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IX.

Er hatte alles, alles gehört. Er trat nicht, nein, er stürzte förmlich herein, bleich vor Aufregung und Wut. Sina sah ihn voll Verwunderung an.

»Also so eine sind Sie!« schrie er keuchend. »Ah, jetzt endlich weiß ich, wer Sie sind!«

»Wer ich bin!« wiederholte Sina, auf ihn wie auf einen Verrückten blickend, und plötzlich blitzten ihre Augen vor Zorn auf.

»Wie wagen Sie es, so mit mir zu sprechen!« schrie sie, auf ihn zutretend.

»Ich habe alles gehört!« sagte Mosgljakoff feierlich, aber trat dabei doch unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Sie haben alles gehört? Sie haben gelauscht?« sagte Sina, ihn voll Verachtung ansehend.

»Ja! Ich habe gehorcht! Ja, ich habe mich zu dieser Niederträchtigkeit hinreißen lassen, aber dafür habe ich erfahren, daß Sie die ... Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich ausdrücken soll, um Ihnen zu erklären ... als was Sie jetzt dastehen!« antwortete er, immer mehr durch Sinas Blick eingeschüchtert.

»Und wenn Sie auch gehört haben, wessen können Sie mich beschuldigen? Welches Recht haben Sie, mich zu beschuldigen? Welches Recht haben Sie, so unverschämt mit mir zu sprechen?«

»Ich? Welches Recht ich dazu habe? Und Sie können mich das noch fragen? Sie heiraten den Fürsten, und ich soll kein Recht haben ... Sie haben mir doch Ihr Wort gegeben!«

»Wann?«

»Wieso, wann?«

»Aber noch heute früh, als Sie mich wegen einer Antwort drängten, habe ich Ihnen ganz klar geantwortet, daß ich noch nichts Definitives sagen könne.«

»Aber Sie haben mich nicht weggejagt, Sie haben mich nicht ganz abgewiesen; also wollten Sie mich für jeden Fall warm halten! Folglich haben Sie mich an sich gelockt!«

In Sinas Antlitz zeigte sich ein gequälter Zug, als ob sie einen unerträglichen, inneren Schmerz empfinde, aber sie überwand dies Gefühl.

»Wenn ich Sie nicht gleich wegjagte,« antwortete sie deutlich und jede Silbe betonend, obwohl ihre Stimme merklich dabei zitterte, »so tat ich es allein aus Mitleid. Sie haben mich ja selbst darum angefleht, mit meiner Entscheidung zu warten, Ihnen nicht mit einem ›Nein‹ zu antworten, sondern mir die Mühe zu nehmen, Sie näher kennenzulernen und ›dann,‹ sagten Sie, ›dann, wenn Sie sich davon überzeugt haben, daß ich ein anständiger Mensch sei, dann werden Sie mich vielleicht nicht abweisen‹. Das waren Ihre eigenen Worte im Anfang Ihrer Bewerbung. Sie können sie nicht ableugnen! Sie haben es jetzt gewagt, mir zu sagen, daß ich Sie angelockt hätte. Aber Sie selbst haben meinen Abscheu gesehen, als ich Sie heute, zwei Wochen früher als verabredet, wiedersah, und diesen Abscheu hab' ich nicht versucht vor Ihnen zu verbergen, im Gegenteil, ich habe ihn deutlich gezeigt. Sie haben es wohl bemerkt, weil Sie mich selbst fragten, ob ich nicht ärgerlich darüber wäre, daß Sie früher gekommen seien? Merken Sie sich, daß man denjenigen nicht anzulocken sucht, vor dem man seinen Abscheu nicht verbergen kann, noch will. Sie haben gewagt, es mir zu sagen, daß ich Sie für jeden Fall warm halten wollte. Darauf will ich Ihnen antworten, daß ich mir folgendes gedacht habe: ›Wenn er auch nicht mit viel Verstand begabt ist, so ist er doch vielleicht ein guter Mensch, und deshalb könnte man ihn ja schließlich heiraten.‹ Aber jetzt, wo ich mich zu meinem Glück davon überzeugt habe, daß Sie ein Dummkopf und dazu noch ein bösartiger Dummkopf sind – bleibt mir nur das eine: Ihnen alles Glück und gute Reise zu wünschen! Leben Sie wohl!«

Nach diesen Worten wandte sich Sina von ihm ab und schritt langsam der Türe zu.

Mosgljakoff, der begriff, daß alles verloren war, kochte über vor Wut.

