Fjodr Dostojewski
Schuld und Sühne
Fjodr Dostojewski

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II

»Ja, ja, diese Zigaretten!« begann Porfirij Petrowitsch endlich, als die Zigarette brannte und er wieder Atem geschöpft hatte. »Es ist für mich verderblich, geradezu verderblich, aber ich kann's nicht lassen! Ich muß danach husten und bekomme Kratzen im Halse und Atembeschwerden. Wissen Sie, ich bin ängstlich, ich ging neulich zu Doktor B . . . n; der untersucht jeden Patienten mindestens eine halbe Stunde lang. Als er mich ansah, lachte er; dann beklopfte und behorchte er mich und sagte unter anderm: ›Das Tabakrauchen ist Ihnen nicht zuträglich; Ihre Lungen sind erweitert.‹ Aber wie soll ich das Rauchen unterlassen? Wie soll ich einen Ersatz dafür finden? Ich trinke nicht, das ist das ganze Malheur, he-he-he; ja, es ist ein Malheur, daß ich nicht trinke! So hat alles sein Gutes und sein Schlimmes, Rodion Romanowitsch, sein Gutes und sein Schlimmes!«

›Warum greift er denn wieder zu einem ähnlichen Gesprächsstoff wie neulich?‹ dachte Raskolnikow mit Widerwillen. Der ganze Hergang bei ihrem letzten Zusammensein kam ihm auf einmal ins Gedächtnis, und dasselbe Gefühl, das er damals gehabt hatte, flutete wie eine Welle durch sein Herz.

»Ich bin schon vorgestern abend einmal hier bei Ihnen gewesen; Sie wissen wohl nichts davon?« fuhr Porfirij Petrowitsch fort und blickte sich im Zimmer um. »In diesem Zimmer hier war ich. Ich kam, ebenso wie heute, am Hause vorbei und dachte: will ihm doch einen Gegenbesuch machen. Ich ging hinauf, das Zimmer stand weit offen; ich sah mich um, wartete ein Weilchen und ging wieder weg; ich habe mich nicht einmal bei Ihrem Dienstmädchen gemeldet. Sie schließen Ihr Zimmer nicht zu?«

Raskolnikows Gesicht wurde immer finsterer. Porfirij schien seine Gedanken zu erraten.

»Ich bin gekommen, um mich mit Ihnen auszusprechen, bester Rodion Romanowitsch, um mich mit Ihnen auszusprechen! Das empfinde ich als meine Pflicht und Schuldigkeit Ihnen gegenüber«, fuhr er lächelnd fort und klopfte sogar Raskolnikow mit der Hand leicht auf das Knie.

Aber fast in demselben Augenblicke nahm sein Gesicht plötzlich eine ernste, sorgenvolle Miene an; ja, zu Raskolnikows Verwunderung breitete sich sogar ein Ausdruck von Traurigkeit darüber aus. Er hatte ein solches Gesicht noch nie bei ihm gesehen und ihn dessen auch gar nicht für fähig gehalten.

»Es hat sich das letzte Mal eine eigentümliche Szene zwischen uns beiden abgespielt, Rodion Romanowitsch. Eigentlich auch wohl schon bei unserer ersten Begegnung: aber damals . . . Na, wir wollen es jetzt zusammenfassen! Nun also: ich habe mich Ihnen gegenüber vielleicht sehr ungehörig benommen; das fühle ich. Erinnern Sie sich wohl noch: als wir uns trennten, da waren Ihre Nerven heftig erregt, und Ihre Knie zitterten, und meine Nerven waren auch heftig erregt, und meine Knie zitterten. Und wissen Sie, wir benahmen uns damals gegeneinander eigentlich nicht mehr in geziemender Form, nicht gentlemanlike. Wir sind ja aber doch gentlemen, das heißt, unter allen Umständen und in erster Linie gentlemen; das müssen wir immer festhalten; Sie erinnern sich wohl, wie weit es damals zwischen uns kam, . . . es war schon geradezu unziemlich.«

›Was will er denn eigentlich, und wofür hält er mich?‹ fragte sich Raskolnikow erstaunt; er hob den Kopf und blickte seinem Besucher voll ins Gesicht.

»Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es für uns jetzt das beste ist, wenn wir ganz offenherzig miteinander verhandeln«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort; er drehte dabei den Kopf ein wenig zur Seite und schlug die Augen nieder, als wünsche er nicht mehr, sein ehemaliges Opfer durch seinen Blick in Verwirrung zu versetzen, und als verschmähe er seine früheren Kunstgriffe und Listen. »Ja, solche Verdächtigungen und solche Szenen darf man nicht zu lange dauern lassen. Damals hat uns Nikolai noch auseinandergebracht; sonst weiß ich nicht, wie weit die Sache zwischen uns noch gegangen wäre. Dieser verdammte Kleinbürger saß damals bei mir während unseres ganzen Gesprächs hinter der Zwischenwand – können Sie sich das vorstellen? Das ist Ihnen gewiß bereits bekannt; auch weiß ich selbst, daß er nachher bei Ihnen gewesen ist. Aber was Sie damals vermuteten, traf nicht zu: ich hatte nach niemandem geschickt und damals noch keinerlei Anordnungen getroffen. Sie werden mich fragen, warum ich das unterlassen hatte. Ja, was soll ich Ihnen darauf antworten? Mir selbst war die ganze Geschichte damals gar zu plötzlich gekommen. Ich hatte eben erst hingeschickt und die Hausknechte holen lassen. Sie haben die Hausknechte gewiß im Vorbeigehen bemerkt. Damals fuhr mir blitzschnell ein Gedanke durch den Kopf; sehen Sie wohl, Rodion Romanowitsch, ich war damals ganz fest überzeugt. Na, dachte ich, wenn ich auch andre Maßnahmen vorläufig unterlasse, so will ich doch ein Mittel zur Anwendung bringen; dann habe ich wenigstens das Meinige getan. Sie sind außerordentlich reizbar, Rodion Romanowitsch, offenbar von Natur, sogar übermäßig reizbar, neben allen andern Grundzügen Ihres Charakters und Herzens, die ich mir, wenigstens teilweise, richtig erkannt zu haben schmeichle. Na, natürlich sagte ich mir, sogar in jenem Augenblicke: immer glückt das nicht, daß ein Mensch so einfach aufsteht und einem sein ganzes Geheimnis ausplaudert. Vorkommen tut das ja freilich, namentlich, wenn man einen völlig aus der Fassung bringt; aber es ist doch immerhin ein seltner Fall. Das konnte ich mir selbst sagen. Aber ich dachte: wenn ich nur eine kleine Handhabe dabei gewinne! Und wenn es auch nur eine ganz kleinwinzige ist, nur eine einzige, aber so eine, daß man wirklich zufassen kann, etwas Konkretes, und nicht diese bloßen psychologischen Gründe. Denn, dachte ich, wenn jemand schuldig ist, so kann man doch gewiß erwarten, jedenfalls etwas Tatsächliches von ihm herauszubekommen; man darf sogar auf ein ganz unerwartetes Resultat spekulieren. Ich gründete damals meine Spekulation auf Ihren Charakter, Rodion Romanowitsch, ganz besonders auf Ihren Charakter! Darauf setzte ich damals meine größte Hoffnung.«

»Ja, wozu . . . wozu sagen Sie mir denn das alles jetzt?« murmelte Raskolnikow endlich, ohne sich von seiner eigenen Frage ordentlich Rechenschaft zu geben.

