Fjodr Michailowitsch Dostojewski
Aufzeichnungen aus einem toten Hause
Fjodr Michailowitsch Dostojewski

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VI

Der erste Monat

Bei meinem Eintritt ins Zuchthaus besaß ich einiges Geld; in der Tasche hatte ich nur wenig, aus Furcht, daß es mir weggenommen werden könnte, aber ich hatte mir für jeden Fall in den Einbanddeckel des Neuen Testaments, das ich ins Zuchthaus mitnehmen durfte, einige Rubel versteckt, d. h. eingeklebt. Dieses Buch mit dem in seinem Einbande eingeklebten Gelde hatten mir zu Tobolsk gewisse PersonenDostojewskij bekam zu Tobolsk von den Frauen der »Dekabristen«, die ihren 1825 verbannten Männern freiwillig nach Sibirien gefolgt waren, ein Neues Testament geschenkt. Anm. d. Ü. geschenkt, die gleich mir in der Verbannung schmachteten, die ihre Zeit schon nach Jahrzehnten zählten und darum schon längst gewohnt waren, in jedem Unglücklichen einen Bruder zu sehen. Es gibt in Sibirien stets einzelne Personen, die es sich zum Lebensziel gemacht haben, die »Unglücklichen« brüderlich zu behandeln und um sie völlig uneigennützig wie um leibliche Kinder zu sorgen. Ich kann nicht umhin, hier ganz kurz eine Begegnung dieser Art zu schildern. In der Stadt, in der sich unser Zuchthaus befand, lebte eine Witwe namens Nastasja Iwanowna. Natürlich konnte während unseres Aufenthaltes im Zuchthaus niemand von uns ihre persönliche Bekanntschaft machen. Sie hatte es sich anscheinend zur Lebensaufgabe gemacht, den Verbannten zu helfen, für uns sorgte sie aber mehr als für die andern. Ich weiß nicht, ob nicht auch in ihrer eigenen Familie ein ähnliches Unglück passiert war, oder ob jemand von den ihr teueren und nahestehenden Menschen wegen eines ähnlichen Vergehens verurteilt worden war, aber sie hielt es jedenfalls für ein besonderes Glück, für uns alles zu tun, was sie nur konnte. Viel konnte sie natürlich nicht machen; sie war sehr arm. Aber wir fühlten dennoch, solange wir im Zuchthause saßen, daß wir außerhalb des Zuchthauses einen uns ergebenen Freund hatten. Unter anderm übermittelte sie uns oft Nachrichten, nach denen wir uns sehr sehnten. Als ich das Zuchthaus verließ, suchte ich sie, vor der Übersiedlung in eine andere Stadt, auf und machte ihre persönliche Bekanntschaft. Sie lebte in der Vorstadt bei ihren nahen Verwandten. Sie war weder alt noch jung, weder hübsch noch häßlich; man konnte sogar schwer feststellen, ob sie klug und gebildet war. Man merkte an ihr nur eine grenzenlose Güte, ein unüberwindliches Verlangen, das Schicksal der anderen zu erleichtern und ihnen etwas Angenehmes zu tun. Dies alles konnte man in ihren stillen, guten Blicken lesen. Ich verbrachte bei ihr mit einem ehemaligen Zuchthausgenossen einen ganzen Abend. Sie blickte uns immer in die Augen, lachte, wenn wir lachten, stimmte eiligst allem bei, was wir sagten, und gab sich die größte Mühe, uns auf jede Weise zu bewirten. Sie traktierte uns mit Tee, kaltem Imbiß und Süßigkeiten, und wenn sie Tausende hätte, so würden sie ihr, wie ich glaube, nur darum Freude machen, weil sie uns dann noch mehr Gefälligkeiten erweisen und das Los unserer im Zuchthause zurückgebliebenen Genossen noch mehr erleichtern könnte. Beim Abschied gab sie einem jeden von uns ein Zigarettenetui zum Andenken. Diese Etuis hatte sie für uns eigenhändig aus Karton angefertigt (über die Güte der Arbeit will ich nichts sagen), und mit buntem Papier beklebt, mit dem gleichen Papier, in das gewöhnlich die Rechenbücher für die Volksschulen gebunden werden (vielleicht hatte sie für die Etuis tatsächlich so ein Rechenbuch verwendet). Beide Etuis waren ringsherum mit einer schmalen Borte aus Goldpapier verziert, das sie vielleicht eigens zu diesem Zwecke in einem Laden gekauft hatte. »Sie rauchen ja Zigaretten, vielleicht werden Sie die Etuis brauchen können,« sagte sie schüchtern, als wollte sie sich wegen des Geschenks entschuldigen . . . Manche sagen (ich habe es gehört und auch gelesen), daß die höchste Nächstenliebe zugleich den größten Egoismus bedeute. Worin aber hier der Egoismus stecken soll, kann ich unmöglich begreifen.

