Fjodr Michailowitsch Dostojewski
Aufzeichnungen aus einem toten Hause
Fjodr Michailowitsch Dostojewski

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XI

Die Theateraufführung

Am dritten Feiertag abends fand die erste Vorstellung in unserem Theater statt. Es gab wohl vorher sehr viel Arbeit, aber die Schauspieler hatten alles auf sich genommen, so daß wir übrigen vom Stande der Sache gar nichts wußten. Wir wußten nicht, was vor sich ging, und nicht einmal, was aufgeführt werden sollte. Die Schauspieler hatten sich an allen diesen drei Tagen, wenn sie zur Arbeit gingen, bemüht, möglichst viele Kostüme aufzutreiben. Wenn Bakluschin mir begegnete, schnippte er vor Vergnügen nur mit den Fingern. Auch der Platzmajor schien ordentlich in Stimmung geraten zu sein. Uns war es übrigens gänzlich unbekannt, ob er vom Theater etwas wußte. Und wenn er etwas wußte, ob er es in aller Form gestattete oder sich nur entschlossen hatte zu schweigen, sich um das Vorhaben der Arrestanten nicht zu kümmern und ihnen natürlich nur einzuschärfen, daß alles ja in Ordnung verlaufe? Ich glaube, er wußte wohl vom Theater; es wäre kaum möglich, daß er es nicht wußte; aber er wollte sich wohl nicht einmischen, da er einsah, daß es vielleicht schlimmer wäre, wenn er die Aufführung untersagte; dann würden die Sträflinge dumme Streiche machen und zu trinken anfangen, so daß es viel besser war, wenn sie eine Beschäftigung hatten. Übrigens setzte ich diese Erwägung beim Platzmajor nur deshalb voraus, weil sie die natürlichste, richtigste und gesündeste ist. Man kann sogar so sagen: wenn die Sträflinge in den Feiertagen das Theater oder eine andere Beschäftigung dieser Art nicht hätten, so müßte die Obrigkeit selbst eine erfinden. Da aber unser Platzmajor sich durch eine Denkweise auszeichnete, die der der übrigen Menschheit direkt entgegengesetzt war, so ist es sehr wohl möglich, daß ich schwer gegen die Wahrscheinlichkeit sündige, wenn ich annehme, daß er vom Theater etwas wußte und es erlaubte. So ein Mensch wie unser Platzmajor mußte immer jemand bedrücken, etwas versagen, jemand entrechten, mit einem Wort, überall Ordnung schaffen. In dieser Beziehung war er in der ganzen Stadt bekannt. Was kümmerte es ihn, daß diese Bedrückung die Sträflinge zu dummen Streichen verleiten könnte? Gegen dumme Streiche gibt es ja Strafen (urteilen solche Menschen wie unser Platzmajor), im Umgange mit diesen schuftigen Sträflingen ist aber nur die größte Strenge am Platze und eine ununterbrochene und buchstäbliche Befolgung der Gesetze: das ist alles, was verlangt wird! Diese talentlosen Vollstrecker des Gesetzes begreifen nicht und sind auch nicht imstande, zu begreifen, daß seine bloße buchstäbliche Erfüllung, ohne Sinn und ohne Verständnis für seinen Geist, direkt zu Unordnungen führen muß und zu etwas anderem niemals geführt hat. »So steht es im Gesetz, was will man noch mehr?« sagen sie und wundern sich aufrichtig, wenn man von ihnen zu den Gesetzen auch noch gesunden Menschenverstand und einen klaren Kopf verlangt. Besonders das letztere erscheint vielen von ihnen als ein überflüssiger und empörender Luxus, als Zwang und Intoleranz.

Wie dem auch sei, der älteste Unteroffizier widersprach den Sträflingen nicht, und das war alles, was sie wollten. Ich behaupte positiv, daß die Theateraufführung und die Dankbarkeit dafür, daß man sie erlaubte, den Grund dafür bildeten, daß es in den Feiertagen keine einzige nennenswerte Unordnung im Zuchthause gab; es gab keinen einzigen bösartigen Streit, keinen einzigen Diebstahl. Ich war Zeuge, wie die Sträflinge selbst ihre gar zu übermütig gewordenen oder in Streit geratenen Kameraden zur Vernunft brachten, einzig mit der Begründung, daß sonst das Theater verboten werden würde. Der Unteroffizier ließ sich von den Sträflingen das Wort geben, daß alles ruhig verlaufen würde und alle sich gut aufführen wollten. Sie willigten mit Freuden ein und hielten ihr Versprechen heilig; es schmeichelte ihnen, daß man ihrem Wort glaubte. Es ist übrigens zu bemerken, daß die Genehmigung des Theaters der Obrigkeit gar keine Opfer gekostet hatte. Das Theater erforderte keinen besonderen Platz und wurde in einer Viertelstunde aufgebaut und wieder auseinandergenommen. Die Aufführung dauerte anderthalb Stunden, und wenn plötzlich der Befehl von oben käme, die Aufführung abzubrechen, so wäre dies in einem Augenblick geschehen. Die Kostüme lagen in den Koffern der Sträflinge versteckt. Aber bevor ich erzähle, wie das Theater eingerichtet war und was es für Kostüme gab, will ich über den Theaterzettel berichten, d. h. was gespielt werden sollte.

Einen geschriebenen Theaterzettel gab es eigentlich nicht. Bei der zweiten und dritten Vorstellung tauchte aber ein solcher auf: Bakluschin hatte ihn für die Herren Offiziere und sonstigen vornehmen Gäste, die unser Theater schon bei der ersten Aufführung mit ihrem Besuche beehrten, eigenhändig geschrieben. Es kam so: von den Herrschaften kam gewöhnlich der Wachoffizier und einmal sogar der diensthabende Offizier, der die Wachen unter sich hatte. Einmal kam auch der Ingenieuroffizier; für solche Besucher war eben der Theaterzettel entstanden. Man glaubte, daß der Ruhm des Zuchthaustheaters sich weit in der Festung und sogar in der Stadt verbreiten würde, um so mehr als es in der Stadt kein Theater gab. Man hatte nur einmal etwas von einer Liebhaberaufführung gehört. Die Sträflinge freuten sich wie die Kinder über den geringsten Erfolg und waren sogar stolz darauf. »Wer weiß,« dachten und sagten sie bei sich und untereinander, »vielleicht erfährt auch die höchste Behörde etwas davon; sie werden kommen und sehen, was die Sträflinge für Menschen sind. Es ist doch keine gewöhnliche Soldatenaufführung mit Tiermasken, schwimmenden Booten, herumspazierenden Bären und Ziegen. Hier sind Schauspieler, richtige Schauspieler, welche herrschaftliche Komödien spielen; ein solches Theater gibt es nicht einmal in der Stadt. Man sagt, daß beim General Abrossimow einmal eine Vorstellung stattgefunden hat und wieder einmal eine stattfinden wird; die werden höchstens bessere Kostüme haben, was aber die Gespräche betrifft, so weiß man nicht, ob sie uns darin übertreffen werden! Auch der Gouverneur wird es erfahren, vielleicht wird er selbst den Wunsch haben, sich die Sache, anzusehen; es ist ja alles möglich! In der Stadt gibt es doch kein Theater . . .« Kurz gesagt, die Phantasie der Sträflinge erreichte, besonders nach dem ersten Erfolg, während der Feiertage den höchsten Grad: sie malten sich beinahe Belohnungen und Herabsetzung ihrer Strafzeit aus, obwohl sie zugleich über sich selbst recht gutmütig spotteten. Mit einem Worte, sie waren Kinder, durchaus Kinder, obwohl einige von diesen Kindern schon vierzig Jahre alt waren.