›Was will er nur mit diesen Reden?‹ fragte er sich ratlos. ›Hält er mich wirklich für unschuldig?‹

»Wozu ich Ihnen das sage? Ich bin ja hergekommen, um mich mit Ihnen auszusprechen; das halte ich sozusagen für meine heilige Pflicht. Ich will Ihnen alles ganz genau erzählen, wie alles gewesen ist, den ganzen Hergang meiner damaligen Verblendung, um mich so auszudrücken. Ich habe Sie schwer leiden lassen, Rodion Romanowitsch; aber ich bin kein Unmensch. Ich begreife völlig, wie entsetzlich es einem vom Schicksal niedergedrückten, aber stolzen, selbstbewußten, ungeduldigen Menschen, ja, ganz besonders einem ungeduldigen Menschen, sein muß, das alles über sich ergehen zu lassen! Ich halte Sie jedenfalls für einen durchaus vornehm denkenden Menschen, sogar mit Anlage zur Hochherzigkeit, obgleich ich nicht mit allen Ihren Anschauungen übereinstimme, was ich mich für verpflichtet halte, Ihnen von vornherein geradezu und mit vollständiger Aufrichtigkeit zu erklären; denn es liegt mir völlig fern, Sie täuschen zu wollen. Sobald ich Sie kennengelernt hatte, fühlte ich mich zu Ihnen hingezogen. Sie lachen vielleicht über das, was ich da sage? Dazu sind Sie berechtigt. Ich weiß, daß ich Ihnen gleich vom ersten Blicke an zuwider war; denn ich bin ja auch wirklich nicht dazu angetan, daß mich jemand gern haben sollte. Aber urteilen Sie über mich, wie Sie wollen; jetzt jedenfalls wünsche ich meinerseits, mit allen Mitteln den übeln Eindruck, den ich hervorgebracht habe, wiedergutzumachen und zu beweisen, daß auch ich ein Mensch bin, der ein Herz und ein Gewissen hat. Ich rede ganz aufrichtig.«

Porfirij Petrowitsch machte würdevoll eine Pause. Raskolnikow fühlte, wie eine neue Schreckempfindung ihn überkam. Der Gedanke, daß Porfirij ihn für unschuldig halte, hatte auf einmal für ihn etwas Beängstigendes.

