Fjodr Dostojewski
Schuld und Sühne
Fjodr Dostojewski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

Am andern Tage erwachte er erst spät, nach einem unruhigen Schlafe, der ihn nicht gekräftigt hatte. Er erwachte in verbitterter, gereizter, ingrimmiger Stimmung und blickte sich mit wahrem Hasse in seinem Kämmerchen um. Dies war ein winziger Käfig, sechs Schritte lang, der mit seiner gelblichen, verstaubten, sich überall von der Wand loslösenden Tapete einen überaus kläglichen Eindruck machte und so niedrig war, daß es einem nur einigermaßen hochgewachsenen Manne darin bange wurde und er jeden Augenblick befürchten mußte, mit dem Kopfe an die Decke zu stoßen. Das Mobiliar paßte zu der Räumlichkeit: es waren drei alte, etwas defekte Stühle da; in einer Ecke ein gestrichener Tisch, auf dem ein paar Hefte und Bücher lagen; schon an der Staubschicht, die sie bedeckte, war zu erkennen, daß seit langer Zeit keines Menschen Hand sie mehr berührt hatte; endlich ein plumpes, großes Sofa, das beinahe die ganze Längswand und die halbe Breite des Zimmers einnahm; einstmals war es mit Kattun überzogen gewesen, von dem aber jetzt nur Fetzen übrig waren; es diente dem Bewohner als Bett. Oft schlief er darauf so, wie er gerade war, ohne sich auszuziehen, ohne Laken, mit seinem alten, abgenutzten Studentenpaletot zugedeckt, unter dem Kopfe nur ein kleines Kissen, unter welches er alles, was er an reiner und getragener Wäsche besaß, herunterpackte, um es am Kopfe etwas höher zu haben. Vor dem Sofa stand ein kleines Tischchen.

Schwerlich konnte jemand tiefer sinken und mehr verkommen; aber Raskolnikow empfand dies in seinem jetzigen Gemütszustande sogar als angenehm. Er hatte sich von allen Menschen völlig zurückgezogen, wie eine Schildkröte in ihre Schale, und selbst das Gesicht der Magd, die die Aufwartung zu besorgen hatte und manchmal einen Blick in sein Zimmer warf, erregte ihm die Galle und reizte ihn zu Krämpfen. Es ist das eine häufige Erscheinung bei Leuten, die an einer bestimmten fixen Idee leiden und ihre Gedanken immer nur auf diesen einen Punkt richten. Seine Wirtin hatte schon vor zwei Wochen aufgehört, ihm Essen zu verabfolgen; aber er hatte noch gar nicht daran gedacht, hinzugehen und sich mit ihr darüber auseinanderzusetzen, obwohl er seitdem eben kein Mittagbrot hatte. Nastasja, die Köchin und einzige Magd der Wirtin, war in gewisser Hinsicht mit dieser Stimmung des Mieters ganz zufrieden; sie hatte nämlich vollständig aufgehört, bei ihm aufzuräumen und auszufegen, und nur so etwa einmal wöchentlich, wenn es sich gerade traf, griff sie nach dem Besen. Sie war es auch, die ihn jetzt weckte.

»Steh auf! Was schläfst du denn noch?« rief sie, neben ihm stehend. »Es ist schon neun durch. Ich habe dir Tee gebracht; willst du ein bißchen Tee trinken? Du bist wohl schon ganz verhungert?«

Raskolnikow öffnete die Augen, fuhr zusammen und erkannte Nastasja.

»Den Tee schickt mir wohl die Wirtin?« fragte er und richtete sich langsam und mit schmerzlichem Gesichtsausdrucke auf dem Sofa auf.

»Die Wirtin wird dir gerade Tee schicken!«

Sie stellte ihre eigene Teekanne, die einen großen Sprung hatte, mit einem zweiten Aufguß vor ihn hin und legte zwei Stückchen gelben Zuckers dazu.

»Hier, Nastasja«, sagte er, nachdem er in seiner Tasche gesucht und ein Häufchen Kupfermünzen hervorgeholt hatte (er hatte in seinen Kleidern geschlafen), »nimm das und geh und kaufe mir Semmeln. Und bringe auch vom Fleischer ein Stückchen Wurst mit, billige.«

»Semmeln will ich dir gleich holen, aber willst du nicht statt der Wurst lieber Kohlsuppe? Sehr gute Kohlsuppe, von gestern. Ich hatte schon gestern welche für dich beiseite gestellt, aber du kamst erst so spät nach Hause. Sehr gute Kohlsuppe!«

Als sie die Kohlsuppe gebracht hatte und er zu essen begann, setzte sich Nastasja neben ihn auf das Sofa und fing an zu plaudern. Sie war vom Lande und sehr redselig.

»Praskowja Pawlowna will dich bei der Polizei verklagen«, sagte sie.

Er zog das Gesicht finster zusammen.

»Bei der Polizei? Warum denn?«

»Du bezahlst nicht und ziehst auch nicht aus. Ist doch klar.«

›Zum Teufel, das hat gerade noch gefehlt!‹ murmelte er zähneknirschend. ›Nein, das ist mir jetzt . . . sehr ungelegen.‹ – »So ein dummes Frauenzimmer«, fügte er laut hinzu. »Ich werde heute mal zu ihr hingehen und mit ihr sprechen.«

»Dumm mag sie schon sein, gerade so wie ich; aber du bist doch nun so ein kluger Mensch und liegst immer da wie ein Sack, und man sieht nicht, daß du etwas schaffst. Früher gingst du Kinder unterrichten, wie du sagst; warum tust du denn jetzt gar nichts?«

»Ich tue doch etwas . . .«, erwiderte Raskolnikow mißmutig und finster.

