Fjodr Michailowitsch Dostojewski
Aufzeichnungen aus einem toten Hause
Fjodr Michailowitsch Dostojewski

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VII

Die Beschwerde

Der Herausgeber der Aufzeichnungen des verstorbenen Alexander Petrowitsch Gorjantschikow hält es für seine Pflicht, zu Beginn dieses Kapitels seinen Lesern folgendes mitzuteilen:

Im ersten Kapitel der »Aufzeichnungen aus dem toten Hause« sind einige Worte über einen Adligen, der einen Vatermord begangen hatte, gesagt. Unter anderem wurde er als ein Beispiel für die Gefühllosigkeit hingestellt, mit der manche Arrestanten von ihren Verbrechen sprechen. Es hieß darin ferner, daß der Mörder sein Verbrechen vor Gericht nicht eingestanden habe, daß aber die Tatsachen nach den Aussagen der Menschen, die alle Einzelheiten seiner Geschichte kannten, dermaßen klar gewesen seien, daß es unmöglich gewesen sei, an das Verbrechen nicht zu glauben. Diese selben Menschen erzählten dem Verfasser der »Aufzeichnungen«, daß der Verbrecher früher einen höchst liederlichen Lebenswandel geführt hätte, tief in Schulden steckte und seinen Vater aus Gier nach der Erbschaft ermordet habe. Übrigens wurde diese Geschichte von allen Bewohnern der Stadt, in der dieser Vatermörder einst gedient hatte, vollkommen gleichlautend erzählt. Über diese letztere Tatsache besitzt der Herausgeber der »Aufzeichnungen« recht zuverlässige Nachrichten. Schließlich heißt es in den »Aufzeichnungen,« daß der Mörder sich im Zuchthause ständig in der besten und heitersten Gemütsverfassung befunden habe; daß er ein überspannter, leichtsinniger und im höchsten Grade unsolider Mensch, aber durchaus kein Dummkopf gewesen sei, und daß der Verfasser der »Aufzeichnungen« an ihm niemals irgendeine besondere Grausamkeit wahrgenommen habe. Gleich dabei standen die Worte: »natürlich glaubte ich an dieses Verbrechen nicht«.

Dieser Tage erhielt der Herausgeber der »Aufzeichnungen aus dem toten Hause« die Nachricht aus Sibirien, daß der Verbrecher tatsächlich unschuldig war und unverdienterweise zehn Jahre in der Zwangsarbeit geschmachtet hatte; daß seine Unschuld offiziell vom Gericht anerkannt worden ist; daß die wirklichen Verbrecher sich gefunden und alles gestanden haben und daß der Unglückliche bereits aus dem Zuchthause befreit worden ist. Der Herausgeber kann an der Richtigkeit dieser Nachricht unmöglich zweifeln . . .

Es ist dem nichts mehr hinzuzufügen. Es hat keinen Zweck, sich über die ganze tiefe Tragik dieses Falles und über das in einem so jugendlichen Alter unter einer so furchtbaren Anklage zugrunde gerichtete Leben zu verbreiten. Die Tatsache ist allzu verständlich und schon an sich allzu erschütternd.

Wir glauben auch, daß schon die bloße Möglichkeit einer solchen Tatsache einen neuen und außerordentlich grellen Zug zur Charakteristik und zur Vervollständigung des Bildes des toten Hauses beiträgt.

Indessen fahren wir aber fort.


