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Zweites Kapitel

Die Nacht (Fortsetzung)

1

Er durchschritt die ganze Bogojawlenskaja; endlich führte ihn sein Weg abwärts; seine Füße wateten im Schmutz, und plötzlich sah er vor sich einen breiten, nebligen, anscheinend ganz leeren Raum. Es war der Fluß. Die Häuser verschwanden und hatten armseligen Hütten Platz gemacht; die Straße verlor sich in einer Menge kleiner Gäßchen, die durchaus nicht auf einen Ordnungssinn ihres Erbauers hindeuteten. Nikolaj Wsewolodowitsch ging eine ziemlich große Strecke an den Zäunen entlang, ohne sich vom Ufer zu entfernen; aber er fand mit Sicherheit seinen Weg und dachte sogar kaum viel an ihn. Es war etwas anderes, was ihn augenblicklich beschäftigte, und zwar so sehr, daß er sich sogar erstaunt umblickte, als er, den Gang der Gedanken unterbrechend und wieder zu sich kommend, bemerkte, daß er sich bereits fast auf der Mitte unserer langen, nassen, auf flachen und breiten Booten aufgebauten Brücke befand. Rings um sich sah er keine Seele, so daß es ihm ganz sonderbar erschien, als plötzlich, beinah dicht an seinem Ellbogen eine höflich-familiäre, übrigens ziemlich angenehme Stimme ertönte, deren Besitzer jene süßlich-skandierende Aussprache hatte, mit der bei uns allzu zivilisierte Kleinbürger oder junge, lockige Kommis vom Gostinnyj-Riad zu protzen pflegen.

»Würden Sie mir vielleicht gestatten, mein Herr, Ihren Schirm zugleich mit Ihnen zu benutzen?« hörte Stawrogin.

Und gleich darauf schlüpfte eine Gestalt unter seinen Schirm oder gab sich wenigstens den Anschein, es zu tun. Nun ging ein Landstreicher neben ihm her und nahm mit ihm beinah »Fühlung mit dem Ellbogen«, wie es bei den Soldaten heißt. Nikolaj Wsewolodowitsch verlangsamte seine Schritte und verneigte sich ein wenig, um den Unbekannten anzusehen, soweit es in der Dunkelheit möglich war. Der Mann neben ihm war von kleinem Wuchs und machte den Eindruck eines verbummelten Kleinbürgers. Seine Kleidung war weder warm noch ansehnlich; auf dem zerzausten, krausen Kopf saß eine nasse Tuchmütze mit einem halb abgerissenen Schirm. Wie es schien, war er ein hagerer, kräftiger Mensch mit schwarzem Haar und dunkler Hautfarbe; seine großen Augen mußten unbedingt schwarz sein, mit jenem starken Glanze und gelblichen Schimmer, wie sie oft bei Zigeunern anzutreffen sind; das ließ sich sogar in der Dunkelheit erraten. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein und war allem Anschein nach nicht betrunken.

»Du kennst mich?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch.

»Herr Stawrogin, Nikolaj Wsewolodowitsch; man hat Sie mir am vorigen Sonntag auf dem Bahnhof gezeigt, gleich nach Ankunft des Zuges. Außerdem habe ich früher viel von Ihnen gehört.«

»Durch Piotr Stepanowitsch? Du ... du bist Fedka der Sträfling?«

»Getauft wurde ich auf den Namen Feodor Feodorowitsch und habe bis auf den heutigen Tag noch meine leibliche Mutter hier in der Gegend wohnen; sie ist eine gottesfürchtige Frau, aber das Alter beugt sie immer tiefer und tiefer zu Boden; sie betet Tag und Nacht für mich, um so ihre Zeit nicht nutzlos auf der Ofenbank zu verlieren.«

»Du bist aus dem Zuchthaus geflohen?«

»Ich habe mein Schicksal verändert. Abgeliefert habe ich die Glocken und die Bücher und die Hefte, anderen Leuten übertragen alle kirchlichen Geschäfte, denn ich war nämlich auf Lebenszeit verurteilt und hätte sonst etwas zu lange warten müssen, bis meine Befreiungsstunde gekommen wäre.«

»Was machst du denn hier?«

»Ja, was? Kommt Tag, kommt Nacht, und vierundzwanzig Stunden sind verbracht. Ein Onkel von mir ist vorige Woche im dem hiesigen Zuchthaus gestorben, er saß da wegen Falschmünzerei; nun, da habe ich für ihn eine Gedächtnisfeier veranstaltet und ein paar Dutzend Steine den Hunden zugeworfen, – das ist wohl alles, was ich bisher getan habe. Außerdem hat mir Piotr Stepanowitsch einen Paß versprochen, der im ganzen Reiche gültig sein sollte und demzufolge ich etwa ein Kaufmann wäre, so daß ich nunmehr auf diesen Gefallen seinerseits warte. ›Denn,‹ sagt er, ›mein Vater hat dich seinerzeit im Englischen Klub im Kartenspiel verloren; ich aber‹, sagt er, ›finde diese Unmenschlichkeit ungerecht.‹ Es wäre nett von Ihnen, gnädiger Herr, wenn Sie mir drei Rubel schenken würden, damit ich mich mit Tee erwärmen kann.«

»Du hast mir also hier aufgepaßt; so etwas mag ich nicht leiden. Auf wessen Befehl hast du das getan?«

»Von einem Befehl kann nicht die Rede sein; es hat mir kein Mensch einen solchen erteilt. Ich tat es nur, weil ich Ihre Menschenfreundlichkeit kenne, die ja aller Welt bekannt ist. Was für Einnahmen unsereiner hat, können Sie sich selbst denken: bald gibt's ein bißchen Heu in den Krippen, bald wieder mit der Forke in die Rippen. Freitags habe ich mich an Kuchen satt gegessen, wie Martyn an Seife, und seitdem habe ich einen Tag nichts gegessen, den zweiten gehungert und am dritten wieder nichts gegessen. Es gibt ja genug Wasser im Fluß, da habe ich mir im Bauch eine Karauschenzucht angelegt ... Wie wäre es denn, Euer Gnaden, mit einer milden Gabe? Ich habe hier in der Nähe eine Gevatterin wohnen, aber ohne Moneten darf man sich bei der nicht blicken lassen.«

»Was hat dir denn Piotr Stepanowitsch von mir versprochen?«

»Versprochen hat er eigentlich nichts, sondern er sagte nur so im Gespräch, daß ich vielleicht Euer Gnaden einmal nützlich sein könnte, wenn mal Not am Mann ist; aber womit, das hat er mir nicht erklärt, denn Piotr Stepanowitsch prüft mich auf meine kosakische Geduld und hat zu mir gar kein Vertrauen.«