»Na, was denn?«

»Ich habe eine Arbeit vor.«

»Was denn für eine Arbeit?«

»Ich denke«, antwortete er nach einer kurzen Pause ernst.

Nastasja wälzte sich ordentlich vor Lachen. Sie war sehr lachlustig, und wenn sie einmal ins Lachen kam, so lachte sie lautlos, mit dem ganzen Körper sich schüttelnd und schaukelnd, bis sie nicht mehr konnte.

»Du hast dir wohl schon viel Geld verdient mit dem Denken?« vermochte sie endlich herauszubringen.

»Wenn man keine Stiefel hat, kann man keine Stunden geben. Übrigens pfeife ich darauf.«

»Die Leute sagen: Spuck nicht in den Brunnen, aus dem du trinken mußt.«

»Für solche Privatstunden bekommt man einen Quark. Was soll ich mit so ein paar Kopeken?« fuhr er verdrossen fort, wie wenn er seine eigenen Gedanken beantwortete.

»Du möchtest wohl gleich mit einem Male ein ganzes Kapital verdienen?«

Er warf ihr einen seltsamen Blick zu.

»Ja, ein ganzes Kapital«, erwiderte er nach kurzem Überlegen entschieden.

»Na, mach's nur lieber so ganz allmählich, sonst muß man sich ja vor dir fürchten. Das klingt ja ganz schrecklich. Soll ich nun Semmeln holen oder nicht?«

»Wie du willst.«

»Ja, das hatte ich ganz vergessen: während du gestern fort warst, ist ein Brief für dich angekommen.«

»Ein Brief? An mich? Von wem?«

»Von wem, weiß ich nicht. Ich habe dem Briefträger drei Kopeken von meinem Gelde gegeben. Die gibst du mir doch wieder, nicht wahr?«

»So hole mir doch den Brief, um Gottes willen, hol ihn her!« rief Raskolnikow in größter Aufregung. »O Gott!«

Einen Augenblick darauf war der Brief zur Stelle. Wirklich: von seiner Mutter, aus dem Gouvernement R . . .! Er wurde blaß, als er ihn in Empfang nahm. Schon seit langer Zeit hatte er keinen Brief erhalten; aber jetzt machte ihm plötzlich noch etwas anderes das Herz beklommen.

»Bitte, geh hinaus, Nastasja! Da sind deine drei Kopeken; nur geh recht schnell hinaus, ich bitte dich dringend«

Der Brief zitterte ihm in den Händen; er wollte ihn nicht in ihrer Gegenwart aufmachen; es verlangte ihn, mit diesem Briefe allein zu sein. Sobald Nastasja hinausgegangen war, führte er ihn schnell an seine Lippen und küßte ihn; dann betrachtete er noch lange die Handschrift der Adresse, die ihm so wohlbekannte und liebe, feine, schräge Handschrift seiner Mutter, seiner Mutter, die ihn einst lesen und schreiben gelehrt hatte. Er zauderte; es war sogar, wie wenn er sich vor etwas fürchtete. Endlich öffnete er ihn; es war ein großer, dicker Brief von zwei Lot; zwei große Briefbogen waren mit kleiner Schrift ganz vollgeschrieben.