Ich sagte schon früher, daß ich mich endlich in meine Lage im Zuchthause hineingefunden hatte. Aber dieses »endlich« geschah sehr langsam und qualvoll und gar zu allmählich. Eigentlich brauchte ich dazu fast ein ganzes Jahr, und dieses Jahr war das schwerste Jahr meines ganzen Lebens. Darum blieb es auch als etwas Ganzes in meinem Gedächtnisse erhalten. Mir scheint, daß ich mich auf jede Stunde dieses Jahres der Reihe nach besinnen kann. Ich sagte ferner, daß auch die andern Arrestanten sich an dieses Leben niemals wirklich gewöhnen konnten. Ich erinnere mich noch, wie ich mich in diesem ersten Jahre oft fragte: »Und wie steht es mit ihnen? Sind sie denn ruhig?« Solche Fragen beschäftigten mich sehr. Ich erwähnte schon, daß alle diese Arrestanten hier nicht wie bei sich zu Hause, sondern wie in einer Herberge, auf einem Marsche, auf einer Etappe gelebt hatten. Selbst die auf Lebenszeit verschickten Menschen waren unruhig oder voller Sehnsucht, und ein jeder von ihnen gab sich zweifellos Träumereien über etwas fast Unmögliches hin. Diese ewige Unruhe, die sich zwar stumm, aber sichtbar äußerte, diese seltsame Hitzigkeit und die Ungeduld, mit der manche Hoffnung unwillkürlich ausgesprochen wurde, eine Hoffnung, die zuweilen dermaßen grundlos war, daß sie eher einem Fieberwahne glich, und die manchmal, was gerade das Seltsamste war, auch in den anscheinend praktischsten Köpfen lebte, – dies alles verlieh diesem Orte einen ungewöhnlichen Anstrich und Charakter, und diese Züge bildeten vielleicht seine charakteristischste Eigentümlichkeit. Man fühlte irgendwie auf den ersten Blick, daß es außerhalb des Zuchthauses nichts Ähnliches gab. Hier waren alle Menschen Träumer, und das fiel sofort auf. Man erkannte es mit einem gewissen Schmerz, und zwar gerade daran, daß diese Verträumtheit den meisten Zuchthausbewohnern ein eigentümliches mürrisches, düsteres, ungesundes Aussehen verlieh. Die überwiegende Mehrheit war schweigsam und boshaft bis zum Haß und liebte es nicht, ihre Hoffnungen zu äußern. Offenherzigkeit und Aufrichtigkeit wurden stets verachtet. Je unerfüllbarer die Hoffnungen waren und je mehr der Träumer selbst von ihrer Unerfüllbarkeit überzeugt war, um so hartnäckiger und schamhafter trug er sie in seinem Innern, konnte aber auf sie niemals verzichten. Wer weiß, vielleicht schämte sich mancher in seinem Innern dieser Hoffnungen. Im russischen Charakter liegt ja so viel Nüchternes und Positives, so viel Spott über sich selbst . . . Vielleicht beruhten gerade auf dieser fortwährenden heimlichen Unzufriedenheit mit sich selbst diese ungewöhnliche Unduldsamkeit dieser Leute in ihren täglichen Beziehungen, diese Unversöhnlichkeit und diese Vorliebe, über einander zu spotten. Und wenn manchmal einer von ihnen, der naiver als die anderen war, es wagte, laut auszusprechen, was sich alle anderen bloß dachten, und sich über die Hoffnungen und Träumereien zu ergehen, so wurde er von den anderen sofort auf eine rohe Weise zurechtgewiesen, unterbrochen und ausgelacht; aber ich glaube, daß dabei gerade diejenigen die Unduldsamsten waren, die in ihren Träumereien und Hoffnungen noch weiter gingen als er. Die Naiven und Einfältigen wurden bei uns überhaupt, wie ich schon sagte, als die größten Dummköpfe angesehen und mit der tiefsten Verachtung behandelt. Ein jeder war so düster und egoistisch, daß er einen jeden gutmütigen und nicht egoistischen Menschen verachtete. Alle, außer diesen naiven und einfältigen Schwätzern, d. h. die Schweigsamen zerfielen in zwei scharf getrennte Kategorien: in Gutmütige und Böse, in Düstere und Heitere. Von den Düsteren und Bösen gab es unvergleichlich mehr; wenn es unter diesen auch solche gab, die ihrer Natur nach gesprächig waren, so waren sie alle unbedingt unruhige Klatschbasen und Neidhammel. Sie kümmerten sich um alle fremden Angelegenheiten, obwohl sie ihre eigene Seele, ihre eigenen heimlichen Angelegenheiten vor niemand enthüllten. Das war nicht Mode und nicht Sitte. Die Gutmütigen – eine sehr kleine Gruppe – waren still, trugen ihre Hoffnungen stumm in sich und waren natürlich mehr als die Düsteren geneigt, an sie zu glauben. Mir scheint übrigens, daß es im Zuchthause auch noch eine Kategorie der vollständig Verzweifelten gab. Zu diesen zähle ich z. B. den Alten aus den Siedlungen von Starodub; jedenfalls gab es ihrer sehr wenig. Der Alte war äußerlich ruhig (ich sprach schon von ihm), aber ich schließe aus verschiedenen Anzeichen, daß sein Seelenzustand ein entsetzlicher war. Übrigens hatte er ja seine Rettung und seinen Ausweg: das Gebet und die Idee des Märtyrertums. Der verrückte Arrestant, den ich auch schon erwähnt habe, der sich an der Bibel überlesen und sich mit einem Ziegelstein gegen den Major gestürzt hatte, gehörte wohl auch zu den Verzweifelten, zu denen, die von der allerletzten Hoffnung verlassen waren; da man aber ohne jede Hoffnung unmöglich leben kann, so ersann er sich einen Ausweg in dem freiwilligen, fast künstlichen Martyrertum. Er erklärte auch, er hätte sich gegen den Major nicht aus Bosheit gestürzt, sondern einzig vom Wunsche beseelt, Leiden auf sich zu nehmen. Wer weiß, was für ein psychologischer Prozeß sich damals in seiner Seele abspielte! Ohne ein Ziel und ohne ein Streben lebt kein einziger lebender Mensch. Wenn der Mensch jedes Ziel und jede Hoffnung verloren hat, so verwandelt er sich häufig vor Gram in ein Ungeheuer . . . Wir alle hatten das eine Ziel: frei zu werden und aus dem Zuchthause herauszukommen.

Übrigens versuchte ich soeben, die ganze Bevölkerung unseres Zuchthauses in Kategorien zu teilen; ist das aber möglich? Die Wirklichkeit ist von einer unendlichen Mannigfaltigkeit im Vergleich mit allen, selbst den kompliziertesten Schlüssen des abstrakten Denkens und leidet keine scharfen und groben Einteilungen. Die Wirklichkeit strebt nach Zersplitterung in einzelne Individuen. Wir hatten ja auch ein eigenes Leben. Mochte unser Leben sein, wie es wollte, aber es war ein nicht bloß offizielles, sondern inneres, persönliches Leben.

Aber, wie ich zum Teil schon erwähnte, konnte ich am Anfang meines Zuchthausaufenthaltes in die innere Tiefe dieses Lebens nicht eindringen; mir fehlte noch die Fähigkeit dazu, und darum quälten mich alle äußeren Erscheinungen dieses Lebens in einer unbeschreiblichen Weise. Zuweilen haßte ich einfach diese Menschen, die dasselbe litten wie ich. Ich beneidete sie darum, daß sie wenigstens unter sich in einem gewissen kameradschaftlichen Verhältnisse lebten und einander verstanden, obwohl ihnen allen im Grunde genommen diese Kameradschaft unter der Knute und dem Stock, dieses erzwungene Zusammenleben ebenso wie mir widerlich geworden war und ein jeder von ihnen nach der Seite schielte. Ich wiederhole, daß dieser Neid, der mich in Augenblicken der Erbosung überkam, wohl seine Berechtigung hatte. Entschieden unrecht haben diejenigen, die da behaupten, daß ein Adliger, Gebildeter usw. es in unseren Strafanstalten und Zuchthäusern ebenso schwer habe wie jeder Bauer. Ich habe diese Behauptung gehört und in der letzten Zeit auch gelesen. Der tiefste Grund dieser Idee ist wohl richtig und human. Wir sind eben alle Menschen. Doch die Idee selbst ist allzu abstrakt. Es sind dabei sehr viele praktische Umstände außer acht gelassen worden, die man nur in der Praxis wirklich begreifen kann. Ich sage es nicht, weil der Adlige und Gebildete alles etwa feiner und schmerzhafter empfänden, weil ihre Gefühle vollkommener ausgebildet seien. Die Seele und ihre Entwicklung lassen sich schwer unter irgendein Maß bringen. Selbst die Bildung ist in diesem Falle kein Maßstab. Ich will als der erste bezeugen, daß ich selbst unter den ungebildetsten und niedergedrücktesten Menschen, unter diesen Duldern Züge der feinsten seelischen Entwicklung getroffen habe. Im Zuchthause kam es häufig vor, daß man einen Menschen mehrere Jahre hintereinander kannte und für keinen Menschen, sondern für ein Tier hielt und verachtete. Plötzlich kam aber zufällig ein Augenblick, wo seine Seele sich unwillkürlich auftat und man in ihr einen solchen Reichtum, ein so großes und herzliches Gefühl, eine so klare Vorstellung von seinem eigenen und auch von fremdem Leide erblickte, daß es einem förmlich wie Schuppen von den Augen fiel, und man im ersten Augenblick gar nicht glauben wollte, was man selbst sah und hörte. Es gibt auch entgegengesetzte Erscheinungen: Bildung paart sich zuweilen mit solcher Barbarei, mit solchem Zynismus, daß man einen Ekel davor empfindet und, selbst wenn man noch so gutmütig und für den Betreffenden eingenommen ist, in seiner Seele keinerlei Entschuldigung oder Rechtfertigung für ihn findet.