»Weshalb denn?«

»Piotr Stepanowitsch ist ein Gastronom und kennt alle Planiden Gottes, dennoch aber ist auch er für die Kritik nicht unerreichbar. Ich spreche vor Ihnen wie vor Gott selbst, gnädiger Herr, ganz aufrichtig; denn ich habe viel von Ihnen gehört. Piotr Stepanowitsch ist eine Art Mensch, Sie aber, gnädiger Herr, sind doch wohl etwas ganz anderes. Bei dem ist es so: Wenn einer von jemandem sagt, er sei ein Schuft, so sieht er in dem Betreffenden überhaupt nichts mehr als eben den Schuft. Und sagt man ihm, jemand sei ein Narr, so hat er für diesen schon gar keinen anderen Namen mehr als den eines Narren. Er weiß jetzt zum Beispiel von mir, daß ich gar zu große Sehnsucht nach einem Paß habe, denn in Rußland ist das Leben ohne einen solchen Ausweis fast unmöglich, und da denkt er nun, er habe schon meine Seele gefangengenommen. Piotr Stepanowitsch hat es sehr leicht auf dieser Welt, gnädiger Herr, das lassen Sie sich gesagt sein. Denn er bildet sich über die Menschen ein für allemal seine Meinung und sieht dann in ihnen nichts mehr, als was er sich eben einmal eingebildet hat. Außerdem ist er sehr geizig. Er ist der Ansicht, daß ich nicht anders als durch ihn es wagen würde, mich an Sie zu wenden; aber ich will Ihnen ganz aufrichtig sagen, gnädiger Herr: Das ist schon die vierte Nacht, daß ich Euer Gnaden auf dieser Brücke erwarte, in der Überzeugung, daß ich mit leisen Schritten auch ohne Piotr Stepanowitsch meinen eigenen Weg finden kann. Es ist schon besser, sagte ich mir, ich verbeuge mich vor einem Stiefel, als daß ich es vor einem Bastschuh tue.«

»Und wer hat dir denn erzählt, daß ich in der Nacht über die Brücke kommen würde?«

»Das ist mir, offen gesagt, auf einem Umwege bekanntgeworden, eigentlich durch die Dummheit des Hauptmanns Lebiadkin, denn er versteht es durchaus nicht, etwas für sich zu behalten ... Also drei Rubel kommen mir schon von Euer Gnaden wohl für die drei Tage und die drei Nächte zu, allein schon der Langeweile wegen. Und daß meine Kleider dabei naß geworden sind, davon will ich schon lieber ganz schweigen.«

»Die Brücke ist zu Ende; mein Weg führt nach links und der deine nach rechts. Höre, Feodor, ich habe es gern, wenn meine Worte ein für allemal verstanden werden: Ich werde dir auch nicht eine einzige Kopeke geben,, in Zukunft darfst du mir weder hier auf der Brücke noch sonst wo unter die Augen kommen; ich bedarf deiner nicht und werde dich auch nie brauchen; und wenn du nicht gehorchst, dann werde ich dich binden und zur Polizei bringen. Marsch!«

»Ach Herrje! Werfen Sie mir doch wenigstens etwas dafür zu, daß ich Ihnen Gesellschaft geleistet habe! Mit mir ist Ihnen der Weg nicht so langweilig geworden ...«

»Scher dich!«

»Kennen Sie denn auch den Weg in dieser Gegend? Hier kommen gleich allerlei krumme Gassen ... Ich könnte Sie führen, denn diese Stadt hier sieht ganz so aus, wie wenn sie der Teufel in einem Korb getragen und durcheinandergeschüttelt hätte.«

»Ei du, ich werde dich binden!« sagte Nikolaj Wsewolodowitsch und wandte sich drohend zu dem Landstreicher hin.

»Vielleicht überlegen Sie es sich noch, gnädiger Herr; ein Waisenkind ist leicht zu kränken, was hätten Sie wohl davon?«

»Du hast wohl ein sehr großes Selbstvertrauen!«

»Mein Vertrauen setze ich auf Sie und ganz und gar nicht auf mich.«

»Ich habe dir aber schon gesagt, daß ich dich überhaupt nicht brauchen kann! Ich bedarf deiner nicht!«

»Aber ich Ihrer, gnädiger Herr; das ist es ja eben! Nun ja, dann will ich Sie eben auf dem Rückwege erwarten.«

»Ich gebe dir mein Ehrenwort darauf: Wenn du mir wieder vor die Augen kommst, werde ich dich binden.«

»Na, dann will ich auch schon einen Gürtel dazu bereitlegen. Glück auf den Weg, gnädiger Herr! Sie haben doch immerhin ein armes Waisenkind unter Ihrem Schirm warm werden lassen; schon dafür will ich Ihnen zeitlebens dankbar sein.«

Er blieb zurück. Nikolaj Wsewolodowitsch erreichte das Ziel seiner Wanderung, von schweren Sorgen erfüllt. Dieser vom Himmel heruntergefallene Mensch war doch gar zu fest davon überzeugt, daß er seiner unbedingt bedürfe, und beeilte sich allzu unverschämt, das kundzutun. Überhaupt empfand Nikolaj Wsewolodowitsch, daß die Leute mit ihm nicht viel Umstände machten. Es konnte jedoch auch sein, daß der Landstreicher nicht alles erlogen hatte und in der Tat ihm nur aus eigenem Antrieb seine Dienste anbot, was dann natürlich ganz heimlich und ohne Piotr Stepanowitschs Wissen geschah; und das wäre schon am allermerkwürdigsten.

2

Das Haus, vor dem Nikolaj Wsewolodowitsch nun stehen blieb, befand sich buchstäblich am äußersten Rande der Stadt. Es war in einer öden Gasse erbaut, zwischen Zäunen, hinter denen sich bereits Gemüsegärten hinzogen. Es war ein vollkommen einsam stehendes, kleines Holzhaus, das erst vor kurzem errichtet zu sein schien und von außen noch nicht abgeputzt war. An einem Fenster waren die Läden absichtlich nicht geschlossen und auf dem Fensterbrett stand ein Licht, offenbar um dem heute erwarteten späten Gast als Leuchtfeuer zu dienen. Schon aus dreißig Schritt Entfernung bemerkte Nikolaj Wsewolodowitsch vor der Haustür die Gestalt eines hochgewachsenen Menschen, wahrscheinlich des Inhabers der Wohnung, der in seiner Ungeduld hinausgekommen war, um den Weg entlang zu spähen. Nun sagte er mit ungeduldiger Stimme, aber offenbar schüchtern:

»Sind Sie das? Sie?«

»Ich«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch, aber erst, als er bereits an der Haustüre stand, und machte seinen Schirm zu.

»Endlich!« sagte Hauptmann Lebiadkin – denn er war es – und tat außerordentlich geschäftig und diensteifrig. »Geben Sie mir bitte Ihren Schirm; er ist sehr naß; ich werde ihn hier in einer Ecke aufspannen; bitte treten Sie näher, bitte sehr.«

Die Tür, die vom Flur aus in das von zwei Kerzen erleuchtete Zimmer führte, stand sperrangelweit offen.

»Wenn ich nicht Ihr Wort hätte, daß Sie bestimmt kommen würden, so hätte ich aufgehört, daran zu glauben.«

»Dreiviertel eins«, sagte Nikolaj Wsewolodowitsch, nachdem er beim Betreten des Zimmers einen Blick auf seine Uhr geworfen hatte.

»Und dabei dieser Regen und diese interessante Entfernung ... Eine Uhr besitze ich nicht, und vom Fenster aus sehe ich nur Gemüsegärten, so daß ich ... ganz von den Ereignissen abgeschnitten bin ... Ich sage das nicht etwa als einen Vorwurf, denn das wage ich gar nicht, das wage ich nicht, sondern lediglich infolge der Ungeduld, die mich die ganze Woche lang verzehrt hat, um endlich ... den Schluß zu erkennen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich möchte doch das mir bevorstehende Schicksal kennenlernen, Nikolaj Wsewolodowitsch. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Er verbeugte sich und wies dem Gast einen Platz auf dem Sofa an, vor dem ein Tischchen stand.

