Fjodr Michailowitsch Dostojewski
Aufzeichnungen aus einem toten Hause
Fjodr Michailowitsch Dostojewski

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IX

Issai Fomitsch – Das Dampfbad – Bakluschins Erzählung

Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Die Arrestanten erwarteten es in einer eigentümlichen feierlichen Stimmung, und wenn ich sie sah, erwartete auch ich etwas Außergewöhnliches. Vier Tage vor dem Fest führte man uns ins Bad. Zu meiner Zeit, besonders in den ersten Jahren, wurden die Arrestanten nur selten ins Bad geführt. Alle freuten sich darüber und machten ihre Vorbereitungen. Es wurde dafür der Nachmittag bestimmt, und an diesem Nachmittag wurde nicht mehr gearbeitet. In unserer Kaserne freute sich am meisten und zeigte die größte Aufregung der jüdische Zuchthäusler, Issai Fomitsch Bumstein, den ich schon im vierten Kapitel meiner Erzählung erwähnt habe. Er liebte es, im Dampfbade bis zur Stumpfsinnigkeit, bis zur Bewußtlosigkeit zu schwitzen, und sooft ich jetzt, die alten Erinnerungen durchnehmend, an unser Dampfbad (welches wohl verdient, nicht vergessen zu werden) zurückdenke, so tritt in den Vordergrund des Bildes sofort das Gesicht des glückseligsten und unvergeßlichen Issai Fomitsch, meines Zuchthausgenossen und des Mitbewohners der gleichen Kaserne. Mein Gott, was war er doch für ein spaßiger und drolliger Mensch! Über sein Äußeres habe ich schon einige Worte gesagt: er war an die fünfzig Jahre alt, schwächlich, voller Runzeln, mit schrecklichen Brandmalen an der Stirn und an den Wangen, schmächtig, mager, mit der weißen Hautfarbe eines Hühnchens. Sein Gesichtsausdruck zeigte eine ständige, unerschütterliche Selbstzufriedenheit und Seligkeit. Er schien gar nicht zu bedauern, ins Zuchthaus geraten zu sein. Da er von Beruf Juwelier war und es in der Stadt keinen Juwelier gab, arbeitete er ununterbrochen für die städtischen Herrschaften und die Beamten, ausschließlich in seinem Beruf. Dafür bekam er doch irgendeine Bezahlung. Er litt keine Not, lebte sogar reich, legte aber das Geld zurück und verlieh es gegen Pfand und Zinsen im ganzen Zuchthause. Er besaß einen eigenen Samowar, eine gute Matratze, Tassen und ein vollständiges Eßgeschirr. Die Juden in der Stadt versagten ihm nicht ihren Schutz und ihre Freundschaft. An Sonnabenden ging er unter Bewachung in die städtische Betstube (was vom Gesetz gestattet ist) und lebte vergnügt und munter, übrigens mit Ungeduld auf die Absolvierung seiner zwölfjährigen Strafzeit wartend, um »heiraten« zu können. In ihm war ein komisches Gemisch von Naivität, Dummheit, Verschlagenheit, Frechheit, Einfalt, Schüchternheit, Prahlsucht und Unverschämtheit. Ich wunderte mich sehr darüber, daß die Zuchthäusler über ihn gar nicht lachten und sich nur ab und zu ein Späßchen erlaubten. Issai Fomitsch diente offenbar allen zum Zeitvertreib und zur Unterhaltung. »Er ist unser Einziger, rührt Issai Fomitsch nicht an,« pflegten die Arrestanten zu sagen. Issai Fomitsch selbst begriff zwar den Sachverhalt, war aber auf seine Bedeutung sichtlich stolz, was den Arrestanten viel Spaß machte. Seine Ankunft im Zuchthause spielte sich auf eine höchst komische Weise ab (er war vor meiner Zeit gekommen, aber man berichtete es mir). An einem Spätnachmittag, nach Feierabend verbreitete sich plötzlich im Zuchthause das Gerücht, daß soeben ein Jude eingetroffen sei; er werde eben in der Hauptwache rasiert und müsse jeden Augenblick erscheinen. Im Zuchthause gab es damals noch keinen einzigen Juden. Die Arrestanten erwarteten ihn mit Ungeduld und umdrängten ihn sofort, als er durchs Tor hereintrat. Der Unteroffizier führte ihn in die Zivilabteilung und zeigte ihm seinen Platz auf der Pritsche. Issai Fomitsch hielt in den Händen einen Sack mit den ihm ausgefolgten ärarischen sowie seinen eigenen Sachen. Er legte den Sack hin, stieg auf die Pritsche und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen, ohne es zu wagen, jemand anzuschauen. Rings um ihn herum ertönte Lachen und wurden Zuchthauswitze gemacht, die sich auf seine jüdische Abstammung bezogen. Plötzlich drängte sich durch die Menge ein junger Arrestant mit seiner ältesten, schmutzigen und zerrissenen Sommerhose und einem Paar ärarischer Fußlappen in der Hand. Er setzte, sich neben Issai Fomitsch und klopfte ihn auf die Schulter.

»Na, lieber Freund, ich warte hier schon auf dich das sechste Jahr. Da, schau, was gibst du mir dafür?«

Und er breitete vor ihm die mitgebrachten Lumpen aus.

Als Issai Fomitsch, der bei seinem Eintritt ins Zuchthaus dermaßen verängstigt war, daß er nicht mal wagte, die Augen zu dieser Menge spöttischer, verunstalteter und schrecklicher Gesichter, die ihn umdrängten, aufzuheben und vor Angst noch kein Wort gesprochen hatte, das Pfand erblickte, fuhr er plötzlich zusammen und begann die Lumpen schnell mit den Fingern zu betasten. Er hielt sie sogar gegen das Licht. Alle warteten, was er wohl sagen würde.

»Nun, einen Silberrubel wirst du mir dafür wohl nicht geben? Aber sie sind es wahrhaftig wert!« fuhr der Pfandgeber fort, indem er Issai Fomitsch zublinzelte.

»Einen Silberrubel kann ich nicht geben, aber sieben Kopeken.«

Das waren die ersten Worte, die Issai Fomitsch im Zuchthause sprach. Alle kugelten sich vor Lachen.