»Ah, ein Dummkopf bin ich also!« schrie er, »ein Dummkopf bin ich jetzt! Gut! Leben Sie wohl! Aber bevor ich von hier fortfahre, werde ich der ganzen Stadt erzählen, wie Sie zusammen mit Ihrem Mamachen den Fürsten übers Ohr gehauen, nachdem Sie ihn vorher betrunken gemacht haben! Allen werde ich es erzählen! Sie werden Mosgljakoff schon kennenlernen.«

Sina zuckte zusammen und blieb stehen, um zu antworten, aber nachdem sie sich einen Augenblick besonnen hatte, hob sie nur verächtlich die Schultern und schlug die Tür hinter sich zu.

In diesem Augenblick erschien Marja Alexandrowna auf der Schwelle. Sie hatte die letzten Worte von Mosgljakoff gehört, in einer Minute erraten, um was es sich handelte und war vor Schreck zusammengefahren. Mosgljakoff war noch nicht fort, Mosgljakoff war noch in der Nähe des Fürsten, Mosgljakoff würde das ganze in der Stadt verbreiten, und es hing so viel davon ab, daß alles wenigstens eine ganz kurze Zeit über geheim bliebe. Marja Alexandrowna hatte ihre Berechnungen. In einem Augenblick hatte sie die ganze Situation überblickt und der Plan zur Besänftigung von Mosgljakoff war bereits gefaßt.

»Was haben Sie, mon ami?« sagte sie, zu ihm tretend und ihm freundschaftlich die Hand hinhaltend.

»Wie: mon ami!« schrie er voll Raserei, »nach all dem, was Sie angestellt haben, sagen Sie mir noch: ›mon ami‹! ›Morgen früh‹, gnädige Frau! und Sie glauben, es wird Ihnen gelingen, mich nochmals zu betrügen?«

»Mir tut es leid, mir tut es sehr leid, daß ich Sie in einer solchen sonderbaren Verfassung antreffe, Pawel Alexandrowitsch. Was für Ausdrücke! Sie wägen Ihre Worte sogar in Gegenwart einer Dame nicht ab!«

»Einer Dame! Sie ... Sie sind alles, was Sie wollen, nur keine Dame!« schrie Mosgljakoff. Ich weiß es nicht zu sagen, was er, genau genommen, mit diesem Ausruf ausdrücken wollte, aber jedenfalls etwas sehr Niederschmetterndes.

Marja Alexandrowna sah ihm fromm in die Augen.

»Setzen Sie sich!« sagte Sie traurig, auf den Stuhl deutend, auf dem vor kaum einer Viertelstunde der Fürst gesessen hatte.

»Aber hören Sie, Marja Alexandrowna!« rief der befremdete Mosgljakoff aus. »Sie sehen mich so an, als ob Sie gar keine Schuld gegen mich hätten, und im Gegenteil, ich der allein Schuldige wäre. Nein, so geht das aber nicht! ... So ein Ton! ... Das übersteigt doch wirklich die Grenzen menschlicher Geduld ... begreifen Sie das?«

»Mein Freund!« antwortete Marja Alexandrowna. »Sie werden mir erlauben, Sie doch noch so zu nennen, weil Sie tatsächlich keinen besseren Freund haben als mich. Mein Freund! Sie leiden, Sie sind gequält, Sie fühlen sich ins Herz getroffen – und deshalb wundere ich mich nicht, daß Sie in so einem Ton mit mir sprechen. Aber ich will Ihnen mein ganzes Herz eröffnen, schon deshalb, weil ich mich selbst ein wenig schuldig vor Ihnen fühle. Setzen Sie sich und wir wollen ein wenig miteinander reden!«

Die Stimme von Marja Alexandrowna klang leidend und weich. Ihr Gesicht drückte Schmerz aus. Der verwunderte Mosgljakoff setzte sich neben sie in den Sessel.

»Sie haben gehorcht?« fuhr sie fort, ihm vorwurfsvoll ins Gesicht blickend.

»Ja, ich habe gehorcht! Das fehlte noch, daß ich nicht gehorcht hätte; was für ein Tölpel wäre ich dann gewesen! Wenigstens habe ich auf diese Weise alles erfahren, was Sie gegen mich im Schilde führen!« antwortete Mosgljakoff grob, sich in Zorn redend und sich selbst dadurch Mut machend.

»Und Sie, Sie mit Ihrer Erziehung, mit Ihren Grundsätzen konnten sich zu einer solchen Handlungsweise hinreißen lassen? O mein Gott!«

Mosgljakoff sprang auf.