Nikolaj Wsewolodowitsch sah sich um; das Zimmer war klein und niedrig; das Mobiliar bestand nur aus den allernotwendigsten Möbelstücken: es standen da ein paar hölzerne Stühle und ein hölzernes Sofa, die ganz neu gearbeitet waren, ohne Überzüge und ohne Kissen, zwei Tische aus Lindenholz, der eine am Sofa und der andere in der Ecke. Dieser war mit einem Tischtuch bedeckt, mit verschiedenen Dingen vollgestellt, über denen eine ganz reine Serviette verhüllend ausgebreitet war. Überhaupt schien das ganze Zimmer höchst sauber gehalten zu sein. Der Hauptmann Lebiadkin war schon acht Tage lang nicht mehr betrunken gewesen; sein Gesicht sah merkwürdig aufgedunsen und ganz gelb aus; sein Blick war unruhig, neugierig und offenbar unentschlossen: man erkannte nur zu deutlich, daß er selbst noch nicht recht wußte, in welchem Tone er reden durfte, und welchen er am vorteilhaftesten von vornherein anschlagen sollte.

»Da, sehen Sie,« sagte er und zeigte rings um sich, »ich lebe wie der heilige Sosima. Nüchternheit, Einsamkeit und Armut, – ganz nach dem Gelübde der alten Ritter.«

»Glauben Sie, daß die alten Ritter solche Gelübde ablegten?«

»Habe ich das wieder verwechselt? Leider bin ich nicht gebildet! Alles habe ich in mir zugrunde gerichtet! Können Sie es glauben, Nikolaj Wsewolodowitsch, erst hier bin ich zum erstenmal aus dem Rausche meiner schmählichen Leidenschaften erwacht, – kein Gläschen, keinen Tropfen! Ich habe hier meinen Winkel und empfinde schon sechs Tage lang die Glückseligkeit des ruhigen Gewissens. Sogar die Wände riechen nach Harz und erinnern dadurch an die Natur. Und was war ich vorher? Wie war ich?

›Nachts da soff ich ohne Ruhe,
Tags streckt ich die Zunge aus ...‹

nach dem genialen Ausdruck des Dichters! Aber ... Sie sind ja so durchnäßt ... Ist Ihnen vielleicht Tee gefällig?«

»Bemühen Sie sich nicht.«

»Der Samowar hat seit acht Uhr gekocht und gebrodelt, aber ... nun ist er erloschen ... wie alles in der Welt. Auch die Sonne soll, wie man sagt, einmal erlöschen ... Übrigens, wenn Sie Tee wollen, kann ich die Sache sofort arrangieren. Agafja schläft noch nicht.«

»Sagen Sie, ist Maria Timofejewna ...«

»Sie ist hier, hier«, fiel ihm Lebiadkin sogleich flüsternd ins Wort. »Haben Sie den Wunsch, sie zu sehen?« fragte er und wies nach der zugemachten Tür hin, die in ein anderes Zimmer führte.

»Schläft sie nicht?«

»O nein, nein, wie wäre das möglich? Im Gegenteil, meine Schwester erwartet Sie schon seit dem Abend, und sobald sie erfuhr, daß Sie kommen würden, hat sie sogleich Toilette gemacht«, erwiderte Lebiadkin und wollte schon den Mund zu einem scherzhaften Lächeln verziehen, unterließ es aber noch rechtzeitig.

»Wie geht es ihr sonst, im allgemeinen?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch und setzte eine finstere Miene auf.

»Im allgemeinen? Das wissen Sie ja selbst«, erwiderte Lebiadkin und zuckte bedauernd die Schultern. »Jetzt aber ... jetzt sitzt sie und legt sich Karten ...«

»Gut, später; zuerst muß ich die Sache mit Ihnen ins reine bringen.«

Nikolaj Wsewolodowitsch setzte sich auf einen Stuhl.

Der Hauptmann wagte es nun nicht mehr, auf dem Sofa Platz zu nehmen, zog sich sogleich einen anderen Stuhl heran und beugte sich in fieberhafter Erwartung vor, um zuzuhören.

»Was haben Sie denn da in der Ecke auf dem Tisch?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch, der plötzlich auf dessen Aufmachung aufmerksam geworden war.

»Das?« wiederholte Lebiadkin die Frage und wandte sich ebenfalls nach der Ecke um. »Das haben wir Ihrer Freigebigkeit zu verdanken. Ich habe das angeschafft, um sozusagen die neue Wohnung würdig einzuweihen und auch in Anbetracht des langen Weges, den Sie zurücklegen mußten und der darauf folgenden natürlichen Müdigkeit«, erklärte er mit einem geradezu entzückten Kichern; dann stand er auf, ging auf den Zehenspitzen hin und nahm behutsam und respektvoll die Serviette von dem Tischchen ab. Darunter erschien ein bereitgestellter kalter Imbiß: Schinken, Kalbsbraten, Sardinen, Käse, eine kleine grünliche Karaffe und eine hohe Flasche Bordeaux; alles war sehr sauber mit Sachkenntnis und sogar mit einem gewissen Geschmack aufgestellt.

»Haben Sie das alles besorgt?«

»Jawohl, ich. Noch gestern. Ich habe alles getan, was ich konnte, schon ehrenhalber ... Maria Timofejewna ist ja, wie Sie selbst wissen, in bezug auf derlei Sachen vollkommen gleichgültig. Aber die Hauptsache ist, daß dies alles lediglich Ihrer Freigebigkeit zu verdanken ist; es ist Ihr Eigentum, denn Sie sind hier der Wirt und nicht ich; ich bin nur sozusagen Ihr Verwalter, denn immerhin, Nikolaj Wsewolodowitsch, immerhin ist mein Geist dennoch unabhängig! Nehmen Sie mir nicht dieses Letzte, was ich noch habe!« schloß er gerührt.

»Hm! ... Würden Sie sich nicht wieder hinsetzen?«

»Ich dan–ke Ihnen! Ich bin dankbar und unabhängig!« erwiderte Lebiadkin und setzte sich. »Ach, Nikolaj Wsewolodowitsch, in diesem Herzen kocht und brodelt so viel, daß ich Ihre Ankunft gar nicht erwarten konnte! Sie sollen jetzt die Entscheidung treffen über mein Schicksal und ... das Los jener Unglücklichen; und dann ... dann werde ich Ihnen, wie oftmals früher, in den vergangenen Zeiten, wie vor vier Jahren, mein ganzes Herz ausschütten. Ja? Damals erwiesen Sie mir doch die Ehre, mich anzuhören und lasen auch meine Verse ... Was macht es, daß man mich damals Ihren Falstaff aus dem Shakespeare genannt hat; Sie haben in meinem Schicksal eine so bedeutende Rolle gespielt! ... Ich aber werde jetzt fortwährend von einer großen Angst in die andere gejagt und erwarte nur noch von Ihnen Hilfe und Erleuchtung. Piotr Stepanowitsch geht mit mir ganz schrecklich um!«

Nikolaj Wsewolodowitsch hörte interessiert zu und sah ihn durchdringend und aufmerksam an. Es war ihm klar, daß Hauptmann Lebiadkin, obwohl er auch aufgehört hatte zu trinken, sich dennoch bei weitem nicht in einem harmonischen Gemütszustande befand. Bei solchen langjährigen Trunkenbolden wurzelt sich zuletzt für immer etwas Verworrenes fest, etwas Ungereimtes, Benommenes, etwas gleichsam Verrenktes und Sinnloses, obwohl sie sonst nötigenfalls es fast ebensogut wie andere Leute verstehen, ihre Mitmenschen hinters Licht zu führen, zu betrügen und übers Ohr zu hauen.