»Sieben! Gut, gib wenigstens sieben her; es ist dein Glück! Paß auf, heb das Pfand gut auf, du haftest mir dafür mit deinem Kopf.«

»Die Zinsen machen drei Kopeken, im ganzen sind es also zehn Kopeken,« fuhr der Jude mit stockender und zitternder Stimme fort, indem er die Hand in die Tasche steckte und die Arrestanten ängstlich musterte. Er hatte furchtbare Ängste wollte aber zugleich auch das Geschäft machen.

»Drei Kopeken Zinsen fürs Jahr?«

»Nein, nicht fürs Jahr, sondern für den Monat.«

»Hart bist du, Jude. Wie heißt du?«

»Issai Fomitsch.«

»Na, Issai Fomitsch, du wirst es bei uns weit bringen! Leb wohl.«

Issai Fomitsch sah sich das Pfund noch einmal an, legte es zusammen und steckte es vorsichtig in seinen Sack, unter dem anhaltenden Gelächter der Arrestanten.

Alle schienen ihn wirklich gerne zu mögen, und niemand tat ihm was zu Leide, obwohl fast alle bei ihm verschuldet waren. Er selbst war harmlos wie eine Henne, und als er sah, daß alle ihm geneigt waren, erlaubte er sich sogar manche Frechheit, tat es aber so komisch und einfältig, daß man ihm immer verzieh. Lutschka, der in seinem Leben viel mit Juden zusammengekommen war, neckte ihn oft, doch nicht aus Haß, sondern nur zur Unterhaltung, wie man sich mit einem Hündchen, einem Papagei, einem zahmen Tierchen usw. unterhält. Issai Fomitsch wußte es sehr gut, nahm nichts übel und parierte die Witze sehr geschickt mit ähnlichen.

»Paß auf, Jud, ich verprügele dich noch!«

»Schlägst du mich einmal, so schlage ich dich zehnmal,« antwortete Issai Fomitsch tapfer.

»Verfluchter Grindkopf!«

»Von mir aus Grindkopf.«

»Krätziger Jud!«

»Von mir aus auch das. Bin zwar krätzig, aber reich; habe Geld.«

»Hast Christus verkauft.«

»Von mir aus auch das.«

»Bravo, Issai Fomitsch, bist ein tapferer Kerl! Rührt ihn nicht an, er ist ja unser Einziger!« schrien die Arrestanten lachend.

»Du, Jud, wirst die Knute bekommen und nach Sibirien gehen.«

»Ich bin auch so schon in Sibirien.«

»Man wird dich noch weiter verschicken.«

»Gibt es dort den lieben Gott?«

»Den lieben Gott gibt es dort wohl.«

»Dann ist's mir gleich. Wenn es nur den lieben Gott gibt und man Geld hat, so ist es überall gut.«

»Ein tapferer Kerl, Issai Fomitsch, bravo!« schrien alle ringsum. Issai Fomitsch sah zwar, daß man sich über ihn lustig machte, fühlte sich aber ermutigt.

Das allgemeine Lob machte ihm offenbar Vergnügen, und er begann dann mit seiner dünnen Diskantstimme, so daß man es in der ganzen Kaserne hörte, zu singen: La-la-la-la-la! Es war eine komische Melodie, das einzige Lied ohne Worte, das er während seiner ganzen Zuchthauszeit sang. Als er mich später näher kennenlernte, schwor er mir, daß es dasselbe Lied und dieselbe Melodie sei, die alle die sechshunderttausend Juden groß und klein beim Durchzuge durch das Rote Meer gesungen hätten, und daß es jedem Juden befohlen sei, dieses Lied im Augenblicke des Triumphes und des Sieges über seine Feinde zu singen.

Am Vorabend eines jeden Sabbats, am Freitagabend, kamen in unsere Kaserne die Leute aus den anderen Kasernen absichtlich, um zu sehen, wie Issai Fomitsch seinen Sabbat beging. Issai Fomitsch war von einer solchen unschuldigen Ruhmsucht, daß auch diese allgemeine Neugier ihm Vergnügen machte. Er deckte mit einer pedantischen, geheuchelten Wichtigkeit in einer Ecke sein kleines Tischchen, schlug ein Buch auf, entzündete zwei Kerzen und begann, irgendwelche geheime Worte murmelnd, sich in seinen Gebetmantel zu hüllen. Es war ein bunter Überwurf aus Wollstoff, den er sorgfältig in seinem Koffer verwahrte. Er band sich um beide Arme Riemen und befestigte am Kopfe, gerade an der Stirn mit einer Binde ein eigentümliches hölzernes Kästchen, so daß es aussah, als habe er ein seltsames Horn. Dann begann das Gebet. Er verrichtete es singend, schreiend, um sich spuckend, drehte sich dabei im Kreise und machte wilde, komische Gesten. Dies alles war natürlich vom Ritus vorgeschrieben und konnte daher auch nicht komisch oder sonderbar sein; komisch aber war, daß Issai Fomitsch vor uns wie absichtlich mit seinen Gebräuchen renommierte. Bald bedeckte er das Gesicht mit den Händen und begann zu schluchzen. Das Schluchzen wurde immer lauter, und er ließ seinen vom Kästchen bekrönten Kopf erschöpft und beinahe heulend auf das Buch sinken; bald fing er mitten im heftigsten Schluchzen laut zu lachen an und dabei etwas mit feierlicher, wie vor übergroßer Seligkeit geschwächter Stimme zu sprechen. »Wie es ihn packt!« pflegten die Arrestanten zu sagen. Einmal fragte ich Issai Fomitsch, was dieses Schluchzen und dann diese feierlichen Übergänge zur Glückseligkeit zu bedeuten hätten. Issai Fomitsch hatte es sehr gern, wenn ich ihn nach etwas fragte. Er erklärte mir unverzüglich, daß das Weinen und Schluchzen sich auf den Verlust Jerusalems bezögen, und daß das Gesetz es vorschreibe, bei diesem Gedanken so laut wie möglich zu schreien und sich vor die Brust zu schlagen. Aber mitten im heftigsten Schluchzen müsse sich Issai Fomitsch plötzlich, wie zufällig darauf besinnen (auch dieses »plötzlich« sei vom Gesetz vorgeschrieben), daß es eine Prophezeiung über die Rückkehr der Juden nach Jerusalem gebe. In diesem Augenblick müsse er sofort in Lachen, Freude und Jubel ausbrechen und die Gebete so sprechen, daß die Stimme selbst die höchste Seligkeit und das Gesicht die höchste Andacht und den größten Adel ausdrückten. Dieser plötzliche Übergang und die unbedingte Verpflichtung, diesen Übergang einzuhalten, gefielen Issai Fomitsch außerordentlich: er sah darin einen eigentümlichen klugen Trick und teilte mir stolz den komplizierten Sinn des Gesetzes mit. Einmal trat mitten in seinem Gebet der Platzmajor in Begleitung des Wachoffiziers und einiger Soldaten ins Zimmer. Alle Arrestanten machten Front vor ihren Pritschen, nur Issai Fomitsch fing noch lauter zu schreien an. Er wußte, daß das Beten erlaubt war und er es nicht unterbrechen durfte, daß er folglich, indem er vor dem Major schrie, nichts riskierte. Es war ihm aber äußerst angenehm, vor dem Major Komödie zu spielen und vor uns zu renommieren. Der Major ging auf ihn zu und blieb einen Schritt hinter ihm stehen. Issai Fomitsch wandte sich mit dem Rücken zu seinem Tischchen und begann seine feierliche Prophezeiung laut und mit den Händen fuchtelnd dem Major ins Gesicht zu schreien. Da es ihm vorgeschrieben war, in diesem Augenblick in seinem Gesicht recht viel Seligkeit und Adel zu zeigen, so tat er es unverzüglich, wobei er die Augen eigentümlich zusammenkniff, lachte und dem Major zunickte. Der Major war erstaunt; schließlich lachte er los, nannte ihn ins Gesicht einen Dummkopf und ging weg, während Issai Fomitsch sein Geschrei noch lauter ertönen ließ. Nach einer Stunde, als er sein Abendbrot aß, fragte ich ihn: »Wie, wenn der Platzmajor in seiner Dummheit auf Sie böse geworden wäre?«