»Aber, Marja Alexandrowna,« schrie er, »das ist wirklich unerträglich anzuhören! Denken Sie doch daran, wozu Sie sich mit Ihren Grundsätzen entschlossen haben, und dann unterfangen Sie sich noch andere zu verurteilen!«

»Sagen Sie mir eines noch,« sagte sie, ohne auf seine Fragen zu antworten, »wer hat Sie zum Horchen verleitet, wer hat Ihnen etwas erzählt, wer hat hier spioniert? Das ist es, was ich wissen möchte.«

»Nein, entschuldigen Sie – aber das werde ich Ihnen nicht sagen.«

»Bitte! Ich werde es selbst herausbekommen. Ich sagte Ihnen, Mr. Paul, daß ich mich vor Ihnen schuldig fühle. Aber wenn Sie alle Umstände in Erwägung ziehen, so werden Sie sehen, daß, wenn ich auch eine gewisse Schuld habe, so doch allein nur aus dem Grunde, weil ich Ihnen das Beste wünschte.«

»Mir? Das Beste? Das übersteigt schon jede Grenze! Ich versichere Sie, daß Sie mich nicht mehr zum Narren halten werden! Da kommen Sie nicht an den Rechten!«

Und er rückte so heftig mit dem Sessel, daß er in allen Fugen krachte.

»Bitte, mein Freund, bleiben Sie kaltblütig, wenn Sie können. Hören Sie mich aufmerksam an und Sie werden in allem einverstanden mit mir sein. Erstens einmal wollte ich Ihnen gleich alles, alles, in allen Einzelheiten erklären, und Sie hätten es nicht nötig gehabt, sich durch Lauschen zu erniedrigen. Und ich hätte es schon früher, neulich, getan, wenn die ganze Angelegenheit damals nicht nur ein Projekt gewesen wäre. Die Sache hätte auch nicht zustande kommen können. Sehen Sie: ich bin ganz aufrichtig mit Ihnen. Zweitens: Beschuldigen Sie in keiner Weise meine Tochter. Sie liebt Sie bis zum Wahnsinn, und es kostete mich die größten Anstrengungen, um sie dazu zu bringen, auf Sie zu verzichten und die Werbung des Fürsten anzunehmen.«

»Ich habe eben grade das Vergnügen gehabt, einen Beweis dieser ›Liebe bis zum Wahnsinn‹ zu hören«, meinte Mosgljakoff ironisch.

»Gut. Und wie haben Sie denn mit ihr gesprochen? Spricht ein Verliebter auf solche Art und Weise? Spricht endlich ein wohlerzogener Mensch jemals in solchem Ton? Sie haben sie beleidigt und gereizt!«

»Jetzt kommt es wirklich nicht mehr auf den Ton an, Marja Alexandrowna! Und heute früh, nachdem Sie beide mir so süße Mienen gezeigt hatten, und ich dann mit dem Fürsten wegfuhr, sind Sie hübsch über mich hergefallen! Sie haben mich angeschwärzt, das sage ich Ihnen! Ich weiß alles, alles!«

»Und sicher wissen Sie es aus derselben schmutzigen Quelle?« bemerkte Marja Alexandrowna verächtlich. »Ja, Pawel Alexandrowitsch, ich habe Sie angeschwärzt, ich habe Sie verleumdet, ich gestehe es und ich habe mich dabei gründlich plagen müssen. Aber, daß ich gezwungen war Sie anzuschwärzen und vielleicht sogar vor Sina zu verleumden, das allein beweist schon, wie schwer es mir gelang, sie dazu zu überreden, von Ihnen zu lassen. Sie sind wahrlich kein weitsichtiger Mensch! Wenn sie Sie nicht geliebt hätte, wäre es denn dann notwendig gewesen, Sie schlechtzumachen, Sie in ein komisches, unwürdiges Licht hinzustellen, zu diesen äußersten Mitteln zu greifen? Und Sie wissen noch nicht einmal alles! Ich mußte sogar die mütterliche Gewalt anwenden, um Sie aus ihrem Herzen zu reißen, und nach unwahrscheinlichen Anstrengungen gelang es mir nur, ihr äußerliches Einverständnis zu erringen. Wenn Sie uns jetzt belauscht haben, so müssen Sie bemerkt haben, daß sie mich mit keinem Wort, mit keiner Bewegung bei meinen Bemühungen vor dem Fürsten unterstützt hat. Während dieser ganzen Szene hat sie kaum ein Wort gesprochen und sang wie ein Automat. Ihre ganze Seele litt unaussprechliche Qualen, und aus Mitleid zu ihr führte ich endlich den Fürsten von hier weg. Ich bin überzeugt, daß sie geweint hat, nachdem sie hier allein zurückblieb. Bei Ihrem Eintritt müssen Sie noch ihre Tränen gesehen haben ...«

Mosgljakoff entsann sich nun tatsächlich, daß er, als er ins Zimmer stürzte, Sina in Tränen vorgefunden hatte.