Obwohl ich also beim Eintritt ins Zuchthaus nicht viel Geld besaß, konnte ich mich doch nicht ernsthaft über die Zuchthäusler ärgern, die mich schon fast in den ersten Stunden meines Zuchthauslebens, nachdem sie mich schon einmal betrogen hatten, auf die naivste Weise zum zweiten, zum dritten und sogar zum vierten Male anzupumpen versuchten. Aber eines muß ich aufrichtig gestehen: es war mir sehr ärgerlich, daß mich alle diese Leute mit allen ihren naiven Listen, wie ich glaubte, unbedingt für einen Einfaltspinsel und Narren halten und sich über mich lustig machen mußten, weil ich ihnen auch zum fünften Male Geld gab. Sie mußten doch sicher glauben, daß ich auf ihre Betrugsversuche hereinfalle, und ich bin überzeugt, daß sie unvergleichlich mehr Achtung vor mir hätten, wenn ich ihnen das Geld verweigert hätte. Aber so sehr ich mich auch ärgerte, konnte ich ihnen ihre Bitten doch nicht abschlagen. Mein Ärger beruhte eigentlich darauf, daß ich mir in diesen ersten Tagen ernste Gedanken darüber machte, auf welchem Fuße ich mit ihnen stehen müsse. Ich fühlte und sah wohl ein, daß diese ganze Umgebung für mich völlig neu war, daß ich mich gleichsam im Finstern befand, daß man aber im Finstern unmöglich so viele Jahre leben könne. Also mußte ich mich darauf vorbereiten. Natürlich sagte ich mir, daß ich vor allem meiner inneren Stimme und meinem Gewissen folgen müsse. Aber ich wußte auch, daß dies nur schöne Worte sind, während mir in der Praxis manches Unerwartete bevorstand.

Darum quälte mich, trotz all der kleinen Sorgen um meine Einrichtung in der Kaserne, von denen ich schon berichtete und in die mich vorwiegend Akim Akimytsch hereinzog, trotz der Ablenkung, die ich darin fand, immer mehr und mehr ein schrecklicher, zehrender Gram. »Ein totes Haus!« sagte ich zu mir selbst, wenn ich zuweilen in der Morgendämmerung von den Stufen unserer Kaserne aus die Arrestanten betrachtete, die sich eben anschickten, zur Arbeit zu gehen, und träge auf dem Zuchthaushofe aus der Kaserne in die Küche und zurück schlenderten. Ich beobachtete ihre Gesichter und ihre Bewegungen und bemühte mich, zu erraten, was sie wohl für Menschen seien und was sie für Charaktere haben. Sie aber trieben sich vor meinen Augen mit gerunzelten Stirnen oder übertrieben lustigen Mienen (diese beiden Kategorien kommen am häufigsten vor und sind für das Zuchthaus charakteristisch) herum, fluchten oder unterhielten sich einfach oder gingen schließlich einsam, gleichsam in Gedanken versunken, still und ruhig hin und her, die einen mit müdem, apathischem Ausdruck, die anderen (sogar hier!) mit dem Ausdrucke einer frechen Selbstüberhebung, die Mützen auf ein Ohr geschoben, die Pelze lose über die Schultern geworfen, mit herausfordernden, verschlagenen Blicken und einem unverschämten Lächeln. »Das ist nun meine Umgebung, meine jetzige Welt«, dachte ich mir, »mit der ich, ob ich will oder nicht, leben muß . . .« Ich versuchte, mich über die Leute bei Akim Akimytsch zu erkundigen, in dessen Gesellschaft ich gern Tee trank, um nicht allein zu sein. Nebenbei bemerkt war der Tee in der ersten Zeit fast meine einzige Nahrung. Akim Akimytsch lehnte den Tee niemals ab und setzte selbst unsern komischen, selbstverfertigten kleinen Samovar aus Blech auf, den mir M. geliehen hatte. Akim Akimytsch trank gewöhnlich nur ein Glas (er besaß sogar Teegläser), trank es schweigend und sittsam aus, bedankte sich und begann wieder an meiner Bettdecke zu nähen. Aber das, was ich von ihm erfahren wollte, konnte er mir gar nicht mitteilen, und er verstand sogar nicht, warum ich mich so sehr für die Charaktere der uns umgebenden und in unserer nächsten Nähe lebenden Zuchthäusler interessierte; er hörte mir mit einem eigentümlichen schlauen Lächeln zu, an das ich mich gut erinnere. »Nein, offenbar muß man hier alles selbst erproben und nicht erfragen,« sagte ich mir.