Obwohl es also keinen Theaterzettel gab, kannte ich schon in den Hauptzügen das Programm der geplanten Aufführung. Das erste Stück hieß: »Filatka und Miroschka als Nebenbuhler.« Bakluschin hatte mir schon eine Woche vor der Vorstellung vorgeprahlt, daß die Rolle Filatkas, die er selbst übernommen hatte, so gespielt werden würde, wie man sie selbst im Sankt-Petersburger Theater noch nie gesehen hätte. Er ging in den Kasernen umher, renommierte skrupel- und schamlos, zugleich aber ebenso harmlos; zuweilen gab er auch etwas auf »Theaterart«, d. h. aus seiner Rolle zum besten, und alle lachten, ganz gleich, ob es wirklich komisch war oder nicht. Es ist übrigens zu bemerken, daß die Arrestanten auch darin ihre Würde zu wahren wußten: über die Auftritte Bakluschins und seine Erzählungen von der bevorstehenden Aufführung entzückten sich nur die allerjüngsten Grünschnäbel, Leute ohne jede Haltung, sowie nur die Angesehensten unter ihnen, deren Autorität so unerschütterlich feststand, daß sie sich nicht zu schämen brauchten, ihre Empfindungen zu äußern, selbst wenn diese von der naivsten (d. h. nach den Zuchthausbegriffen unziemlichsten) Art waren. Die übrigen aber hörten dem Gerede schweigend zu; sie verurteilten es zwar nicht und widersprachen ihm nicht, gaben sich aber doch die größte Mühe, den Theatergerüchten gegenüber Gleichgültigkeit und sogar Hochmut zur Schau zu tragen. Nur im allerletzten Moment, fast am Tage der Vorstellung selbst, fingen alle sich zu interessieren an: Was wird es geben? Wie werden sich die Unsrigen bewähren? Was wird der Platzmajor dazu sagen? Wird es ebensogut gelingen wie im letzten Jahre? usw. Bakluschin versicherte mich, daß alle Schauspieler vortrefflich ausgewählt seien und »ein jeder auf seinem Platze stehe«. Daß man selbst einen Vorhang habe und daß Ssirotkin Filatkas Braut spielen werde. »Sie werden ja selbst sehen, wie er sich in Frauenkleidern macht!« sagte er, indem er mit den Augen zwinkerte und mit der Zunge schnalzte. »Die wohltätige Gutsbesitzerin wird ein Kleid mit Falbeln, eine Pelerine und einen Sonnenschirm in der Hand haben, der wohltätige Gutsbesitzer aber wird in einem Offiziersrock mit Fangschnüren und einem Rohrstöckchen auftreten.«

Darauf sollte ein zweites Stück folgen: »Der Vielfraß Kedrill«. Dieser Titel interessierte mich sehr, aber soviel ich auch nach dem Inhalt fragte, konnte ich doch nichts vorher erfahren. Ich wurde nur inne, daß es nicht aus einem Buch, sondern aus einer »Handschrift« stammte; daß man das Stück von einem alten Unteroffizier aus der Vorstadt bekommen habe, der wahrscheinlich einmal selbst bei der Aufführung auf einer Soldatenbühne mitgewirkt hatte. Es gibt bei uns in den entlegenen Städten und Gouvernements tatsächlich solche Theaterstücke, die niemand kennt und die wohl auch nirgends veröffentlicht sind, die aber von selbst irgendwoher entstanden sind und zum eisernen Bestand eines jeden »Volkstheaters« gehören. Es wäre gut, wenn sich jemand unter unsern Gelehrten neuen und sorgfältigeren Forschungen über unser Volkstheater widmen wollte, welches existiert und vielleicht durchaus nicht ganz unbedeutend ist. Ich kann nicht glauben, daß alles, was ich in unserem Zuchthaustheater zu sehen bekam, von den Sträflingen selbst erfunden worden sei. Es ist hier sicher eine Überlieferung anzunehmen, es sind feststehende Kunstgriffe und Anschauungen dabei, die von Geschlecht zu Geschlecht aus dem Gedächtnis weitergegeben werden. Man muß dies alles bei den Soldaten, den Fabrikarbeitern, in den Fabrikstädten und sogar in manchen unbekannten armen Städtchen bei den Kleinbürgern suchen. Die Überlieferung hat sich auch auf dem Lande und in den Gouvernementsstädten unter den Leibeigenen der Gutsbesitzer erhalten. Ich glaube sogar, daß viele alte Stücke ihre handschriftliche Verbreitung in Rußland nur durch das leibeigene Hausgesinde der Gutsbesitzer gefunden haben. Die Gutsbesitzer und Moskauer Magnaten der alten Zeit hielten sich Theatertruppen aus leibeigenen Schauspielern. Aus diesen Bühnen ist wohl auch unsere volkstümliche Theaterkunst entstanden, deren Eigentümlichkeiten unverkennbar sind. Was aber das Stück »Der Vielfraß Kedrill« betrifft, so konnte ich trotz meiner Bemühungen, vorher nicht mehr darüber erfahren, als daß darin böse Geister auftreten und den Kedrill in die Hölle schleppen. Aber was bedeutet der Name »Kedrill«, und weshalb Kedrill und nicht Kyrill? Ob sein Ursprung russisch oder ausländisch ist, konnte ich nicht feststellen.

Zum Schluß sollte eine »Pantomime mit Musik« kommen. Dies alles war natürlich sehr interessant. Schauspieler waren an die fünfzehn Mann, lauter gewandte und tapfere Jungen. Sie waren sehr geschäftig, hielten ihre Proben, manchmal hinter der Kaserne, versteckten sich und taten heimlich. Mit einem Worte, sie wollten uns alle durch etwas Ungewöhnliches und Unerwartetes verblüffen.

An Wochentagen wurde das Zuchthaus früh, gleich nach Anbruch der Dunkelheit geschlossen. Aber am Weihnachtstage machte man eine Ausnahme: es blieb bis zum Zapfenstreich offen. Diese Vergünstigung galt eigentlich nur dem Theater. Wahrend der Feiertage schickte man gewöhnlich jeden Abend zum Wachoffizier mit der ergebensten Bitte, »das Theater zu erlauben und das Zuchthaus möglichst lange offen zu lassen,« und dem Bemerken, daß auch am vorhergegangenen Tage eine Aufführung gewesen und das Zuchthaus erst spät geschlossen worden sei, ohne daß Unordnungen vorgekommen wären. Der Wachoffizier sagte sich: »Gestern ist wirklich keinerlei Unordnung vorgekommen; da sie aber selbst versprechen, daß es auch heute keine geben wird, so werden sie selbst auf sich aufpassen, und das ist das Sicherste. Außerdem: wenn ich die Aufführung nicht erlaube, so werden sie vielleicht aus Ärger absichtlich etwas anstellen (sie sind doch nur Zuchthäusler!), damit die Wache eine Rüge bekommt.« Schließlich kam noch die Erwägung hinzu: der Wachdienst ist langweilig, hier ist aber ein Theater, und zwar kein gewöhnliches Soldatentheater, sondern ein Zuchthaustheater; die Sträflinge sind interessante Menschen, und es kann lustig sein, ihnen zuzuschauen. Zuschauen darf aber ein Wachoffizier zu jeder Zeit.