»Mein lieber Rodja«, schrieb die Mutter, »es sind schon mehr als zwei Monate, daß ich mich nicht brieflich mit Dir unterhalten habe; das ist mir selbst sehr schmerzlich gewesen, und ich habe sogar manche Nacht vor allerlei Gedanken nicht geschlafen. Du wirst mir aber gewiß wegen dieses meines unfreiwilligen Schweigens nicht böse sein. Du weißt ja, wie ich Dich liebe; Du bist mir und Dunja unser ein und alles, unsere ganze Hoffnung, unsere Zuversicht. Wie war mir zumute, als ich erfuhr, daß Du schon seit einigen Monaten aus Mangel an Existenzmitteln die Universität verlassen hast und daß Deine Privatstunden und sonstigen Erwerbsquellen aufgehört haben! Wie konnte ich Dir mit meinen hundertundzwanzig Rubeln jährlicher Pension helfen? Die fünfzehn Rubel, die ich Dir vor vier Monaten schickte, hatte ich, wie Du ja selbst weißt, mir auf ebendiese Pension von unserm hiesigen Kaufmann Afanassij Iwanowitsch Wachruschin geliehen. Er ist ein guter Mensch und war noch ein Freund Deines Vaters. Aber da ich ihn ermächtigt hatte, die Pension an meiner Statt zu erheben, so mußte ich warten, bis die Schuld bezahlt war; und das ist jetzt eben erst geschehen, so daß ich Dir diese ganze Zeit über nichts schicken konnte. Jetzt aber, Gott sei Dank, werde ich Dir wohl wieder etwas schicken können, und überhaupt können wir uns jetzt sogar einer besonderen Gunst des Glückes rühmen, und davon beeile ich mich Dir Mitteilung zu machen. Erstens nun denke Dir einmal, lieber Rodja, daß Deine Schwester schon seit anderthalb Monaten bei mir wohnt und wir uns auch künftig nicht voneinander trennen werden. Gott sei dank, ihre Martern sind jetzt zu Ende; aber ich will Dir alles der Reihe nach erzählen, damit Du erfährst, wie alles zugegangen ist und was wir Dir bisher verheimlicht haben. Als Du mir vor zwei Monaten schriebst, du hättest von jemand gehört, daß Dunja in dem Swidrigailowschen Hause sehr unter grober Behandlung zu leiden habe, und mich um genauere Aufklärung darüber ersuchtest, was hätte ich Dir damals als Antwort schreiben können? Hätte ich Dir die ganze Wahrheit geschrieben, so hättest Du wohl gar alles im Stich gelassen und wärest, wenn's nicht anders gegangen wäre, selbst zu Fuß zu uns gekommen (denn ich kenne Deinen Charakter und Deine Gefühle) und hättest keine Beleidigung Deiner Schwester geduldet. Ich selbst war in Verzweiflung; aber was war zu tun? Auch ich selbst wußte damals noch nicht die volle Wahrheit. Die Hauptschwierigkeit lag darin, daß unsere Dunjetschka, als sie im vorigen Jahre als Gouvernante in dieses Haus gekommen war, sich einen Vorschuß von hundert Rubeln hatte geben lassen, der durch monatliche Abzüge vom Gehalte zurückgezahlt werden sollte, und somit vor Tilgung der Schuld die Stelle nicht verlassen konnte. Diese Summe aber (jetzt kann ich Dir alles offen mitteilen, mein lieber Rodja) hatte sie sich hauptsächlich dazu geben lassen, um Dir die sechzig Rubel zu schicken, die Du damals so notwendig brauchtest und denn auch von uns im vorigen Jahre erhieltest. Wir haben Dich damals getäuscht; wir schrieben Dir, dieses Geld stamme aus Ersparnissen, die Dunjetschka früher gemacht habe; aber dem war nicht so. Jetzt nun teile ich Dir die ganze Wahrheit mit, da sich jetzt nach Gottes Willen auf einmal alles zum Besseren gewendet hat, und damit Du siehst, wie Dunja Dich liebt und was für ein goldenes Herz sie hat. Es ist richtig, daß Herr Swidrigailow sie in der ersten Zeit sehr grob behandelte und sich bei Tische mancherlei Unhöflichkeiten und Spöttereien ihr gegenüber herausnahm . . . Aber ich will nicht auf all diese betrübenden Einzelheiten eingehen, um Dich nicht unnötigerweise aufzuregen, da all dies jetzt hinter uns liegt. Kurz, obwohl Marfa Petrowna, Herrn Swidrigailows Gattin, und alle übrigen Hausgenossen sich gegen Dunja sehr gut und freundlich benahmen, hatte diese es doch recht schwer, besonders wenn Herr Swidrigailow zufolge einer alten Gewohnheit, die er beim Regimente angenommen hat, sich unter der Einwirkung des Bacchus befand. Aber was stellte sich dann heraus? Denke Dir nur: dieser verrückte Mensch hatte schon lange eine Leidenschaft für Dunja gehegt, dies aber immer unter der Maske der Grobheit und Geringschätzung verborgen. Vielleicht hatte er sich auch selbst geschämt und einen Schreck darüber bekommen, daß er als schon älterer Mann und Familienvater sich mit solchen leichtfertigen Gedanken abgab, und hatte deswegen unwillkürlich einen Ingrimm gegen Dunja gehabt. Aber vielleicht hatte er auch durch die Grobheit seines Benehmens und durch seine Spöttereien lediglich anderen die Wahrheit verbergen wollen. Endlich jedoch konnte er sich nicht mehr beherrschen und wagte es, unserer Dunja