Ich sage auch nichts von der Veränderung der Gewohnheiten, der Lebensweise, der Kost usw., was für einen Menschen aus den höheren Gesellschaftsschichten natürlich schwerer ist, als für einen Bauern, der in der Freiheit oft gehungert hat und sich im Zuchthause wenigstens satt essen kann. Ich will auch darüber nicht streiten. Nehmen wir an, daß es für einen einigermaßen willensstarken Menschen immer noch eine Bagatelle ist im Vergleich mit den anderen Unannehmlichkeiten, obwohl die Veränderung der gewohnten Lebensweise eigentlich durchaus keine Kleinigkeit ist. Aber es gibt Unannehmlichkeiten, vor denen dies alles dermaßen verblaßt, daß man weder auf den Schmutz, noch auf den Druck, noch auf die magere, unappetitliche Kost achtet. Der verwöhnteste und verzärtelteste Faulenzer wird, nachdem er im Schweiße seines Angesichts so gearbeitet hat, wie er es früher in der Freiheit niemals tat, auch grobes Schwarzbrot und Kohlsuppe mit Schaben essen. Daran kann man sich gewöhnen, wie es auch in dem humoristischen Arrestantenliede vom einstigen verzärtelten Nichtstuer, der ins Zuchthaus geraten ist. heißt:

Gibt man mir Kohl mit kaltem Wasser,
So freß ich, daß die Backe kracht.

Nein, viel wichtiger als dieses alles ist, daß jeder andere Neuankömmling schon zwei Stunden nach seiner Ankunft im Zuchthause zum gleichen Arrestanten wird, wie es die anderen sind, gleichsam bei sich zu Hause ist und ein gleichberechtigtes Mitglied der Arrestantengenossenschaft wird. Er versteht alle, und alle verstehen ihn; alle kennen ihn und halten ihn für den ihrigen. Ganz anders ist es mit dem Vornehmen, mit dem Adligen. Mag er noch so gerecht, gütig und klug sein, die ganze Masse wird ihn dennoch jahrelang hassen und verachten; man wird ihn nicht verstehen und ihm, vor allem, nicht glauben. Er ist kein Freund und kein Kamerad der andern, und selbst wenn er es mit den Jahren endlich erreicht, daß man ihn zu verfolgen aufhört, so wird er ihnen dennoch ewig ein Fremder bleiben und ewig schmerzvoll seine Isolierung und Einsamkeit empfinden. Diese Isolierung geschieht zuweilen ohne jede Gehässigkeit seitens der Arrestanten, sondern irgendwie unbewußt. Man hat es eben mit einem fremden Menschen zu tun und fertig. Es gibt nichts Schrecklicheres, als in einer solchen Umgebung zu leben, in die man nicht hineinpaßt. Ein Bauer, der von Taganrog am Asowschen Meer nach Petropawlowsk auf der Kamtschatka übersiedelt wird, findet dort sofort einen gleichen russischen Bauern, mit dem er sich sofort verständigt und mit dem er vielleicht schon nach zwei Stunden auf die friedlichste Weise im gleichen Zelt oder Haus leben wird. Anders verhält es sich mit den Adligen. Sie sind vom gemeinen Volk durch eine tiefe Kluft getrennt, und das fühlt man erst dann im vollen Umfange, wenn der »Adlige« plötzlich durch die Gewalt äußerer Umstände seine früheren Vorrechte verliert und sich in gemeines Volk verwandelt. Sonst kann man sein ganzes Leben lang mit dem Volke verkehren, man kann mit ihm vierzig Jahre lang täglich zusammenkommen, z. B. dienstlich, in den konventionellen amtlichen Formen, oder sogar einfach freundschaftlich als Wohltäter oder gewissermaßen als Vater, und dabei die Wirklichkeit doch nicht erfahren. Alles wird nur eine optische Täuschung sein und sonst nichts. Ich weiß ja, daß alle, absolut alle, beim Lesen dieser Bemerkung sagen werden, daß ich übertreibe. Aber ich bin überzeugt, daß meine Bemerkung richtig ist. Ich habe diese Überzeugung nicht aus Büchern, nicht aus Spekulationen, sondern aus der Wirklichkeit geschöpft und habe genügend Zeit gehabt, um meine Überzeugungen nachzuprüfen. Vielleicht werden später einmal alle erfahren, wie richtig meine Anschauung ist.

Die Ereignisse bestätigten zufällig gleich vom ersten Schritt an meine Wahrnehmungen und wirkten auf mich krankhaft und enervierend. In diesem ersten Sommer trieb ich mich im Zuchthause fast immer mutterseelenallein herum. Ich sagte schon, daß ich mich in einer solchen Gemütsverfassung befand, daß ich selbst diejenigen Zuchthäusler nicht unterscheiden und schätzen konnte, die später imstande waren, mich zu lieben, obwohl sie sich doch niemals wie meinesgleichen gaben. Ich hatte auch unter den Adligen Kameraden, aber diese Kameradschaft vermochte von meiner Seele nicht die Last zu nehmen. Am liebsten hätte ich überhaupt nichts von meiner Umgebung gesehen, aber ich konnte sie doch nicht fliehen. Da ist z. B. einer der Fälle, die mir sofort meine besondere und isolierte Lage im Zuchthause zu fühlen gaben. An einem heiteren und heißen Wochentage, es war schon im August, gegen ein Uhr nachmittags, als sonst alle vor der Nachmittagsarbeit auszuruhen pflegten, erhoben sich plötzlich alle Zuchthausinsassen wie ein Mann und begannen sich im Hofe aufzustellen. Ich hatte bis zu diesem Augenblicke noch nichts gewußt. Um jene Zeit war ich zuweilen so sehr in meine eigenen Gedanken vertieft, daß ich fast nichts davon merkte, was um mich herum vorging. Das ganze Zuchthaus befand sich aber schon seit drei Tagen in einer dumpfen Aufregung. Vielleicht hatte diese Erregung sogar schon viel früher angefangen, wie ich später vermutete, als ich mich mancher Gespräche der Arrestanten erinnerte und zugleich der gesteigerten Zanksucht, Verbissenheit und der besonderen Gereiztheit, die sie in der letzten Zeit gezeigt hatten. Ich schrieb das der schweren Arbeit zu, den langen, langweiligen Sommertagen, den unwillkürlichen Träumereien von Wäldern und Freiheit und den kurzen Nächten, in denen es schwer war, ordentlich auszuschlafen. Vielleicht hatte sich dies alles zu einer einzigen Explosion angesammelt, aber der unmittelbare Anlaß zu dieser Explosion war die Kost. Die Arrestanten beklagten und entrüsteten sich schon seit mehreren Tagen in den Kasernen und besonders, wenn sie sich in der Küche beim Mittagessen oder Abendbrot trafen; sie waren unzufrieden mit den »Köchinnen«, versuchten sogar eine von ihnen abzusetzen, jagten aber die neue fort und stellten wieder die alte an. Mit einem Worte, alle befanden sich in einer unruhigen Gemütsverfassung.