»Alles der Reihe nach zu erzählen, wie die Geschichte damals plötzlich anfing«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort, »ist wohl kaum nötig, ich meine sogar, völlig überflüssig. Ich würde es auch kaum zustande bringen. Denn wie läßt sich das so im einzelnen darlegen? Ganz zuerst tauchten Gerüchte auf. Was das für Gerüchte waren und von wem sie ausgingen und wann sie mir zu Ohren kamen und aus welchem Anlasse die Aufmerksamkeit gerade auf Sie gelenkt wurde, auch das alles zu erzählen, halte ich für überflüssig. Was mich persönlich anlangt, so kam ich auf diesen Gedanken zuerst durch einen Zufall, durch einen ganz zufälligen Zufall, der ganz ebensogut, wie er eintrat, auch hätte nicht eintreten können. Was das für ein Zufall war? Hm! Ich glaube, darüber brauchen wir auch nicht zu reden. Alles dies, die Gerüchte und der Zufall, wirkten in meinem Kopfe zur Entstehung eines bestimmten Gedankens zusammen. Ich gestehe offen (denn wenn man einmal gesteht, muß man auch alles gestehen): ich war der erste, der damals auf Sie verfiel. Allerdings, die Notizen, die die alte Frau auf den Pfandstücken gemacht hatte, und allerlei andre Verdachtsmomente – das war alles wertlos. Solche Momente gibt es immer massenhaft. Ich hatte damals auch Gelegenheit, von der Szene im Polizeibureau mit allen Einzelheiten zu erfahren, gleichfalls ganz zufällig, aber nicht nur so obenhin, sondern von einem besonders zuverlässigen Berichterstatter, der, ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, diese Szene in bewundernswerter Weise wiedergab. Sehen Sie, liebster Rodion Romanowitsch, so kam eins zum andern. Da mußten ja die Gedanken ganz von selbst eine bestimmte Richtung nehmen. Aus hundert Kaninchen wird niemals ein Pferd und aus hundert Verdachtsgründen niemals ein Beweis, sagt ein englisches Sprichwort. Das ist indes nur so ein Vernunftsatz; aber nun versuche mal einer mit seinen Affekten zurechtzukommen, mit seinen Affekten; denn ein Untersuchungskommissar ist doch schließlich auch nur ein Mensch. Ich erinnerte mich damals auch an Ihre Abhandlung in einer Zeitschrift; Sie besinnen sich wohl, wir haben bei dem ersten Besuche, den Sie mir machten, ausführlich darüber gesprochen. Ich habe mich damals über Ihre Abhandlung lustig gemacht; aber das hatte nur den Zweck, Sie weiter hervorzulocken. Ich wiederhole, Sie sind sehr ungeduldig und sehr krank, Rodion Romanowitsch. Daß Sie von kühner, hochfahrender Sinnesart sind, ein ernstes Temperament besitzen und schon viele Empfindungen in Ihrem Leben durchgemacht haben, alles das wußte ich schon längst. All diese Seelenzustände sind mir wohlbekannt, und als ich Ihre Abhandlung las, hatte ich das Gefühl, als läse ich etwas Bekanntes. In schlaflosen Nächten und in fanatischer Erregung haben Sie sich diese Gedanken zurechtgelegt, mit hochschwellendem, stark pochendem Herzen, mit verhaltenem Enthusiasmus. Aber er ist gefährlich, dieser verhaltene, stolze Enthusiasmus der Jugend! Ich habe mich damals darüber lustig gemacht, will Ihnen aber jetzt gern bekennen, daß ich solche jugendlichen, hitzigen schriftstellerischen Erstlingsversuche außerordentlich liebe, das heißt, so als stiller Beschauer. Ich möchte sagen: es ist das ein Dunst und Nebel, und aus dem Nebel heraus ertönt eine Saite. Ihre Abhandlung ist unsinnig und phantastisch; aber man spürt darin eine solche Überzeugungstreue, einen jugendlichen, unbestechlichen Stolz, die Kühnheit der Verzweiflung. Es ist eine trübe, düstere Abhandlung; aber das ist ganz gut so. Ich las Ihre Abhandlung bald nach dem Erscheinen und legte sie beiseite und dachte damals gleich: ›Na, mit dem Menschen passiert noch mal etwas!‹ Und nun sagen Sie einmal selbst, nachdem all das vorangegangen war, wie sollte man sich da durch das, was folgte, nicht zu einem Verdachte hinreißen lassen? (Ach, mein Gott, sage ich denn etwa jetzt etwas gegen Sie? Behaupte ich denn etwa jetzt etwas? Ich teile Ihnen ja nur meine damaligen Beobachtungen mit.) Aber ich dachte: ›Was liegt hier für Material vor? Hier liegt nichts vor, gar nichts liegt vor, vielleicht im strengsten Sinne des Wortes nichts. Es paßt sich sogar für mich als Untersuchungskommissar ganz und gar nicht, daß ich mich zu einer solchen Meinung hinreißen lasse; ich habe ja diesen Nikolai in Händen, und zwar mit äußeren Beweisen. Im übrigen mag man ja verschiedener Ansicht sei, aber die äußeren Beweise! Und der Hergang läßt sich doch auch bei ihm psychologisch konstruieren; ich muß diesen Menschen studieren, denn hier handelt es sich um Leben und Tod.‹ Warum setze ich Ihnen all das jetzt auseinander? Damit Sie es wissen und mich nicht in Ihrem Verstande und Herzen anklagen, als hätte ich mich neulich boshaft gegen Sie benommen. Es war nicht boshaft, sage ich Ihnen ganz aufrichtig, he-he! Was meinen Sie: ich hätte damals keine Haussuchung bei Ihnen veranstaltet? Ich habe es getan, ich habe es getan, he-he! Ich habe es getan, als Sie hier krank im Bette lagen. Es ist nicht offiziell geschehen und nicht von mir in eigener Person; aber geschehen ist es. Bis aufs letzte Tüpfelchen wurde bei Ihnen hier in der Wohnung alles revidiert, noch auf frischer Tat – aber en vain! Da dachte ich denn: jetzt wird dieser Mensch zu mir kommen, von selbst wird er kommen, und sehr bald; wenn er schuldig ist, kommt er ganz bestimmt. Ein andrer würde nicht kommen; aber dieser wird kommen. Und erinnern Sie sich noch, wie Herr Rasumichin damals Ihnen gegenüber herausplatzte? Das hatten wir so in die Wege geleitet, um Sie aufzuregen; wir hatten nämlich absichtlich von solchen Gerüchten gesprochen, damit er sich Ihnen gegenüber verplappern sollte; denn Herr Rasumichin ist ein Mann, der seine Entrüstung nicht zu beherrschen vermag. Herrn Sametow fiel vor allem Ihr Ingrimm und Ihre unverhohlene Kühnheit auf: wie kann auch jemand in einem Restaurant plötzlich so damit herauskommen: ›Ich habe einen Mord begangen!‹ Das ist doch gar zu kühn, gar zu dreist, dachte ich; und wenn er schuldig ist, so ist er ein furchtbarer Gegner! So dachte ich damals. Und ich wartete! Ich wartete auf Sie mit größter Spannung. Unsern Sametow hatten Sie damals vollständig unterbekommen, und . . . das ist ja eben das Malheur, daß diese nichtswürdigen psychologischen Folgerungen immer ihre zwei Seiten haben! Also ich wartete auf Sie, und siehe da: Gott sandte Sie mir zu, Sie kamen! Mir klopfte ordentlich das Herz. Ach! Nun, warum mußten Sie damals zu mir kommen? Und Ihr Lachen, Ihr Lachen, als Sie zu mir ins Zimmer traten; erinnern Sie sich? Ich sah in Sie hinein, als ob Ihre Brust von Glas wäre. Hätte ich aber auf Sie nicht gerade in dieser besonderen Stimmung gewartet, so würde ich auch in Ihrem Lachen nichts gefunden haben. Sehen Sie wohl, wieviel darauf ankommt, daß man in einer gewissen Stimmung ist. Und Herr Rasumichin damals . . . Ach, und der Stein, der Stein, erinnern Sie sich? Der Stein, unter dem noch jetzt die Wertsachen verborgen liegen! Mir war geradezu, als sähe ich ihn irgendwo in einem Gemüsegarten; von einem Gemüsegarten hatten Sie ja schon zu Sametow gesprochen und dann nachher bei mir zum zweiten Male. Und als wir dann anfingen, Ihre Abhandlung zu besprechen und Sie sie näher erläuterten, da faßte ich jedes Ihrer Worte in zweifachem Sinne auf, als ob noch ein andres Wort dahinter verborgen wäre! Na also, sehen Sie, Rodion Romanowitsch, auf diese Weise verfolgte ich die eingeschlagene Richtung immer weiter, und erst, als ich mit der Stirn gegen ein Hindernis anrannte, kam ich zur Besinnung. ›Nein‹, sagte ich mir, ›was tue ich denn da? Wenn man Lust hat, so kann man all das restlos in ganz anderem Sinne erklären, und eine solche Erklärung macht dann sogar noch einen natürlicheren Eindruck. Es war eine rechte Qual!‹ ›Nein‹, dachte ich, ›wenn ich doch nur so eine kleine Handhabe hätte!‹ Und als ich nun damals von diesem Ziehen an der Türklingel hörte, da wurde ich ordentlich starr, ein Zittern lief mir über den ganzen Leib. ›Na‹, dachte ich, ›da habe ich ja meine Handhabe, da habe ich sie ja!‹ Und nun hörte ich auf, mir den Kopf zu zerbrechen; ich hatte einfach keine Lust mehr dazu. Tausend Rubel hätte ich in jenem Augenblicke aus meiner eigenen Tasche dafür gegeben, wenn ich Sie nur mit eigenen Augen hätte sehen können: wie Sie damals hundert Schritte neben dem Kleinbürger hergingen, nachdem er Ihnen ins Gesicht gesagt hatte: ›Mörder!‹, und die ganzen hundert Schritte lang keine Frage an ihn zu richten wagten! . . . Nun, und dieses Frostgefühl im Rückenmark? Und das Ziehen an der Türklingel im Zustande der Krankheit, des halben Fieberwahns? Also wie können Sie sich nach alledem darüber wundern, Rodion Romanowitsch, daß ich mit Ihnen damals solche Späßchen machte? Und warum mußten Sie auch gerade in jenem Augenblicke zu mir kommen? Wahrhaftig, ganz als ob Sie jemand zu mir hingetrieben hätte; und wenn uns nicht Nikolai noch auseinandergebracht hätte, so . . . Erinnern Sie sich noch an die Geschichte mit Nikolai damals? Haben Sie das noch gut im Gedächtnis? Das war ja ein Blitzstrahl, ein Donnerschlag, der auf uns niederprasselte! Na, und wie stellte ich mich dazu? Ich habe diesem Blitz und Donner nicht im geringsten Glauben geschenkt; das haben Sie ja selbst gesehen! Ja, noch mehr! Nachher, als Sie weggegangen waren und er mir über manche Punkte auf meine Fragen durchaus passende Auskunft gab, so daß ich selbst erstaunt war, auch da habe ich ihm absolut nichts geglaubt! Sehen Sie, so fest war meine Überzeugung, wie Stahl und Eisen. ›Nein‹, dachte ich, ›daraus wird nichts! Dagegen kann dieser Nikolai nichts ausrichten!‹«