»Aber Sie, Sie Marja Alexandrowna, warum waren Sie denn gegen mich?« rief er. »Wozu haben Sie mich angeschwärzt, wozu mich verleumdet? Sie geben es ja selbst zu.«

»Ah, das ist eine andere Frage! Sehen Sie, wenn Sie von Anfang an so vernünftig gefragt hätten, so hätten Sie auch schon längst eine Antwort erhalten. Ja, Sie haben recht. Das alles habe ich, ich allein getan. Sina dürfen Sie da nicht hereinziehn. Wozu ich es getan habe? Erstens einmal um Sinas willen. Der Fürst ist reich, vornehm, hat gute Verbindungen, und wenn Sina ihn heiratet, macht sie eine glänzende Partie. Und schließlich, wenn er stirbt – vielleicht schon recht bald, denn wir sind alle mehr oder weniger sterblich – dann ist Sina eine junge Witwe, Fürstin, gehört zu der höchsten Gesellschaft und verfügt vielleicht über einen großen Reichtum. Dann kann sie heiraten wen sie will, könnte die reichste Partie machen. Aber natürlich wird sie dann denjenigen heiraten, den sie liebt, denjenigen, den sie immer geliebt, dessen Herz sie zerfleischt hat, als sie den Fürsten heiratete. Die Reue allein würde sie schon dazu zwingen, ihre Schuld vor demjenigen, den sie früher geliebt hat, gutzumachen.«

»Hm«, brummte Mosgljakoff, nachdenklich seine Stiefel betrachtend.

»Zweitens, und das will ich nur in Kürze erwähnen,« setzte Marja Alexandrowna fort, »weil Sie das vielleicht sogar nicht verstehen werden. Sie lesen wohl Ihren Shakespeare, schöpfen aus ihm alle Ihre hohen Gefühle, aber im praktischen Leben sind Sie, wenn auch ein sehr guter Mensch, so doch noch zu jung, um sie anzuwenden – und ich bin Mutter, Pawel Alexandrowitsch! Hören Sie denn: Ich verheirate Sina an den Fürsten, teilweise auch um des Fürsten willen, weil ich ihn durch diese Heirat retten will. Ich liebte schon früher diesen edlen, diesen guten, diesen ritterlich-ehrlichen alten Mann. Wir waren Freunde. Er ist unglücklich in den Fängen dieser höllischen Frau. Sie wird ihn ins Grab bringen. Gott ist Zeuge dafür, daß ich Sinas Einverständnis zu dieser Heirat nur dadurch errang, daß ich ihr die ganze Heiligkeit ihrer selbstlosen Handlungsweise vor Augen führte. Der Edelmut dieser Gefühle, das Selbstaufopfernde dieser Tat begeisterten sie, rissen sie hin. Sie hat selbst etwas Ritterliches an sich. Ich zeigte ihr, daß es eine hochchristliche Tat sei, die Stütze, der Trost, der Freund und das Kind, die Schönheit und das Idol dessen zu sein, dem vielleicht nur noch ein Jahr vergönnt sein wird, auf dieser Erde zu wandeln. Keine widerliche Frau, nicht Angst und Erniedrigung würden ihn dann in den letzten Tagen seines Lebens umgeben, sondern Licht, Freundschaft und Liebe. Zum Paradies würden ihm dann diese letzten Lebenstage! Wo bleibt hier der Egoismus, sagen Sie mir, bitte? Das ist eher die Heldentat einer Barmherzigen Schwester, und kein Egoismus!«

»Also haben Sie das alles ... nur für den Fürsten getan, dabei nur den Opfermut einer Barmherzigen Schwester vor Augen gehabt?« murmelte Mosgljakoff mit spöttischer Stimme.