»Was für ein Platzmajor?«

»Was für einer? Haben Sie ihn denn nicht gesehen?«

»Nein.«

»Er stand ja nur eine Elle vor Ihnen, gerade vor Ihrem Gesicht.«

Aber Issai Fomitsch begann mir mit dem größten Ernst zu versichern, daß er keinen Major gesehen habe, daß er bei seinem Gebet in eine solche Ekstase gerate, daß er weder höre, noch sehe, was um ihn herum vorgehe.

Mir ist es, als sähe ich auch heute noch Issai Fomitsch vor mir, wie er sich am Sonnabend ohne Arbeit im ganzen Zuchthause herumtreibt und sich alle Mühe gibt, nichts zu tun, wie es vom Gesetz für den Sabbat vorgeschrieben ist. Was für unmögliche Anekdoten erzählte er mir, sooft er aus seiner Betstube zurückkehrte; was für unwahrscheinliche Nachrichten und Gerüchte aus Petersburg teilte er mir mit, mit der Behauptung, er hätte sie von seinen Glaubensgenossen und diese hätten sie aus erster Hand erhalten.

Aber ich habe schon zu viel über Issai Fomitsch erzählt.Einem jeden, der den jüdischen Ritus einigermaßen kennt, muß es auffallen, daß Issai Fomitsch, in der Schilderung Dostojewskijs, das Freitagabendgebet auf eine höchst phantastische Weise beging. Entweder hatte den Dichter das Gedächtnis im Stich gelassen, oder aber dieser Issai Fomitsch war geisteskrank. Anm. d. Ü.