»Ich sehe, daß Sie sich in diesen vier Jahren gar nicht geändert haben, Hauptmann«, sagte Nikolaj Wsewolodowitsch, und seine Stimme klang etwas freundlicher. »Es scheint wohl wahr zu sein, daß die ganze zweite Hälfte des menschlichen Lebens sich gewöhnlich nur aus Gewohnheiten zusammensetzt, die man in der ersten Hälfte erworben hat.«

»Das sind hohe Worte! Sie lösen das Rätsel des Lebens!« rief der Hauptmann einerseits halb aus Schlauheit, andererseits aber, weil er wirklich in ein ungekünsteltes Entzücken geriet, da er ein großer Freund gut pointierter Ausdrücke war. »Von allen Ihren Aussprüchen, Nikolaj Wsewolodowitsch, ist mir einer ganz besonders gut in Erinnerung geblieben, ein Spruch, den Sie noch in Petersburg getan haben: ›Man muß wirklich ein großer Mensch sein, um sich auch dem gesunden Menschenverstand gegenüber durchsetzen zu können.‹ Jawohl!«

»Nun, ich hätte auch ebensogut sagen können, daß man dazu ein großer Dummkopf sein müßte.«

»Nun ja, meinetwegen auch das, aber Sie haben Ihr ganzes Leben lang scharfsinnige Bemerkungen um sich verstreut. Und die anderen? Da soll doch mal Liputin oder selbst Piotr Stepanowitsch nur etwas Ähnliches sagen! Oh, wie grausam hat mich Piotr Stepanowitsch behandelt! ...«

»Aber auch Sie selbst, Hauptmann, wie haben Sie sich hier benommen?«

»Ich war betrunken und außerdem von einer Unmenge von Feinden umgeben! Aber jetzt ist alles vorbei und verschwunden, und ich erneuere mich, ich häute mich wie eine Schlange. Wissen Sie wohl, Nikolaj Wsewolodowitsch, daß ich jetzt mein Testament mache, und daß ich es schon aufgesetzt habe?«

»Das ist interessant. Was hinterlassen Sie denn, und wem vermachen Sie es?«

»Dem Vaterlande, der Menschheit und den Studenten. Nikolaj Wsewolodowitsch, ich habe in den Zeitungen die Schilderungen des Lebenslaufs eines Amerikaners gelesen. Er hat sein ganzes ungeheures Vermögen den Fabriken und den positiven Wissenschaften und sein Skelett den Studenten einer dortigen Akademie hinterlassen, seine Haut aber wollte er auf eine Trommel gezogen wissen, auf der Tag und Nacht die amerikanische Nationalhymne getrommelt werden sollte. Leider sind wir Pygmäen im Vergleich mit dem hohen Gedankenfluge der Nordamerikanischen Staaten. Rußland ist ein Spiel der Natur, aber nicht des Verstandes. Würde ich den Versuch machen, meine Haut für ein Trommelfell zu hinterlassen, beispielsweise dem Akmolinschen Infanterieregiment, bei dem ich die Ehre hatte, meine militärische Laufbahn zu beginnen, damit auf dieser Trommel täglich vor dem Regiment die russische Nationalhymne getrommelt werde, dann hätte man das für Liberalismus gehalten ... Man würde meine Haut verbieten ... Deshalb beschränkte ich mich auf die Studenten. Ich will mein Skelett der Universität vermachen, aber doch nur unter der Bedingung, daß auf der Stirn des kahlen Schädels für alle Zeit ein Zettel aufgeklebt wird mit der Inschrift: ›Ein reuiger Freidenker‹. Ja, so will ich das machen!«

Der Hauptmann sprach mit Feuer und glaubte natürlich selbst an die Schönheit des amerikanischen Testaments; aber er war auch ein Schlauberger und wünschte es sehr, Nikolaj Wsewolodowitsch, bei dem er früher etwas wie die Rolle eines Hofnarren gespielt hatte, zum Lachen zu bringen. Aber dieser lächelte nicht einmal, sondern fragte vielmehr mit gewissem Argwohn:

»Sie beabsichtigen also anscheinend, Ihr Testament noch bei Lebzeiten zu veröffentlichen und eine Belohnung dafür zu erhalten?«

»Und wenn dem auch so wäre, Nikolaj Wsewolodowitsch? Und wenn ich es auch wirklich so machte?« erwiderte Lebiadkin mit einem vorsichtigen Blick auf seinen Gast. »Bedenken Sie doch, was mich für ein Schicksal drückt! Ich habe sogar aufgehört, Verse zu machen! Und früher haben doch auch Sie, Nikolaj Wsewolodowitsch, sich durch meine Verse unterhalten lassen, wissen Sie noch, bei einer Flasche? Aber die Feder hat jetzt ausgeschrieben. Ich habe nur noch ein letztes Gedicht gemacht, wie Gogol seine ›Letzte Erzählung‹, Sie erinnern sich doch wohl noch, wie er damals ganz Rußland verkündete, daß es sich in seiner Brust ›ausgesungen‹ hat. So geht es auch mir: ich habe es niedergeschrieben und nun ist Schluß.«

»Was ist denn das für ein Gedicht?«

»Ich nannte es: ›Falls sie sich das Bein gebrochen hätte!‹

»Wa–as?«

Darauf hatte der Hauptmann nur gewartet. Seine Gedichte bewunderte und schätzte er selbst über alle Maßen, zugleich aber hatte er infolge einer schlauen Dualität seiner Seele seine Freude daran, daß Nikolaj Wsewolodowitsch sich oft über seine Verse lustig machte und bei ihrem Lesen manchmal so sehr lachte, daß er sich die Seiten halten mußte. Auf diese Weise erreichte er sonst zwei Zwecke, sowohl einen dichterischen als auch einen geschäftlichen, jetzt aber hatte er einen dritten, eigenen und ziemlich heiklen Zweck im Auge: indem er jetzt die Verse ins Feld rückte, hatte er die Absicht, sich in bezug auf einen Punkt zu rechtfertigen, wobei zu erwähnen ist, daß er gerade hinsichtlich dieses Punktes ganz außerordentliche Befürchtungen hegte und sich darin für besonders schuldig hielt.

»Der Titel ›Falls sie sich das Bein gebrochen hätte‹ deutet einen Fall an, der möglicherweise beim Reiten vorkommen könnte. Es ist eine Phantasie, Nikolaj Wsewolodowitsch, ein Hirngespinst, aber ein Hirngespinst eines Dichters. Einmal war ich bei der Begegnung mit einer Reiterin überrascht und legte mir die materielle Frage vor: ›Was würde da geschehen?‹ nämlich in diesem erwähnten Falle. Die Sache liegt doch ganz klar: alle Bewerber würden sich zurückziehen, alle Verehrer wären verschwunden, haste Kuchen, kannste suchen; nur der Dichter wäre ihr treu geblieben, er allein mit seinem zerquetschten Herzen in der Brust. Nikolaj Wsewolodowitsch, selbst eine Laus könnte sich verlieben, auch der ist es durch kein Gesetz verboten. Und doch fühlte sich die betreffende Person durch meinen Brief und meine Verse beleidigt. Sogar Sie sollen sich über mich geärgert haben! Ist das wahr? Das wäre recht traurig; ich wollte es gar nicht glauben. Wem hätte ich denn durch meine Phantasien schaden können? Außerdem schwöre ich Ihnen bei meiner Ehre, daß mir Liputin keine Ruhe ließ. ›Schicke es ab, schicke es ab‹, redete er mir in einem fort zu, ›ein jeder Mensch hat das Recht, eine Korrespondenz zu führen!‹ Nun, da schickte ich es dann eben ab.«

»Sie haben sich, glaube ich, ihr als Bräutigam angeboten?«

»Feinde, Feinde und nichts als Feinde!«

»Nun, dann sagen Sie mir Ihre Verse!« unterbrach ihn Nikolaj Wsewolodowitsch finster.