unverblümt einen schändlichen Antrag zu machen, wobei er ihr alle möglichen Belohnungen versprach; ja, er erklärte sich sogar bereit, alles im Stiche zu lassen und mit ihr nach einem anderen Orte auf dem Lande oder, wenn sie das wolle, auch ins Ausland zu fahren. Du kannst Dir vorstellen, wie sie dabei litt! Daß sie sofort ihre Stelle aufgab, ging nicht an, nicht nur wegen der Geldsumme, die sie noch schuldig war, sondern auch aus schonender Rücksicht auf Marfa Petrowna, die daraus sogleich hätte Verdacht schöpfen können; so wäre dann arger Unfrieden in der Familie entstanden. Und auch für Dunja wäre es dabei zu einem großen Skandal gekommen; ohne das wäre es sicherlich nicht abgegangen. Es sprachen auch noch manche anderen Gründe mit, so daß Dunja nicht darauf rechnen konnte, aus diesem schrecklichen Hause früher als in sechs Wochen wegzukommen. Du kennst ja doch Dunja und weißt, wie klug und charakterfest sie ist. Dunjetschka kann vieles ertragen und besitzt selbst in der schlimmsten Lage eine solche Seelengröße, daß sie nicht haltlos wird. Sie hat nicht einmal mir von allem Mitteilung gemacht, um mich nicht aufzuregen, und wir standen doch in häufigem Briefwechsel. Die Sache fand jedoch eine unerwartete Lösung. Marfa Petrowna überraschte einmal zufällig ihren Mann, als dieser im Garten Dunjetschka anflehte, und da sie die Lage völlig verkehrt auffaßte, schrieb sie ihr die Schuld an allem zu, in der Meinung, sie habe das alles herbeigeführt. Es kam zwischen ihnen gleich dort im Garten zu einer furchtbaren Szene: Marfa Petrowna schlug Dunja sogar, wollte kein Wort der Erwiderung hören, vollführte aber selbst eine ganze Stunde lang ein großes Geschrei und schickte mir schließlich Dunja sofort nach der Stadt zurück, auf einem gewöhnlichen Bauernwagen, auf den alle ihre Sachen, Wäsche, Kleider, bunt durcheinander, lose und uneingepackt heraufgeworfen wurden. Und nun brach noch ein heftiger Platzregen los, und Dunja, beleidigt und beschimpft, mußte mit einem Knechte die ganzen siebzehn Werst in dem offenen Wagen fahren. Nun sage selbst; was hätte ich Dir als Antwort auf Deinen Brief, den ich vor zwei Monaten erhielt, hierüber schreiben können, und worüber hätte ich sonst schreiben können? Ich selbst war ganz verzweifelt; Dir die Wahrheit zu schreiben, das wagte ich nicht; denn es hätte Dich unglücklich gemacht und Dich in Erbitterung und Empörung versetzt; und was hättest Du auch dabei tun können? Du hättest am Ende noch Dich selbst ins Verderben gestürzt. Übrigens hatte mir auch Dunjetschka verboten, davon zu schreiben. Und andrerseits: einen Brief mit allerlei gleichgültigem Zeuge vollschreiben, wo ich doch solchen Kummer im Herzen hatte, das konnte ich auch wieder nicht. Einen vollen Monat lang waren bei uns in der ganzen Stadt Klatschereien über diese Geschichte im Umlauf, und es war schon so weit gekommen, daß ich mit Dunja nicht einmal mehr in die Kirche gehen konnte vor den verächtlichen Blicken und dem Getuschel; ja, es wurde sogar in unsrer Gegenwart laut darüber gesprochen. Alle unsre Bekannten zogen sich von uns zurück; sie grüßten uns nicht einmal mehr, und ich erfuhr zuverlässig, daß einige Kommis und Kanzlisten vorhatten, uns durch Beschmieren unsrer Haustür mit Teer eine nichtswürdige Beleidigung zuzufügen, so daß unsre Wirtsleute schon verlangten, wir sollten ausziehen. An alledem war Marfa Petrowna schuld, die in allen Häusern gegen Dunja ehrenrührige Anklagen vorgebracht hatte. Sie ist hier mit allen Menschen bekannt und kam in diesem Monat alle Augenblicke in die Stadt gefahren, und da sie etwas schwatzlustig ist und gern von ihren Familienangelegenheiten redet, besonders gern aber bei allen und jedem über ihren Mann Klage führt (was doch etwas sehr Häßliches ist), so hatte sie in kurzer Zeit die Geschichte nicht nur in der Stadt, sondern auch im ganzen Kreise herumgebracht. Ich wurde ganz krank davon; aber Dunja war stärker als ich; Du hättest nur sehen sollen, wie sie alles ertrug und mich noch tröstete und ermutigte! Sie ist ein Engel! Aber Gottes Barmherzigkeit verkürzte unsre Qualen: Herr Swidrigailow kam auf bessere Gedanken und bereute sein früheres Verhalten, und wohl weil ihm Dunja leid tat, legte er seiner Frau einen unwiderleglichen, klaren Beweis für Dunjas völlige Schuldlosigkeit vor, nämlich einen Brief, den diese, noch bevor Marfa Petrowna sie beide im Garten überraschte, zu schreiben und ihm einzuhändigen sich genötigt gesehen hatte und in dem sie persönliche Aussprachen und geheime Zusammenkünfte, um die er dringend gebeten hatte, ablehnte; dieser Brief war nach Dunjas Abreise in Herrn Swidrigailows Händen geblieben. In dem Briefe hatte sie in der energischsten Weise und in