In der ganzen Stadt gab es nur zwei öffentliche Badeanstalten. Die erste gehörte einem Juden; sie hatte nur Einzelbäder, zu fünfzig Kopeken das Bad, und war für die höheren Stände eingerichtet. Die andere, vorwiegend fürs einfache Volk bestimmt, war halb verfallen, schmutzig, eng, und in diese Badeanstalt wurden nun die Insassen unseres Zuchthauses geführt. Der Tag war frostig und sonnig, und die Arrestanten freuten sich schon, einmal aus dem Zuchthause herauskommen und sich die Stadt anschauen zu können. Scherze und Lachen verstummten unterwegs für keinen Augenblick. Uns begleitete eine ganze Abteilung Soldaten mit geladenen Gewehren – ein Schauspiel für die ganze Stadt. In der Badeanstalt teilte man uns sofort in zwei Schichten: die zweite wartete im kalten Vorraum, während die erste badete; anders ging es in dem engen Bade nicht. Aber das Bad war dermaßen eng, daß man sich schwer vorstellen konnte, wie auch bloß die Hälfte von uns darin Platz finden könnte. Petrow ließ nicht von mir: ohne jede Aufforderung meinerseits drängte er mir seine Hilfe auf und schlug mir sogar vor, mich zu waschen. Neben Petrow bot mir auch Bakluschin seine Dienste an, ein Sträfling aus der Besonderen Abteilung, den man bei uns den »Pionier« nannte und den ich schon einmal als den lustigsten und nettesten von allen Arrestanten erwähnte, was er auch in der Tat war. Wir waren schon flüchtig bekannt. Petrow half mir sogar beim Auskleiden, was bei mir, da ich nicht die Übung hatte, sehr lange dauerte; im Vorraume war es aber fast so kalt wie im Freien. Das Auskleiden ist für den Sträfling übrigens sehr schwierig, solange er es noch nicht gelernt hat. Erstens muß man die Unterfesseln aufzuschnüren verstehen. Es sind Lederstücke von etwa vier Werschok Länge, die über der Wäsche, direkt unter dem Eisenringe getragen werden, der das Bein umfaßt. Ein Paar davon kostet nicht weniger als sechzig Kopeken, und doch schafft sich jeder Sträfling diese Unterfesseln an, selbstverständlich auf eigene Kosten, denn ohne sie ist es ganz unmöglich zu gehen. Der Eisenring umfaßt das Bein nicht vollkommen, und zwischen dem Ring und dem Bein bleibt ein Zwischenraum, durch den man einen Finger stecken kann; das Eisen schlägt daher gegen das Bein und reibt es so, daß der Sträfling ohne diese Vorrichtung sich schon am ersten Tage Wunden am Fleische zuzieht. Aber das Ablegen dieser Unterfesseln ist noch nicht das Schwerste. Viel schwerer ist es zu lernen, unter den Fesseln die Wäsche auszuziehen. Das ist ein schwieriges Kunststück. Nachdem man die Wäsche, sagen wir, vom linken Bein abgestreift hat, muß man sie erst zwischen dem Beine und dem Fesselring durchziehen, dann das Bein frei machen und die Wäsche wieder durch den gleichen Ring durchziehen; darauf muß man die ganze vom linken Beine abgezogene Wäsche durch den rechten Ring durchziehen, das rechte Bein befreien und die gleiche Operation am rechten Ringe wiederholen. Ein Neuling kann sogar schwerlich dahinterkommen, wie es zu machen ist. Zum ersten Male zeigte es mir in Tobolsk der Arrestant Korenew, ein ehemaliger Räuberhauptmann, der fünf Jahre an der Kette saß. Die Arrestanten sind es schon gewohnt und besorgen es ohne jede Schwierigkeit. Ich gab Petrow einige Kopeken, damit er Seife und einen Bastwisch kaufe; die Arrestanten bekamen allerdings auch von der Obrigkeit ein Stück Seife geliefert, so groß wie eine Zweikopekenmünze und so dick wie eine Käsescheibe, wie sie bei Leuten aus dem Mittelstande zum Abendessen verabreicht wird. Die Seife wurde im gleichen Vorraum zugleich mit Kräutertee, Semmeln und heißem Wasser feilgeboten. Jeder Arrestant bekam gemäß der Abmachung der Zuchthausverwaltung mit dem Besitzer der Badeanstalt nur einen Holzeimer heißes Wasser, der ihm durch ein zu diesem Zwecke eigens angebrachtes Fensterchen aus dem Vorraum in den eigentlichen Baderaum gereicht wurde. Petrow entkleidete mich und führte mich sogar am Arm, da er merkte, daß das Gehen in den Fesseln mir sehr schwer fiel. »Ziehen Sie sie hinauf, auf die Waden,« sagte er, mich wie ein Kinderwärter stützend; »Hier müssen Sie aber acht geben, hier ist eine Schwelle.« Ich genierte mich sogar ein wenig; ich wollte Petrow versichern, daß ich auch allein gehen könne, aber er würde es nicht glauben. Er behandelte mich ganz wie ein unmündiges, ungeschicktes Kind, dem jeder zu helfen verpflichtet ist. Petrow war dabei durchaus keine Dienernatur; hätte ich ihn irgendwie beleidigt, so hätte er schon gewußt, wie mit mir zu verfahren. Bezahlung für seine Hilfe hatte ich ihm gar nicht versprochen, auch hatte er um eine solche nicht gebeten. Was bewog ihn nun, sich meiner so anzunehmen?

Als die Türe zum eigentlichen Baderaum aufgemacht wurde, glaubte ich, daß wir in die Hölle kämen. Man stelle sich einen Raum von etwa zwölf Schritt Länge und von der gleichen Breite vor, in dem sich vielleicht an die hundert, mindestens aber achtzig Menschen angesammelt haben: alle Arrestanten waren ja in nur zwei Schichten eingeteilt, ins Bad waren aber im ganzen rund zweihundert Mann gekommen. Der Dampf umnebelte die Augen, es war qualmig, schmutzig und so eng, daß man keinen Schritt machen konnte. Ich erschrak und wollte schon umkehren, aber Petrow beeilte sich, mich zu ermutigen. Wir drängten uns irgendwie mit großer Mühe zu den Bänken zwischen den Köpfen der Menschen durch, die auf dem Boden saßen und die wir baten, sich zu bücken, damit wir durchkönnten. Aber alle Plätze auf den Bänken waren besetzt. Petrow erklärte mir, daß man sich den Platz erst kaufen müsse, und trat sofort in Verhandlungen mit einem Sträfling, der am Fenster saß. Jener trat für eine Kopeke seinen Platz ab, empfing von Petrow das Geld, das dieser vorsorglich in der Faust mitgenommen hatte, und glitt sofort unter die Bank, direkt unter meinen Platz, wo es dunkel und schmutzig war und sich ein klebriger Schlamm, fast einen halben Finger dick angesetzt hatte. Aber auch unter den Bänken waren alle Plätze besetzt; auch dort wimmelte es von Menschen. Auf dem ganzen Fußboden war keine Handbreit Platz frei, wo nicht zusammengekrümmte Arrestanten saßen, die sich aus ihren Holzeimern begossen. Andere standen, die Holzeimer in den Händen, zwischen ihnen und wuschen sich im Stehen; das schmutzige Wasser lief von ihnen direkt auf die rasierten Köpfe der unter ihnen Sitzenden. Auf der Schwitzbank und auf allen zu ihr emporführenden Vorsprüngen saßen und wuschen sich zusammengekrümmte Menschen. Sie wuschen sich aber recht nachlässig. Einfache Menschen waschen sich bei uns selten mit heißem Wasser und Seife; sie schwitzen nur entsetzlich im heißen Dampfe und begießen sich darauf mit kaltem Wasser, – darin besteht ihr ganzes Bad. Auf der Schwitzbank hoben und senkten sich an die fünfzig Badebesen im gleichen Takt; alle bearbeiteten sich mit diesen Besen bis zur Berauschung. Jede Minute wurde neuer Dampf gegeben. Das war keine Hitze mehr; es war die Hölle. Alles schrie und krakeelte, vom Klirren der hundert auf dem Boden schleifenden Ketten begleitet . . . Manche, die durchgehen wollten, verfingen sich in den fremden Ketten, streiften mit den eigenen die Köpfe der unter ihnen Sitzenden, fielen hin, fluchten und zogen die anderen mit. Der Schmutz strömte von allen Seiten. Alle waren wie in einem Rausche, in einer seltsam erregten Gemütsverfassung; man hörte Schreien und Kreischen. Am Fenster im Vorraume, durch das man das heiße Wasser reichte, war ein Gedränge, ein Lärm und Handgemenge. Das empfangene heiße Wasser wurde auf die Köpfe der unten Sitzenden verschüttet, noch ehe man es auf seinen Platz brachte. Jeden Augenblick blickte durch dieses Fenster oder durch die halb geöffnete Türe das schnurrbärtige Gesicht des Soldaten herein, der mit einem Gewehr in der Hand aufpaßte, ob es nicht irgendeine Unordnung gäbe. Die rasierten Schädel und die vom Dampfe rot gewordenen Körper der Arrestanten erschienen noch abstoßender. Auf den vom Dampfe geröteten Rücken treten gewöhnlich scharf die Narben von den früher erhaltenen Ruten- und Stockschlägen hervor, und nun erschienen alle diese Rücken aufs neue verwundet. Die schrecklichen Narben! Es überlief mich kalt, als ich sie sah. Man gibt wieder Dampf, und er füllt als eine dichte heiße Wolke wieder die ganze Badestube; alles schreit und krakeelt. In der Dampfwolke bewegen sich die wundgeprügelten Rücken, die rasierten Köpfe, die gekrümmten Arme und Beine; zur Vollendung des Bildes schnattert auf der höchsten Schwitzbank Issai Fomitsch aus voller Kehle. Er genießt das Dampfbad bis zur Bewußtlosigkeit, aber kein noch so heißer Dampf scheint ihm zu genügen; er mietet sich für eine Kopeke einen Bader, aber auch der hält es schließlich nicht aus, wirft den Besen weg und läuft davon, um sich mit kaltem Wasser zu begießen. Issai Fomitsch läßt aber den Mut nicht sinken und mietet sich einen zweiten, einen dritten: er hat sich schon entschlossen, bei einer solchen Gelegenheit keine Kosten zu scheuen, und wechselt an die fünf Bader nacheinander. »Wie der aufs Dampfbad versessen ist, ein tapferer Kerl, dieser Issai Fomitsch!« schreien ihm die Arrestanten von unten zu. Issai Fomitsch findet auch selbst, daß er in diesem Augenblick über alle erhaben ist und alle übertroffen hat; er triumphiert und kräht mit scharfer, verrückter Stimme seine Arie »la la la«, die alle anderen Stimmen übertönt. Mir kam der Gedanke: wenn wir alle miteinander einmal in die Hölle kommen, so wird sie diesem Orte sehr ähnlich sehen. Ich konnte mich nicht beherrschen und teilte diese Vermutung Petrow mit; der sah sich nur in der Runde um und sagte nichts.