Wenn der Diensthabende kommt und fragt: »Wo ist der Wachoffizier?«, so ist die Antwort: »Er ist ins Zuchthaus gegangen, um die Sträflinge nachzuzählen und die Kasernen zu schließen«, eine bündige Rechtfertigung. Darum erlaubten die Wachoffiziere jeden Abend während der Feiertage die Aufführung und schlossen die Kasernen nicht vor dem Zapfenstreich. Die Sträflinge wußten schon im voraus, daß die Wache keine Hindernisse in den Weg legen werde, und waren unbesorgt.

Gegen sieben Uhr kam Petrow mich abzuholen, und wir gingen gemeinsam zur Vorstellung. Aus unserer Kaserne gingen fast alle hin, mit Ausnahme des Altgläubigen aus Tschernigow und der Polen. Die Polen ließen sich erst bei der letzten Vorstellung, am 4. Januar, herab, das Theater zu besuchen, und das auch nur nach vielen Versicherungen, daß es dort nett, lustig und ungefährlich sei. Die Zuchthäusler waren durch diese Zurückhaltung in keiner Weise gekränkt, und die Polen wurden am 4. Januar mit aller Höflichkeit empfangen. Man gab ihnen sogar die besten Plätze. Was aber die Tscherkessen und besonders Issai Fomitsch betrifft, so war für sie unser Theater ein wahrer Hochgenuß. Issai Fomitsch gab jedesmal drei Kopeken, am letzten Abend legte er aber zehn Kopeken auf den Teller, wobei sein Gesicht höchste Seligkeit ausdrückte. Die Schauspieler hatten beschlossen, von den Besuchern Eintrittsgeld zu erheben, soviel jeder geben wollte, um damit die Auslagen für die Aufführung und für ihre eigene »Stärkung« zu bestreiten. Petrow versicherte, daß man mich auf einen der ersten Plätze lassen würde, so überfüllt das Theater auch wäre, weil ich reicher als die andern sei und mehr geben würde; auch weil ich mehr als alle von der Sache verstünde. So kam es auch. Aber ich will erst den Saal und die Einrichtung des Theaters beschreiben.

Unser Kasernenraum, in dem die Aufführung stattfand, war an die fünfzehn Schritt lang. Vom Hofe kam man auf die Treppe, von der Treppe in den Flur und aus dem Flur in die Kaserne. Diese lange Kaserne hatte, wie ich schon sagte, eine eigene Einrichtung: die Pritschen waren längs der Wände angeordnet, so daß die Mitte des Zimmers frei blieb. Die der Eingangstür zunächst liegende Hälfte des Zimmers war für die Zuschauer, die andere Hälfte, die mit einer anderen Kaserne in Verbindung stand, für die Bühne selbst bestimmt. Vor allem setzte mich der Vorhang in Erstaunen. Er zog sich an die zehn Schritt quer durch den ganzen Raum. Er bedeutete einen Luxus, über den man sich wirklich wundern konnte. Außerdem war er mit Ölfarbe bemalt; dargestellt waren auf ihm Bäume, Lauben, Teiche und Sterne. Er bestand aus alten und neuen Leinwandstücken, die ein jeder beigesteuert hatte, aus alten Fußlappen und Hemden, die zu einem großen Stück zusammengenäht waren; soweit die Leinwand nicht gereicht hatte, war einfach Papier verwendet worden, das man sich gleichfalls bogenweise in den verschiedenen Kanzleien und Amtsstuben zusammengebettelt hatte. Unsere Maler, unter ihnen unser »Brjullow«, A–ow, hatten es übernommen, den Vorhang anzustreichen und zu bemalen. Der Effekt war erstaunlich. Eine solche Pracht gereichte sogar den Düstersten und den Verwöhntesten unter den Arrestanten zur Freude, und sie erwiesen sich denn auch, sobald die Vorstellung begann, alle ohne Ausnahme als die gleichen Kinder, wie die Hitzigsten und Ungeduldigsten. Alle waren sehr zufrieden, sogar bis zur Prahlerei. Die Beleuchtung bestand aus einigen in Stücke geschnittenen Talglichtern. Vor dem Vorhang standen zwei Küchenbänke und vor den Bänken drei oder vier Stühle, die sich im Unteroffizierzimmer gefunden hatten. Die Stühle waren für den Fall bestimmt, daß höhere Offiziere kommen sollten; die Bänke aber standen für die Unteroffiziere, Ingenieurschreiber, Zugführer und ähnliche Personen bereit, die zwar zu den Vorgesetzten gehörten, aber keinen Offiziersrang hatten, für den Fall, daß sie ins Zuchthaus hineinschauten.

So kam es auch: zufällige Besucher fanden sich an jedem Abend ein, an einem Abend mehr, am andern weniger; aber bei der letzten Vorstellung blieb kein Platz auf den Bänken unbesetzt. Zuletzt, hinter den Bänken, standen die Arrestanten, aus Achtung vor den Gästen barhäuptig, in Joppen und Halbpelzen, trotz der schwülen Luft im Zimmer. Natürlich war der Platz für die Arrestanten viel zu klein. Aber abgesehen davon, daß der eine buchstäblich auf dem andern saß, zumal in den hinteren Reihen, waren auch alle Pritschen und Kulissen besetzt; schließlich fanden sich auch Liebhaber, die das Theater jeden Abend besuchten und der Aufführung aus der anderen Kaserne, hinter der rückwärtigen Kulisse, zuschauten. Die Enge in der vordern Hälfte der Kaserne war ganz unnatürlich und vielleicht der Enge und dem Gedränge zu vergleichen, die ich neulich im Dampfbade gesehen hatte. Die Türe in den Flur stand offen; auch im Flur, in dem ein Frost von etwa zwanzig Grad herrschte, drängten sich die Leute. Man ließ uns, mich und Petrow, sogleich nach vorn durch, fast bis zu den Bänken, von wo man alles viel besser sehen konnte als von den hinteren Reihen. Man sah in mir zum Teil einen Kenner, der schon ganz andere Theateraufführungen erlebt hatte; man hatte bemerkt, daß Bakluschin sich die ganze Zeit mit mir beraten hatte und mich mit Respekt behandelte; also gebührte mir Ehre und ein guter Platz. Die Arrestanten waren zwar ehrgeizige und im höchsten Maße leichtsinnige Menschen, aber das war nur geheuchelt. Die Arrestanten konnten über mich lachen, als sie sahen, daß ich ihnen bei der Arbeit ein schlechter Helfer war. Almasow durfte uns Adelige mit Verachtung ansehen und sich vor uns mit seinem Können, Alabaster zu brennen, brüsten. Aber in ihren Verfolgungen und Spöttereien über uns steckte auch etwas anderes: wir waren ja früher einmal Adelige gewesen; wir gehörten dem gleichen Stande an wie ihre einstigen Herren, die sie unmöglich in gutem Andenken haben konnten. Aber jetzt, im Theater, machten sie mir Platz. Sie anerkannten, daß ich darin ein besseres Urteil und mehr gesehen hätte und wisse als sie. Die mir am wenigsten Wohlgesinnten wünschten (ich weiß es) mein Lob über ihr Theater zu hören, und ließen mich ohne jede Selbsterniedrigung auf den ersten Platz. Ich sage es jetzt, da ich mich meines damaligen Eindrucks erinnere. Damals hatte ich auch den Eindruck – ich erinnere mich dessen –, daß in ihrer gerechten Selbsteinschätzung durchaus keine Selbsterniedrigung, sondern ein Gefühl für die eigene Würde lag. Der höchste und auffallendste Charakterzug unseres Volkes ist das Gefühl für Gerechtigkeit und der Drang nach ihr. Das freche Bestreben, sich immer und überall, koste es, was es wolle, auf den ersten Platz zu drängen, ganz gleich, ob der Mensch es verdient oder nicht, ist diesem Volke fremd. Man braucht nur die äußere Schale zu entfernen und den inneren Kern aus nächster Nähe recht aufmerksam und vorurteilslos anzuschauen, um in unserem Volke solche Dinge zu erkennen, die man gar nicht geahnt hat. Unsere Weisen können unser Volk nicht viel lehren. Ich will sogar positiv behaupten: sie müssen selbst von ihm lernen.