»Es ist ein Hirngespinst, es ist vor allen Dingen ein Hirngespinst.«

Trotz dieser Versicherung richtete sich jetzt der Hauptmann auf, streckte die Hand aus und begann zu rezitieren:

»Es brach ein Glied die Schönste aller Schönen
Und noch interessanter ward ...
Nun konnte seiner Liebe doppelt fröhnen
Der ohnehin verliebte Bard'! ...«

»Nun, genug«, sagte Nikolaj Wsewolodowitsch und winkte ihm ab.

»Ich träumte von Petersburg«, sprang Lebiadkin sofort zu einem anderen Thema über, wie wenn er überhaupt keine Verse erwähnt hätte. »Ich träume von einer Wiedergeburt ... Mein Wohltäter! Darf ich darauf rechnen, daß Sie mir die Mittel zur Reise nicht verweigern werden? Ich habe hier die ganze Woche lang auf Sie gewartet, wie auf die Sonne.«

»Nein, entschuldigen Sie schon, ich habe fast gar keine Mittel mehr, und weshalb sollte ich Ihnen überhaupt Geld geben?«

Nikolaj Wsewolodowitsch schien mit einem Male ärgerlich geworden zu sein. Kurz und trocken zählte er alle Übeltaten des Hauptmanns auf: die Trunksucht, seine Verlogenheit, die Vergeudung der Gelder, die für Maria Timofejewna bestimmt waren, die Tatsache, daß man sie aus dem Kloster herausgenommen hatte, die frechen Briefe mit den Drohungen, das Geheimnis der Öffentlichkeit preiszugeben, sein Benehmen gegen Darja Pawlowna. Der Hauptmann schüttelte sich, gestikulierte, setzte wiederholt zu einer Entgegnung an, aber Nikolaj Wsewolodowitsch hielt ihn jedesmal gebieterisch zurück.

»Und, gestatten Sie,« bemerkte er endlich, »Sie schreiben da immer von irgendeiner ›Familienschande‹. Was ist denn das für eine Schande für Sie, daß Ihre Schwester mit Stawrogin in gesetzlicher Form verheiratet ist?«

»Aber diese Ehe ist doch geheim, Nikolaj Wsewolodowitsch, sie ist verborgen, sie ist ein verhängnisvolles Geheimnis. Ich erhalte von Ihnen Geld, und plötzlich wird mir die Frage vorgelegt: ›Wofür ist dieses Geld?‹ Ich aber bin gebunden und darf nicht antworten, zum Schaden meiner Schwester und zum Schaden der Familienehre.«

Der Hauptmann hatte seine Stimme erhoben; er liebte dieses Thema und hatte seine festesten Hoffnungen darauf gebaut. Leider ahnte er gar nicht, wie sehr er kaltgestellt werden sollte. Ruhig und bestimmt, so, als ob es sich um die alltäglichste häusliche Anordnung handle, erklärte ihm Nikolaj Wsewolodowitsch, daß er dieser Tage, vielleicht schon morgen oder übermorgen, seine Ehe im ganzen Orte bekanntzumachen gedenke, »sowohl der Polizei als auch der ganzen Gesellschaft«, so daß sich damit die Frage der Familienehre und zugleich auch die Frage der finanziellen Unterstützung von selbst erledigen würde. Der Hauptmann riß die Augen weit auf; er hatte fast nichts verstanden, und Stawrogin mußte es ihm noch einmal erklären.

»Aber sie ist doch ... schwachsinnig!«

»Ich werde schon passende Anordnungen treffen.«

»Aber ... was wird denn Ihre Frau Mutter sagen?!«

»Nun, die kann sagen, was sie will.«

»Sie werden doch Ihre Gattin in Ihr Haus einführen?«

»Vielleicht tue ich auch das. Übrigens ist das ganz und gar nicht Ihre Sache und geht Sie überhaupt nichts an.«

»Wieso denn?« rief der Hauptmann. »Und ich?«

»Sie werden natürlich nicht in mein Haus kommen.«

»Aber ich bin doch Ihr Verwandter.«

»Vor solchen Verwandten flieht man. Nun, wozu soll ich Ihnen denn noch Geld geben? Überlegen Sie sich das selbst!«

»Nikolaj Wsewolodowitsch, Nikolaj Wsewolodowitsch, das ist unmöglich! Sie werden vielleicht doch noch anderen Sinnes; Sie werden nicht selbst Hand an sich legen wollen ... Was werden die Leute sagen, was wird man in der vornehmen Gesellschaft darüber denken?!«

»Sie glauben wohl, ich fürchte mich vor Ihrer vornehmen Gesellschaft? Als mir damals nach einem Mittagessen, bei dem viel getrunken wurde, die Laune kam, habe ich doch infolge einer Weinwette Ihre Schwester geheiratet! Und jetzt werde ich das öffentlich bekanntgeben ... Wenn mich die Lust ankommt.«

Er sagte das in einem besonders gereizten Ton, so daß Lebiadkin in eine Heidenangst geriet und ihm zu glauben begann.

»Aber ich, was soll ich denn machen? In der Hauptsache dreht es sich ja um mich! ... Sie scherzen vielleicht, Nikolaj Wsewolodowitsch?«

»Nein, ich scherze nicht.«

»Nehmen Sie es mir nicht übel, Nikolaj Wsewolodowitsch, aber ich glaube Ihnen nicht ... Dann werde ich eine Bitte vorbringen.«

»Sie sind furchtbar dumm, Hauptmann.«

»Mag sein; aber was bleibt mir denn sonst übrig!« rief der Hauptmann gänzlich verwirrt. »Früher haben wir für die Dienstleistungen meiner Schwester wenigstens einen Schlafwinkel bekommen; was wird aber jetzt aus mir werden, wenn Sie sich ganz von mir lossagen?«

»Sie wollen doch nach Petersburg fahren, um Ihre Laufbahn zu wechseln. Übrigens: es wurde mir gesagt, daß Sie die Absicht haben, mit einer Denunziation dahin zu reisen, in der Hoffnung, durch Angabe aller anderen Verzeihung zu erlangen. Ist das wahr?«

Der Hauptmann sperrte Mund und Augen weit auf und gab keine Antwort.

»Hören Sie, Hauptmann«, begann Stawrogin auf einmal außerordentlich ernst, indem er sich zu dem Tisch hinüberbeugte. Bis dahin hatte er gewissermaßen zweideutig gesprochen, so daß Lebiadkin, der sich in seiner Narrenrolle gewisse Erfahrungen gesammelt hatte, bis zum letzten Augenblick nicht recht wußte, ob sein Herr wirklich ärgerlich sei oder ihn nur aufziehe, und ob er wirklich den ganz ausgefallenen Gedanken habe, seine Ehe bekanntzugeben, oder ob er nur scherze. Jetzt aber war Nikolaj Wsewolodowitschs ungewöhnlich strenge Miene dermaßen überzeugend, daß es den Hauptmann sogar kalt überrieselte. »Hören Sie zu und sagen Sie mir die Wahrheit, Lebiadkin: Haben Sie schon etwas denunziert oder noch nicht? Haben Sie schon etwas in diesem Sinne getan? Haben Sie vielleicht in Ihrer Dummheit irgendeinen Brief abgeschickt?«

»Nein, ich habe noch nichts Derartiges getan, und ... ich habe gar nicht daran gedacht«, erwiderte der Hauptmann und blickte starr vor sich hin.