Am vierten Tage stellten sich die Arrestanten genau wie damals, als man mir die Fesseln umgeschmiedet hatte, am frühen Morgen in zwei Reihen auf dem Platze vor der Hauptwache am Zuchthaustore auf. Vor ihnen, mit dem Gesicht zu ihnen, und hinter ihnen stellten sich Soldaten mit geladenen Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten auf. Der Soldat hat das Recht, auf den Arrestanten zu schießen, wenn es diesem einfällt, zu entfliehen; zugleich wird er aber zur Verantwortung gezogen, wenn er den Schuß nicht im äußersten Notfalle abgegeben hat; dasselbe gilt im Falle einer offenen Meuterei der Zuchthäusler. Aber wem wird es einfallen, vor den Augen des Wachtsoldaten davonzulaufen? Es erschienen der Ingenieur-Offizier, der Zugführer, dann die Ingenieur-Unteroffiziere und Soldaten, die uns bei der Arbeit zu beaufsichtigen hatten. Man nahm einen Appell vor; eine Anzahl Arrestanten, die in den Nähstuben beschäftigt wurden, gingen zuerst ab; die Ingenieur-Behörde hatte mit ihnen nichts zu tun; sie arbeiteten für das Zuchthaus und nähten für die Sträflinge Kleider. Dann wurden die in den andern Werkstätten beschäftigten Arrestanten weggeschickt und zuletzt die, die mit gewöhnlichen groben Arbeiten beschäftigt wurden. Zu den letzteren wurde ich mit etwa zwanzig andern Arrestanten kommandiert. Auf dem zugefrorenen Flusse hinter der Festung lagen zwei dem Staate gehörende Barken, die man infolge ihrer Unbrauchbarkeit auseinandernehmen mußte, damit wenigstens das alte Holz erhalten bleibe. Dieses ganze alte Material hatte übrigens, wie ich glaube, einen sehr geringen oder auch gar keinen Wert. Brennholz war in der Stadt zu einem sehr geringen Preis zu haben, und Wald gab es ringsum genug. Man schickte uns zu dieser Arbeit, nur damit die Arrestanten irgendeine Beschäftigung hätten, was sie auch selbst wußten. Eine solche Arbeit machten sie immer apathisch und lustlos, während es bei einer richtigen, vernünftigen Arbeit ganz anders zuging, besonders wenn man ein bestimmtes Pensum zugewiesen bekam. Bei einer solchen Arbeit gerieten sie fast in Begeisterung, und ich sah oft, wie sie, obwohl sie selbst gar keinen Nutzen davon hatten, alle Kräfte aufwandten, um die Arbeit so schnell und so gut wie möglich zu erledigen; sogar ihr Ehrgeiz war dabei im Spiele. Aber bei dieser Arbeit, die mehr pro forma als aus wirklicher Notwendigkeit getan wurde, war es schwer, ein bestimmtes Pensum zu erwirken, arbeiten mußte man aber bis zum Trommelschlag, der um elf Uhr vormittags als Signal zum Heimgehen ertönte. Der Tag war warm und neblig; der Schnee schmolz beinahe. Unsere ganze Gruppe begab sich hinter die Festung ans Ufer, leicht mit den Ketten klirrend, die zwar unter den Kleidern verborgen waren, aber dennoch bei jedem Schritt einen scharfen metallischen Klang gaben. Zwei oder drei Mann trennten sich von uns, um aus dem Zeughause die nötigen Werkzeuge zu holen. Ich ging mit den anderen und empfand sogar eine gewisse Aufregung: ich wollte schneller sehen und erfahren, was es für eine Arbeit sei. Wie mag die Zwangsarbeit aussehen? Und wie werde ich selbst zum ersten Mal im Leben arbeiten?

Ich besinne mich auf alles bis zur letzten Kleinigkeit. Unterwegs begegnete uns ein Kleinbürger mit einem Bärtchen; er blieb stehen und steckte die Hand in die Tasche. Von unserer Gruppe löste sich sofort ein Arrestant, zog die Mütze, nahm das Almosen, es waren fünf Kopeken, und kehrte schnell zu den übrigen zurück. Der Kleinbürger bekreuzigte sich und zog seinen Weg weiter. Diese fünf Kopeken wurden am gleichen Morgen in Semmeln angelegt, die unter der ganzen Gruppe zu gleichen Teilen verteilt wurden.

In unserer Gruppe waren die einen Arrestanten wie gewöhnlich mürrisch und wortkarg, die andern gleichgültig und matt, während andere wieder träge miteinander plauderten. Einer war aus irgendeinem Grunde furchtbar froh und lustig; er sang und tanzte sogar fast unterwegs, bei jedem Sprunge mit den Ketten klirrend. Es war derselbe kleingewachsene, kräftige Arrestant, der sich am ersten Morgen meines Zuchthauslebens mit einem anderen beim Waschen am Wassereimer gezankt hatte, weil jener es wagte, von sich dummerweise zu behaupten, daß er ein Enterich sei. Dieser lustige Bursche hieß Skuratow. schließlich stimmte er ein flottes Lied an, von dem ich noch den Refrain in Erinnerung habe:

Als man meine Hochzeit machte,
War ich selbst gar nicht dabei.

Es fehlte nur noch eine Balalaika.

Seine ungewöhnlich lustige Gemütsverfassung erregte natürlich sofort bei Einigen in unserer Gruppe Entrüstung und wurde fast als eine Beleidigung aufgefaßt.

»Da heult er schon wieder!« versetzte vorwurfsvoll ein Arrestant, den die Sache übrigens gar nicht anging.

»Der Wolf hat nur ein einziges Lied gekannt, und das hast du ihm gestohlen, du Tula'er!« bemerkte ein anderer von den mürrischen Gesellen mit kleinrussischer Aussprache.