Ich hatte schon die Absicht, auch ihm einen Platz neben mir zu kaufen, aber er ließ sich zu meinen Füßen nieder und erklärte, daß er es sehr bequem habe. Bakluschin kaufte uns indessen Wasser und reichte es uns, wenn wir es brauchten. Petrow erklärte, er wolle mich vom Kopf bis zu den Füßen waschen, so daß ich »blitzsauber« sein würde, und forderte mich eifrig auf, auf die Schwitzbank zu gehen. Aber ich wagte mich nicht hin. Petrow rieb mich ganz mit Seife ein. »Und jetzt will ich Ihnen die Füßchen waschen,« fügte er am Schlusse hinzu. Ich wollte ihm schon sagen, daß ich sie mir auch selbst waschen könne, aber ich widersprach ihm nicht mehr und ergab mich ganz in seinen Willen. Im Diminutiv »Füßchen« lag durchaus nichts Knechtisches; Petrow konnte ganz einfach nicht meine Füße »Füße« nennen, weil die anderen, die gewöhnlichen Menschen Füße, ich aber nur »Füßchen« hatte.

Nachdem er mich gewaschen, brachte er mich mit den gleichen Zeremonien, d. h. indem er mich stützte und bei jedem Schritt warnte, als wäre ich von Porzellan, in den Vorraum zurück und half mir die Wäsche anziehen; erst als er mit mir ganz fertig geworden war, eilte er selbst in die Badestube zurück, um ordentlich den Dampf zu genießen.

Als wir heimkamen, bot ich ihm ein Glas Tee an. Er sagte nicht nein, trank den Tee aus und dankte. Nun fiel mir ein, tiefer in die Tasche zu greifen und ihn mit einem Fläschchen Branntwein zu traktieren. Ein solches fand sich auch in unserer Kaserne. Petrow war außerordentlich zufrieden; er trank den Branntwein aus, räusperte sich, erklärte, ich hätte ihn zum neuen Leben erweckt, und eilte in die Küche, als ob man dort ohne ihn nichts anfangen könnte. An seiner Statt erschien jetzt ein anderer Gesprächspartner, Bakluschin (der Pionier), den ich schon im Bade zum Tee eingeladen hatte.