»Aber Rasumichin hat mir doch eben erst mitgeteilt, Sie hielten auch jetzt noch Nikolai für schuldig, und Sie selbst hätten auch ihn, Rasumichin, davon überzeugt, daß . . .«

Der Atem versagte ihm, so daß er den Satz nicht zu Ende sprechen konnte. Er hörte in unbeschreiblicher Erregung zu, wie ein Mensch, der ihn völlig durchschaut hatte, seine eigene Erkenntnis verleugnete. Er fürchtete sich, dies zu glauben, und glaubte es nicht. In den immer noch zweideutigen Worten Porfirijs suchte und haschte er mit ängstlichem Eifer nach etwas Deutlicherem. Bestimmterem.

»Herr Rasumichin!« rief Porfirij Petrowitsch in einem Tone, als wäre er höchst erfreut über Raskolnikows Frage, nachdem dieser die ganze Zeit geschwiegen hatte. »He-he-he! Ja, Herrn Rasumichin mußte ich von uns fernhalten, nach dem Sprichwort: was zu zweien Vergnügen macht, da mische sich kein dritter hinein. Herr Rasumichin ist hierfür nicht die geeignete Persönlichkeit, und er ist ja auch an der Sache ganz unbeteiligt; er kam zu mir gelaufen, ganz blaß im Gesichte . . . Na, lassen wir ihn in Gottes Namen beiseite; wozu sollen wir ihn hier hereinziehen! Aber was Nikolai betrifft, möchten Sie da nicht hören, was das für eine Art von Mensch ist, das heißt, wie ich ihn beurteile? Vor allen Dingen ist er noch ein unmündiges Kind, aber ohne dabei feige zu sein; und dann hat er, ich möchte sagen, etwas von einem Künstler an sich. Wirklich, lachen Sie nicht darüber, daß ich ihn so schildere. Er ist ein unschuldiger, für fremde Einwirkungen sehr empfänglicher Mensch. Er hat ein gutes Herz und ist ein Phantast. Er kann auch singen und tanzen und versteht, wie ich höre, so gut Märchen zu erzählen, daß die Leute aus der ganzen Umgegend zusammenkommen, um ihm zuzuhören. Er geht auch in die Fortbildungsschule; über den geringsten Witz kann er sich halb krank lachen; er betrinkt sich sinnlos, nicht etwa aus Liederlichkeit, sondern nur so gelegentlich, wenn ihn einer traktiert, alles noch so ganz kindlich. Er hat damals gestohlen; aber er ist sich dessen selbst nicht bewußt; denn ›wenn ich es von der Erde aufgehoben habe‹, sagt er, ›wie soll ich es denn dann gestohlen haben?‹ Wissen Sie auch wohl, daß er Sektierer ist? Von seinen Verwandten haben sich manche den Beguny angeschlossen, und er selbst hat noch vor kurzem volle zwei Jahre lang auf dem Lande bei einem ihrer Ältesten religiöse Unterweisungen erhalten. Das alles habe ich von Nikolai und seinen Landsleuten aus Saraisk erfahren. Ja, noch mehr! Er wollte in die Einöde wandern und dort als Eremit leben! Er wußte sich in Frömmigkeit gar nicht genug zu tun, betete die Nächte hindurch und las in den alten ›echten‹ Büchern so lange, bis sein Verstand darunter litt. Petersburg hat auf ihn einen gewaltigen Eindruck gemacht, namentlich das weibliche Geschlecht, na, und auch der Schnaps. Er ist eben sehr leicht zu beeinflussen, und so vergaß er denn den Ältesten und alles. Ich habe in Erfahrung gebracht, daß ihn hier ein Künstler liebgewonnen hat und ihn manchmal besuchte; aber da ist nun diese Geschichte passiert! Na, er bekam es mit der Angst, lief davon, wollte sich aufhängen! Wie soll man gegen die Vorstellung ankämpfen, die sich das Volk nun einmal von unserem Gerichtswesen gebildet hat! Mancher bekommt schon einen furchtbaren Schreck, wenn er hört: ›Du kommst vor Gericht.‹ Wer ist daran schuld? Wir wollen mal sehen, ob die bevorstehende Reform des Gerichtswesens darin Wandel schaffen wird. Gott gebe es! Na also, im Gefängnis erinnerte er sich jetzt offenbar wieder an den ehrwürdigen Ältesten; auch die Bibel kam wieder zum Vorschein. Wissen Sie wohl, Rodion Romanowitsch, was bei manchen von diesen Leuten ›leiden‹ bedeutet? Das bedeutet nicht, daß man für einen Mitmenschen leiden muß, sondern schlechthin, daß man leiden muß, daß man das Leid auf sich nehmen muß, und ganz besonders ein Leid, das einem von der Obrigkeit zugefügt wird. Ich habe so etwas in meiner Amtszeit selbst miterlebt: da saß ein ganz bescheidener, demütiger Arrestant ein ganzes Jahr im Gefängnis; nachts, wenn er auf dem Ofen lag, las er immer in der Bibel; davon wurde er ganz verdreht, dergestalt, daß er mir nichts, dir nichts einen Ziegelstein ergriff und damit nach dem Gefängnisdirektor warf, ohne daß er ihm auch nur das geringste zuleide getan hätte. Ja, und wie warf er: absichtlich ein paar Fuß weit vorbei, um ihm keinen Schaden zu tun! Na, jeder weiß ja, was einem Arrestanten widerfährt, der einen Gefängnisbeamten mit einem gefährlichen Werkzeug angreift; jener Mensch ›nahm eben das Leid auf sich‹. So vermute ich nun jetzt, daß auch Nikolai ›das Leid auf sich nehmen‹ will, oder so etwas Ähnliches. Das glaube ich mit Bestimmtheit und stütze mich dabei sogar auf Tatsachen. Aber er selbst weiß nicht, daß ich es weiß. Oder halten Sie es etwa für unmöglich, daß aus der unteren Volksschicht solche phantastischen Menschen hervorgehen? Aber massenhaft, sage ich Ihnen! Jetzt wirkt nun bei Nikolai wieder die frühere Unterweisung durch den Ältesten; namentlich nach dem Versuch, sich aufzuhängen, ist der ihm wieder ins Gedächtnis gekommen. Übrigens wird er mir schon noch alles selbst erzählen; er wird schon noch zu mir kommen. Meinen Sie, er wird diese Selbstbeschuldigung auf die Dauer aushalten? Warten Sie nur ab, er wird es schon noch widerrufen! Ich erwarte stündlich, daß er zu mir kommt und seine Aussage zurücknimmt. Ich habe diesen Nikolai liebgewonnen und erforsche ihn bis auf den Grund seiner Seele. Und denken Sie nur, he-he-he, über manche Punkte hat er mir meine Fragen in ganz passender Weise beantwortet; da hat er sich offenbar die erforderliche Kenntnis verschafft und sich geschickt vorbereitet; na, aber dann wieder bei andern Punkten hatte er keinen Schimmer; er weiß darüber nicht das geringste und hat selbst keine Ahnung davon, daß er nichts weiß! Nein, Väterchen Rodion Romanowitsch, Nikolai ist bei dieser Sache unbeteiligt. Was hier vorliegt, ist eine phantastische, finstere Tat, eine moderne Tat, ein Fall so recht im Charakter unserer Zeit, wo die Gefühle des Herzens eine Trübung erfahren haben, wo man die Phrase zitiert, daß Blut eine erfrischende Wirkung ausübe, wo ein ganzes Leben voll Komfort als das höchste Glück verkündet wird. Was hier vorliegt, das sind Zukunftsträumereien, die aus Büchern stammen, ein durch theoretische Studien aufgereiztes Herz; hier sieht man, wie jemand fest entschlossen ist, den ersten Schritt auf dieser Bahn zu tun; aber diese Entschlossenheit ist von einer besonderen Art: er hat sich entschlossen etwa so, wie man sich von einem Felsen oder einem Turme herabstürzt, und ist zu dem Verbrechen gegangen, wie von einer fremden Macht getrieben. Er hat vergessen, die Tür hinter sich zuzuschließen, und hat gemordet, zwei Menschen gemordet, auf Grund seiner Theorie. Er hat gemordet, hat aber nicht verstanden, das Geld zu nehmen; sondern was er in der Eile ergriffen hat, das hat er unter einen Stein gelegt. Er hatte noch nicht genug an der Qual, die er ausgestanden hatte, als er hinter der Tür versteckt stand und an der Tür gerüttelt und an der Klingel gerissen wurde – nein, er geht nachher im halben Fieberwahn in die nun leere Wohnung, um sich dieses Läuten der Klingel ins Gedächtnis zurückzurufen; er hat ein Verlangen danach, das Kältegefühl im Rücken noch einmal zu verspüren . . . Nun ja, er hat das allerdings in einem krankhaften Zustande getan; aber noch eines ist besonders merkwürdig: er hat einen Mord begangen, hält sich aber trotzdem für einen ehrenhaften Menschen, verachtet andre Leute, wandelt wie ein Engel der Unschuld einher . . . nein, Nikolai kann als Täter gar nicht in Betracht kommen, liebster Rodion Romanowitsch, Nikolai unter keinen Umständen!«