»Mag ich ein Tula'er sein,« entgegnete Skuratow auf der Stelle, »aber euch in Poltawa ist ein Mehlkloß im Halse stecken geblieben.«

»Lüge nur! Und was hast du selbst gegessen? Hast mit dem Bastschuh Kohlsuppe gelöffelt.«

»Und jetzt füttert ihn der Teufel mit Kanonenkugeln,« setzte ein dritter hinzu.

»Ich bin in der Tat ein verzärtelter Mensch, Brüder,« antwortete Skuratow mit einem leichten Seufzer, als bedauerte er selbst seine Verzärtelung, sich an alle zusammen und an keinen einzelnen wendend. »Ich bin von Kind auf mit Backpflaumen und preußischen Semmeln großgezogen worden. Meine leiblichen Brüder in Moskau haben auch heute noch einen Laden in der Luftstraße, sie handeln mit Winden und sind reiche Kaufleute.«

»Womit hast aber du gehandelt?«

»Ich habe verschiedenes versucht. Damals bekam ich, Brüder, die ersten zweihundert . . .«

»Rubel?« fiel ihm ein Neugieriger ins Wort, der sogar zusammenfuhr, als er von einem solchen Betrag hörte.

»Nein, lieber Freund, nicht Rubel, sondern Ruten. Luka, du, Luka!«

»Für manchen heiße ich Luka, aber für dich Luka Kusmitsch,« erwiderte verdrießlich ein kleiner, schmächtiger Arrestant mit einem spitzen Näschen.

»Gut, von mir aus Luka Kusmitsch, hol dich der Teufel.«

»Für manche heiße ich Luka Kusmitsch, aber für dich Onkelchen.«

»Na, hol dich der Teufel mitsamt dem Onkelchen, es lohnt sich gar nicht, mit dir zu reden! Aber ich wollte dir etwas Schönes sagen. So kam es also, Brüder, daß ich nur kurze Zeit in Moskau blieb; man gab mir zum Abschied fünfzehn Knutenhiebe und schickte mich her. So bin ich hier . . .«

»Warum hat man dich denn hergeschickt?« unterbrach ihn einer, der der Erzählung aufmerksam gelauscht hatte.

»Man soll eben nicht in die Quarantäne gehen, man soll nicht aus dem Faß saufen, man soll nicht Billard spielen. So hatte ich in Moskau nicht Zeit gehabt, Brüder, richtig, reich zu werden. Ich wollte aber so gern reich werden. So sehr wollte ich es, daß ich es gar nicht sagen kann.«

Viele lachten. Skuratow gehörte offenbar zu den freiwilligen Spaßmachern oder, richtiger gesagt, Hanswursten, die es sich zur Pflicht machten, ihre mürrischen Kameraden zu erheitern und dafür natürlich nichts außer Flüchen ernteten. Er gehörte zu einem besonderen, interessanten Typus, von dem ich vielleicht später noch zu reden haben werde.

»Man könnte dich ja jetzt schon statt eines Zobels totschlagen,« bemerkte Luka Kusmitsch. »Deine Kleider allein haben einen Wert von hundert Rubeln.«

Skuratow trug einen sehr alten und abgetragenen Schafpelz, der über und über mit Flicken bedeckt war. Er betrachtete ihn ziemlich gleichgültig, aber aufmerksam von oben bis unten.

»Dafür ist mein Kopf viel wert, Brüder, mein Kopf!« antwortete er. »Als ich mich von Moskau verabschiedete, war mein einziger Trost, daß ich meinen Kopf mitnehmen durfte. Leb wohl, Moskau, ich danke dir für das Dampfbad und für die freie Luft, schön haben sie mich dort zugerichtet! Meinen Pelz brauchst du aber nicht anzuschauen, lieber Freund . . .«

»Soll ich etwa deinen Kopf anschauen?«

»Auch sein Kopf gehört ihm nicht, den hat man ihm als Almosen geschenkt,« mischte sich wieder Luka ein. »Man hat ihn ihm unterwegs in Tjumenj im Namen Christi geschenkt.«

»Du hast wohl irgendein Handwerk gehabt, Skuratow?«

»Was für ein Handwerk! Ein Blindenführer ist er gewesen, hat seinen Blinden die Kieselsteine, die man ihnen statt eines Almosens gab, gestohlen,« bemerkte einer von den Mürrischen: »Das ist sein ganzes Handwerk.«

»Ich habe wirklich versucht, Stiefel zu nähen,« entgegnete Skuratow, der die beißende Bemerkung gar nicht beachtete, »aber ich habe bisher nur ein Paar fertiggebracht.«

»Nun, hat man es dir abgekauft?«

»Ja, es fand sich solch ein Mann, hat keine Gottesfurcht im Herzen gehabt, hat Vater und Mutter nicht geehrt; Gott hat ihn dafür gestraft, und er hat mir die Stiefel abgekauft.«

Alle um Skuratow herum wälzten sich vor Lachen.