Ich kenne keinen liebenswürdigeren Menschen als diesen Bakluschin. Er gab zwar niemand etwas nach, zankte oft mit den anderen, liebte es nicht, wenn man sich in seine Angelegenheiten mischte, und verstand, mit einem Worte, für seine Person einzutreten. Aber er war niemand lange böse, und alle Leute bei uns schienen ihn gern zu haben. Wo er auch eintrat, überall wurde er mit Vergnügen empfangen. Man kannte ihn sogar in der Stadt als den amüsantesten Menschen von der Welt, der nie seine Heiterkeit verlor. Er war ein hochgewachsener Bursche von etwa dreißig Jahren, mit kühnem und gutmütigem, ziemlich hübschem Gesicht, mit einer Warze. Dieses Gesicht verstand er manchmal, wenn er jemand nachäffte, so komisch zu verziehen, daß alle, die herumstanden, lachen mußten. Er gehörte auch zu den Spaßvögeln, aber er war unversöhnlich gegen unsere mürrischen Hasser des Lachens, und darum schalt ihn niemand, daß er ein »hohler und unnützer« Mensch sei. Er war voll Feuer und Leben. Er hatte meine Bekanntschaft schon in den ersten Tagen gemacht und mir erklärt, daß er einst Kantonist gewesen, später bei den Pionieren gedient habe und sogar von gewissen hochstehenden Persönlichkeiten ausgezeichnet und geliebt gewesen sei, worauf er noch immer sehr stolz war. Mich begann er sogleich über Petersburg auszufragen. Er hatte sogar Bücher gelesen. Bevor er zu mir zum Tee kam, hatte er schon die ganze Kaserne zum Lachen gebracht, indem er erzählte, wie der Leutnant Sch. am Morgen unseren Platzmajor abgefertigt habe. Nun setzte er sich neben mich und berichtete mir mit vergnügter Miene, daß die Theateraufführung wohl zustande kommen würde. Im Zuchthause war für die Feiertage eine Aufführung geplant. Es hatten sich schon Schauspieler gefunden, und man arbeitete gemächlich an den Dekorationen. Einige Leute in der Stadt versprachen uns ihre Kleider für die Schauspieler, sogar für die weiblichen Rollen; man hoffte sogar, durch die Vermittlung eines Offiziersburschen eine Offiziersuniform mit Fangschnüren zu beschaffen. Wenn es nur dem Platzmajor nicht einfiele, die Aufführung wie im vorigen Jahre zu verbieten. Aber im vorigen Jahre war der Platzmajor in der Weihnachtszeit schlechter Laune: er hatte irgendwo im Kartenspiel verloren, außerdem hatte man im Zuchthause etwas angestellt; darum verbot er aus Ärger die Aufführung; diesmal würde er sie aber vielleicht nicht verhindern wollen. Mit einem Worte, Bakluschin war in einer erregten Stimmung. Offenbar gehörte er zu den Haupturhebern der Theateraufführung, und ich gab mir das Wort, unbedingt dieser Aufführung beizuwohnen. Die einfältige Freude Bakluschins über das Gelingen des Planes gefiel mir sehr gut. Ein Wort gab das andere, und wir kamen ins Gespräch. Unter anderem erzählte er mir, daß er nicht immer in Petersburg gedient habe; er hätte sich dort etwas zuschulden kommen lassen und sei nach R. versetzt worden, übrigens als Unteroffizier in ein Garnisonsbataillon.

»Von dort hat man mich aber hergeschickt«, bemerkte Bakluschin.

»Weswegen denn?« fragte ich ihn.

»Weswegen? Wie glauben Sie, Alexander Petrowitsch, weswegen? Nun, weil ich mich verliebt hatte.«

»Nun, deshalb schickt man doch nicht einen Menschen her,« entgegnete ich lachend.

»Allerdings,« fügte Bakluschin hinzu, »allerdings habe ich bei dieser Gelegenheit einen dortigen Deutschen mit der Pistole erschossen. Aber man darf doch nicht einen Menschen wegen eines Deutschen verschicken, urteilen Sie doch selbst!«

»Wie war es denn? Erzählen Sie es mir, es interessiert mich.«

»Es ist eine komische Geschichte, Alexander Petrowitsch.«

»Um so besser. Erzählen Sie.«

»Soll ich erzählen? Nun, hören Sie zu . . .«

Ich bekam eine wenn auch gar nicht komische, dafür aber sehr seltsame Geschichte eines Mordes zu hören . . .

»Die Sache war so«, begann Bakluschin. »Als man mich nach R. schickte, sah ich mir die Stadt an: sie ist hübsch und groß, aber es gibt zu viele Deutsche da. Nun, ich bin natürlich noch ein junger Mann, bei den Vorgesetzten gut angeschrieben, gehe herum, die Mütze auf ein Ohr geschoben, und suche mir die Zeit zu vertreiben. Blinzele den deutschen Mädchen zu. Und da gefiel mir so eine junge Deutsche. Alle beide waren Wäscherinnen, für die allerfeinste Wäsche, sie und ihre Tante. Die Tante ist alt und aufgeblasen, aber sie leben im Wohlstande. Zuerst promenierte ich immer vor ihren Fenstern und freundete mich dann richtig an. Luise sprach auch anständig russisch, nur das ›R‹ wollte ihr nicht recht geraten, war ein so liebes Mädchen, wie ich ein solches noch nie getroffen hatte. Ich versuchte anfangs das eine und das andere, aber sie sagte mir: ›Nein, das darfst du nicht, Sascha, denn ich will meine ganze Unschuld für dich bewahren, um dir eine würdige Frau zu sein!‹ Und sie schmeichelt mir und lacht so hell . . . So sauber war sie, ich sah nie wieder eine solche wie sie. Sie selbst lockte mich, sie zu heiraten. Wie soll man sie auch nicht heiraten, sagen Sie mir bitte! Ich will also schon mit dem Gesuch zum Oberstleutnant gehen . . . Plötzlich sehe ich: Luise ist einmal nicht zum Stelldichein gekommen, ist das zweitemal nicht gekommen, auch nicht das drittemal . . . Ich schreibe ihr einen Brief; auf den Brief kommt keine Antwort. Ich denke mir: was ist denn das? Das heißt, hätte sie mich betrogen, so würde sie schon irgendwelche Finten machen, würde den Brief beantwortet haben und auch zum Stelldichein gekommen sein. Sie verstand aber nicht zu lügen, hatte ganz einfach mit mir gebrochen. Da steckt die Tante dahinter, denke ich mir. Zur Tante wage ich nicht zu gehen; sie wußte zwar alles, aber wir machten es doch heimlich, d. h. mit leisen Schritten. Ich gehe wie verrückt herum, schreibe ihr den letzten Brief und sage ihr: ›Wenn du jetzt nicht kommst, so gehe ich selbst zu deiner Tante.‹ Sie erschrak und kam. Sie weint und erzählt: ein Deutscher, namens Schulz, ein entfernter Verwandter von ihnen, ein reicher, nicht mehr junger Uhrmacher hat den Wunsch geäußert, sie zu heiraten – ›um mich,‹ erzählt sie, ›glücklich zu machen und um auch selbst im Alter nicht ohne Frau zu sein; er liebt mich auch, sagt er, und hat schon längst diese Absicht gehabt, aber immer geschwiegen und sich darauf vorbereitet. Er ist reich, Sascha‹, sagt sie, ›und das ist für mich ein Glück; willst du mir denn mein Glück rauben?‹ Ich sehe: sie weint und umarmt mich . . . Ach, denke ich mir, es ist vernünftig, was sie da sagt! Was für einen Sinn hat es für sie, einen Soldaten zu heiraten, und wenn ich auch Unteroffizier bin? – ›Nun, leb wohl, Luise,‹ sage ich ihr, ›Gott sei mit dir; ich will dir nicht dein Glück rauben. Und wie ist er, ist er nett?‹ – ›Nein,‹ sagt sie, ›ist schon bejahrt, hat eine so lange Nase . . .‹ Sie lacht sogar. Ich gehe von ihr und denke mir: nun, so will es halt mein Schicksal! Am nächsten Morgen ging ich zu seinem Laden, die Straße hatte sie mir gesagt. Ich sehe durch die Fensterscheibe: da sitzt der Deutsche, arbeitet an einer Uhr, ist so an die fünfundvierzig Jahre alt, hat eine krumme Nase und Glotzaugen, trägt einen Frack und einen sehr hohen Stehkragen, sieht so wichtig aus. Ich spie sogar aus; ich wollte ihm die Fensterscheibe einschlagen . . . aber was soll ich mich mit ihm einlassen, sage ich mir, hin ist hin! Ich kam gegen Abend in die Kaserne, legte mich aufs Bett und fing, glauben Sie es mir, Alexander Petrowitsch, zu weinen an . . .