»Ich begreife auch diese Frage, Pawel Alexandrowitsch; sie ist ziemlich eindeutig. Sie denken vielleicht, daß hier auf jesuitische Weise der Vorteil des Fürsten mit dem eigenen Vorteil verknüpft ist? Nun, und wenn auch! Vielleicht hatte ich diese Berechnungen auch, aber gewiß ganz unbewußt und nicht jesuitisch durchdacht. Ich weiß, Sie wundern sich über dieses offenherzige Bekenntnis, aber ich bitte Sie nur um eines, Pawel Alexandrowitsch: ziehen Sie Sina nicht da herein. Sie ist unschuldig, wie eine Taube; sie ist nicht berechnend; sie versteht nur zu lieben, das teure Kind. Wenn jemand hiebei berechnend war, so war ich es, nur ich allein. Aber erstens einmal fragen Sie sich selbst auf Ehre und Gewissen und sagen Sie: Wer hätte an meiner Stelle, in der gleichen Lage keine Berechnungen angestellt? Wir wahren unsere Vorteile sogar in den edelmütigsten, den selbstlosesten Fragen, wir wahren sie unbewußt, unwillkürlich! Natürlich betrügen sich die meisten dabei selbst, indem sie sich davon zu überzeugen suchen, daß sie aus Edelmut allein handeln. Ich will mich nicht betrügen: ich gebe offen zu, daß bei allem Edelmut meiner Zwecke, ich auch gerechnet habe. Aber, habe ich es denn für mich getan? Ich brauche nichts mehr für meine eigene Person, Pawel Alexandrowitsch! Ich habe mein Leben schon hinter mir. Ich habe an sie, an meinen Engel, an mein Kind gedacht, und – welche Mutter könnte mich dafür verurteilen?«

Tränen blitzten in den Augen von Marja Alexandrowna. Pawel Alexandrowitsch hörte diese Beichte voll Verwunderung an und klappte verständnislos mit den Augen.

»Nun ja, welche Mutter ...« sagte er endlich, »Sie haben gut singen, Marja Alexandrowna, aber ... aber Sie haben mir doch Ihr Wort gegeben! Sie haben mir Hoffnungen gemacht ... Wie steh ich jetzt da? Bedenken Sie doch! Mit was für einer Nase muß ich jetzt abziehn?«

»Aber glauben Sie denn wirklich, daß ich nicht auch an Sie gedacht habe, mon cher Paul? Im Gegenteil: alle diese Berechnungen waren für Sie von so großem Vorteil, daß es hauptsächlich dieser Vorteil war, der mich zu dieser Handlungsweise bestimmt hat.«

»Mein Vorteil!« schrie Mosgljakoff, diesmal vollkommen vor den Kopf gestoßen. »Ja, auf welche Weise denn?«

»Mein Gott, kann man denn wirklich so beschränkt, so wenig weitsichtig sein?« rief Marja Alexandrowna, ihre Augen zum Himmel erhebend. »O Jugend, Jugend! Sehen Sie, was es heißt, sich nur in diesen Shakespeare zu versenken, zu träumen, sich dabei einzubilden, daß man lebt – und dabei nur mit fremdem Verstande, mit fremden Gedanken zu leben! Sie fragen mich, mein guter Pawel Alexandrowitsch, worin denn hier Ihr Vorteil bestände? Erlauben Sie mir, der Deutlichkeit halber, eine kleine Abschweifung zu machen: Sina liebt Sie – das ist unabweislich! Aber ich habe bemerkt, daß sie, ungeachtet ihrer offenbaren Liebe, kein rechtes Zutrauen zu Ihnen, zu der Echtheit Ihrer Gefühle, zu Ihrer Neigung hat. Ich bemerke, daß sie dazwischen, wie mit Absicht, sich zurückhält und kalt mit Ihnen ist, was die Frucht ihres Nachdenkens und ihres Mißtrauens ist. Haben Sie das nicht schon selbst bemerkt, Pawel Alexandrowitsch?«

»Ja ... ich ... habe es bemerkt; und sogar heute noch ... Doch, was wollen Sie damit sagen, Marja Alexandrowna?«

»Sehen Sie, Sie haben es also selbst bemerkt. Also habe ich mich nicht getäuscht. Sie hat eben noch ein Mißtrauen gegen die Beständigkeit Ihrer Neigung. Ich bin Mutter ... und wer denn, wenn nicht die eigene Mutter sollte das Herz seines Kindes kennen? Stellen Sie sich nun vor, daß Sie, anstatt ins Zimmer zu stürzen und sie mit Vorwürfen und sogar Beschimpfungen zu überhäufen, sie zu reizen, zu beleidigen, zu kränken, sie, die Reine, Edle, Stolze, und sie damit unwillkürlich in ihrem Mißtrauen, betreffs Ihrer schlechten Anlagen zu bestärken, wenn Sie, statt dessen diese Nachricht demütig hingenommen hätten, mit Tränen des Bedauerns oder gar der Verzweiflung, aber gleichzeitig mit einem hohen Edelmut der Seele, so ...«