»Dann habe ich noch einmal gearbeitet, das war schon hier,« fuhr Skuratow außerordentlich kaltblütig fort. »Ich habe dem Herrn Leutnant Stepan Fjodorytsch Pomorzew ein Paar Stiefel mit Kappen versehen.«

»Nun, war er zufrieden?«

»Nein, Brüder, unzufrieden. Er hat auf mich geschimpft, daß es für tausend Jahre langt, und mir außerdem einen Fußtritt gegeben. Er war schon sehr zornig. Ach, betrogen hat mich mein Leben, dieses Zuchthausleben!

Etwas später, etwas später,
Kam Akuljkas Mann ins Haus . . .«

Er fing plötzlich wieder zu singen an und dazu mit den Füßen zu stampfen.

»Ist das ein ekelhafter Kerl,« brummte der neben mir gehende Kleinrusse, indem er ihn mit gehässiger Verachtung von der Seite ansah.

»Ein unnützer Mensch!« bemerkte ein anderer in entschiedenem und ernstem Tone.

Ich konnte unmöglich begreifen, warum man Skutarow so sehr zürnte und warum alle lustigen Leute, wie ich es schon in den ersten Tagen bemerkte, eine gewisse Verachtung genossen. Ich glaubte, daß der Zorn des Kleinrussen und der andern auf persönlichen Gründen beruhe. Es waren aber keine persönlichen Gründe, sondern sie waren böse, weil Skuratow keine Haltung hatte, weil er keine geheuchelte Würde zeigte, mit der das ganze Zuchthaus bis zur Pedanterie angesteckt war, kurz, weil er, wie sie sich ausdrückten, ein »unnützer« Mensch war. Aber nicht alle Lustigen wurden so böse behandelt wie Skutarow und seinesgleichen. Es kam ganz darauf an, ob man sich diese Behandlung gefallen ließ. Ein gutmütiger Mensch wurde, selbst wenn er keine Späße trieb, verachtet. Das setzte mich sogar in Erstaunen. Es gab aber unter den Lustigen auch solche, die es verstanden, sich zu wehren, und die sich nichts gefallen ließen: solche mußte man achten. Auch in dieser Gruppe befand sich so ein scharfer Kerl, der im Grunde genommen ein sehr lieber und lustiger Mensch war, den ich aber von dieser Seite erst später kennenlernte, ein langer, stattlicher Bursche mit einer großen Warze auf der Wange und einem höchst komischen Ausdruck in seinem übrigens recht hübschen und intelligenten Gesicht. Man nannte ihn »Pionier«, weil er früher einmal bei den Pionieren gedient hatte; jetzt befand er sich in der Besonderen Abteilung. Über ihn werde ich noch viel zu erzählen haben.

Übrigens waren auch nicht alle »Ernsthafte« so temperamentvoll wie der Kleinrusse, der sich über die Heiterkeit entrüstete. Im Zuchthause befanden sich einige Leute, die immer danach strebten, die Ersten zu sein, und Anspruch auf Wissen jeder Art, auf Findigkeit, Charakterfestigkeit und Verstand erhoben. Viele von ihnen waren wirklich kluge Menschen mit starkem Charakter, und sie erreichten wirklich das, wonach sie strebten, d. h. eine gewisse Machtstellung und einen erheblichen moralischen Einfluß auf ihre Genossen. Unter sich waren diese Klugen oft arg verfeindet, und ein jeder von ihnen hatte viele Hasser. Auf die übrigen Arrestanten sahen sie mit großer Würde und sogar einer gewissen Nachsicht herab; sie begannen keinen unnützen Streit, waren bei den Vorgesetzten gut angeschrieben und traten bei der Arbeit als eigenmächtige Aufseher auf; keiner von ihnen hatte sich z. B. über das Singen geärgert; zu solcher Kleinlichkeit erniedrigten sie sich niemals. Gegen mich waren sie alle während meines ganzen Zuchthauslebens ungewöhnlich höflich, aber wenig gesprächig, wohl auch aus Würde. Auch von ihnen werde ich noch ausführlicher sprechen müssen.

Wir kamen ans Ufer. Unten auf dem Flusse lag die im Wasser eingefrorene alte Barke, die man abbrechen mußte. Jenseits des Flusses blaute die Steppe; der Anblick war düster und öde. Ich erwartete, daß alle sich auf die Arbeit stürzen würden; aber sie dachten gar nicht daran. Die einen setzten sich auf die am Ufer herumliegenden Balken; fast alle zogen aus ihren Stiefeln Beutel mit sibirischem Blättertabak, der auf dem Markte zu drei Kopeken das Pfund zu haben war, und kurze Pfeifenrohre aus Weidenholz mit selbstgemachten kleinen hölzernen Köpfen. Die Pfeifen wurden angezündet; die Begleitsoldaten bildeten eine Kette um uns herum und begannen uns mit höchst gelangweilten Mienen zu bewachen.

»Wem ist es bloß eingefallen, diese Barke abbrechen zu lassen?« sagte einer wie vor sich hin, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. »Sie brauchen wohl Späne.«

»Das ist einem solchen Menschen eingefallen, der uns nicht fürchtet,« bemerkte ein anderer.