»Die Arbeit ist so schwer, aber sie füttern uns mit Därmen,« brummte einer von den Arrestanten in der Küche.

»Wenn's dir nicht gefällt, so bestell dir einen blanc-manger,« fiel ihm ein anderer ins Wort.

»Kohlsuppe mit Därmen eß ich sehr gern, Brüder,« bemerkt ein Dritter, »denn sie schmeckt sehr gut.«

»Wenn man dich aber ewig mit Därmen füttert, wird dir das ebensogut schmecken?«

»Jetzt ist natürlich die richtige Zeit zum Fleischessen,« sagt ein Vierter: »Wir mühen uns auf der Ziegelei furchtbar ab, und nach der Arbeit hat man ordentlich Hunger. Aber Därme – was ist das für ein Essen!«

»Und wenn es keine Därme gibt, so gibt es Lunge.«

»Ja, auch noch Lunge. Därme und Lunge, – das ist alles, was sie uns geben. Was ist das für ein Essen! Ist das gerecht?«

»Gewiß, die Kost ist schlecht.«

»Er füllt sich wohl die Tasche.«

»Das geht doch dich nichts an.«

»Wen geht es denn an? Es handelt sich doch um meinen Magen. Wenn wir alle gemeinsam eine Beschwerde vorbringen, so wird es schon helfen.«

»Eine Beschwerde?«

»Ja.«

»Man hat dich wohl wegen solcher Beschwerden wenig geprügelt, du Klotz!«

»Es stimmt,« wendet brummig ein anderer ein, der bisher geschwiegen hat; »das mit der Beschwerde ist schnell gemacht, führt aber zu nichts. Was wirst du denn bei der Beschwerde sagen, das überleg dir mal, du kluger Kopf!«

»Ich werde schon was sagen. Wenn alle hingehen, so spreche ich mit den andern. Ich meine die Armut. Der eine hat bei uns sein eigenes Essen, der andere aber nichts als Kommiß.«

»Du scheeläugiger Neidhammel! Wie dir die Augen nach fremdem Gut brennen!«

»Sei nicht neidisch, sondern sieh zu, daß du dir selbst was schaffst.«

»Jawohl, da kann man viel schaffen! Ich werde mit dir darüber streiten, bis ich grau werde. Du bist wohl reich, wenn du nicht mittun willst?«

»Reich ist der Gevatter: hat einen Hund und einen Kater.«

»Warum sollen wir es wirklich noch länger dulden, Brüder! Das heißt ja ihre Mißbräuche begünstigen. Sie schinden uns die Haut. Warum sollen wir uns nicht wehren?«

»Warum? Man muß dir wohl alles vorkauen und in den Mund legen: bist gewohnt, Vorgekautes zu fressen. Wir sind eben im Zuchthause, darum!«

»Wißt ihr, was dabei herauskommt? Gott bringt unter das Volk Uneinigkeit, damit die Vorgesetzten fett werden.«

»Das stimmt. Der Achtäugige ist zu dick geworden. Hat sich ein Paar Graue angeschafft.«

»Auch trinkt er gern über den Durst.«

»Neulich hat er sich mit dem Veterinär beim Kartenspiel geprügelt. Die ganze Nacht hatten sie gespielt. Der Unsrige hat zwei Stunden lang die Fäuste des Veterinärs kosten müssen, Fedjka hat es mir erzählt.«

»Darum kriegen wir auch Kohlsuppe mit Lunge.«

»Ach, ihr Dummköpfe! Unsere Stellung ist nicht so, daß wir uns eine Beschwerde erlauben dürften.«

»Wenn wir aber alle kommen, so wirst du schon sehen, wie er sich rechtfertigen wird. Darauf müssen wir bestehen.«