Nach allem, was Porfirij im ersten Teile des Gesprächs gesagt hatte und was wie eine Abbitte des Verdachtes geklungen hatte, kamen diese letzten Worte Raskolnikow gar zu überraschend. Er zitterte am ganzen Körper, als ob er einen Dolchstich erhalten hätte.

»Wer . . . hat denn also . . . den Mord begangen?« fragte er mit fast versagender Stimme. Aber es war ihm unmöglich, die Frage zurückzuhalten.

Porfirij Petrowitsch warf sich an die Stuhllehne zurück, als ob diese Frage ihm ganz unerwartet gekommen wäre und ihn in das äußerste Erstaunen versetzt hätte.

»Und Sie fragen noch, wer den Mord begangen hat?« erwiderte er, als traue er seinen Ohren nicht. »Sie selbst haben den Mord begangen, Rodion Romanowitsch!« fügte er fast flüsternd, aber im Tone festester Überzeugung hinzu.

Raskolnikow sprang vom Sofa auf, blieb einige Sekunden stehen und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder hin. Leise krampfhafte Zuckungen liefen über sein ganzes Gesicht.

»Die Lippe bebt Ihnen wieder wie damals«, murmelte Porfirij Petrowitsch, und es klang sogar teilnahmsvoll. »Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden, Rodion Romanowitsch«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, »daher sind Sie auch so betroffen. Ich bin ja gerade in der Absicht hergekommen, alles frei heraus zu sagen und das Spiel mit aufgedeckten Karten fortzusetzen.«

»Ich habe den Mord nicht begangen«, flüsterte Raskolnikow, ganz wie es erschrockene kleine Kinder zu machen pflegen, wenn sie auf frischer Tat ertappt werden.

»Doch, doch, Sie sind es gewesen, Rodion Romanowitsch, Sie und kein andrer«, flüsterte Porfirij streng und überzeugt.

Dann schwiegen beide, und dieses Schweigen dauerte sonderbar lange, wohl zehn Minuten. Raskolnikow hatte sich mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt und wühlte schweigend mit den Fingern in seinen Haaren. Porfirij saß still da und wartete. Plötzlich blickte Raskolnikow ihn verächtlich an.