»Es vergeht ein Tag, ein zweiter, ein dritter. Mit Luise komme ich nicht mehr zusammen. Indessen höre ich von einer Gevatterin (es war ein altes Weib, auch eine Wäscherin, zu der Luise zuweilen kam), daß der Deutsche von unserer Liebe wisse und sich darum beeilt habe, seinen Antrag zu machen. Sonst hätte er aber noch an die zwei Jahre gewartet. Der Luise hätte er aber den Eid abgenommen, daß sie mich nicht mehr kennen werde; vorläufig behandele er die beiden, die Tante und die Luise, noch gar nicht gut; vielleicht werde er sich die Sache noch überlegen, jedenfalls sei er noch nicht endgültig entschlossen. Sie sagte mir auch, er habe die beiden für übermorgen, Sonntag zu sich zum Morgenkaffee geladen, es werde auch noch ein alter Verwandter dabei sein, der einst Kaufmann gewesen, nun aber bettelarm sei und in irgendeinem Warenlager als Aufseher diene. Als ich erfuhr, daß sie am Sonntag vielleicht die Sache endgültig abmachen würden, packte mich die Wut, so daß ich mich gar nicht beherrschen konnte. Diesen ganzen Tag und auch den folgenden tat ich nichts anderes, als daran denken. Ich hätte wohl diesen Deutschen auffressen können.

»Sonntag früh wußte ich noch nichts, als aber der Gottesdienst zu Ende war, sprang ich auf, zog meinen Mantel an und ging zu dem Deutschen. Ich glaubte, sie alle dort anzutreffen. Warum ich zu dem Deutschen gegangen bin und was ich dort alles habe sagen wollen, weiß ich selbst nicht. Für jeden Fall steckte ich mir aber eine Pistole in die Tasche. Ich hatte eine alte, schlechte Pistole mit einem veralteten Hahn; als kleiner Junge hatte ich schon aus ihr geschossen. Richtig schießen konnte man mit ihr eigentlich nicht mehr. Ich lud sie aber dennoch mit einer Kugel; ich dachte mir, wenn sie grob werden und mich hinauszuwerfen versuchen, hole ich die Pistole aus der Tasche und erschrecke sie alle. Ich komme hin. In der Werkstatt ist kein Mensch, alle sitzen im Hinterzimmer. Außer ihnen ist kein Mensch da, auch kein Dienstbote. Er hielt sich nur eine einzige deutsche Dienstmagd, die zugleich auch Köchin war. Ich gehe durch den Laden und sehe: die Tür zum Hinterzimmer ist zugemacht, es ist eine alte Tür, mit einem Haken. Mein Herz klopft, ich bleibe stehen und horche: sie sprechen deutsch. Nun stoße ich aus aller Kraft mit dem Fuß, und die Tür geht sofort auf. Ich sehe: der Tisch ist gedeckt. Auf dem Tisch steht eine große Kaffeekanne, und der Kaffee kocht über einer Spiritusflamme. Auch Zwieback steht da; auf einem anderen Tablett eine Karaffe mit Branntwein, Hering, Wurst und noch eine Flasche mit irgendeinem Wein. Luise und die Tante, beide schön geputzt, sitzen auf dem Sofa. Ihnen gegenüber auf dem Stuhle sitzt der Deutsche selbst, der Bräutigam, schön frisiert, in Frack und Stehkragen, der ganz steil in die Höhe ragt. Zu seiner Seite sitzt auf einem Stuhle der andere Deutsche, schon alt, grau und dick, und schweigt. Als ich eintrat, wurde Luise blaß. Die Tante sprang erst auf und setzte sich gleich wieder, der Deutsche aber machte ein finsteres Gesicht. So böse stand er auf und trat mir entgegen.

›Was wünschen Sie?‹ fragte er mich.

Ich war etwas verwirrt, aber die Wut packte mich.

›Was ich wünsche?‹ sage ich: ›Empfange den Gast und bewirte ihn mit Branntwein. Ich bin als Gast zu dir gekommen.‹

Der Deutsche überlegt und sagt: ›Nehmen Sie Platz.‹

Ich setze mich. ›Nun, gib Branntwein her!‹ sage ich ihm.

›Hier ist Branntwein,‹ sagt er, ›trinken Sie, bitte.‹

›Du sollst mir aber guten Branntwein geben,‹ sage ich ihm. Die Wut packt mich immer mehr.