»Hm ...«

»Nein, unterbrechen Sie mich nicht, Pawel Alexandrowitsch. Ich will Ihnen das ganze Bild zeigen, auf Ihre Einbildungskraft einwirken! Stellen Sie sich vor, daß Sie zu ihr gekommen wären und gesagt hätten: ›Sinaida! Ich liebe dich mehr als mein Leben, aber äußere Umstände trennen uns. Ich muß diese Umstände anerkennen. Sie führen dich zu deinem Glück, und ich wage nicht, mich dagegen aufzulehnen. Sinaida, ich verzeihe dir. Sei glücklich, wenn du es vermagst!‹ und hiebei hätten Sie sie mit dem Blick eines Lammes, das zur Schlachtbank geführt wird, angesehen – stellen Sie sich das alles vor und bedenken Sie, was für einen Eindruck diese Worte auf ihr Herz gemacht hätten.«

»Gut, Marja Alexandrowna, nehmen wir an, daß das alles stimmt; ich begreife das alles ... nun aber, was weiter? Ich hätte das alles so schön gesagt, und dann hätte ich nachher doch, sozusagen, leer abziehn können!«

»Nein, nein, nein, mein Freund! Unterbrechen Sie mich nicht! Ich will unbedingt das ganze Bild vor Ihnen entrollen, mit allen Folgen, und Sie auf diese Weise in edles Staunen versetzen. Stellen Sie sich vor, daß Sie später einmal mit ihr zusammentreffen, in der höchsten Gesellschaft; Sie treffen sich auf irgendeinem Ball, bei glänzender Beleuchtung, bei einschmeichelnder Musik, inmitten der schönsten Frauen – und im Trubel dieses ganzen Festes, lehnen Sie irgendwo an einer Säule (aber so, daß man Sie sieht) allein, traurig, nachdenklich, bleich und folgen ihr mit den Augen im Wirbel des Balles. Sie tanzt. Um Sie herum strömen die Klänge eines Straußschen Walzers, prickelt der Geist der höchsten Gesellschaft – aber Sie sind allein, bleich und erschlagen durch Ihre Leidenschaft! Was glauben Sie wohl, wird dann Sinaida empfinden? Mit was für Augen wird sie Sie dann ansehen? ›Und ich,‹ wird sie denken, ›ich zweifelte an diesem Menschen, der mir alles, alles geopfert hat und um meinetwillen sein Herz zerfleischt!‹ Selbstverständlich würde dann die frühere Liebe mit unwiderstehlicher Gewalt in ihr erwachen!«

Marja Alexandrowna machte eine Pause, um Atem zu schöpfen. Mosgljakoff rückte wieder so stark in seinem Stuhl, daß er noch einmal krachte. Marja Alexandrowna aber fuhr fort.

»Wegen des Fürsten Gesundheit reist Sina mit ihm ins Ausland, nach Italien, nach Spanien – nach Spanien, wo die Myrten und Zitronen blühn, wo der blaue Himmel lacht, der Guadalquivir seine Fluten rollt – Spanien, das Land der Liebe, wo man nicht leben kann, ohne zu lieben; wo Rosen und Küsse sozusagen in der Luft herumfliegen. Sie fahren auch hin, Sie folgen ihr; Sie opfern Ihre Karriere, Ihre Verbindungen, alles! Da erwacht Ihre Liebe mit ungeahnter Gewalt; Liebe, Jugend, Spanien – mein Gott! Natürlich ist Ihre Liebe nicht sündhaft; nein, rein und heilig; aber Sie schmachten zuletzt beide, wenn Sie einander sehen. Sie verstehen mich, mon ami! Natürlich werden sich auch niedrige, schlechte Menschen finden, Scheusale, die behaupten werden, daß es nicht das verwandtschaftliche Gefühl zum leidenden Greise war, das Sie ins Ausland gelockt. Ich habe mit Absicht Ihre Liebe als nicht sündhaft, als unschuldig bezeichnet, weil diese Menschen ihr am Ende eine ganz andere Deutung geben werden. Aber ich bin Mutter, Pawel Alexandrowitsch, ich werde Sie doch nichts Schlechtes lehren! ... Natürlich wird der Fürst nicht imstande sein, auf Sie beide aufzupassen, aber was ist denn dabei! Kann man denn darauf eine so niederträchtige Verleumdung aufbauen? Endlich stirbt er, sein Schicksal segnend. Sagen Sie mir: Wen sonst wird Sina heiraten als Sie? Sie sind ein so entfernter Verwandter des Fürsten, daß daraus keinerlei Hindernisse für Ihre Ehe mit Sina entstehen können. Sie heiraten sie, die Junge, Reiche, Vornehme, und zu welchem Zeitpunkt? Zu dem Zeitpunkt, wo der vornehmste Edelmann sich damit brüsten könnte, wenn er sie für sich gewänne. Durch sie erringen Sie Eintritt in die höchsten Kreise; durch sie bekommen Sie plötzlich einen hohen Posten, gelangen zu Titel und Ehren. Jetzt haben Sie nur hundertfünfzig Leibeigene, aber dann werden Sie reich sein; der Fürst wird an alles in seinem Testament denken, dafür werde ich schon sorgen. Und, vor allem, nun vertraut sie Ihnen blind, sie glaubt an Ihr Herz, an Ihre Gefühle und Sie sind nun für sie ein Ritter des Edelmutes und der Selbstaufopferung! ... Und Sie, Sie können noch fragen, welches Ihr Vorteil dabei ist? Aber man muß ja blind sein, um ihn nicht zu sehen, nicht zu merken, nicht zu erfassen, wenn er direkt vor Ihnen steht, Sie ansieht und anlächelt und dabei sagt: ›Das bin ich, dein Vorteil!‹ Pawel Alexandrowitsch, erbarmen Sie sich!«