»Wo geht bloß das Bauernpack hin?« fragte nach einer Pause der erste, der die Antwort auf seine Frage natürlich überhört hatte, auf einen Trupp Bauern hinweisend, die im Gänsemarsch über den noch unbetretenen Schnee zogen. Alle wandten sich träge nach den Bauern um und begannen aus Langerweile über sie zu spotten. Einer von den Bauern, der hinterste, ging ungewöhnlich komisch, die Arme gespreizt und den mit einer hohen kegelförmigen Bauernmütze bekleideten Kopf zur Seite geneigt. Seine ganze Figur hob sich scharf von dem weißen Schnee ab.

»Wie du dich bloß eingemummt hast, Bruder Petrowitsch!« bemerkte einer der Arrestanten, die Bauernsprache nachäffend. Es ist auffallend, daß die Arrestanten die Bauern überhaupt von oben herab ansahen, obwohl sie selbst zur Hälfte aus dem Bauernstande stammten.

»Der hinterste geht so, wie wenn er Rettiche pflanzte.«

»Der hat viele Gedanken im Kopfe, und viel Geld in der Tasche,« bemerkte ein dritter.

Alle lachten, aber träge und ohne besondere Lust. Indessen ging auf uns eine Semmelverkäuferin zu, ein keckes und lustiges junges Weib.

Man kaufte bei ihr für die uns geschenkten fünf Kopeken Semmeln und teilte sie sofort zu gleichen Teilen.

Der junge Bursch, der im Zuchthause mit Semmeln handelte, nahm ihr zwanzig Stück ab und begann mit ihr energisch zu streiten, um drei Semmeln statt der sonst üblichen zwei als Provision zu bekommen. Aber die Verkäuferin wollte darauf nicht eingehen.

»Nun, und das andere gibst du mir auch nicht her?«

»Was denn noch?«

»Was die Mäuse nicht fressen!«

»Daß dich die Pest!« kreischte die Frau auf und begann zu lachen.

Endlich erschien mit einem Stöckchen in der Hand der Unteroffizier, der die Arbeiten zu beaufsichtigen hatte.

»He, ihr! Was sitzt ihr da herum? Anfangen!«

»Ach, Iwan Matwejitsch, geben Sie uns doch ein Pensum auf,« sagte einer von denen, die sich die erste Rolle anmaßten, sich langsam von seinem Platze erhebend.

»Warum habt ihr es nicht vorher, beim Abmarsch verlangt? Ihr sollt eben die Barke abbrechen, das ist euer Pensum.«

Endlich erhob man sich träge von den Balken und schleppte sich langsam zum Fluß. In der Menge traten sofort einige »Führer« auf, die wenigstens zu kommandieren versuchten. Es zeigte sich, daß man die Barke nicht so aufs Geratewohl zerhauen durfte, sondern nach Möglichkeit die Balken ganz erhalten mußte, besonders die Querbalken, die ihrer ganzen Länge nach mit Holzstiften an dem Boden der Barke befestigt waren, – es war eine langwierige und langweilige Arbeit.

»Zuerst müßte man diese Balken da abbrechen. Fangt mal an, Brüder!« sagte ein Arrestant, der weder zu den »Führern« noch zu den Vorgesetzten gehörte, sondern ein ganz gewöhnlicher, wortkarger und stiller Arbeiter war, der bisher geschwiegen hatte. Er bückte sich, umfaßte mit beiden Armen einen dicken Balken und wartete auf Helfer. Aber niemand wollte ihm helfen.

»Ja, so leicht wirst du ihn nicht abbrechen! Weder du kannst ihn abbrechen, noch dein Großvater, der Bär, wenn er herkommt!« brummte einer zwischen den Zähnen.

»Wie sollen wir also anfangen, Brüder? Ich weiß es wirklich nicht . . .« versetzte der Vorlaute verlegen, indem er den Balken in Ruhe ließ und sich erhob.

»Die ganze Arbeit kriegst du doch nicht fertig . . . Was drängst du dich vor?«

»Wenn er drei Hühnern Futter geben soll, verrechnet er sich, aber hier will er der Erste sein! So ein Schafskopf!«

»Ich habe es ja nur so gemeint, Brüder,« rechtfertigte sich jener verlegen, »Hab es nur so gesagt . . .«

»Soll ich euch etwa in Futterale stecken? Oder für den Winter einsalzen?« schrie wieder der Aufseher, ratlos den Trupp von zwanzig Mann anblickend, die nicht wußten, wie mit der Arbeit zu beginnen. »Anfangen! Schneller!«

»Schneller als schnell kann man doch nichts machen, Iwan Matwejitsch!«

»Du tust ja sowieso nichts! He, Ssaweljew! Schwätzer Petrowitsch! Dich meine ich! Was stehst du da und bietest Maulaffen feil! . . . Anfangen!«

»Was kann ich denn allein machen?«

»Geben Sie uns doch ein Pensum auf, Iwan Matwejitsch.«

»Ich hab es euch schon gesagt, es gibt kein Pensum. Nehmt die Barke auseinander und geht heim. Anfangen!«