»Ja, rechtfertigen! Er haut dich einfach in die Fresse und geht wieder weg.«

»Außerdem kommt man vors Gericht . . .«

Mit einem Worte, alle waren in Aufregung. Um jene Zeit hatten wir tatsächlich schlechte Kost. Es kam überhaupt eines zum andern. Vor allem war es aber die trübe Stimmung, die ständige, heimliche Qual. Der Zuchthäusler ist schon von Natur streitsüchtig und aufrührerisch; aber es kommt doch selten vor, daß sich alle zusammen oder wenigstens in großer Menge auflehnen. Der Grund dafür ist die ewige Uneinigkeit. Dieses fühlte auch ein jeder von ihnen selbst: darum wurde bei uns auch mehr geschimpft als gehandelt. Diesmal blieb aber die allgemeine Aufregung nicht ohne Folgen. Man fing an, sich in kleinen Gruppen zu versammeln, in den Kasernen zu diskutieren, zu schimpfen und das ganze Regiment unseres Majors gehässig zu kritisieren; man erinnerte sich jeder Kleinigkeit. Einige regten sich ganz besonders auf. Bei jeder ähnlichen Gelegenheit treten immer Anstifter und Rädelsführer auf. Diejenigen, die in solchen Fällen, d. h. bei Beschwerden, die Führer spielen, sind überhaupt sehr merkwürdige Menschen, und zwar nicht im Zuchthaus allein, sondern in allen Genossenschaften, Kommandos usw. Das ist ein besonderer Typus, der überall gleich ist. Es sind hitzige Menschen, die nach Gerechtigkeit lechzen und auf die naivste und ehrlichste Weise von der Möglichkeit und sogar Unausbleiblichkeit derselben überzeugt sind. Diese Leute sind nicht dümmer als die andern, unter ihnen gibt es sogar sehr kluge, aber sie sind allzu hitzig, um schlau zu sein und die Folgen zu berechnen. Wenn in solchen Fällen zuweilen auch wirklich Menschen auftreten, die es verstehen, die große Masse geschickt zu lenken und das Spiel zu gewinnen, so stellen diese einen ganz anderen Typus von geborenen Volksführern dar, einen Typus, der bei uns äußerst selten vorkommt. Aber die Anstifter und Urheber von Beschwerden, von denen ich jetzt spreche, verlieren fast immer das Spiel und kommen dann deswegen in die Gefängnisse und Zuchthäuser. Sie verlieren das Spiel durch ihre Hitzigkeit, aber dieselbe Hitzigkeit ist der Grund ihres Einflusses auf die Masse. Man folgt ihnen gern. Ihr Feuer und ihre aufrichtige Empörung wirken auf alle, und zuletzt schließen sich ihnen selbst die Unentschlossensten an. Ihr blinder Glaube an den Erfolg verführt sogar die eingefleischtesten Skeptiker, obwohl er zuweilen so kindlich unsichere Grundlagen hat, daß man sich wundern muß, wie sie überhaupt jemand haben mitreißen können. Das wichtigste aber ist, daß sie allen vorangehen und nichts fürchten. Sie stürzen sich wie die Stiere mit gesenkten Hörnern vor, oft ohne jede Kenntnis des Sachverhalts, ohne jede Vorsicht, ohne den praktischen Jesuitismus, der oft sogar dem gemeinsten und schmutzigsten Menschen hilft, eine Sache zu gewinnen, sein Ziel zu erreichen und trocken aus dem Wasser herauszukommen. Diese aber zerbrechen sich immer die Hörner. Im normalen Leben sind sie gallig, empfindlich, reizbar und unduldsam; in den meisten Fällen furchtbar beschränkt, worin übrigens zum Teil ihre Stärke liegt. Das Ärgerlichste an ihnen aber ist, daß sie, statt gerade auf das Ziel loszusteuern, von diesem abschweifen und sich verzetteln. Das richtet sie eben zugrunde. Doch die große Masse versteht sie sehr gut, und darauf beruht ihre Gewalt . . . übrigens muß ich noch ein paar Worte darüber sagen, was eigentlich eine »Beschwerde« ist . . .


Bei uns befanden sich mehrere Leute, die wegen Beschwerden ins Zuchthaus geraten waren. Diese regten sich jetzt auch am meisten auf. Besonders einer von ihnen, der ehemalige Husar Martynow, ein hitziger, unruhiger und argwöhnischer, dabei aber anständiger und wahrheitsliebender Mensch. Der andere war Wassilij Antonow, in dem sich Kaltblütigkeit und Gereiztheit paarten, ein Kerl mit einem frechen Blick und einem hochmütigen sarkastischen Lächeln, geistig hochentwickelt, übrigens gleichfalls anständig und wahrheitsliebend. Alle kann ich übrigens gar nicht aufzählen; es gab ihrer gar zu viele. Unter anderm rannte Petrow immer hin und her, hörte überall zu, sprach wenig, befand sich aber in sichtlicher Aufregung und sprang als erster aus der Kaserne heraus, als man sich im Hofe aufstellte.

Unser Zuchthausunteroffizier, der bei uns das Amt eines Feldwebels versah, erschien sofort, aufs höchste erschrocken. Nachdem sich die Zuchthäusler aufgestellt hatten, baten sie ihn höflich, dem Major zu sagen, daß das Zuchthaus mit ihm zu sprechen wünsche und eine Bitte wegen einiger Punkte vorbringen möchte. Gleich nach dem Unteroffizier kamen auch alle Invaliden heraus und stellten sich auf der anderen Seite, den Arrestanten gegenüber, auf. Der Auftrag, der dem Unteroffizier erteilt worden war, war ein ganz außerordentlicher und versetzte ihn in Schrecken. Er wagte aber nicht, es nicht sofort dem Major zu melden. Erstens, wenn das Zuchthaus sich schon einmal erhoben hat, so kann daraus immer noch etwas Schlimmeres werden. Die ganze Obrigkeit war den Arrestanten gegenüber ungewöhnlich feige. Zweitens, selbst wenn daraus nichts geworden wäre und alle sich sofort besonnen und zurückgezogen hätten, so müßte der Unteroffizier auch in diesem Falle alles der Obrigkeit melden. Blaß und vor Angst zitternd begab er sich eilig zum Major, ohne sogar einen Versuch zu unternehmen, die Arrestanten selbst zu befragen und zu ermahnen. Er sah, daß sie jetzt mit ihm gar nicht reden würden.

Ich hatte keine Ahnung davon, was los war, und trat gleichfalls in den Hof, um mich mit den andern aufzustellen. Alle Einzelheiten der Sache erfuhr ich erst später. Jetzt dachte ich bloß, daß irgendeine Kontrolle vorgenommen werde; als ich aber die Wachsoldaten vermißte, die die Kontrolle vorzunehmen pflegten, wunderte ich mich und begann mich umzusehen. Die Gesichter waren erregt und gereizt. Manche waren sogar blaß. Alle waren besorgt und schweigsam in Erwartung des Augenblicks, wo sie mit dem Major sprechen würden. Ich merkte, daß viele mich außerordentlich erstaunt ansahen und sich dann schweigend von mir wegwandten. Es kam ihnen offenbar seltsam vor, daß ich mich mit ihnen aufstellte. Sie glaubten offenbar nicht, daß auch ich mich an der Beschwerde beteiligen würde. Bald wandten sich aber alle, die um mich herum standen, wieder nach mir um. Alle blickten mich fragend an.

»Was suchst du hier?« fragte mich grob und laut Wassilij Antonow, der in einiger Entfernung von mir stand. Sonst pflegte er mir immer »Sie« zu sagen und mit mir höflich zu sprechen.

Ich sah ihn erstaunt an und gab mir noch immer Mühe, zu begreifen, was eigentlich los war. Ich ahnte schon, daß etwas Ungewöhnliches vor sich ging.

»Nein, wirklich, was sollst du hier herumstehen? Geh doch in die Kaserne,« sagte mir ein junger Bursche aus der Militärabteilung, mit dem ich bis dahin noch nie gesprochen hatte, ein gutmütiger und stiller Bursche. »Es ist nichts für dich.«

»Man stellt sich doch auf,« antwortete ich ihm, »ich glaubte, es sei eine Kontrolle.«

»Mußt auch dabei sein!« rief einer.