höchster Entrüstung ihm namentlich wegen seines unwürdigen Benehmens seiner Frau gegenüber Vorwürfe gemacht, ihm vorgehalten, daß er Gatte und Vater sei, und schließlich, wie abscheulich es von ihm sei, ein so schon unglückliches, schutzloses Mädchen zu quälen und noch unglücklicher zu machen. Mit einem Worte, lieber Rodja, dieser Brief war so edel und rührend geschrieben, daß ich nur so geschluchzt habe, als ich ihn las, und ihn noch jetzt nicht ohne zu weinen lesen kann. Außerdem wurden zu Dunjas Rechtfertigung schließlich auch noch die Zeugenaussagen der Dienstboten bekannt, die von der Sache weit mehr gesehen und erfahren hatten, als Herr Swidrigailow selbst ahnte, wie das ja immer so geht. Marfa Petrowna war völlig perplex und, wie sie uns selbst gestand, ›zum zweiten Male tödlich überrascht‹; aber sie war nun von Dunjas Schuldlosigkeit völlig überzeugt, und gleich am andern Tage, es war ein Sonntag, fuhr sie geradeswegs nach dem Dom und flehte auf den Knien unter Tränen die Muttergottes an, sie möchte ihr Kraft verleihen, diese neue Prüfung zu ertragen und ihre Pflicht zu erfüllen. Darauf kam sie direkt aus der Kirche, ohne vorher sonst jemand besucht zu haben, zu uns gefahren, erzählte uns alles, weinte bitterlich, umarmte Dunja in aufrichtiger Reue und bat sie herzlich, ihr zu verzeihen. Noch an demselben Morgen ging sie, ohne zu zögern, gleich von uns in allen Häusern der Stadt umher und bezeugte überall in Ausdrücken, die für Dunjetschka höchst schmeichelhaft waren, unter Tränen deren Schuldlosigkeit, edle Gesinnung und anständiges Benehmen. Und damit noch nicht zufrieden, zeigte sie allen Dunjas eigenhändigen Brief an Herrn Swidrigailow, las ihn ihnen vor und gestattete sogar, Abschriften davon zu machen (was meines Erachtens denn doch des Guten zuviel war). Auf diese Art hatte sie mehrere Tage hintereinander bei allen Leuten in der Stadt Besuche zu machen, da manche sich gekränkt fühlten, weil sie hinter andern zurückgesetzt würden; es wurde daher eine bestimmte Reihenfolge festgesetzt, so daß sie in jedem Hause schon im voraus erwartet wurde und alle vorher wußten, daß an dem und dem Tage Marfa Petrowna in dem und dem Hause diesen Brief vorlesen werde, und zu jeder solchen Vorlesung sogar auch diejenigen wieder mit zusammenkamen, die den Brief bereits einige Male teils bei sich zu Hause, teils bei andern Bekannten, die an der Reihe gewesen waren, gehört hatten. Nach meiner Ansicht war hierbei vieles, sehr vieles überflüssig; aber das liegt nun einmal so in Marfa Petrownas Wesen. Jedenfalls hat sie Dunjetschkas Ehre vollständig wiederhergestellt, und die ganze abscheuliche Sache blieb nun als unauslöschlicher Schandfleck auf ihrem Manne als dem einzig Schuldigen haften, so daß er mir sogar leid tat; man ging mit diesem verdrehten Menschen gar zu streng ins Gericht. Dunja erhielt sofort aus mehreren Häusern die Aufforderung, dort Privatstunden zu geben; aber sie lehnte es ab. Überhaupt benahmen sich nun auf einmal alle Leute gegen sie außerordentlich respektvoll. Durch alle diese Vorgänge wurde auch das unerwartete Ereignis ganz wesentlich mit herbeigeführt, das jetzt, man kann wohl sagen, einen Umschwung in unserm ganzen Schicksal hervorruft. Wisse also, lieber Rodja, daß Dunja einen Heiratsantrag erhalten hat und daß sie bereits ihr Jawort gegeben hat, was ich mich beeile Dir mitzuteilen. Und obwohl die Sache ohne Deinen Beirat abgeschlossen ist, so wirst Du, wie ich hoffe, dies doch weder mir noch Deiner Schwester übelnehmen, da Du selbst aus dem Hergange ersehen wirst, daß es uns unmöglich war, zu warten und die Entscheidung bis zum Eintreffen eines Briefes von Dir hinauszuschieben. Auch hättest Du ohne persönliche Anwesenheit in der ganzen Angelegenheit kein sicheres Urteil haben können. Die Sache hat sich also folgendermaßen zugetragen. Er ist schon Hofrat, heißt Pjotr Petrowitsch Lushin und ist ein entfernter Verwandter von Marfa Petrowna, die bei seinem Entschlusse stark mitgewirkt hat. Er begann damit, daß er uns durch ihre Vermittlung seinen Wunsch ausdrückte, mit uns bekannt zu werden; er wurde empfangen, wie es sich schickt, trank bei uns Kaffee und schickte uns gleich am nächsten Tage einen Brief, in dem er in höflichster Form um Dunjas Hand anhielt und um eine baldige und bestimmte Antwort bat. Er ist ein sehr erfahrener, vielbeschäftigter Mann und hat es jetzt eilig, nach Petersburg zu reisen, da ihm jede Minute kostbar ist. Natürlich waren wir zuerst sehr überrascht, da dies alles so schnell und unerwartet gekommen war, und haben einen ganzen Tag lang überlegt und erwogen. Er ist ein solider Mann mit sicherem Auskommen, bekleidet zwei amtliche Stellungen und besitzt bereits