»Nun, daß Sie nicht daran gedacht haben, glaube ich Ihnen nicht. Das ist eine Lüge. Nur deshalb wollen Sie ja auch nach Petersburg fahren. Wenn Sie nicht geschrieben haben, so haben Sie vielleicht hier am Ort zu jemand geschwatzt? Sagen Sie mir die Wahrheit; es ist mir schon etwas erzählt worden.«

»Im betrunkenen Zustande habe ich zu Liputin davon gesprochen. Liputin ist ein Verräter. Ich habe ihm mein Herz offengelegt«, flüsterte der arme Hauptmann.

»Das Herz ist eine Sache für sich, indessen braucht man noch lange kein Esel zu sein. Wenn Sie irgendeinen Gedanken hatten, so mußten Sie ihn für sich behalten; vernünftige Menschen schweigen heutzutage und schwatzen nicht.«

»Nikolaj Wsewolodowitsch!« rief der Hauptmann zitternd. »Sie selbst hatten sich doch an nichts beteiligt; Sie konnte ich doch keineswegs ...«

»Nun ja, Ihre Milchkuh würden Sie natürlich nicht denunzieren.«

»Nikolaj Wsewolodowitsch, urteilen Sie doch selbst, urteilen Sie doch selbst! ...« Und nun erzählte der Hauptmann verzweifelt und unter Tränen, wie er in diesen letzten vier Jahren gelebt hatte. Es war die dümmste Geschichte eines Hohlkopfes, der sich in eine Sache eingelassen hatte, die für ihn nicht paßte, und der infolge seiner Trunksucht und seines Bummellebens den Ernst derselben bis auf den letzten Augenblick nicht begriff. Er erzählte, wie er sich, noch in Petersburg, anfangs hinreißen ließ, »einfach aus Freundschaft, wie ein wirklicher Student, obwohl eigentlich nicht zu den Studenten gehörend«, und wie er, ohne etwas zu wissen, »ganz unschuldigerweise« allerlei Flugblätter auf den Treppen ausgestreut, dutzendweise an den Türen bei den Klingeln liegen ließ, statt der Zeitungen hineingeschoben, in das Theater getragen und den Menschen in die Hüte und in die Taschen gesteckt hatte. Dann begann er, auch Geld von dem Bunde zu bekommen, »denn was habe ich für Geldmittel, Sie wissen ja selbst, was für Mittel ich habe!« In zwei Gouvernements hatte er überall in den Kreisen »allen möglichen Schund« verbreitet. – »O Nikolaj Wsewolodowitsch!« rief er aus, »am meisten empörte mich, daß dies alles den bürgerlichen und namentlich den vaterländischen Gesetzen durchaus widersprach! Da druckten die Leute plötzlich, die Bauern sollten mit Heugabeln ausziehen und ja nicht vergessen, daß, wer morgens arm losgeht, am Abend als reicher Mann nach Hause zurückkehren könne. Denken Sie sich das nur! Ich zitterte förmlich und habe die Blätter dennoch verbreitet. Oder sie druckten fünf, sechs Zeilen, in denen sie sich an ganz Rußland wandten; mir nichts dir nichts hieß es da plötzlich: ›Schließt schnell eure Kirchen, setzt Gott ab, hebt die Ehen auf, vernichtet das Erbrecht, ergreift die Messer‹, und sowas, und weiß der Teufel was sonst noch. Mit diesem Blättchen, mit diesen fünf Zeilen wäre ich beinah aufgeflogen: in einem Regiment haben mich die Offiziere zwar durchgeprügelt, jedoch wieder losgelassen, Gott lohne es ihnen. Und im vorigen Jahre hat man mich beinah dabei abgefaßt, als ich falsche Fünfzigrubelscheine französischer Herstellung an Korowajew ablieferte; aber Gott sei Dank ertrank Korowajew damals im betrunkenen Zustande in einem Teiche, und es gelang den Behörden nicht, mir etwas nachzuweisen. Hier bei Wirginskij verkündete ich die Freiheit der sozialen Frau. Im Juni habe ich wieder im Kreise ... Flugblätter verbreitet. Es heißt, sie wollen mich noch weiter dazu zwingen ... Piotr Stepanowitsch erklärt mir jetzt auf einmal, daß ich gehorchen müßte; er droht mir schon seit langem. Und wie ist er mit mir damals am Sonntag umgegangen! Nikolaj Wsewolodowitsch, ich bin ein Sklave, ein Wurm, aber kein Gott; nur dadurch unterscheide ich mich von dem Dichter Dershawin! Aber bedenken Sie doch, daß ich keine Mittel habe, fast gar keine Geldmittel!«

Nikolaj Wsewolodowitsch hatte mit Interesse zugehört.

»Vieles davon habe ich nicht gewußt,« sagte er, »mit Ihnen konnte natürlich alles mögliche geschehen ... Hören Sie,« meinte er dann nach einem kurzem Nachdenken, »sagen Sie ihnen, das heißt jenen Mitgliedern des Bundes, die Sie kennen, daß Liputin gelogen hat, und daß Sie in der Annahme, auch ich wäre kompromittiert, die Geschichte mit der Denunziation nur deshalb ersonnen hatten, um mich einzuschüchtern und mehr Geld von mir zu erpressen. Verstehen Sie?«

»Nikolaj Wsewolodowitsch, Bester, droht mir denn wirklich eine große Gefahr? Ich habe nur auf Sie gewartet, um Sie danach zu fragen.«

Nikolaj Wsewolodowitsch lächelte spöttisch.

»Nach Petersburg wird man Sie natürlich nicht reisen lassen, selbst wenn ich Ihnen das Reisegeld dazu gäbe ... Übrigens ist es Zeit, daß ich zu Maria Timofejewna gehe«, sagte er und erhob sich von seinem Stuhl.

»Nikolaj Wsewolodowitsch, wie ist es denn mit Maria Timofejewna?«

»Es wird alles so werden, wie ich es Ihnen gesagt habe.«

»Ist denn wirklich auch das wahr?«

»Sie glauben mir immer noch nicht?«

»Wollen Sie mich denn wirklich so einfach von sich werfen, wie einen alten abgetragenen Stiefel?«

»Wir wollen sehen«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch lachend. »Nun lassen Sie mich durch.«

»Soll ich nicht lieber auf der Straße stehen, vor der Haustür ... damit ich nicht unversehens etwas mit anhöre ... denn die Zimmerchen sind gar klein.«

»Das ist vernünftig, stellen Sie sich vor die Haustür! Nehmen Sie meinen Schirm.«

»Ihren Schirm ... ist der nicht zu schade für mich?« meinte der Hauptmann mit übertriebener Süßlichkeit.

»Eines Regenschirms ist jeder Mensch wert.«

»Da haben Sie kurz und bündig das Minimum der Menschenrechte festgestellt ...«

Aber er murmelte das jetzt nur noch mechanisch; durch die Mitteilungen Stawrogins war er gar zu sehr niedergedrückt und um den letzten Rest der Fassung gebracht worden. Und doch begann sich in seinem leichtsinnigen und schlauen Kopf, sobald er vor die Tür trat und den Schirm ausspannte, wieder der stets beruhigende Gedanke Bahn zu brechen, daß man ihn zu überlisten suche und ihm etwas vorlüge, so daß, wenn es sich tatsächlich so verhalte, er keine Angst zu haben brauche, denn es wären seine Feinde, die vor ihm Furcht hätten.