Petrow sagte mir naiv, als wir uns aufmachten, um ins Theater zu gehen, daß man mich auch deshalb auf den ersten Platz lassen würde, weil man von mir mehr Geld erwartete. Einen bestimmten Preis gab es nicht: ein jeder gab soviel er konnte oder wollte. Als man mit dem Teller sammeln ging, gab fast jeder etwas, wenigstens eine halbe Kopeke. Wenn man mir aber den ersten Platz zum Teil auch des Geldes wegen einräumte, in der Annahme, daß ich mehr als die andern geben würde, so lag ja darin wiederum sehr viel Gefühl für eigene Würde! »Du bist reicher als ich, geh darum nach vorn; wir sind hier zwar alle gleich, aber du wirst mehr als die anderen auf den Teller legen: ein solcher Besucher wie du, ist also den Schauspielern angenehmer, – dir gebührt der erste Platz, denn wir alle sind hier nicht für Geld, sondern aus Achtung, – folglich müssen wir uns selbst sortieren.« Wieviel echter Stolz liegt doch darin! Es ist keine Achtung vor dem Geld, sondern die Achtung vor sich selbst. Im Zuchthause genossen Geld und Reichtum überhaupt sehr wenig Ansehen, besonders wenn man die Arrestanten als eine Masse und Gemeinschaft betrachtete. Ich kann mich auf keinen einzigen besinnen, der sich des Geldes wegen ernsthaft erniedrigt hätte, selbst wenn ich jeden einzelnen durchnehme. Es gab wohl Bettler, die auch mich anschnorrten. Aber sie bettelten mehr aus Mutwillen und Schelmerei als aus geldgieriger wirklicher Absicht; es lag darin mehr Humor und Naivität. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich genug ausdrücke. Aber ich habe das Theater inzwischen ganz vergessen. Zur Sache.

Bis zum Aufgehen des Vorhanges bot das ganze Zimmer ein seltsam belebtes Bild. Vor allem fiel die Menge der Zuschauer auf, die von allen Seiten gepreßt und zusammengedrückt war und mit Ungeduld und Seligkeit in den Mienen auf den Anfang der Vorstellung wartete. In den hinteren Reihen hockten die Menschen aufeinander. Viele von ihnen hatten aus der Küche Holzscheite mitgebracht: man stellte so ein dickes Scheit an die Wand, stieg mit beiden Füßen hinauf, stützte sich mit beiden Händen auf die Schultern des Vordermannes und blieb so, ohne seine Stellung zu ändern, zwei Stunden lang stehen, mit sich und seinem Platze vollkommen zufrieden. Andere stellten sich auf den unteren Vorsprung des Ofens und standen ebenfalls die ganze Zeit, mit den Händen auf die Vordermänner gestützt. So war es in den hintersten Reihen an der Wand. Seitwärts über den Musikanten stand gleichfalls eine kompakte Masse auf den Pritschen. Hier waren gute Plätze. An die fünf Mann waren auf den Ofen selbst geklettert und sahen liegend hinunter. Diese genossen die höchste Seligkeit. Auf den Fensterbänken und längs der anderen Wand drängte sich eine ganze Menge Verspäteter und solcher, die keinen guten Platz gefunden hatten. Alle verhielten sich ruhig und anständig. Ein jeder wollte sich vor den Ehrengästen und den anderen Besuchern im besten Lichte zeigen. Auf allen Gesichtern stand die naivste Erwartung. Alle Gesichter waren rot und von der Hitze und Schwüle schweißbedeckt. Welch ein seltsamer Widerschein kindlicher Freude, eines herzlichen, reinen Genusses leuchtete auf diesen von vielen Runzeln durchfurchten, gebrandmarkten Stirnen und Wangen, in diesen Blicken der bisher düsteren und finsteren Menschen, in diesen Augen, die sonst oft in schrecklichem Feuer glühten! Alle waren barhaupt, und alle Köpfe zeigten sich mir von rechts rasiert. Da machte sich aber auf der Bühne eine Bewegung bemerkbar. Gleich wird der Vorhang aufgehen. Das Orchester beginnt zu spielen . . . Dieses Orchester ist der Erwähnung wert. Seitwärts auf den Pritschen saßen an die acht Musikanten: zwei Geigen (die eine war im Zuchthause vorhanden, die andere hatte man sich irgendwo in der Festung geliehen, der Künstler dazu fand sich im Zuchthause), drei Balalaikas, lauter selbstgemachte Instrumente, zwei Gitarren und ein Tamburin, das eine Baßgeige vertrat. Die Geigen quietschten und winselten nur, die Gitarren waren schlecht, die Balalaikas aber ganz außergewöhnlich gut. Die Gewandtheit, mit der die Musiker die Saiten bearbeiteten, erinnerte an ein geschicktes Kunststück. Man spielte lauter Tanzweisen. An den lebhaftesten Stellen schlugen die Balalaikaspieler mit den Knöcheln auf die Resonanzdecken der Instrumente; der ganze Ton und Geschmack, die Ausführung, die Behandlung der Instrumente und der Charakter der Wiedergabe der Melodie waren durchaus originell und verrieten einen eigentümlichen Arrestantenstil. Auch der eine Gitarrespieler beherrschte sein Instrument vorzüglich. Es war der Adelige, der seinen Vater ermordet hatte. Was aber den Tamburinspieler betrifft, so vollbrachte er wahre Wunder: bald drehte er das Instrument auf einem Finger im Kreise, bald fuhr er mit dem Daumen über das Fell; bald hörte man schnelle, helle, eintönige Schläge, bald löste sich dieses deutlich akzentuierte Tönen in einer Menge kleiner, zitternder und raschelnder Laute auf, als schütte man Erbsen aus. Schließlich tauchten auch zwei Ziehharmonikas auf. Mein Ehrenwort, ich hatte bis dahin keine Ahnung davon gehabt, was sich aus den einfachsten Volksinstrumenten machen läßt: die Harmonie der Töne, der Rhythmus, vor allem aber der Geist, der Charakter der Auffassung und die Wiedergabe des Wesens der Melodie waren einfach erstaunlich. Ich begriff damals zum ersten Male vollkommen, worin die unendliche Ausgelassenheit und Unbändigkeit der kühnen russischen Tanzlieder liegt.