eigenes Vermögen. Freilich ist er schon fünfundvierzig Jahre alt; aber er hat ein ganz angenehmes Äußeres und kann einer Frau noch recht wohl gefallen. Und überhaupt ist er ein sehr gesetzter, anständiger Mann, nur etwas mürrisch und, ich möchte fast meinen, hochmütig. Aber vielleicht scheint das auch nur so beim ersten Anblicke. Und so möchte ich denn auch Dich, lieber Rodja, im voraus bitten: wenn Du in Petersburg seine Bekanntschaft machst, was sehr bald der Fall wird, dann urteile nicht zu schnell und hitzig, wie das Deine Art ist, falls Dir auf den ersten Blick etwas an ihm nicht zusagen sollte. Ich sage das nur für den möglichen Fall, wiewohl ich überzeugt bin, daß er auf Dich einen angenehmen Eindruck machen wird. Überhaupt muß man, um irgendwen zutreffend zu beurteilen, ihm allmählich und vorsichtig nähertreten, um nicht in Irrtümer und vorgefaßte Meinungen zu verfallen, die sich später nur schwer berichtigen und ablegen lassen. Pjotr Petrowitsch ist, wenigstens nach vielen Anzeichen, ein sehr achtungswerter Mann. Gleich bei seinem ersten Besuche erklärte er uns, daß er auf dem Boden der Tatsachen stehe, in manchen Punkten aber, wie er sich selbst ausdrückte, ›die Anschauungen unsrer jüngeren Generation‹ teile, und daß er ein Feind aller Vorurteile sei. Er sprach auch sonst noch vielerlei; denn er scheint ein bißchen selbstgefällig zu sein und hat es sehr gern, wenn man ihm zuhört; aber das ist ja schließlich nichts Schlimmes. Ich habe selbstverständlich von alledem nur wenig begriffen; aber Dunja erklärte mir, er sei zwar kein hochgebildeter, wohl aber ein kluger und, wie es scheine, ein guter Mensch. Du kennst den Charakter Deiner Schwester, lieber Rodja. Sie besitzt viel Festigkeit, einen guten Verstand, ist geduldig und hochgesinnt; allerdings hat sie ein heißes Herz, das ich zur Genüge an ihr kennengelernt habe. Natürlich ist weder auf seiner noch auf ihrer Seite eine besondere Liebe vorhanden; aber Dunja ist nicht nur ein verständiges Mädchen, sondern zugleich auch ein Wesen von engelhafter Güte und wird es als ihre Pflicht und Aufgabe betrachten, einen Mann glücklich zu machen, wenn dieser auch seinerseits auf ihr Glück bedacht ist; und daß das letztere der Fall sein wird, daran haben wir vorläufig keinen eigentlichen Grund zu zweifeln, wiewohl, offen gestanden, die Sache ein bißchen schnell zum Abschluß gekommen ist. Außerdem ist er ein Mann, der wohl zu rechnen versteht und sich gewiß selbst sagen wird, daß sein eigenes Glück als Ehemann um so fester begründet sein wird, je glücklicher sich Dunjetschka durch ihn fühlt. Was aber einige Unebenheiten im Charakter, einige alte Gewohnheiten und sogar eine gewisse Disharmonie in den Anschauungen anlangt (wie dergleichen auch in den glücklichsten Ehen unvermeidlich ist), so hat mir in dieser Hinsicht Dunjetschka gesagt, sie könne sich auf sich selbst verlassen; es sei kein Grund vorhanden, sich darüber zu beunruhigen, und sie könne vieles ertragen, unter der Voraussetzung, daß in ihren wechselseitigen Beziehungen immer Ehrlichkeit und Gerechtigkeit herrsche. Er schien mir anfangs auch etwas schroff; aber das kann ja auch gerade daher kommen, weil er ein freimütiger, redlicher Mensch ist, und so wird es gewiß sein. Zum Beispiel bei seinem zweiten Besuche, als er schon das Jawort erhalten hatte, bemerkte er im Gespräche, er habe schon früher, noch ehe er Dunja gekannt habe, sich vorgenommen, ein ehrenhaftes Mädchen, aber ohne Mitgift, zu nehmen, und unbedingt eine solche, die schon die Armut aus eigener Erfahrung kenne; denn, wie er uns auseinandersetzte, der Mann müsse seiner Frau nichts zu verdanken haben; weit besser sei es, wenn die Frau den Mann als ihren Wohltäter betrachte. Ich muß hinzufügen, daß er sich etwas milder und freundlicher ausdrückte, als ich es hier geschrieben habe; denn ich habe den eigentlichen Wortlaut vergessen und erinnere mich nur noch an den Sinn, und überdies sagte er das ganz und gar nicht nach vorheriger Überlegung, sondern weil er beim Reden so in Zug gekommen war, im Eifer des Gespräches, so daß er sich sogar nachher bemühte, es zu korrigieren und abzuschwächen. Aber mir kam das doch ein wenig schroff vor, und ich äußerte nachher diese meine Empfindung Dunja gegenüber. Aber Dunja antwortete mir sogar ärgerlich: ›Worte sind noch keine Taten‹, und das ist gewiß richtig. Dunja hat die ganze Nacht, bevor sie sich dazu entschloß, schlaflos zugebracht; in dem Glauben, daß ich schon schliefe, stand sie vom Bette auf und ging die ganze Nacht über im Zimmer hin und her; zuletzt kniete sie vor dem Heiligenbilde nieder und betete lange und mit heißer Inbrunst; am Morgen erklärte sie mir dann, sie habe sich dazu entschlossen.