»Eiserner Schnabel!« fügte ein anderer hinzu.

»Fliegenmörder!« versetzte ein dritter mit unsagbarer Verachtung. Dieser neue Spitzname rief allgemeines Gelächter hervor.

»Der ist aus Gnade in der Küche angestellt,« fügte noch ein anderer hinzu.

»Für sie ist überall ein Paradies. Hier im Zuchthause essen sie Semmeln und kaufen sich Ferkel. Du ißt doch deine eigene Kost, was hast du dann hier zu suchen?«

»Hier ist kein Platz für Sie,« sagte Kulikow, mit einer ungenierten Miene auf mich zugehend; er faßte mich an der Hand und führte mich aus den Reihen hinaus.

Er selbst war blaß, seine schwarzen Augen funkelten, und er biß sich in die Unterlippe. Er erwartete den Major nicht so kaltblütig. Ich mochte es übrigens sehr gern, Kulikow in allen ähnlichen Fällen, d. h. wenn er sich hervortun wollte, zu beobachten. Er spielte Theater, handelte dabei aber auch wirklich. Ich glaube, daß er selbst zum Schafott mit einer gewissen Eleganz gegangen wäre. Jetzt, wo alle zu mir »du« sagten und auf mich schimpften, verdoppelte er sichtlich seine Höflichkeit gegen mich, zugleich waren aber seine Worte besonders energisch und sogar hochmütig und ließen keinen Widerspruch zu.

»Es sind unsere eigenen Angelegenheiten, Alexander Petrowitsch, und Sie haben hier nichts zu suchen. Gehen Sie doch irgendwo hin und warten Sie ab . . . Alle ihre Kameraden sind doch in der Küche, gehen Sie auch hin.«

»Zu des Teufels Großmutter!« fiel ihm jemand ins Wort.

Durch das offene Küchenfenster erblickte ich wirklich unsere Polen; es kam mir übrigens vor, als wäre dort auch außer ihnen eine Menge Leute. Gelächter, Schimpfworte und Schnalzen mit der Zunge (das bei den Zuchthäuslern das Pfeifen ersetzt) klangen hinter mir her.

»Es hat ihm hier nicht gefallen! . . . Faß ihn . . .«

Ich war im Zuchthause noch nie so schwer gekränkt worden, und es tat mir sehr weh. Aber ich hatte eben einen solchen Augenblick getroffen. Im Küchenvorraum traf ich T–wski, einen Adligen, einen energischen und edlen jungen Mann, ohne besondere Bildung, der an B. mit außerordentlicher Liebe hing. Die Zuchthäusler zeichneten ihn vor allen anderen aus und liebten ihn sogar auf ihre Weise. Er war tapfer, kühn und stark, und das äußerte sich in jeder seiner Gesten.

»Was ist mit Ihnen, Gorjantschikow,« rief er mir zu, »kommen Sie doch her!«

»Was ist denn dort los?«

»Die Leute bringen eine Beschwerde vor, wissen Sie es denn nicht? Es wird ihnen natürlich nicht gelingen: wer wird den Zuchthäuslern glauben? Man wird nach den Anstiftern suchen, und wenn wir dabei sind, wird man uns natürlich zu allererst der Meuterei anklagen. Vergessen Sie doch nicht, weswegen wir hergekommen sind. Die andern kommen einfach mit einer Rutenstrafe davon, uns stellt man aber vors Gericht. Der Major haßt uns alle und ist froh, uns zugrunde zu richten. Wir würden für ihn die beste Rechtfertigung bedeuten.«

»Auch die Zuchthäusler werden uns sofort ausliefern,« fügte M–cki hinzu, als wir in die Küche traten.

»Haben Sie keine Sorge: die werden mit uns kein Mitleid haben!« fiel ihm T–wski ins Wort.

In der Küche befanden sich außer den Adligen noch viele andere Leute, im ganzen an die dreißig Mann. Diese alle wollten sich an der Beschwerde nicht beteiligen; die einen aus Feigheit, die andern infolge der Überzeugung, daß alle solche Beschwerden völlig nutzlos seien. Auch Akim Akimytsch war in der Küche, der eingefleischte und geborene Feind aller derartigen Beschwerden, die den regelmäßigen Gang des Dienstes und den Anstand stören. Er wartete schweigend und außerordentlich ruhig auf den Ausgang der Sache, über den er sich nicht die geringsten Sorgen machte; er war vielmehr vollkommen vom unausbleiblichen Triumph der Ordnung und des Willens der Obrigkeit überzeugt. Auch Issai Fomitsch war dabei; er stand außerordentlich bestürzt da, ließ den Kopf hängen und lauschte gierig und feige unserem Gerede. Er war in großer Unruhe. Es waren hier auch alle einfachen Polen des Zuchthauses, die sich den Adligen angeschlossen hatten. Es waren ferner einige ängstliche, immer schweigsame und eingeschüchterte Russen dabei. Sie hatten keinen Mut, mit den andern aufzutreten, und warteten kummervoll ab, wie die Sache enden würde. Schließlich waren auch einige stets finstere und mürrische, durchaus nicht ängstliche Arrestanten dabei. Diese blieben aus Starrsinn und in der Überzeugung da, daß das Ganze ein Unsinn sei und zu nichts Gutem führen würde. Mir scheint aber, daß sie sich doch etwas unbehaglich fühlten und nicht sehr selbstbewußt waren. Sie wußten zwar, daß ihre Ansicht über den Mißerfolg der Beschwerde richtig war, was sich ja auch später bestätigte, aber sie fühlten sich dennoch gleichsam als Abtrünnige, die sich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und ihre Genossen an den Platzmajor verraten hätten. Jolkin hatte sich ebenfalls hier eingefunden, der sibirische Bauer, der wegen Falschmünzerei hergekommen war und dem Kulikow seine tierärztliche Praxis weggenommen hatte. Den alten Mann aus den Siedlungen bei Starodub traf ich gleichfalls hier. Die »Köchinnen« waren sämtlich in der Küche geblieben, wohl in der Ansicht, daß sie ebenfalls zur Verwaltung gehörten und daß es sich ihnen folglich nicht zieme, gegen dieselbe aufzutreten.

»Sonst sind ja aber fast alle draußen,« sagte ich unsicher, mich an M–cki wendend.

»Was geht es aber uns an?« brummte B.