Endlich ging der Vorhang auf. Alle gerieten in Bewegung, ein jeder trat von dem einen Fuß auf den andern, die Hintersten stellten sich auf die Fußspitzen, einer fiel von seinem Holzscheit herunter, alle rissen Mund und Augen auf, und eine vollständige Ruhe trat ein. Die Vorstellung begann.

Neben mir stand Alej in einer Gruppe mit seinen Brüdern und den übrigen Tscherkessen. Sie alle hatten am Theater leidenschaftlichen Geschmack gefunden und besuchten es jeden Abend. Alle Muselmänner, Tataren usw. sind leidenschaftliche Liebhaber von Schauspielen jeder Art. Neben ihnen fand auch Issai Fomitsch Platz, der nun ganz Ohr und Auge und die naivste, gierige Erwartung von Wundern und Genüssen geworden zu sein schien. Es wäre mir wirklich leid, wenn er in seinen Erwartungen getäuscht worden wäre. Das liebe Gesicht Alejs strahlte in einer solchen kindlichen, schönen Freude, daß es mir, ich gestehe es, ein wahres Vergnügen war, ihn anzusehen, und ich erinnere mich noch, wie ich, sooft bei irgendeinem drolligen und geschickten Spaß eines Schauspielers ein allgemeines Gelächter ertönte, mich sofort zu Alej umwandte und ihm ins Gesicht blickte. Er sah mich nicht, seine Aufmerksamkeit war von anderen Dingen gefesselt! Gar nicht weit von mir stand links ein älterer, immer mürrischer, unzufriedener und brummiger Arrestant. Auch er war auf Alej aufmerksam geworden, und ich sah, wie er sich einige Male halb lächelnd nach ihm umwandte, um ihn anzublicken: so nett war der Tscherkesse! Jemand nannte ihn, ich weiß nicht warum, mit dem russischen Vatersnamen »Alej Ssemjonowitsch«. Man fing mit »Filatka und Miroschka« an. Filatka (Bakluschin) war wirklich großartig. Er spielte seine Rolle mit wunderbarem Takt. Man sah, daß er sich jeden Satz, jede seiner Bewegungen überlegt hatte. Jedem noch so unbedeutendem Wort, jeder Geste verstand er einen Sinn und eine Bedeutung zu verleihen, die dem Charakter der Rolle vollkommen entsprachen. Wenn man sich zu diesen Bemühungen, zu diesem sorgfältigen Studium der Rolle seine wunderbare, ungekünstelte Heiterkeit, Natürlichkeit und Echtheit hinzudenkt, wird man beim Anblick Bakluschins unbedingt zugeben müssen, daß er ein echter, geborener Schauspieler mit großem Talente war. Den »Filatka« habe ich mehrmals auf den Moskauer und Petersburger Bühnen gesehen, und ich behaupte entschieden, daß die großstädtischen Schauspieler, die den »Filatka« darstellten, durchaus schlechter waren als Bakluschin. Im Vergleiche mit ihm waren sie »Paysans« und keine echten Bauern. Sie wollten zu sehr den Bauern spielen. Bakluschin wurde außerdem durch die Konkurrenz angeregt: es war allen bekannt, daß im zweiten Stück die Rolle des Kedrill dem Arrestanten Pozejkin zugeteilt war, einem Schauspieler, den alle aus irgendeinem Grunde für begabter und besser als Bakluschin hielten, und Bakluschin litt darunter wie ein Kind. In den letzten Tagen war er gar oft zu mir gekommen und hatte bei mir sein Herz erleichtert. Zwei Stunden vor der Vorstellung schüttelte ihn Fieberfrost. Als die Menge lachte und ihm zurief: »Bravo, Bakluschin! Gut, Bakluschin!«, strahlte sein Gesicht vor Glück, und in seinen Augen leuchtete echte Begeisterung. Die Kußszene mit Miroschka, wo ihm Filatka zuruft: »Wisch dir erst den Mund ab!« und sich auch selbst den Mund abwischt, geriet ungemein komisch. Alle wälzten sich vor Lachen. Am meisten interessierten mich aber die Zuschauer: alle Herzen standen offen. Alle gaben sich ungehemmt dem Genusse hin. Beifallsrufe wurden immer häufiger. Da stößt einer seinen Nachbarn in die Seite und teilt ihm in aller Eile seine Eindrücke mit, ohne sich darum zu kümmern und selbst ohne zu sehen, wer dieser Nachbar ist; ein anderer wendet sich bei einer besonders lustigen Szene plötzlich entzückt zu der Menge um, läßt seinen Blick schnell über alle Gesichter gleiten, als wolle er alle zum Lachen auffordern, winkt mit der Hand und dreht sich gleich wieder zur Bühne um. Ein dritter schnalzt einfach mit der Zunge und den Fingern und kann nicht ruhig auf seinem Platze stehen; da er aber keinen Schritt zu machen vermag, so tritt er von einem Fuß auf den andern.

Gegen den Schluß des Stückes erreichte die allgemeine heitere Stimmung ihren Höhepunkt. Ich übertreibe es nicht. Man stelle sich das Zuchthaus vor, die Ketten, die Unfreiheit, die vielen traurigen Jahre in der Zukunft, das Leben, so eintönig wie ein trüber herbstlicher Regentag, – und plötzlich wurde allen dieser bedrückten, gefangenen Menschen gestattet, sich eine Stunde lang gehen zu lassen, sich zu vergnügen, den schweren Traum zu vergessen, eine richtige Theatervorstellung zu veranstalten, und zwar eine, die der ganzen Stadt zu Stolz und Bewunderung gereicht: – ja, so sind unsere Arrestanten! Alles erregte natürlich ihr Interesse, z. B. auch die Kostüme. Es war ihnen außerordentlich interessant, irgendeinen Wanjka Otpjetyi oder Nezwetajew oder Bakluschin in ganz anderer Kleidung zu sehen als der, in welcher man ihn schon seit so vielen Jahren täglich sah. »Er ist ja Arrestant, genau wie ich, man hört seine Ketten klirren, und da tritt er in einem Rock, runden Hut und Mantel auf, ganz wie ein Zivilist! Er hat sich einen Schnurrbart und Haar angeklebt. Jetzt zieht er ein rotes Tüchlein aus der Tasche, fächelt damit, er stellt einen vornehmen Herrn dar und ist wirklich ganz wie ein vornehmer Herr!« Und alle sind begeistert.