Ich habe schon erwähnt, daß Pjotr Petrowitsch sich jetzt nach Petersburg begeben wird. Er hat dort wichtige Geschäfte und beabsichtigt, in Petersburg ein öffentliches Anwaltsbüro zu etablieren. Er beschäftigt sich schon lange mit der Vertretung von Parteien in allerlei Zivilprozessen und hat erst kürzlich einen sehr bedeutenden Prozeß gewonnen. Nach Petersburg muß er auch deswegen, weil er da beim Senat eine wichtige Sache zu erledigen hat. Auf diese Weise kann er auch Dir, lieber Rodja, sehr nützlich sein, in jeder Beziehung, und ich und Dunja haben schon gemeint, Du könntest gleich mit dem heutigen Tage Deine künftige Laufbahn definitiv beginnen und Deinen Lebensweg als klar und deutlich festgesetzt betrachten. Ach, wenn sich das doch so verwirklichte! Das wäre ein solches Glück, daß wir es nur als eine besondere, vom Allmächtigen uns erwiesene Gnade ansehen könnten. Dunja beschäftigt sich fortwährend mit diesen Zukunftsplänen. Wir haben schon gewagt, nach dieser Richtung hin ein paar Worte zu Pjotr Petrowitsch zu sagen. Er drückte sich vorsichtig aus: da er einen Sekretär notwendig brauche, so sei es selbstverständlich besser, das Gehalt einem Verwandten zuzuwenden als einem Fremden, vorausgesetzt, daß jener für die Stellung befähigt sei (Du und nicht befähigt!); zugleich aber äußerte er gewisse Zweifel, ob Deine Universitätsstudien Dir auch hinreichend Zeit für die Arbeit in seinem Büro lassen würden. Diesmal wurde die Sache nicht weiter besprochen; aber Dunja hat jetzt gar keinen andern Gedanken. Sie befindet sich jetzt schon seit einigen Tagen in einem geradezu fieberhaften Eifer und hat sich schon ein vollständiges Projekt zurechtgemacht, wie Du im Laufe der Zeit Pjotr Petrowitschs Gehilfe und selbst Kompagnon in seiner Anwaltspraxis werden könntest, um so mehr, da Du zur juristischen Fakultät gehörst. Ich, lieber Rodja, bin ganz ihrer Ansicht und teile alle ihre Pläne und Hoffnungen, deren Verwirklichung mir durchaus möglich scheint; und obgleich Pjotr Petrowitsch jetzt ein zurückhaltendes Benehmen zeigt, das ja sehr erklärlich ist, da er Dich noch nicht kennt, ist Dunja doch fest davon überzeugt, daß sie alles durch ihre freundliche Einwirkung auf ihren künftigen Mann erreichen wird; das glaubt sie ganz sicher. Natürlich haben wir uns wohl gehütet, zu Pjotr Petrowitsch auch nur das geringste von diesen unsern weitergehenden Plänen und Hoffnungen zu äußern, namentlich davon, daß Du sein Kompagnon werden sollst. Er ist ein nüchtern denkender Mann und hätte es wohl sehr kühl aufgenommen, da ihm alles als ein leeres Phantasiegebilde erschienen wäre. Ebenso haben wir, sowohl ich als Dunja, es vermieden, mit ihm auch nur eine Silbe davon zu reden, daß wir bestimmt hoffen, er werde uns behilflich sein, Dich mit Geld zu unterstützen, solange Du noch auf der Universität bist. Wir haben davon jetzt aus mehreren Gründen geschwiegen. Erstens wird sich das in der Folge ganz von selbst machen, und er wird es uns sicherlich ohne unnötiges Hin- und Herreden selbst anbieten (wie könnte er es denn auch seiner Frau abschlagen!), um so mehr, da Du Deinerseits seine rechte Hand im Büro werden kannst, so daß Du dann diese Beihilfe nicht als Wohltat, sondern als wohlverdientes Gehalt empfängst. So beabsichtigt Dunjetschka dies zu arrangieren, und ich bin mit ihr vollständig einverstanden. Der zweite Grund unseres vorläufigen Stillschweigens über diesen Punkt war mein lebhafter Wunsch, daß Du bei Eurer bevorstehenden Begegnung auf gleichem Fuße mit ihm stehen möchtest. Als Dunja von Dir mit Begeisterung zu ihm sprach, erwiderte er, jeden Menschen müsse man sich zuerst selbst und recht von nahem ansehen, um über ihn urteilen zu können, und er behalte sich vor, eine Meinung über Dich sich erst dann zu bilden, wenn er Deine Bekanntschaft werde gemacht haben. Weißt Du, mein teurer Rodja, ich glaube auf Grund gewisser Erwägungen (die übrigens in keiner Weise auf Pjotr Petrowitsch speziellen Bezug haben, sondern bloß so meine eigenen, rein persönlichen Erwägungen sind, vielleicht sogar nur Schrullen einer alten Frau), also ich glaube, ich tue vielleicht am besten, wenn ich nach der Hochzeit der beiden getrennt für mich wohne, so wie bisher, und nicht mit ihnen zusammen. Ich bin fest davon überzeugt, er wird so edeldenkend und zartfühlend sein, mir selbst den Vorschlag zu machen, daß ich mich von meiner Tochter nicht trennen, sondern mit ihnen zusammenziehen möchte, und wenn er es bisher noch nicht gesagt hat, so erklärt sich das selbstverständlich daher, weil es auch ohne ausdrückliche Erwähnung so üblich ist; aber ich werde ablehnen. Ich habe in meinem Leben schon wiederholt die Beobachtung machen können, daß die Männer ihre Schwiegermütter nicht sonderlich gern mögen; und ich möchte nicht nur keinem Menschen auch nur im geringsten lästig werden, sondern auch selbst völlig frei bleiben, solange ich noch einen eigenen Bissen Brot und solche Kinder habe, wie Ihr beide seid, Du und Dunjetschka. Wenn es sich so einrichten läßt, will ich in der Nähe von Euch beiden meinen Wohnsitz nehmen; denn, lieber Rodja, das Allerangenehmste habe ich bis zum Schlusse dieses Briefes aufgespart. Erfahre nämlich, mein lieber Sohn, daß wir vielleicht sehr bald alle drei wieder zusammen sein und uns nach fast dreijähriger Trennung umarmen werden. Es ist schon bestimmt beschlossen, daß ich und Dunja nach Petersburg fahren; wann, das weiß ich noch nicht, aber jedenfalls sehr, sehr bald, vielleicht sogar schon in einer Woche. Alles hängt von Pjotr Petrowitschs Anordnungen ab, der uns sofort, wenn er sich in Petersburg wird orientiert haben, Mitteilung machen wird. Er möchte aus verschiedenen Erwägungen die Formalitäten möglichst beschleunigen und, wenn es angeht, noch vor Beginn der nächsten Fasten Hochzeit machen; sollte das aber wegen der Kürze der Zeit nicht ausführbar sein, dann gleich nach den Fasten, nach Mariä Himmelfahrt. Oh, mit welcher Wonne werde ich Dich an mein Herz drücken! Dunja ist von der frohen Aussicht, Dich wiederzusehen, ganz aufgeregt und sagte einmal im Scherz, schon allein deswegen würde sie Pjotr Petrowitschs Frau werden. Sie ist ein Engel! Sie wird jetzt keine Nachschrift zu diesem Briefe hinzufügen, sondern hat mir nur aufgetragen, zu schreiben, sie habe so viel mit Dir zu sprechen, so viel, daß sie sich jetzt nicht ein Herz dazu fassen könne, zur Feder zu greifen; denn in ein paar Zeilen könne man doch nichts Rechtes schreiben, sondern rege sich nur auf. Sie läßt Dir sagen, sie umarme Dich herzlich und küsse Dich tausendmal. Obwohl wir uns aber vielleicht sehr bald persönlich sehen werden, will ich Dir doch dieser Tage so viel Geld schicken, wie ich kann. Jetzt, wo alle wissen, daß Dunja Pjotr Petrowitsch heiratet, ist auch mein Kredit auf einmal besser geworden, und ich weiß sicher, daß Afanassij Iwanowitsch, wenn ich ihm meine Pension verpfände, mir jetzt sogar bis zu fünfundsiebzig Rubeln borgen wird, so daß ich Dir vielleicht fünfundzwanzig Rubel oder selbst dreißig schicken kann. Ich würde noch mehr schicken, bin aber in Sorge wegen unsrer Reisekosten; und obwohl Pjotr Petrowitsch so freundlich war, einen Teil der Kosten für unsre Fahrt nach der Hauptstadt selbst zu übernehmen (er hat sich nämlich erboten, unsre Frachtstücke und den großen Koffer auf seine Rechnung hinzubefördern, wobei er sich der Beihilfe von Bekannten bedienen kann), so müssen wir doch auch noch für die Ankunft in Petersburg etwas in Anschlag bringen, wo man sich nicht so ohne einen Groschen in der Tasche aufhalten kann, wenigstens in den ersten Tagen. Dunja und ich haben übrigens schon alles genau berechnet, und es ergab sich, daß uns die Fahrt nicht sehr teuer kommt. Bis zur Bahn sind von uns nur neunzig Werst, und wir haben uns schon für alle Fälle mit einem uns bekannten Bauern, der Fuhren durchführt, über den Preis geeinigt; und auf der Bahn fahren Dunja und ich wunderbar in der dritten Klasse. So klügle ich es vielleicht zurecht, daß ich Dir nicht fünfundzwanzig, sondern hoffentlich dreißig Rubel schicken kann. Aber nun genug; zwei Bogen habe ich ganz voll geschrieben, und es ist kein Platz mehr übrig. Es ist eine ordentliche lange Geschichte geworden; aber wieviel Ereignisse hatten sich auch angesammelt! Jetzt, lieber Rodja, umarme ich Dich in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen und gebe Dir meinen mütterlichen Segen. Lieber Rodja, liebe Deine Schwester Dunja; liebe sie so, wie sie Dich liebt, und sei Dir bewußt, daß sie Dich grenzenlos liebt, mehr als sich selbst. Sie ist ein Engel, und Du, Rodja, bist unser ein und alles, unsere ganze Hoffnung, unsere ganze Zuversicht. Wenn Du nur glücklich bist, dann sind wir es auch. Betest Du auch wohl wie früher zu Gott, lieber Rodja, und glaubst Du an die Gnade unsres Schöpfers und Erlösers? Ich fürchte in meinem Herzen, daß auch Du Dich von dem Unglauben, der in neuester Zeit Mode geworden ist, habest anstecken lassen. Wenn es so sein sollte, dann will ich für Dich beten. Denke daran, mein Sohn, wie Du damals, als Du noch ein Kind warst und Dein Vater noch lebte, auf meinem Schoße Deine Gebete lalltest und wie glücklich wir damals alle waren. Adieu, oder vielmehr: auf Wiedersehen! Ich umarme Dich von ganzem, ganzem Herzen und küsse Dich unzählige Male.