»Sie verfahren wieder nach Ihrer alten Methode, Porfirij Petrowitsch! Immer dieselben Kniffe! Wunderlich, daß Sie dessen nicht selbst überdrüssig werden!«

»Ach, reden Sie doch nicht! Was könnten mir denn jetzt meine Kniffe helfen? Ein ander Ding wäre es, wenn Zeugen bei unserem Gespräche zugegen wären; aber wir reden ja doch unter vier Augen. Sie sehen selbst: ich bin nicht in der Absicht zu Ihnen hergekommen, Sie zu hetzen und zu fangen wie einen Hasen. Ob Sie bekennen oder nicht, ist mir in diesem Augenblicke ganz gleich. Ich für meine Person bin auch ohne Ihr Geständnis überzeugt.«

»Wenn dem so ist, warum sind Sie dann hergekommen?« fragte Raskolnikow gereizt. »Ich richte an Sie dieselbe Frage wie schon früher: Wenn Sie mich für schuldig halten, warum setzen Sie mich nicht ins Gefängnis?«

»Na, das ist eine Frage, die sich hören läßt! Und so will ich sie Ihnen beantworten, indem ich Punkt für Punkt meine Gründe angebe. Erstens: Sie so geradezu ins Gefängnis zu setzen, ist für mich nicht vorteilhaft.«

»Was meinen Sie damit: nicht vorteilhaft? Wenn Sie von meiner Schuld überzeugt sind, dann sind Sie doch verpflichtet . . .«

»Ach, was hat denn meine Überzeugung zu besagen? Das sind ja doch vorläufig alles nur so Phantasien von mir. Ja, und warum soll ich Sie denn an einen Ort bringen, wo Sie Ruhe haben würden? Wie vorteilhaft das für Sie wäre, wissen Sie offenbar selbst, da Sie ja selbst darum ersuchen. Ich bringe zum Beispiel, um Sie zu überführen, den Kleinbürger hin; aber Sie werden zu ihm sagen: ›Bist du ein Trinker oder nicht? Wer hat mich mit dir zusammen gesehen? Ich hielt dich einfach für betrunken, und du warst auch wirklich betrunken‹ – nun, was könnte ich daraufhin zu Ihnen sagen, namentlich auch, da Ihre Behauptung wahrscheinlicher klingt als die seinige; denn die seinige beruht nur auf einer psychologischen Kombination (und wie paßt so etwas zu seiner dummen Visage), Sie aber treffen ins Schwarze, da der Halunke notorisch ein wüster Säufer ist. Und ich selbst habe Ihnen schon mehrmals offenherzig gestanden, daß diese psychologischen Erwägungen ihre zwei Seiten haben und daß die zweite Seite prävaliert und weit glaublicher erscheint und daß ich im übrigen gegen Sie vorläufig noch gar keine Beweise vorbringen kann. Ich werde Sie nun zwar trotzdem ins Gefängnis setzen, und ich bin (was allerdings ein ungewöhnliches Verfahren ist) sogar selbst zu dem Zwecke hergekommen, Ihnen das alles im voraus anzukündigen; aber ich sage Ihnen geradezu (was wiederum ungewöhnlich ist), daß das für mich nicht vorteilhaft sein wird. Nun weiter, zweitens bin ich zu Ihnen gekommen, weil . . .«

»Nun also, zweitens?« Raskolnikow atmete noch immer nur mühsam und keuchend.

»Weil, wie ich Ihnen schon vorhin erklärte, ich mich für verpflichtet halte, mich Ihnen gegenüber offen auszusprechen. Ich möchte nicht, daß Sie mich für einen Unmenschen halten, und ich möchte das um so weniger, da ich Ihnen aufrichtig zugetan bin, mögen Sie es mir nun glauben oder nicht. Infolgedessen bin ich drittens zu Ihnen gekommen mit einem offenen, ehrlichen Vorschlage: sich selbst anzuzeigen. Das wird für Sie bei weitem das vorteilhafteste sein, und es ist auch zugleich das vorteilhafteste für mich; denn dann bin ich diese Geschichte los. Nun, was meinen Sie, ist das von mir nicht offenherzig?«

Raskolnikow überlegte eine kurze Weile.

»Hören Sie, Porfirij Petrowitsch, Sie sagten doch selbst, es sei alles nur Psychologie, und nun tun Sie, als wüßten Sie alles mit mathematischer Sicherheit. Wie aber, wenn Sie sich jetzt doch irren?«

»Nein, Rodion Romanowitsch, ich irre mich nicht. Ich habe so eine kleine Handhabe. Diese kleine Handhabe habe ich damals gefunden; die hat mir Gott gesandt!«

»Was für eine Handhabe?«

»Das sage ich nicht, Rodion Romanowitsch. Aber jedenfalls bin ich jetzt nicht mehr berechtigt, Ihre Verhaftung länger hinauszuschieben; ich werde Sie ins Gefängnis setzen. Also überlegen Sie sich das, ob Sie ein Geständnis ablegen wollen. Mir ist es jetzt, für den Augenblick, ganz gleich; Sie sehen somit, daß ich es einzig und allein um Ihretwillen wünsche. Weiß Gott, es ist das beste, Rodion Romanowitsch!«

Raskolnikow lächelte höhnisch.

»Ihre Zumutung ist nicht nur lächerlich, sondern geradezu unverschämt. Nun, gesetzt, ich wäre schuldig (was ich in keiner Weise zugebe), was hätte ich denn dann für Veranlassung, mit einem Geständnisse zu Ihnen zu kommen, da Sie doch selbst erklären, Sie würden mich ohnehin bald an einen Ort bringen, wo ich Ruhe haben würde?«

»Ach, Rodion Romanowitsch, verlassen Sie sich auf das, was ich darüber gesagt habe, nicht allzusehr; einer vollständigen Ruhe werden Sie sich da wohl nicht erfreuen! Das ist ja alles nur Theorie, und noch dazu bloß meine Theorie, und ich kann doch für einen Mann wie Sie keine Autorität sein! Vielleicht verheimliche ich Ihnen auch selbst jetzt noch dies und das. Ich kann Ihnen doch auch nicht gleich alles so ohne weiteres aufdecken, he-he! Und zweitens: wie können Sie erst noch fragen, was Sie von einem Geständnis für Vorteil haben würden? Sie wissen ja doch, welche Strafermäßigung Ihnen dafür zuteil werden wird? Denn wann, zu welchem Zeitpunkte kommen Sie mit Ihrer Selbstanzeige? Überlegen Sie sich das nur! In einem Augenblicke, wo bereits ein anderer das Verbrechen auf sich genommen und die ganze Sache heillos verwirrt hat. Und ich werde (das schwöre ich Ihnen!) es vor Gericht so darstellen und einrichten, daß Ihr Geständnis als ein vollständig unerwartetes, freiwilliges erscheint. Alles, was ich an psychologischen Erwägungen vorgebracht habe, soll so gut wie ungesagt sein; allen aus solchem Grunde gegen Sie geäußerten Verdacht annulliere ich, so daß sich Ihr Verbrechen als eine Art Geistesverwirrung darstellen wird; denn, die Wahrheit zu sagen, eine Geistesverwirrung ist es auch wirklich gewesen. Ich bin ein Ehrenmann, Rodion Romanowitsch, und halte, was ich verspreche.«

Raskolnikow schwieg düster und ließ den Kopf sinken; lange überlegte er, und endlich lächelte er wieder; aber es war jetzt ein sanftes, trauriges Lächeln.