Der »wohltätige Gutsbesitzer« trat in einer, wenn auch sehr abgetragenen Adjutantenuniform auf, mit Epauletten, einer Mütze mit Kokarde und machte einen ungewöhnlichen Effekt. Für diese Rolle gab es zwei Bewerber, und – sollte man es glauben, – beide stritten sich wie kleine Kinder herum, wer sie spielen sollte, beide wollten sich gar zu gern in Offiziersuniform mit Fangschnüren zeigen! Die übrigen Schauspieler schlichteten den Streit und beschlossen mit Stimmenmehrheit, diese Rolle dem Nezwetajew zu geben, nicht etwa weil er hübscher und ansehnlicher als der andere wäre und daher eher einem wirklichen Herrn gliche, sondern weil Nezwetajew allen versichert hatte, daß er mit einem Rohrstöckchen auftreten und mit demselben wie ein echter Herr und Stutzer fuchteln und auf der Erde zeichnen würde, wie es Wanjka Otpjetyi niemals darstellen könne, weil er echte Herrschaften niemals gesehen habe. Und in der Tat: als Nezwetajew mit seiner Dame vor das Publikum trat, tat er nichts anderes, als mit seinem dünnen Rohrstöckchen, das er sich irgendwo verschafft hatte, mit großer Geschwindigkeit auf der Erde zu zeichnen, worin er wahrscheinlich die Merkmale höchster Vornehmheit und Eleganz erblickte. Wahrscheinlich hatte er einmal in seiner Kindheit als barfüßiger Bauernjunge einen schöngekleideten Herrn mit einem Rohrstöckchen gesehen und war von der Kunstfertigkeit, mit der jener das Stöckchen drehte, dermaßen gefesselt worden, daß dieser Eindruck für alle Ewigkeit unauslöschlich in seiner Seele haften geblieben war; und nun gab er mit seinen dreißig Jahren zum Ergötzen des Zuchthauses alle so wieder, wie er es einst gesehen hatte. Nezwetajew war dermaßen in diese Betätigung vertieft, daß er auf nichts und niemand sah, selbst beim Sprechen nicht aufblickte und ununterbrochen die Spitze seines Rohrstöckchens im Auge behielt. Die »wohltätige Gutsbesitzerin« war in ihrer Art gleichfalls bemerkenswert: sie erschien in einem alten, abgetragenen Tüllkleide, das mehr wie ein Fetzen aussah, mit bloßen Armen und bloßem Hals, mit entsetzlich gepudertem und geschminktem Gesicht, mit einem am Kinn festgebundenen Nachthäubchen aus Kattun, mit einem Sonnenschirm in der einen Hand und einem Fächer aus bemaltem Papier in der andern, mit dem sie unaufhörlich fächelte. Eine Lachsalve begrüßte die Dame; auch die Dame selbst hielt es nicht aus und fing einige Male zu lachen an. Die Dame spielte der Arrestant Iwanow. Ssirotkin, als junges Mädchen verkleidet, war sehr nett. Die Kuplets gerieten gut. Mit einem Worte, das Stück endete zur größten allgemeinen Zufriedenheit. Eine Kritik gab es nicht und konnte es auch nicht geben.

Man spielte als Zwischenakt wieder ein bekanntes Volkslied, und der Vorhang ging von neuem auf. Jetzt kam der »Kedrill«. Der Kedrill ist etwas von der Art des Don Juan, jedenfalls werden der Herr und der Diener am Ende des Stückes von den Teufeln in die Hölle geschleppt. Man spielte einen ganzen Akt, aber offenbar war es nur ein Bruchstück; der Anfang und der Schluß schienen verloren zu sein. Von einem Sinn und Zusammenhang war nichts zu erkennen. Die Handlung spielt in Rußland, in einem Gasthofe. Der Gastwirt geleitet einen Herrn im Mantel und eingedrückten runden Hut ins Zimmer. Ihm folgt sein Diener Kedrill mit der Reisetasche und einem in blaues Papier eingewickelten Huhn. Kedrill trägt einen Halbpelz und eine Lakaienmütze. Er ist eben der Vielfraß. Diese Rolle spielt der Arrestant Pozejkin, der Rivale Bakluschins; den Herrn spielt der gleiche Iwanow, der im ersten Stück die wohltätige Gutsbesitzerin gespielt hat. Der Gastwirt, Nezwetajew, teilt dem Gast warnend mit, daß es im Zimmer Teufel gebe, und verschwindet. Der Herr murmelt düster und besorgt vor sich hin, daß er es schon längst gewußt habe, und befiehlt Kedrill, die Sachen auszupacken und das Abendessen herzurichten. Kedrill ist ein Feigling und ein Vielfraß. Als er von den Teufeln hört, wird er blaß und zittert wie ein Espenblatt. Er wäre gern davongelaufen, aber er fürchtet sich vor seinem Herrn. Außerdem hat er auch Hunger. Er ist naschhaft, dumm, feig und auf seine Weise schlau; er betrügt den Herrn auf Schritt und Tritt und hat zugleich Angst vor ihm. Es ist ein merkwürdiger Dienertypus, mit entfernten, dunklen Anklängen an den Leporello, und die Rolle wurde auch wunderbar gespielt. Pozejkin hatte entschieden Talent und war meiner Ansicht nach ein noch besserer Schauspieler als Bakluschin. Als ich ihn am nächsten Tage mit Bakluschin traf, sprach ich ihm diese Meinung nicht völlig aus, denn das würde den andern zu sehr gekränkt haben. Auch der Arrestant, der den Herrn spielte, war nicht schlecht. Er sprach entsetzlichen Unsinn, aber seine Diktion war richtig und gewandt, und auch die Gesten waren passend. Während nun Kedrill sich mit dem Gepäck zu schaffen macht, geht der Herr nachdenklich auf der Bühne auf und ab und erklärt laut, daß am heutigen Abend seine Fahrten ein Ende nehmen. Kedrill hört neugierig zu, schneidet Grimassen, spricht bei Seite und bringt mit jedem Wort die Zuschauer zum Lachen. Sein Herr tut ihm nicht leid; er hat aber von den Teufeln gehört und möchte wissen, was das ist; so beginnt er ein Gespräch und stellt allerlei Fragen. Der Herr erklärt ihm schließlich, daß er einmal in großer Not die Hilfe der Hölle angerufen habe und daß die Teufel ihm aus der Klemme geholfen hätten; heute sei aber die Zeit abgelaufen, und vielleicht würden sie kommen, um laut Abmachung seine Seele zu holen. Kedrill bekommt ordentlich Angst. Der Herr aber verliert seinen Mut nicht und befiehlt ihm, das Abendessen herzurichten. Als Kedrill vom Abendessen hört, wird er lebendig, packt das Huhn aus und holt Wein; dabei reißt er jeden Augenblick ein Stückchen vom Huhn ab und stopft es sich in den Mund. Das Publikum lacht. Da knarrt die Tür, der Wind poltert mit den Fensterläden; Kedrill zittert und steckt sich fast unbewußt ein riesengroßes Stück Huhn in den Mund, das er nicht hinunterschlucken kann. Alle lachen wieder. »Bist du fertig?« schreit der Herr, der im Zimmer auf und ab geht. – »Sofort, Herr . . . ich werde für Sie alles . . . herrichten,« sagt Kedrill, indem er sich selbst an den Tisch setzt und das Essen seines Herrn zu verzehren beginnt. Dem Publikum gefällt offenbar die Gewandtheit und die List des Dieners, auch daß der Herr betrogen wird. Ich muß sagen, daß Pozejkin den Beifall auch wirklich verdiente. Die Worte »Sofort, Herr, ich werde für Sie alles herrichten,« sprach er vorzüglich. Nachdem Kedrill sich an den Tisch gesetzt hat, beginnt er mit Gier zu essen und fährt bei jedem Schritt des Herrn zusammen, vor Angst, daß dieser seine Streiche bemerken werde; kaum macht der Herr eine Bewegung, so verkriecht er sich unter den Tisch und nimmt auch das Huhn mit. Endlich hat er seinen ersten Hunger gestillt, nun ist es Zeit, auch an den Herrn zu denken. – »Kedrill, wird es bald?« schreit der Herr. – »Fertig!« antwortet Kedrill schnell und merkt, daß für den Herrn fast nichts übrig geblieben ist. Auf dem Teller liegt tatsächlich nur noch ein Hühnerbein. Der Herr setzt sich düster und besorgt, ohne etwas zu merken, an den Tisch, und Kedrill stellt sich mit einer Serviette in der Hand hinter seinem Stuhle auf. Jedes Wort, jede Geste, jede Grimasse Kedrills, wenn er zum Publikum gewendet, auf seinen einfältigen Herrn weist, wird vom Publikum mit unbändigem Gelächter begleitet. Kaum beginnt aber der Herr zu essen, als schon die Teufel erscheinen. Das geschieht auf eine ganz unverständliche Weise, und die Teufel erscheinen gar nicht wie üblich: in einer Seitenkulisse geht eine Tür auf, und es kommt eine weiße Gestalt mit einer brennenden Laterne anstatt des Kopfes; ein zweites Phantom, gleichfalls mit einer Laterne auf dem Kopf, hält in den Händen eine Sense. Wozu die Laternen, wozu die Sense, warum sind die Teufel weiß gekleidet? Das kann niemand erklären. Übrigens macht sich auch niemand Gedanken darüber. Wahrscheinlich muß es so sein. Der Herr wendet sich ziemlich tapfer zu den Teufeln und ruft ihnen zu, daß er bereit sei und daß sie ihn holen möchten. Kedrill aber ist feig wie ein Hase; er verkriecht sich unter den Tisch, vergißt aber trotz seines Schreckens nicht, die Flasche vom Tisch mitzunehmen. Die Teufel verschwinden für einen Augenblick; Kedrill kommt wieder hervor; kaum macht sich aber der Herr wieder an das Huhn, als drei Teufel von neuem ins Zimmer stürzen, den Herrn von hinten packen und in die Hölle schleppen. »Kedrill! Rette mich!« schreit der Herr. Aber Kedrill denkt nicht daran. Diesmal hat er auch die Flasche, den Teller und sogar das Brot unter den Tisch mitgenommen. Nun ist er aber allein, die Teufel sind verschwunden, der Herr ebenfalls. Kedrill kommt zum Vorschein, sieht sich um, und ein Lächeln verklärt sein Gesicht. Er kneift schelmisch die Augen zusammen, setzt sich auf den Platz seines Herrn und sagt, dem Publikum zunickend, vor sich hin:

»Nun bin ich allein . . . ohne den Herrn! . . .«

Alle lachen darüber; da fügt er noch im Flüstertone hinzu, sich vertraulich an die Zuschauer wendend und ihnen immer lustiger zublinzelnd:

»Den Herrn haben die Teufel geholt! . . .«

Das Entzücken der Zuschauer ist grenzenlos. Das macht nicht allein die Mitteilung, daß den Herrn die Teufel geholt haben, es ist auch so schelmisch, mit einer solchen höhnisch triumphierenden Grimasse gesprochen, daß man wirklich applaudieren muß. Aber das Glück Kedrills währt nicht lange. Kaum hat er sich aus der Flasche ein Glas eingeschenkt und will trinken, als die Teufel wiederkommen, sich auf den Fußspitzen heranschleichen und ihn plötzlich an den Seiten packen. Kedrill schreit aus vollem Halse; vor Feigheit wagt er sich nicht umzuwenden. Er kann sich auch nicht wehren: er hat ja die Flasche und das Glas in den Händen, von denen er sich nicht trennen mag. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenem Munde sitzt er eine halbe Minute da und glotzt das Publikum an mit einem so komischen Ausdruck feiger Angst, daß man ihn buchstäblich malen könnte. Schließlich wird er weggeschleppt; er hat die Flasche bei sich, strampelt mit den Beinen und schreit. Man hört ihn auch noch hinter den Kulissen schreien. Aber der Vorhang fällt, und alle lachen, alle sind entzückt . . . Das Orchester stimmt die »Kamarinskaja« an.

Man spielt ganz leise, kaum hörbar, aber die Melodie wächst und wächst, das Tempo wird immer schneller, man hört ausgelassenes Klopfen auf die Resonanzböden der Balalaiken . . . Es ist die »Kamarinskaja« in ihrem vollen Schwunge, und es wäre wirklich gut, wenn Glinka sie wenigstens zufällig bei uns im Zuchthause gehört hätte. Es beginnt eine Pantomime mit Musik. Die »Kamarinskaja« verstummt während der ganzen Pantomime nicht. Die Bühne stellt eine Bauernstube dar. Auf der Bühne sind der Müller und seine Frau. Der Müller ist in einer Ecke mit dem Ausbessern von Pferdegeschirr beschäftigt, seine Frau spinnt in der anderen Ecke Flachs. Die Frau wird von Ssirotkin gespielt, der Müller von Nezwetajew.

Ich muß bemerken, daß unsere Dekorationen sehr armselig waren. In diesem wie auch im vorhergehenden Stück mußte man mehr mit seiner Phantasie ergänzen, als man mit Augen sah. Statt der hinteren Wand war eine Art Teppich oder Pferdedecke gespannt; seitwärts stand eine zerrissene spanische Wand. Die linke Seite der Bühne war unverdeckt, so daß man die Pritschen sah, aber die Zuschauer waren nicht anspruchsvoll und bereit, die Wirklichkeit durch die Phantasie zu ergänzen, um so mehr als die Arrestanten dessen sehr fähig sind: »Wenn man dir sagt, es sei ein Garten, so ist's ein Garten; wenn man dir sagt, es sei eine Stube, so ist's eine Stube, – es ist ja ganz gleich, und du darfst nicht zu viel verlangen.«