»Wir würden hundertmal mehr als die anderen riskieren, wenn wir uns daran beteiligten. Wozu? Je haïs ces brigands. Glauben Sie denn auch einen Augenblick daran, daß aus ihrer Beschwerde etwas wird? Was ist es auch für ein Vergnügen, sich in solche Dummheiten einzumischen?«

»Es wird daraus nichts werden,« fiel ihm einer der Zuchthäusler, ein trotziger und verbitterter alter Mann, ins Wort. Auch Almasow, der dabei war, beeilte sich zu bestätigen:

»Außer daß fünfzig Mann Ruten kriegen, – sonst wird aus der Sache nichts.«

»Der Major ist angekommen!« rief jemand, und alle stürzten gespannt zu den Fenstern.

Der Major kam böse, wütend, rot, mit der Brille auf der Nase hereingestürzt. In solchen Fällen war er tatsächlich mutig und verlor nicht die Geistesgegenwart. Übrigens war er fast immer halb betrunken. Sogar seine schmierige Mütze mit dem orangegelben Rand und seine schmutzigen silbernen Epaulettes machten in diesem Augenblick einen unheimlichen Eindruck. Ihm folgte der Schreiber Djatlow, eine sehr wichtige Persönlichkeit in unserem Zuchthause, die in Wirklichkeit alles verwaltete und sogar einen Einfluß auf den Major hatte, ein schlauer, auf seine eigenen Vorteile bedachter Bursche, aber kein schlechter Mensch. Die Arrestanten waren mit ihm zufrieden. Gleich nach ihm kam unser Unteroffizier, der offenbar ein fürchterliches Donnerwetter erhalten hatte und ein zehnmal schlimmeres erwartete; und ihm folgten drei oder vier Wachsoldaten. Die Arrestanten, die, wie ich glaube, schon von dem Augenblick an, wo sie nach dem Major geschickt, ohne Mütze gestanden hatten, richteten sich jetzt auf; ein jeder trat von dem einen Fuß auf den andern, und dann erstarrten sie alle in ihren Stellungen, in Erwartung des ersten Wortes oder, richtiger gesagt, des erstens Schreis des höchsten Vorgesetzten.

Dieser Schrei erfolgte unverzüglich: gleich nach dem zweiten Worte begann der Major aus voller Kehle zu brüllen, diesmal sogar zu kreischen: so wütend war er. Wir konnten aus den Fenstern sehen, wie er die Front entlang lief, wie er sich auf die Leute stürzte und an einzelne Fragen richtete. Übrigens konnten wir seine Fragen wegen der weiten Entfernung ebensowenig wie die Antworten der Arrestanten verstehen. Wir hörten nur, wie er mit hoher Stimme schrie:

»Meuterer! . . . Spießruten laufen! . . . Rädelsführer! Du bist der Rädelsführer! Du bist der Rädelsführer!« schrie er einen an.

Die Antwort war nicht zu hören. Aber wir sahen nach einem Augenblick, wie ein Arrestant sich von der ganzen Masse löste und sich nach der Hauptwache begab. Nach einem weiteren Augenblick folgte ihm ein zweiter, dann ein dritter.

»Alle kommen vors Gericht! Ich werde euch! Wer ist dort in der Küche?« kreischte er, als er uns in den offenen Fenstern gewahrte. »Alle sollen sofort herkommen! Man treibe alle sofort her!«

Der Schreiber Djalow ging zu uns in die Küche. In der Küche erklärte man ihm, man hätte keine Beschwerde vorzubringen. Er ging sofort zurück und meldete es dem Major.

»So, sie haben keine Beschwerde vorzubringen!« versetzte jener sichtbar erfreut, zwei Töne tiefer. »Es ist ganz gleich, alle sollen sofort her!«

Wir kamen heraus. Ich fühlte, daß es uns etwas peinlich war, herauszukommen. Wir gingen auch alle mit gesenkten Köpfen.

»Aha, Prokofjew! Auch du, Jolkin, und das bist du, Almasow . . . Stellt euch auf, stellt euch auf, in einen Haufen,« sagte der Major zu uns in einem beschleunigten, aber milden Tone, uns freundlich anblickend. »M–cki, du bist auch hier . . . man soll sie alle aufschreiben. Djatlow! Schreib sofort alle auf, die Zufriedenen besonders und die Unzufriedenen besonders, alle ohne Ausnahme, und die Liste bekomme ich. Ich werde euch alle anzeigen . . . vors Gericht! Ich werde euch, Schurken!«

Die Erwähnung der Liste tat ihre Wirkung.

»Wir sind zufrieden!« rief plötzlich eine einzelne mürrische Stimme aus der Menge der Unzufriedenen, ziemlich unsicher.

»So, zufrieden! Wer ist zufrieden? Wer zufrieden ist, der soll vortreten.«

»Wir sind zufrieden, wir sind zufrieden!« meldeten sich noch einige Stimmen.

»Ihr seid zufrieden? Also hat man euch aufgewiegelt? Folglich gibt es unter euch Rädelsführer und Rebellen? Um so schlimmer für euch! . . .«

»Mein Gott, was ist denn das!« ertönte in der Menge eine einzelne Stimme.

»Wer, wer hat eben geschrien, wer?« brüllte der Major, nach der Seite stürzend, von der die Stimme ertönt war. »Hast du das geschrien, Rastorgujew? Auf die Hauptwache!«

Rastorgujew, ein etwas aufgedunsener, großgewachsener Bursche, trat vor und begab sich langsam nach der Hauptwache. Es war gar nicht er, der geschrien hatte, da man aber auf ihn hinwies, so widersprach er nicht.

»Ihr seid wohl vor lauter Fett toll geworden!« brüllte der Major ihm nach. »Du dicke Fratze, du wirst mir drei Tage nicht . . . Ich werde euch alle herausfinden! Die Zufriedenen sollen vortreten!«

»Wir sind zufrieden, Euer Hochwohlgeboren!« riefen einige Dutzend mürrische Stimmen; die übrigen schwiegen hartnäckig. Das war aber alles, was der Major haben wollte. Es war ihm offenbar vorteilhaft, die Sache möglichst schnell zu erledigen, und zwar auf eine gütliche Weise.