Deine bis in den Tod getreue        
Pulcheria Raskolnikowa.«

Fast die ganze Zeit, während Raskolnikow las, vom Anfang des Briefes an, war sein Gesicht feucht von Tränen; als er aber bis zum Schlusse gelangt war, war es bleich und krampfhaft verzerrt, und ein trübes, bitteres, ingrimmiges Lächeln spielte auf seinen Lippen. Er legte sich mit dem Kopfe auf sein dünnes, abgenutztes Kissen und dachte lange, lange nach. Heftig schlug ihm das Herz, und heftig wogten seine Gedanken hin und her. Schließlich wurde es ihm zu schwül und zu eng in diesem gelben Kämmerchen, das wie ein Schrank oder wie ein Koffer aussah. Sein Blick und seine Gedanken verlangten nach freiem Raume. Er ergriff seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne sich davor zu fürchten, daß er jemandem auf der Treppe begegnen könnte; dieser Gedanke kam ihm gar nicht. Er schlug die Richtung nach der Wassilij-Insel ein, den W . . . -Prospekt entlang, als hätte er einen eiligen Geschäftsgang dorthin, ging aber nach seiner Gewohnheit, ohne auf den Weg zu achten, vor sich hin flüsternd und sogar laut mit sich redend, worüber sich die Vorübergehenden nicht wenig wunderten. Viele hielten ihn für betrunken.


 << zurück weiter >>