Ssirotkin ist in der Verkleidung einer jungen Bauernfrau sehr nett. Von den Zuschauern kommen einige leise Komplimente. Der Müller beendigt seine Arbeit, nimmt die Mütze, nimmt die Peitsche, geht auf seine Frau zu und erklärt ihr durch Mienenspiel, daß er weggehen müsse und daß, wenn sie in seiner Abwesenheit jemand empfangen würde, er sie . . . und er zeigt ihr die Peitsche. Die Frau hört es und nickt. Diese Peitsche ist ihr wohlbekannt; die junge Frau ist dem Manne nicht allzu treu. Der Mann geht weg. Kaum ist er aus der Tür, so droht sie ihm mit der Faust nach. Es klopft; die Türe geht auf, und es erscheint der Nachbar, gleichfalls ein Müller, ein Kerl mit Kaftan und Bart. In der Hand hat er als Geschenk ein rotes Tuch. Die junge Frau lacht; kaum macht aber der Nachbar Anstalten, sie zu umarmen, als es schon wieder klopft. Was soll sie mit ihm anfangen? Sie schiebt ihn in aller Eile unter den Tisch und setzt sich wieder an den Spinnrocken. Nun kommt der zweite Verehrer: es ist der Schreiber in Militäruniform. Bisher wurde die Pantomime tadellos gespielt, die Gesten waren richtig und fehlerlos. Man konnte sich über diese improvisierten Schauspieler sogar wundern und sich denken: wie viel Kraft und Talent geht doch bei uns in Rußland zuweilen fast unnütz, in schwerer Not und Gefangenschaft zugrunde! Aber der Arrestant, der den Schreiber spielte, hatte wohl früher einmal auf einer Provinz- oder Hausbühne gespielt und bildete sich ein, daß alle unsere Schauspieler ohne Ausnahme ihre Sache nicht verstünden und sich nicht so bewegten, wie man sich auf der Bühne bewegen müßte. Und so bewegte er sich so, wie sich in alten Zeiten im Theater die klassischen Helden bewegt haben sollen: er macht einen langen Schritt, bleibt plötzlich, ohne noch den anderen Fuß nachgezogen zu haben, stehen, wirft den ganzen Rumpf und den Kopf zurück, sieht sich stolz um und macht den nächsten Schritt. Wenn diese Gehweise beim klassischen Helden lächerlich war, so war sie am Regimentsschreiber im komischen Stück noch viel lächerlicher. Aber unser Publikum glaubte, daß es wohl so sein müsse, und nahm die langen Schritte des baumlangen Schreibers als vollendete Tatsache ohne besondere Kritik hin. Kaum hat der Schreiber die Bühne betreten, als es wieder an die Türe pocht: die Hausfrau gerät in neue Unruhe. Wo soll sie den Schreiber hintun? In den Koffer, um so mehr als er offen steht. Der Schreiber kriecht hinein, und die Frau macht den Deckel zu. Diesmal erscheint ein eigentümlicher, gleichfalls verliebter Gast. Es ist ein Brahmine, sogar in Kostüm. Ein unbändiges Lachen ertönt im Publikum. Den Brahminen spielt der Arrestant Koschkin und zwar vorzüglich. Er hat eine echte Brahminenfigur. Er erklärt ihr mit Gesten seine ganze Liebe. Er hebt die Arme zum Himmel, drückt sie dann an die Brust, ans Herz; kaum ist er aber zärtlich geworden, als ein sehr lautes Klopfen an der Türe ertönt. Man hört, es ist der Herr des Hauses. Die Frau ist vor Schreck außer sich, der Brahmine rennt wie verrückt hin und her und fleht sie an, sie möge ihn verstecken. Sie schiebt ihn in aller Eile hinter den Schrank, vergißt die Tür zu öffnen, stürzt sich zu ihrem Spinnrocken und spinnt und spinnt, ohne das Klopfen ihres Mannes zu hören; sie drillt vor Entsetzen den Faden, den sie nicht in der Hand hat, und dreht die Spindel, die sie vom Boden aufzuheben vergaß. Ssirotkin spielt dieses Entsetzen vorzüglich. Der Müller schlägt aber die Türe mit dem Fuß ein und geht mit der Peitsche in der Hand auf seine Frau zu. Er hat alles gesehen und belauscht und bedeutet ihr gleich mit den Fingern, daß sie drei Männer bei sich verborgen habe. Dann sucht er die Versteckten. Zuerst findet er den Nachbarn und befördert ihn mit Püffen aus der Stube. Der erschrockene Schreiber will davonlaufen, hebt mit dem Kopf den Kofferdeckel und verrät sich auf diese Weise selbst. Der Müller treibt ihn mit der Peitsche an, und der verliebte Schreiber hüpft jetzt gänzlich unklassisch davon. Nun bleibt noch der Brahmine; der Müller sucht ihn lange, findet ihn schließlich in der Ecke hinter dem Schrank, verbeugt sich erst höflich vor ihm und zieht ihn dann am Barte auf die Mitte der Bühne heraus. Der Brahmine versucht sich zu wehren; er schreit »Verdammter, Verdammter!« (das sind die einzigen Worte, die in der Pantomime gesprochen werden) aber der Mann hört nicht auf ihn und rechnet mit ihm ordentlich ab. Als die Frau sieht, daß die Reihe an sie kommt, wirft sie den Spinnrocken weg und rennt aus dem Zimmer; die Spinnbank fällt um, die Arrestanten lachen. Alej zupft mich, ohne mich anzublicken, am Ärmel und ruft mir zu: »Schau an! Ein Brahmine, ein Brahmine!« Dabei kann er vor Lachen kaum stehen. Der Vorhang fällt. Eine neue Szene beginnt.

Ich will aber alle Szenen gar nicht beschreiben. Es gab ihrer noch zwei oder drei. Alle waren lustig und ungekünstelt komisch. Wenn die Arrestanten sie auch nicht selbst verfaßt hatten, so hatten sie doch in jedes Stück viel Eigenes hineingelegt. Fast jeder Schauspieler improvisierte und spielte die gleiche Rolle an den folgenden Abenden stets etwas anders. Die letzte Pantomime in phantastischer Art endete mit einem Ballett. Ein Toter wird beerdigt. Der Brahmine macht mit seinem zahlreichen Gefolge verschiedene Beschwörungen über dem Sarge, aber nichts will helfen. Schließlich ertönt das Lied »Die Sonne geht unter«, der Tote wird lebendig, und alle fangen vor Freude zu tanzen an. Der Brahmine tanzt mit dem Toten, und zwar auf eine eigene Brahminenart. Damit endet das Theater bis zum nächsten Abend.

Alle Arrestanten gehen lustig und zufrieden auseinander, loben die Schauspieler und bedanken sich beim Unteroffizier. Man hört keinen einzigen Streit. Alle sind irgendwie ungewohnt zufrieden, sogar fast glücklich und schlafen nicht wie jeden Abend, sondern ruhigen Mutes ein; was mag wohl der Grund sein? Und doch ist es nicht nur meine Einbildung. Es ist wirklich, wirklich so. Man hat diesen armen Menschen nur ein wenig erlaubt, sich auf eigene Art auszuleben, sich wie andere Menschen zu vergnügen, wenigstens eine Stunde nicht wie Zuchthäusler zu verbringen, und die Menschen sind schon moralisch verändert, und wenn auch nur für einige Minuten . . . Aber es ist schon tiefe Nacht geworden. Ich fahre zusammen und erwache zufällig: der Alte betet noch immer auf dem Ofen und wird bis zum Sonnenaufgang beten; Alej schläft still neben mir. Ich erinnere mich, daß er vor dem Einschlafen mit seinen Brüdern vom Theater gesprochen und gelacht hat, und ich betrachte unwillkürlich sein ruhiges Kindergesicht. Allmählich erinnere ich mich an alles: an den letzten Tag, an das Fest, an diesen ganzen Monat . . . ich hebe erschrocken den Kopf und mustere im zitternden, trüben Scheine der Zuchthauskerze alle meine schlafenden Genossen. Ich sehe ihre unglücklichen Gesichter, ihre armseligen Lager, diese ganze äußerste Armut und Blöße, – ich sehe aufmerksam hin, und ich will mich gleichsam überzeugen, daß dies alles nicht die Fortsetzung eines häßlichen Traumes, sondern die wirkliche Wahrheit ist. Und es ist Wahrheit: da höre ich jemand stöhnen; jemand wirft schwer seinen Arm zurück und läßt die Kette klirren. Ein anderer fährt im Schlafe auf und beginnt zu sprechen, und der Großvater auf dem Ofen betet für alle »rechtgläubigen Christen«, und ich höre sein langsames, stilles, gedehntes »Herr Jesus Christ, erbarme dich unser! . . .«

»Ich bin aber doch nicht für immer hier, sondern nur für einige Jahre!« denke ich mir und lasse den Kopf wieder auf das Kissen sinken.


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