»Wenn sie mich hinters Licht führen und überlisten wollen, da möchte ich nur wissen, wo hier eigentlich der Haken steckt« ging es ihm durch den Kopf. Die Bekanntmachung der Ehe erschien ihm als ein kompletter Unsinn. »Bei einem solchen sonderbaren Heiligen ist allerdings alles möglich; er lebt ja nur, um anderen Leuten Schaden zuzufügen. Wie aber, wenn er sich jetzt nach dem Affront vom Sonntag selbst fürchtet, und zwar so, wie noch nie zuvor? Dann ist er wohl hierher gekommen, um zu versichern, daß er alles selbst bekanntgeben wird, aus Furcht, daß ich es sonst tun könnte. Ei, Lebiadkin, schieße ja keinen Bock! Und weshalb kommt er denn nachts und so heimlich, wenn er selbst die Bekanntgabe wünscht? Wenn er sich aber fürchtet, so empfindet er diese Angst erst jetzt, erst seit einigen Tagen, ja, gerade jetzt ... Ei, Lebiadkin, mach keinen Fehltritt! ...«

»Er will mich durch Piotr Stepanowitsch einschüchtern. O weh, das ist gruselig; ganz schlimm ist das; nein, wirklich, da gruselt mich in der Tat! Mußte ich doch zu diesem Liputin schwatzen! Weiß der Teufel, was diese Satanskerle vorhaben, ich bin nie recht klug daraus geworden. Jetzt haben sie sich schon wieder in Bewegung gesetzt und machen sich bemerkbar wie vor fünf Jahren. Es ist wahr: an wen hätte ich sie denunzieren können? ›Haben Sie nicht in Ihrer Dummheit an jemand geschrieben?‹ Hm! Da kann man also unter dem Schein der Dummheit die Sache schriftlich erledigen! Gibt er mir damit vielleicht einen Rat? ›Sie wollen doch nur deshalb nach Petersburg fahren.‹ Ein geriebener Kerl! Mir hat davon kaum geträumt, und er hat schon den Traum erraten! Es ist, als ob er mich selbst zu der Reise veranlassen wollte. Da sind sicherlich zwei Möglichkeiten, entweder die eine oder die andere: entweder fürchtet er wieder einmal für sich selbst, weil er vielleicht einen dummen Streich gemacht hat, oder ... oder er fürchtet gar nichts und will mich nur dazu verleiten, alle anderen den Behörden auszuliefern! O weh, Lebiadkin, es ist eine gruselige Sache; ach, schieße ja nicht vorbei! ...«

Er war so sehr in seine eigenen Gedanken versunken, daß er sogar vergessen hatte zu horchen. Übrigens stellte er gleich fest, daß es auch sehr schwer gewesen wäre; die Tür war sehr dick und bestand nur aus einem Flügel; drinnen aber sprach man sehr leise; es ließen sich nur ganz undeutliche Laute vernehmen. Der Hauptmann spuckte ärgerlich aus und trat nachdenklich wieder hinaus, um vor der Tür zu pfeifen.

3

Das Zimmer Maria Timofejewnas war ungefähr zweimal so groß als dasjenige, in dem Hauptmann Lebiadkin wohnte, und mit ebenso plumpen Möbeln ausgestattet; aber über den Tisch vor dem Sofa war eine schmucke, bunte Tischdecke gebreitet; darauf stand eine brennende Lampe; über dem ganzen Fußboden lag ein schöner Teppich; das Bett war durch einen breiten grünen Vorhang, der sich durch das ganze Zimmer zog, unsichtbar gemacht; am Tisch stand noch ein großer weicher Sessel, den Maria Timofejewna jedoch nicht benutzte. In einer Ecke befand sich, genau so wie in der vorigen Wohnung, ein Heiligenbild mit einem davor brennenden Lämpchen, und auf dem Tisch lagen nebeneinander ganz dieselben unentbehrlichen Gegenstände: ein Spiel Karten, ein Spiegel, ein Liederbuch und sogar eine Semmel. Außerdem bemerkte Stawrogin da noch zwei Bücher mit farbigen Illustrationen; das eine war eine für Jugendliche hergestellte Auswahl von Begebenheiten aus einer populären Reisebeschreibung, das andere enthielt eine Sammlung einfacher, belehrender Erzählungen, zumeist aus der Ritterzeit, und war wohl zu Weihnachtsgeschenken und zum Gebrauch in höheren Töchterschulen bestimmt. Auch ein Album mit verschiedenen Photographien lag neben den Büchern. Maria Timofejewna hatte wohl, wie der Hauptmann vorhin gesagt hatte, auf den Gast gewartet; als aber Nikolaj Wsewolodowitsch ins Zimmer trat, schlief sie gerade, wobei sie sich gegen ein Kissen von Kammgarn lehnte und auf dem Sofa in halb liegender Haltung saß. Der Gast schloß hinter sich geräuschlos die Tür und begann, ohne sich vom Fleck zu rühren, die Schlafende zu betrachten.

Der Hauptmann hatte gelogen, als er erklärte, sie habe Toilette gemacht. Sie war im selben dunklen Kleid, das sie schon am Sonntag bei Warwara Petrowna getragen hatte. Ihr Haar war genau so wie damals zu einem winzigen Knoten zusammengebunden und der lange, magere Hals noch ebenso wie am Sonntag entblößt. Das ihr von Warwara Petrowna geschenkte schwarze Schaltuch lag neben ihr auf dem Sofa, sorgfältig zusammengelegt. Ganz wie damals war sie auch jetzt plump geschminkt. Nikolaj Wsewolodowitsch hatte noch nicht eine volle Minute dagestanden, als sie plötzlich erwachte, wie wenn sie seinen Blick gefühlt hätte, die Augen aufschlug und sich schnell in die Höhe richtete. Aber wahrscheinlich mußte auch im Innern des Gastes etwas Sonderbares vorgegangen sein. Er blieb auf demselben Fleck an der Tür stehen und sah ihr, ohne ein Wort zu sagen und ohne sich zu bewegen, starr und durchdringend gerade ins Gesicht. Vielleicht war sein Blick übermäßig streng, vielleicht prägte sich in ihm ein Widerwille aus, vielleicht sogar ein boshaftes Genießen ihres Schrecks – es ist aber auch möglich, daß alles der soeben erwachten Maria Timofejewna nur einfach so vorgekommen war, jedenfalls zeigte sich auf dem Gesicht der armen Frau nach einem fast minutenlangen Warten plötzlich eine unbeschreibliche Angst: krampfhafte Zuckungen liefen über ihre Züge, zitternd hob sie ihre Arme in die Höhe, und dann begann sie auf einmal zu weinen, wie ein erschrockenes Kind; noch einen Augenblick, und sie hätte aufgeschrien. Aber der Gast kam zu sich; im Nu veränderte sich sein Gesicht, und er trat an den Tisch mit dem freundlichsten und entgegenkommensten Lächeln.

»Verzeihen Sie, Maria Timofejewna, daß ich Sie durch mein unerwartetes Kommen geweckt und erschreckt habe«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.

Der Klang der freundlichen Worte tat seine Wirkung; ihre Angst schwand, obwohl sie ihn immer noch furchtsam betrachtete und allem Anschein nach sich die erdenklichste Mühe gab, irgend etwas zu begreifen. Schüchtern reichte sie ihm die Hand. Endlich erschien ein leises Lächeln auf ihren Lippen.

»Ich grüße Sie, Fürst«, flüsterte sie und sah ihn dabei seltsam an.

»Wahrscheinlich haben Sie einen bösen Traum gehabt?« fuhr er fort, indem er noch freundlicher lächelte als zuvor.

»Woher wissen Sie denn, daß ich davon geträumt habe? ...«

Und plötzlich begann sie von neuem zu zittern, lehnte sich zurück, hob wieder den Arm wie zum Schutz vor sich und schickte sich an, abermals in Tränen auszubrechen.