»Marja Alexandrowna!« schrie nun Mosgljakoff in furchtbarer Erregung, »jetzt habe ich alles begriffen! Ich habe grob, niedrig und schäbig gehandelt!«

Er sprang vom Stuhle auf und fuhr sich in die Haare.

»Und unüberlegt,« fügte Marja Alexandrowna hinzu, »vor allen Dingen unüberlegt!«

»Ich war ein Esel, Marja Alexandrowna«, schrie er fast in Verzweiflung. »Jetzt ist alles verloren, weil ich sie bis zum Wahnsinn liebte!«

»Vielleicht ist noch nicht alles verloren«, sagte Frau Moskalewa halblaut vor sich hin, als überlege sie etwas.

»Oh, wenn das wahr wäre! Helfen Sie mir! Geben Sie mir einen Rat! Retten Sie mich!«

Und Mosgljakoff brach in Tränen aus.

»Mein Freund,« sagte Marja Alexandrowna, ihm voll Mitleid die Hand reichend: »Sie haben ja alles nur aus übergroßer Heftigkeit, aus brennender Leidenschaft, das heißt also, aus Liebe zu ihr getan! Sie waren in Verzweiflung, Sie waren außer sich! Sie muß es doch schließlich begreifen ...«

»Ich liebe sie bis zum Wahnsinn und bin bereit, ihr alles zu opfern!« schrie Mosgljakoff.

»Hören Sie mich an, ich werde versuchen, Sie vor ihr zu rechtfertigen ...«

»Marja Alexandrowna!«

»Ja, ich übernehme es. Ich werde Sie wieder zusammenbringen. Sie werden ihr alles, alles sagen, so wie ich es Ihnen eben gesagt habe.«

»O mein Gott, wie gut Sie sind, Marja Alexandrowna! ... Aber ... könnten Sie das nicht gleich tun!«

»Um Gottes willen, nein! Wie Sie doch unerfahren sind, mein Freund! Sie ist doch so stolz! Sie wird es für eine neue Grobheit, für eine neue Unverschämtheit halten! Morgen werde ich alles in Ordnung bringen, aber jetzt gehen Sie irgendwohin, meinetwegen zu diesem Kaufmann ... abends könnten Sie ja wieder herkommen; aber, ehrlich gesagt, rate ich Ihnen nicht dazu.«

»Ich gehe! Ich gehe! Mein Gott! Sie haben mich neu belebt! Aber noch eine Frage: wenn aber nun der Fürst doch nicht so bald stirbt?«

»Ach, mein Gott, wie sind Sie naiv, mon cher Paul. Im Gegenteil, wir müssen Gott um die Gesundheit des Fürsten anflehen. Wir müssen von ganzem Herzen diesem lieben, diesem guten, diesem ritterlich-ehrlichen alten Manne ein langes Leben wünschen. Ich werde als erste Tag und Nacht mit Tränen für das Glück meiner Tochter beten. Aber ach! Leider scheint die Gesundheit des Fürsten sehr schwankend zu sein. Außerdem wird er doch jetzt die Großstadt besuchen müssen, um Sina in die große Welt einzuführen. Ich fürchte, ach, ich fürchte, daß das ihm den Rest geben wird. Aber wir wollen beten, cher Paul, und das Übrige liegt in Gottes Hand! ... Sie gehen schon! Ich segne Sie, mon ami! Hoffen Sie, dulden Sie und fassen Sie Mut, vor allen Dingen! Ich habe nie am Edelmut Ihrer Gefühle gezweifelt ...«

Sie drückte ihm fest die Hand und Mosgljakoff schlich auf Fußspitzen aus dem Zimmer.