»Aha, jetzt seid ihr alle zufrieden!« rief er hastig. »Ich habe es gesehen . . . ich habe es gewußt. Das sind die Rädelsführer! Unter diesen befinden sich die Rädelsführer!« fuhr er fort, sich an Djatlow wendend. »Das muß man genauer untersuchen. Und jetzt . . . jetzt ist es Zeit zur Arbeit. Man schlage die Trommel!«

Er wohnte selbst dem Abmarsche der einzelnen Gruppen zur Arbeit bei. Die Arrestanten gingen schweigend und traurig zu ihren Arbeiten, wenigstens damit zufrieden, daß sie ihm aus den Augen kamen. Aber gleich nach dem Abmarsche ging der Major sofort auf die Hauptwache und diktierte den »Rädelsführern« ihre Strafen zu, die jedoch nicht zu grausam waren. Er hatte sogar Eile. Wie man sich später erzählte, bat ihn einer von ihnen um Verzeihung, die er ihm auch sofort gewährte. Der Major fühlte sich sichtlich nicht sehr behaglich und hatte vielleicht sogar einige Angst bekommen. Eine Beschwerde war in jedem Falle eine heikle Sache, und obwohl die Klage der Arrestanten eigentlich gar keine Beschwerde war, da sie nicht an die höhere Behörde, sondern an den Major selbst gerichtet wurde, war sie doch eine unangenehme, üble Geschichte. Besondere Bedenken machte ihm, daß alle, ohne Ausnahme, sich gegen ihn erhoben hatten. Nun galt es, die Sache so schnell wie möglich zu vertuschen. Die »Rädelsführer« wurden bald entlassen. Gleich am nächsten Tag war schon die Beköstigung besser, aber diese Besserung hielt nicht lange an. Der Major besuchte in der ersten Zeit häufiger das Zuchthaus und fand häufiger Unordnungen vor. Unser Unteroffizier ging besorgt, wie vor den Kopf geschlagen umher, als könnte er sich von seinem Erstaunen nicht erholen. Was aber die Arrestanten betrifft, so konnten sie sich lange nachher nicht beruhigen; aber sie waren nicht mehr so aufgeregt wie früher, sondern eher aus dem Konzept gebracht. Manche ließen sogar den Kopf hängen. Andere äußerten sich brummig und wortkarg über die Sache. Viele machten sich gehässig und laut über sich selbst lustig, als wollten sie sich für ihre Beschwerde bestrafen.

»Da hast du es erlebt, Bruder!« sagte manchmal einer.

»Was man eingebrockt hat, muß man selbst auslöffeln!« fügte ein anderer hinzu.

»Wo ist die Maus, die der Katze die Schelle umhängt?« fragte ein dritter.

»Wir lassen uns ohne einen Knüppel nicht belehren. Es ist noch gut, daß er nicht alle hat durchpeitschen lassen.«

»Man soll eben mehr vorher denken und weniger schwatzen, das ist immer besser!« bemerkte einer boshaft.

»Wie kommst du dazu, uns zu lehren, wer hat dich als Lehrer angestellt?«

»Ich lehre euch Vernunft.«

»Ja, wer bist du überhaupt?«

»Ich bin vorläufig noch ein Mensch, wer aber bist du?«

»Ein Hundefraß bist du.«

»Das bist du selbst.«

»Genug! Was lärmt ihr so!« schrie man den Streitenden von allen Seiten zu . . .

Am gleichen Abend, d. h. am Abend des Tages, an dem die Beschwerde vorgebracht wurde, traf ich, von der Arbeit zurückgekehrt, hinter der Kaserne Petrow. Er hatte mich schon gesucht. Er ging auf mich zu, murmelte etwas vor sich hin, machte zwei oder drei unbestimmte Ausrufe, verstummte dann aber zerstreut und ging automatisch neben mir her. Diese ganze Sache lag mir noch schwer auf dem Herzen, und ich glaubte, Petrow würde mir einiges davon erklären.

»Sagen Sie, Petrow,« fragte ich ihn, »sind Ihre Leute uns nicht böse?«

»Wer soll böse sein?« fragte er, gleichsam aus dem Schlafe erwachend.

»Ob die Arrestanten nicht uns . . . den Adligen böse sind.«

»Warum sollten sie Ihnen böse sein?«

»Nun, weil wir uns an der Beschwerde nicht beteiligten.«

»Weshalb sollten sie sich an der Beschwerde beteiligen?« fragte er, als bemühe er sich, mich zu verstehen. »Sie haben ja Ihre eigene Beköstigung!«

»Ach, mein Gott! Es gibt ja auch unter Ihren Kameraden solche, die ihre eigene Kost essen, und die waren doch alle dabei. Also hätten auch wir dabei sein müssen . . . aus Kameradschaft.«

»Ja . . . was sind Sie uns denn für ein Kamerad?« fragte er erstaunt.

Ich sah ihn rasch an: er verstand mich absolut nicht, er begriff nicht, was ich wollte. Dafür hatte aber ich ihn in diesem Augenblick vollkommen verstanden. Ein Gedanke, der sich in mir schon längst dunkel geregt und mich verfolgt hatte, wurde mir nun zum erstenmal vollkommen klar, und ich begriff plötzlich das, was ich bis dahin nur vermutet hatte. Ich begriff, daß sie mich niemals in ihre Kameradschaft aufnehmen würden, selbst wenn ich ein noch so gemeingefährlicher, für Lebenszeit verurteilter Arrestant, sogar einer aus der Besonderen Abteilung wäre. Besonders deutlich blieb mir das Gesicht, das Petrow dabei machte, in Erinnerung. In seiner Frage: »Was sind Sie uns für ein Kamerad?« tönte eine so echte Naivität, ein so einfältiges Erstaunen. Ich fragte mich sogar: ist hier nicht auch Ironie, Bosheit, Spott dabei? Es war aber nichts von alledem der Fall: ich war ihnen einfach kein Kamerad und basta. Geh du deinen Weg, wir gehen den unsrigen; du hast deine eigenen Geschäfte, und wir haben unsere Geschäfte.

Ich hatte schon geglaubt, daß sie uns nach der Geschichte mit der Beschwerde einfach auffressen und uns das Leben vergiften würden. Aber es geschah nichts Derartiges: wir bekamen nicht den geringsten Vorwurf, nicht die leiseste Spur eines Vorwurfes zu hören und auch kein bißchen Bosheit mehr als sonst zu spüren. Sie quälten uns einfach bei Gelegenheit, wie sie uns auch schon vorher gequält hatten, aber weiter nichts. Sie waren übrigens auch auf diejenigen ihrer Kameraden nicht böse, die sich an der Beschwerde nicht hatten beteiligen wollen und in der Küche geblieben waren, ebensowenig auch auf die, die als die ersten gerufen hatten, daß sie mit allem zufrieden seien. Das wurde überhaupt von niemand erwähnt. Das letztere war mir besonders unbegreiflich.


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