»Ach was, es liegt mir nichts daran!« sagte er, als hätte er Porfirij gegenüber auf alle Verstellung verzichtet. »Es ist nicht der Mühe wert; es liegt mir gar nichts an Ihrer Strafermäßigung!«

»Na ja, das war's ja gerade, was ich fürchtete!« rief Porfirij erregt; der Ausruf entschlüpfte ihm, wie es schien, ganz unwillkürlich. »Gerade das habe ich gefürchtet, daß Ihnen an unserer Strafermäßigung nichts liegen würde.«

Raskolnikow sah ihn mit traurigem, fragendem Blicke an.

»Ei, ei, mißachten Sie das Leben nicht!« fuhr Porfirij fort. »Sie haben noch ein gutes Stück davon vor sich. Wie können Sie nur sagen, daß Ihnen an einer Strafermäßigung nichts liege! Sie sind ein ungeduldiger Mensch!«

»Was kann mir die Zukunft noch bringen?«

»Ein gutes Stück Leben! Sie sind doch kein Prophet; was wissen Sie denn von der Zukunft? Suchet, so werdet ihr finden! Vielleicht hat Gott gerade an dieser Stelle Ihres Lebensweges auf Sie gewartet. Und Sie würden doch auch die Fesseln nicht lebenslänglich tragen . . .«

»Ach so, wegen der Strafermäßigung . . .«, warf Raskolnikow lachend dazwischen.

»Fürchten Sie sich etwa vor der Schande in den Augen der bürgerlichen Gesellschaft? Kann leicht sein, daß Sie sich davor fürchten, ohne es eigentlich selbst zu wissen; denn Sie sind eben noch jung! Aber dennoch sollte ein Mann wie Sie sich nicht davor fürchten und sich einer Selbstanzeige nicht schämen.«

»Ekelhaft!« flüsterte Raskolnikow verächtlich und widerwillig, als möchte er am liebsten das Gespräch abbrechen.

Er stand wieder auf, als wollte er fortgehen, setzte sich aber in sichtlicher Verzweiflung wieder hin.

»Das ist es eben, ›ekelhaft‹! Sie haben allen Glauben und alles Zutrauen verloren und meinen wohl gar, daß ich Ihnen in plumper Weise schmeichle. Aber wie lange haben Sie denn schon gelebt, und wieviel verstehen Sie vom Leben? Da haben Sie sich nun eine Theorie ersonnen und schämen sich jetzt, daß die Sache schiefgegangen ist und ganz und gar keinen originellen, großartigen Ausgang gehabt hat! Der Ausgang war vielmehr ein recht gemeiner, das ist wahr; aber Sie sind trotzdem nicht ein Schurke, an dem man verzweifeln müßte! Durchaus nicht! Wenigstens haben Sie zu Ihrem Selbstbetruge nicht lange Zeit gebraucht, sondern sind schnell bis zum äußersten gegangen. Wofür ich Sie halte? Ich halte Sie für einen von jenen Menschen, die, selbst wenn man ihnen die Eingeweide aus dem Leibe reißt, ruhig dastehen und lächelnd ihre Peiniger anblicken – wenn sie nur so Gott finden. Nun, finden Sie Gott, und Sie werden leben. Sie haben zunächst schon lange eine Luftveränderung nötig. Seien Sie versichert, auch das Leid ist ein gut Ding. Leiden Sie! Nikolai hat vielleicht ganz recht, daß er nach dem Leide trachtet. Ich weiß, daß es nicht jedermanns Sache ist, das zu glauben; aber lassen Sie sich nicht auf allzu schlaue philosophische Grübeleien ein; überlassen Sie sich einfach ohne viel Kopfzerbrechen dem Leben; seien Sie ohne Sorge: das Leben wird Sie schon ans Ufer tragen und wieder auf die Beine stellen. An was für ein Ufer? Das kann ich nicht wissen. Ich bin nur der festen Überzeugung, daß Sie noch viel zu leben haben. Ich weiß, daß Sie meine Worte jetzt als eine auswendig gelernte Predigt auffassen; aber vielleicht werden Sie sich meiner Worte in späterer Zeit erinnern, und sie werden Ihnen noch einmal von Nutzen sein; eben darum spreche ich zu Ihnen. Es ist nur gut, daß Sie bloß ein armseliges altes Weib ermordet haben. Hätten Sie sich eine andere Theorie ausgedacht, so hätten Sie am Ende gar eine unendlich viel greulichere Tat begangen! Dafür müssen Sie vielleicht Gott noch dankbar sein; Sie können es ja nicht wissen: vielleicht spart Sie Gott noch zu einem guten Zwecke auf. Beweisen Sie eine hohe Gesinnung; bekämpfen Sie alle Furcht. Ist Ihnen bange vor der Größe der Ihnen bevorstehenden Strafe? Nein, dieser Bangigkeit muß man sich schämen. Da Sie einmal einen solchen Schritt getan haben, so nehmen Sie nun auch Ihre Kraft zusammen! Darin besteht die Gerechtigkeit. Erfüllen Sie, was die Gerechtigkeit verlangt! Ich weiß, daß Sie mir das jetzt nicht glauben; aber das Leben wird Sie einst wieder ans Ufer tragen. Und Sie selbst werden sich später wieder des Lebens freuen. Sie haben jetzt nur Luft nötig, Luft, Luft!«

Raskolnikow schrak ordentlich zusammen.