»Nun, diesen Dummkopf hätte ich herumgekriegt«, sagte sie triumphierend. »Jetzt bleiben noch die anderen ...«

Die Türe öffnete sich und Sina trat herein. Sie war noch bleicher als gewöhnlich. Ihre Augen blitzten.

»Mamachen,« sagte sie, »machen Sie jetzt rasch Schluß, oder ich ertrage es nicht! Alles dies ist so schmutzig und widerwärtig, daß ich bald aus dem Hause fliehen werde. Quälen Sie mich nicht! Reizen Sie mich nicht! Mir wird übel, hören Sie, mir wird übel von all dem Schmutz!«

»Sina! Was hast du, mein Engel? Du ... du hast gelauscht!« rief Marja Alexandrowna, Sina durchdringend und voll Unruhe betrachtend.

»Ja, ich habe gelauscht. Werden Sie mich vielleicht jetzt auch so beschämen, wie jenen Dummkopf? Hören Sie, ich schwöre Ihnen, falls Sie mich noch weiter so quälen und mir verschiedene, niedrige Rollen in dieser ganzen niedrigen Komödie zuteilen, so werde ich alles über den Haufen werfen und der ganzen Sache ein rasches Ende machen! Es genügt schon, daß ich mich zu der Hauptniederträchtigkeit entschlossen habe! Aber ... ich kannte mich nicht! Ich werde noch in dieser entsetzlichen Atmosphäre ersticken!« Und sie stürzte hinaus, die Tür hinter sich ins Schloß werfend.

Marja Alexandrowna blickte ihr aufmerksam nach und wurde nachdenklich.

»Man muß sich beeilen!« rief sie, sich ermannend. »In ihr liegt die größte Gefahr und wenn all diese Schurken uns nicht allein lassen und es in der Stadt verkünden – was bestimmt schon der Fall ist – so ist alles verloren! Sie wird diesen ganzen Wirbel nicht ertragen und wird sich zurückziehen. Auf jeden Fall muß man den Fürsten sofort aufs Land bringen. Ich fliege zuerst zu meinem Tölpel, hole ihn heraus und schleppe ihn her. Zu irgend etwas muß er doch auch schließlich taugen! Unterdessen wird der Fürst ausgeschlafen haben, und dann fahren wir los!« Und sie klingelte.

»Was ist mit den Pferden?« fragte sie den eintretenden Diener.

»Sie sind längst angespannt«, antwortete er.

Marja Alexandrowna hatte den Schlitten bereits in dem Augenblick bestellt, wo sie den Fürsten nach oben geleitete. Sie kleidete sich rasch an, und lief dann noch auf einen Sprung zu Sina hinüber, um ihr in allgemeinen Zügen ihre Absichten mitzuteilen und ihr einige Verhaltungsmaßregeln zu geben. Aber Sina hörte sie gar nicht an. Sie lag auf ihrem Bette und hatte ihr Gesicht in den Kissen vergraben; sie war tränenüberströmt und raufte ihre langen, wunderbaren Haare mit ihren weißen Händen. Von Zeit zu Zeit schauerte sie zusammen, als ob ein kalter Hauch ihre Glieder berühre. Marja Alexandrowna versuchte ihr etwas zu sagen, aber Sina hob nicht einmal den Kopf.

Marja Alexandrowna blieb noch einen Augenblick bei ihr stehen und verließ dann in großer Verwirrung das Zimmer. Um sich auf anderer Seite für ihre erzwungene Sanftmut schadlos zu halten, setzte sie sich in den geschlossenen Schlitten und befahl dem Kutscher, in gestrecktem Galopp auf das Gut zum Herrn Gemahl zu jagen.

»Das ist schlimm, daß Sina gehorcht hat!« dachte sie im Schlitten sitzend, »ich habe Mosgljakoff ja mit denselben Worten überredet wie sie. Sie ist stolz und es hat sie vielleicht gekränkt ... Hm! Aber die Hauptsache bleibt, alles zum Klappen zu bringen, noch ehe jemand Lunte gerochen hat. Und wenn es jetzt noch das Pech will, daß mein Dummkopf nicht zu Hause ist ...!«

Schon bei diesem Gedanken allein, geriet sie in Raserei, die für Afanassij Matwejewitsch nichts Gutes bedeutete; sie rückte auf ihrem Sitz vor Ungeduld hin und her. Indessen jagten die Pferde mit verhängten Zügeln ihrem Ziele zu.


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