus den Augen und sagte: »Nun, Oberst, Sie haben uns und sich selbst viel unnötige Mühe gemacht. Erlauben Sie mir, Ihnen den Brief vorzulesen, den Sie auf Ihrer Flucht herumgetragen haben.«

Es wird Ihnen hierdurch bekannt gegeben, daß der Oberst Etienne Gerard von den dritten Husaren gegen den Oberst Mason von der Artillerie ausgewechselt worden und somit freizulassen ist.

Und jetzt fing er von neuem an zu lachen, und die Soldaten lachten, die beiden Männer aus der Hütte lachten – und ich? Nun, als ich diese allgemeine Heiterkeit vernahm, und alle meine Hoffnungen und Befürchtungen, meine Beschwerden und Gefahren nochmals vor mein Auge traten, was konnte ich da anders tun, als mich an die Mauer lehnen und herzlicher als alle lachen?

Und hatte ich etwa nicht den besten Grund dazu? Sah ich nicht vor mir mein liebes Frankreich, meine Mutter, den Kaiser, meine Husaren? Hinter mir aber das düstere Gefängnis und die schwere Hand des englischen Königs?


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