Sie machten sich endlich an die Arbeit, aber matt, lustlos und unzufrieden. Es war sogar ärgerlich, diesen Trupp kräftiger Arbeiter anzuschauen, die gar nicht zu wissen schienen, wie die Sache anzupacken. Kaum hatten sie angefangen, den ersten, kleinsten Querbalken herauszunehmen, als es sich zeigte, daß er brach, »ganz von selbst brach«, wie sie es dem Aufseher zur Rechtfertigung meldeten. Also konnte man auf diese Weise nicht arbeiten und mußte es irgendwie anders anfangen. Nun begann eine lange Unterhaltung darüber, was man jetzt anfangen solle. Natürlich ging die Unterhaltung allmählich in Schimpfereien über und drohte noch eine ganz andere Wendung zu nehmen . . . Der Aufseher schrie sie wieder an und schwang seinen Stock, aber das Querholz brach wieder. Schließlich stellte es sich heraus, daß man zu wenig Äxte hatte und noch mehr Werkzeuge holen mußte. Sofort wurden zwei Burschen unter Bewachung nach Werkzeugen in die Festung geschickt, die übrigen setzten sich aber in Erwartung ruhig auf die Barke, holten ihre Pfeifen heraus und begannen wieder zu rauchen.

Der Aufseher spuckte endlich aus.

»Ach, vor euch hat die Arbeit wahrhaftig keine Angst! Ach, seid ihr ein Volk!« brummte er böse, winkte dann resigniert mit der Hand und begab sich, sein Stöckchen schwingend, nach der Festung.

Nach einer Stunde kam der Zugführer. Nachdem er die Arrestanten ruhig angehört hatte, erklärte er, er gebe ihnen als Pensum auf, noch vier Querhölzer herauszunehmen, aber so, daß sie nicht mehr brächen, sondern ganz blieben, außerdem einen großen Teil der Barke auseinanderzunehmen; dann dürften sie nach Hause gehen. Das Pensum war groß, aber, mein Gott, mit welchem Eifer machten sie sich an die Arbeit! Wo war jetzt ihre Faulheit geblieben, wo ihre Ungeschicklichkeit! Die Äxte klopften, die Holzstifte wurden herausgedreht. Die übrigen schoben die dicken Stangen unter, stemmten sich mit zwanzig Händen dagegen und brachen die Querhölzer heraus, die sich jetzt zu meinem Erstaunen vollkommen unversehrt herausbrechen ließen. Die Arbeit kochte nur so. Alle schienen plötzlich bedeutend klüger geworden zu sein. Man hörte kein überflüssiges Wort, kein Schimpfen, ein jeder wußte, was er zu tun und zu sagen hatte, wo er sich hinstellen und was er für einen Rat geben sollte. Genau eine halbe Stunde vor dem Trommelsignal war die Arbeit beendet, und die Arrestanten gingen nach Hause, müde, aber höchst zufrieden, obwohl sie nur eine halbe Stunde gegen die vorgeschriebene Zeit gewonnen hatten. In bezug auf mich selbst machte ich aber folgende Beobachtung: wo ich ihnen auch zu helfen versuchte, war ich ihnen immer im Wege, ich störte überall, und sie jagten mich beinahe fluchend fort.

Jeder abgerissene Kerl, der selbst ein schlechter Arbeiter war und vor den anderen Zuchthäuslern, die geschickter und vernünftiger als er waren, nicht mal den Mund aufzutun wagte, hielt sich immer berechtigt, mich anzuschreien, wenn ich mich neben ihn stellte, unter dem Vorwande, daß ich ihn störe. Schließlich sagte mir einer von den geschickten Arbeitern grob ins Gesicht:

»Was drängen Sie sich vor, gehen Sie doch weg! Mischen Sie sich nicht ein, wo man Sie nicht bittet.«

»Da ist er in einen Sack geraten!« fiel ihm ein anderer ins Wort.

»Nimm lieber eine Sammelbüchse,« sagte mir ein Dritter, »und geh, Geld für Kirchenbau und Rauchtabak sammeln, hier hast du aber nichts zu tun.«

So mußte ich abseits stehen. Abseits zu stehen wenn die andern arbeiten, ist irgendwie beschämend. Als ich aber wirklich zur Seite trat und mich an das Ende der Barke stellte, fingen gleich alle zu schreien an:

»Was haben sie uns für Arbeiter gegeben, was ist mit solchen anzufangen? Mit ihnen ist nichts anzufangen!«

Dies alles wurde ja absichtlich gesagt, um die anderen zu amüsieren. Sie mußten doch einen ehemaligen Adligen ihre Gewalt fühlen lassen und freuten sich über diese Gelegenheit.