›Dieser Branntwein ist gut.‹

Es kränkte mich, daß er mich so von oben herab behandelte. Noch mehr aber, daß Luise es sah. Ich trank und sagte:

›Was bist du so grob, Deutscher? Du sollst mich wie einen Freund behandeln. Ich bin in Freundschaft zu dir gekommen.‹

›Ich kann nicht Ihr Freund sein,‹ sagt er, ›Sie sind ein einfacher Soldat.‹

Nun wurde ich ganz toll.

›Ach du Vogelscheuche, du Wurstmacher!‹ sage ich ihm. ›Weißt du denn auch, daß ich von dieser Minute an mit dir alles machen kann? Willst du, daß ich dich mit der Pistole erschieße?‹

Ich holte die Pistole aus der Tasche, stellte mich vor ihn hin und richtete den Lauf gerade auf seinen Kopf. Die anderen sitzen mehr tot als lebendig da und wagen nicht, einen Ton von sich zu geben; der Alte aber zittert wie ein Espenblatt, schweigt und ist ganz blaß geworden.

Der Deutsche war erst verblüfft, besann sich aber bald.

›Ich fürchte Sie nicht,‹ sagt er, ›und bitte Sie als einen anständigen Menschen, Ihre Scherze sofort zu unterlassen, ich fürchte Sie gar nicht.‹

›Ei, du lügst,‹ sage ich ihm, ›du fürchtest mich wohl!‹ Er wagt nicht, den Kopf vor der Pistole zu rühren, sitzt ganz starr da.

›Nein,‹ sagt er, ›Sie werden sich nicht unterstehen!‹

›Warum,‹ sage ich, ›sollte ich mich nicht unterstehen?‹

›Weil es Ihnen strengstens verboten ist,‹ sagt er, ›und Sie dafür streng bestraft werden.‹

Mag sich der Teufel in so einem Deutschen auskennen! Hätte er mich nicht selbst gereizt, so wäre er auch heute noch am Leben; das Ganze kam nur, weil er mit mir stritt.

›Du meinst also, daß ich mich nicht unterstehe?‹

›Nein!‹

›Ich unterstehe mich nicht?‹

›Sie unterstehen sich nicht, mir etwas zu tun . . .‹

›Nun, da hast du es, du Wurst!‹ Ich drücke ab, und er rollt vom Stuhl. Die anderen schrien auf.

»Ich steckte die Pistole in die Tasche und ging fort; wie ich aber in die Festung trat, warf ich die Pistole vor dem Festungstore in die Brennesseln.

»Ich kam heim, legte mich aufs Bett und dachte mir: gleich werden sie mich holen. Es vergeht aber eine Stunde, eine zweite, – sie holen mich nicht. Gegen Abend aber überkam mich eine solche Herzensunruhe, daß ich wieder ausging: ich wollte unbedingt Luise sehen. Ich komme am Uhrmachergeschäft vorbei und sehe: viele Leute stehen da, auch die Polizei ist dabei. Ich gehe zur Gevatterin und sage: ›Ruf mir Luise!‹ Ich hatte nicht lange zu warten, Luise kam gleich herbeigelaufen; sie fliegt mir um den Hals und weint: ›Ich selbst bin an allem Schuld,‹ sagt sie, ›weil ich auf die Tante gehört habe.‹ Sie sagte mir auch, daß die Tante gleich nach dem Geschehenen heimgekehrt sei und solche Angst hätte, daß sie daran erkrankt sei und über die Sache schweige; sie habe keinem Menschen etwas davon gesagt und auch ihr verboten, davon zu sprechen, so erschrocken sei sie: ›Sollen sie machen, was sie wollen.‹ – ›Uns hat vorhin niemand gesehen,‹ sagt Luise. Er hatte seine Dienstmagd weggeschickt, weil er sie fürchtete. Sie hätte ihm wohl die Augen ausgekratzt, wenn sie gehört hätte, daß er heiraten wolle. Auch von den Gesellen war niemand im Hause, – alle hatte er fortgeschickt. Er hatte selbst den Kaffee gekocht und den Imbiß hergerichtet. Der Verwandte aber hatte auch schon vorher sein ganzes Leben geschwiegen; auch jetzt sagte er nichts, nahm seine Mütze und ging als erster aus dem Hause. ›Auch er wird sicher schweigen,‹ sagte Luise. Und so geschah es auch. Zwei Wochen lang geschah mir nichts, und es lag auch kein Verdacht gegen mich vor. In diesen zwei Wochen – Sie können es mir glauben, Alexander Petrowitsch, oder auch nicht glauben, – habe ich mein ganzes Glück erfahren. Jeden Tag kam ich mit Luise zusammen, und wie hat sie an mir gehangen! Sie weint und sagt: ›Ich werde dir folgen, wohin man dich auch verschickt, alles will ich deinetwegen verlassen!‹ Ich glaubte, ich müßte vor Mitleid sterben: so sehr hatte sie mich gerührt. Nun, nach zwei Wochen wurde ich aber doch geholt. Der Alte und die Tante hatten sich beraten und mich angezeigt . . .«

»Warten Sie,« unterbrach ich Bakluschin, »deswegen konnte man Sie doch nur für zehn, höchstens für zwölf Jahre in die Zivilabteilung verschicken, Sie sind aber in der Besonderen Abteilung. Wie ist das möglich?«

»Das ist schon eine andere Sache,« antwortete Bakluschin. »Wie man mich vor die Gerichtskommission brachte, beschimpfte mich der Hauptmann vor Gericht mit gemeinen Worten. Ich beherrschte mich nicht und sagte ihm: ›Was schimpfst du? Siehst du denn nicht, Schuft, daß du vor den Gesetzbüchern sitzt?‹ Nun wurde die Sache ganz anders, und es begann ein neues Gerichtsverfahren; für alles zusammen bekam ich viertausend Spießruten und wurde hierher, in die Besondere Abteilung verschickt. Aber in derselben Stunde, als man mich zur Strafe führte, führte man auch den Hauptmann hinaus: ich kam unter die Spießruten, er aber wurde degradiert und als gemeiner Soldat in den Kaukasus verschickt. Auf Wiedersehen, Alexander Petrowitsch. Kommen Sie also zu unserer Vorstellung.«


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