»Ja, wer sind Sie denn eigentlich?« rief er. »Sind Sie vielleicht ein Prophet, daß Sie mir von der Höhe Ihrer majestätischen Ruhe herab solche weisen Prophezeiungen erteilen?«

»Wer ich bin? Ich bin ein Mensch, der bereits über seinen Höhepunkt hinaus ist, weiter nichts. Ein Mensch, der vielleicht Gefühl und Mitgefühl besitzt, der vielleicht auch dies und das weiß, bei dem aber von einer weiteren Entwicklung nicht mehr die Rede sein kann. Aber mit Ihnen ist das etwas ganz anderes; Ihnen hat Gott noch die Möglichkeit eines ersprießlichen Lebens vorbehalten (freilich, wer weiß, vielleicht vergeht auch Ihr Leben wie ein bloßer Rauch, von dem nichts übrigbleibt). Nun, was ist denn dabei, daß Sie in die andre Menschenklasse übergehen? Sie werden sich doch nicht um den Komfort grämen, Sie mit Ihrem Herzen? Was ist denn dabei, daß vielleicht lange Zeit niemand Sie sehen wird? Nicht um die Zeit handelt es sich, sondern um Sie selbst. Werden Sie eine Sonne, und alle werden Sie sehen. Eine Sonne muß sich vor allen Dingen als Sonne erweisen, muß leuchten und wärmen. Warum lächeln Sie wieder? Weil ich so poetisch werde, so in der Art Schillers? Und ich möchte wetten, Sie glauben, daß ich mich jetzt bei Ihnen einzuschmeicheln versuche! Na, vielleicht versuche ich das wirklich, he-he-he! Ich habe nichts dagegen, wenn Sie meinen Worten nicht glauben, Rodion Romanowitsch; glauben Sie mir meinetwegen überhaupt niemals völlig; ich habe nun schon einmal so eine verdächtige Art zu reden an mir, das gebe ich zu. Nur eines möchte ich noch hinzufügen: inwieweit ich ein gemeiner oder ein ehrenhafter Mensch bin, das werden Sie ja wohl selbst beurteilen können.«

»Wann beabsichtigen Sie, mich festnehmen zu lassen?«

»Na, so anderthalb oder zwei Tage kann ich Sie noch spazierengehen lassen. Überlegen Sie sich die Sache, mein Bester, und wenden Sie sich im Gebete an Gott. Es ist wirklich vorteilhafter, weiß Gott, wirklich vorteilhafter.«

»Aber wenn ich nun davonlaufe?« fragte Raskolnikow mit einem eigentümlichen Lächeln.

»Nein, Sie laufen nicht davon. Ein Bäuerlein läuft davon, ein moderner Sektierer läuft davon, überhaupt Leute, die fremde Gedanken nachbeten und lebenslänglich glauben, was ihnen einmal vorgesprochen wurde. Sie aber glauben ja nicht mehr an Ihre Theorie; warum sollten Sie also davonlaufen? Und was hätten Sie denn auch von dem Dasein als Flüchtiger? Das Dasein eines Flüchtlings ist häßlich und mühevoll; Sie aber brauchen vor allen Dingen wirkliches Leben und eine fest bestimmte Stellung und geeignete Luft; na, und was würden Sie denn als Flüchtling für eine Luft atmen! Wenn Sie davonlaufen, so werden Sie von selbst wieder zurückkommen. Sie können uns nicht entbehren, Sie brauchen uns notwendig. Aber wenn ich Sie hinter Schloß und Riegel setze – na, dann werden Sie einen Monat oder, sagen wir, auch zwei Monate, drei Monate sitzen, und dann auf einmal (denken Sie an mein Wort!) werden Sie ganz von selbst zu mir kommen; vielleicht wird der Entschluß dazu sogar Ihnen selbst überraschend sein. Noch eine Stunde vorher werden Sie es selbst nicht wissen, daß Sie zu mir gehen und ein Geständnis ablegen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie schließlich selbst wünschen werden, ›das Leid auf sich zu nehmen‹. Jetzt glauben Sie meinen Worten nicht; aber Sie werden schon selbst zu dieser Ansicht gelangen. Denn das Leid, Rodion Romanowitsch, ist etwas Großes und Heiliges. Stoßen Sie sich nicht daran, daß ich so korpulent geworden bin; das hat damit nichts zu tun; darum kann ich doch damit Bescheid wissen. Lachen Sie nicht darüber: im Leide liegt ein erhabenes Lebensprinzip. Nikolai hat ganz recht. Nein, Sie werden nicht davonlaufen, Rodion Romanowitsch.«

Raskolnikow stand auf und griff nach seiner Mütze. Porfirij Petrowitsch erhob sich gleichfalls.

»Sie wollen einen Spaziergang machen? Es wird ein schöner Abend werden, wenn nur nicht ein Gewitter kommt. Übrigens wäre das sogar ganz gut; die Luft würde dann frischer werden.«

Er nahm gleichfalls seine Mütze.

»Bitte, bilden Sie sich nur ja nicht ein, Porfirij Petrowitsch«, sagte Raskolnikow finster, in bestimmtem, festem Tone, »daß ich Ihnen jetzt ein Geständnis abgelegt hätte. Sie sind ein merkwürdiger Mensch, und ich habe Ihnen nur aus Neugier zugehört. Gestanden habe ich Ihnen aber nichts . . . Wollen Sie das nicht vergessen.«

»Schön, schön, weiß schon, ich werde es nicht vergessen – aber Sie zittern ja so! Seien Sie unbesorgt, mein Bester; alles ganz nach Ihrem Wunsche! Machen Sie einen kleinen Spaziergang; allzuviel werden Sie ja nicht mehr gehen können. Für alle Fälle habe ich an Sie noch eine kleine Bitte«, fügte er leiser hinzu. »Die Sache ist ein bißchen peinlich, aber von großer Wichtigkeit: Wenn Sie, das heißt, ich sage das nur für alle Fälle (ich glaube übrigens nicht, daß der Fall eintreten wird, und halte Sie dessen schlechterdings nicht für fähig), wenn Sie möglicherweise . . . na, also für alle Fälle gesagt . . . wenn Sie im Laufe dieser vierzig, fünfzig Stunden Lust bekommen sollten, diese Angelegenheit in einer anderen Weise zum Abschluß zu bringen, so in einer mehr phantastischen Art, . . . will sagen, Hand an sich selbst zu legen (es ist ja eine abgeschmackte Annahme; aber, bitte, nehmen Sie es mir nicht übel); dann hinterlassen Sie doch bitte eine kurze, aber klare Notiz. Ganz einfach, zwei Zeilen, bloß zwei kurze Zeilen, und erwähnen Sie darin doch auch den Stein, das wird sich recht anständig ausnehmen. Nun, also auf Wiedersehen, . . . ich wünsche Ihnen gute Gedanken und heilsame Entschlüsse!«

Porfirij ging in eigentümlich gebückter Haltung hinaus, wobei er es vermied, Raskolnikow noch einmal anzublicken. Raskolnikow trat ans Fenster und wartete in nervöser Ungeduld so lange, bis seiner Berechnung nach jener auf die Straße gelangt und eine Strecke weit fortgegangen sein konnte. Hierauf verließ auch er schnell das Zimmer.


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