Jetzt ist es wohl verständlich, warum ich mich, wie ich schon sagte, bei meinem Eintritt ins Zuchthaus zu allererst fragte: wie soll ich mich benehmen und wie mich zu diesen Menschen stellen? Ich ahnte schon, daß ich mit ihnen bei der Arbeit noch oft solche Zusammenstöße erleben werde. Aber trotz aller Zusammenstöße entschloß ich mich, meinen Plan, den ich mir zum Teil schon zurechtgelegt hatte, nicht zu ändern; ich wußte, daß er der vernünftigste war. Ich hatte mich nämlich entschlossen, mich so einfach und unabhängig wie nur möglich zu geben, keinerlei besonderes Verlangen nach einer Annäherung mit ihnen zu zeigen und so zu tun, als merkte ich nichts, ihnen in gewissen Punkten in keiner Weise näher zu kommen und gewisse ihrer Gewohnheiten und Sitten durchaus nicht als selbstverständlich hinzunehmen, mit einem Worte, ihnen nicht als Kamerad näherzutreten. Ich erriet schon auf den ersten Blick, daß sie mich wegen solcher Annäherungsversuche selbst verachten würden. Und doch mußte ich nach ihren Begriffen (wie ich es später mit Gewißheit erfuhr), ihnen gegenüber meine adlige Abstammung betonen, d. h. einen verzärtelten und verwöhnten Menschen spielen, sie von oben herab ansehen und über sie lachen. So faßten sie eben das Wesen des Adels auf. Sie würden mich deswegen natürlich beschimpfen, aber dennoch in ihren Herzen achten. Eine solche Rolle entsprach mir aber nicht. Ich bin niemals ein Adliger, wie sie sich einen vorstellten, gewesen; dafür gab ich mir das Wort, meiner Bildung und Gesinnung durch keinerlei Konzessionen ihnen gegenüber etwas zu vergeben. Hätte ich ihnen zu Gefallen angefangen, mich bei ihnen einzuschmeicheln, ihnen in allen Dingen recht zu geben, mich auf einen vertrauten Fuß mit ihnen zu stellen und ihre Sitten anzunehmen, um ihre Zuneigung zu gewinnen, so hätten sie sofort geglaubt, daß ich es aus Furcht und Feigheit tue, und mich mit Verachtung behandelt. A–ow konnte nicht als Beispiel gelten: er verkehrte doch beim Major, und sie fürchteten ihn selbst. Andererseits wollte ich mich auch nicht in eine kalte und unnahbare Höflichkeit hüllen, wie es die Polen machten. Ich sah jetzt sehr gut, daß sie mich deswegen verachteten, weil ich genau so wie sie arbeiten wollte, weil ich nicht den Verwöhnten spielte und sie nicht meine Überlegenheit fühlen ließ; obwohl ich genau wußte, daß sie später ihre Meinung von mir würden ändern müssen, war mir der Gedanke, daß sie gleichsam ein Recht haben, mich zu verachten, in der Annahme, ich wollte mich bei der Arbeit bei ihnen einschmeicheln, dennoch sehr peinlich.

Als ich am Abend nach Beendigung der Nachmittagsarbeit müde und erschöpft ins Zuchthaus zurückkehrte, überkam mich ein drückendes Unlustgefühl. »Wie viele Tausende solcher Tage habe ich noch vor mir,« dachte ich mir, »immer die gleichen Tage!« In der Abenddämmerung trieb ich mich schweigend und allein längs des Zaunes hinter den Kasernen herum und erblickte plötzlich unsern Scharik, der auf mich zugelaufen kam. Scharik war unser Zuchthaushund, wie es ja auch Kompagniehunde, Batteriehunde und Schwadronshunde gibt. Er lebte im Zuchthause seit undenklichen Zeiten, gehörte niemand, hielt alle für seine Herren und nährte sich von den Küchenabfällen. Es war ein ziemlich großer Hofhund, schwarz mit weißen Flecken, nicht sehr alt, mit klugen Augen und einem buschigen Schweif. Niemand streichelte ihn, niemand schenkte ihm je Beachtung. Ich aber streichelte ihn gleich am ersten Tag und gab ihm ein Stück Brot aus der Hand. Als ich ihn streichelte, stand er still da, sah mich freundlich an und wedelte aus Freude leise mit dem Schwanze. Wenn er mich nun längere Zeit nicht sah, – den ersten Menschen, dem es seit so vielen Jahren eingefallen war, ihn zu streicheln, – lief er überall herum und suchte mich unter allen Arrestanten; wenn er mich hinter den Kasernen fand, rannte er mir winselnd entgegen. Ich weiß selbst nicht, wie mir geschah: ich umarmte seinen Kopf und begann ihn zu küssen; er legte mir die Vorderpfoten auf die Schultern und leckte mir das Gesicht. »Das ist also der Freund, den mir das Schicksal schickt!« sagte ich mir und ging später, in der ersten schweren Zeit, sobald ich von der Arbeit zurückkehrte, sofort hinter die Kaserne mit dem vor mir rennenden und vor Freude winselnden Scharik, umarmte seinen Kopf und küßte ihn, wobei mir ein süßes und zugleich qualvoll bitteres Gefühl das Herz beklemmte. Ich erinnere mich, wie angenehm es mir war, mir zu denken, als prahlte ich vor mir selbst mit meiner Qual, daß ich in der ganzen Welt nur noch ein einziges, mich liebendes, an mir hängendes Wesen habe, meinen Freund, meinen einzigen Freund, meinen treuen Hund Scharik.


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