»Fassen Sie sich doch! Ich bitte Sie! Weshalb fürchten Sie sich denn? Haben Sie mich denn nicht erkannt?« redete ihr Nikolaj Wsewolodowitsch zu, vermochte sie aber diesmal lange nicht zu beruhigen. Sie sah ihn schweigend an, immer noch von derselben qualvollen Ungewißheit und demselben schweren Gedanken gepeinigt, und war immer noch bemüht, irgendeinen Schluß zu ziehen. Bald schlug sie die Augen nieder, bald wieder streifte sie ihn mit einem schnellen, umfassenden Blick. Schließlich hatte sie sich, wenn auch nicht eigentlich beruhigt, so doch gefaßt und gleichsam entschlossen.

»Bitte, setzen Sie sich neben mich, damit ich Sie nachher ansehen kann«, sagte sie in einem ziemlich festen Tone. Es war klar, daß sie irgendeine neue Absicht hatte. »Und jetzt können Sie unbesorgt sein, ich werde Sie jetzt gar nicht ansehen, sondern vielmehr zu Boden blicken. Schauen Sie mich auch nicht eher an, als bis ich Sie selbst darum bitte. Setzen Sie sich doch«, fügte sie nunmehr sogar ungeduldig hinzu.

Eine neue Empfindung schien sich ihrer immer mehr und mehr zu bemächtigen.

Nikolaj Wsewolodowitsch setzte sich hin und wartete; es trat ein ziemlich langes Schweigen ein.

»Hm! Das kommt mir alles so sonderbar vor«, murmelte sie auf einmal, beinah mit Widerwillen. »Allerdings hat mich ein böser Alp bedrückt; wie kommt es aber, daß mir gerade von Ihnen so etwas geträumt hat?«

»Nun, lassen wir die Träume beiseite«, erwiderte er ungeduldig und wendete sich trotz des Verbots zu ihr. Es ist sogar möglich, daß sich der frühere unangenehme Ausdruck für einen Augenblick wieder in seinen Augen zeigte. Er sah, daß sie wiederholt Lust hatte, sogar sehr große Lust, ihn anzusehen, sich aber hartnäckig dagegen sträubte und nach unten schaute.

»Hören Sie, Fürst,« begann sie plötzlich mit erhobener Stimme, »hören Sie, Fürst ...«

»Weshalb haben Sie sich abgewandt? Warum sehen Sie mich nicht an? Wozu diese Komödie?« rief er laut, da er sich nicht mehr beherrschen konnte.

Aber sie schien ihn gar nicht zu hören.

»Hören Sie, Fürst«, wiederholte sie zum drittenmal mit fester Stimme, wobei ihr Gesicht einen unangenehmen, geschäftigen Ausdruck annahm. »Als Sie mir damals im Wagen erklärten, daß unsere Ehe öffentlich bekanntgegeben werden soll, da geriet ich sogleich in eine große Angst davor, daß das Geheimnis zu Ende sein würde. Jetzt weiß ich schon gar nicht mehr, wie das werden soll. Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht und sehe klar, daß ich gar nicht dazu tauge. Ich werde mich wohl putzen können und vielleicht auch Gäste zu empfangen verstehen. Das ist, weiß Gott, kein großes Kunststück, zu einer Tasse Tee einzuladen, namentlich wenn man Diener hat. Aber mit welchen Augen wird man mich trotzdem in dieser Gesellschaft betrachten?! Ich habe damals, am Sonntag vormittag, vieles in jenem Hause wahrgenommen. Dieses hübsche Fräulein hat mich die ganze Zeit über mit ihren Blicken verfolgt, besonders nachdem Sie eingetreten waren. Sie waren es doch, der damals in den Salon hineinkam? Die Mutter dieses Fräuleins ist einfach eine komische alte Weltdame. Auch mein Lebiadkin hat sich da hervorgetan; ich habe immer nach der Decke geguckt, um ja nicht laut loszulachen; sie ist sehr schön gemalt, diese Decke. Was seine Mutter anbetrifft, so würde sie als Äbtissin wohl am besten ihren Platz ausfüllen; ich fürchte mich vor ihr, obwohl sie mir ein schwarzes Schaltuch geschenkt hat. Wahrscheinlich haben sich alle Anwesenden von mir eine ganz falsche Vorstellung gebildet; ich nehme es ihnen nicht übel; aber damals saß ich die ganze Zeit da und dachte: Was bin ich ihnen auch für eine Verwandte? Natürlich verlangt man von einer Gräfin nur geistige Qualitäten – für die wirtschaftlichen sind ihr ja eine Menge von Dienern beigegeben – und außerdem noch eine gewisse gesellschaftliche Koketterie, um in der Lage zu sein, in gewandter Weise ausländische Reisende zu empfangen. Immerhin aber sahen sie mich alle an jenem Sonntag mit ganz hoffnungslosen Mienen an. Nur Dascha ist ein Engel. Ich fürchte sehr, sie könnten ›ihn‹ durch irgendein unvorsichtiges Urteil über mich betrüben.«

»Fürchten Sie es nicht, und beunruhigen Sie sich nicht«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch und verzog den Mund.

»Übrigens macht mir das nichts aus, wenn er sich meinetwegen auch ein bißchen schämt; so, wie ich diesen Menschen kenne, wird es bei ihm doch immer mehr ums Mitleid gehen als um die Scham. Denn er weiß ja, daß eher ich Anlaß hätte diese Damen zu bemitleiden, als sie mich.«

»Es scheint mir, daß Sie sich über diese Damen sehr geärgert haben, Maria Timofejewna?«

»Wer? Ich? Nein«, erwiderte sie mit einem einfältigen Lächeln. »Nein, keineswegs, ich habe mir damals die ganze Gesellschaft angesehen. Alle habt ihr euch geärgert, alle habt ihr euch verzankt! Wenn ihr einmal zusammenkommt, da versteht ihr nicht einmal, so recht von Herzen zu lachen. Soviel Reichtum und so wenig Frohsinn! Das war mir alles so widerwärtig! Übrigens bedauere ich jetzt niemanden mehr außer mir selbst.«

»Ich habe gehört, daß Sie in meiner Abwesenheit mit Ihrem Bruder viel Schweres durchgemacht haben?«

»Wer hat Ihnen das gesagt? Unsinn! Jetzt habe ich es weit schlimmer; jetzt quälen mich böse Träume, und meine Träume wurden schlecht, weil Sie gekommen sind. Ich möchte nur wissen, weshalb Sie eigentlich aufgetaucht sind?«

»Möchten Sie nicht wieder ins Kloster?«

»Na, das habe ich doch geahnt, daß man mir wieder das Kloster vorschlagen wird! Auch ein Wunderding, euer Kloster! Weshalb soll ich denn dahingehen, aus welchem Grunde? Jetzt bin ich doch mutterseelenallein! Es ist zu spät für mich, ein drittes Leben zu beginnen.«

»Sie scheinen sich im übrigen doch über etwas sehr zu ärgern; befürchten Sie vielleicht, daß ich Sie nicht mehr liebe?«

»Um Sie kümmere ich mich überhaupt nicht. Ich fürchte eher, daß meine Liebe zu jemandem erlöschen kann.« Sie lächelte geringschätzig.

»Wahrscheinlich habe ich mir ›ihm‹ gegenüber irgend etwas Großes zuschulden kommen lassen«, fügte sie plötzlich wie für sich hinzu. »Nur daß ich eben nicht weiß, worin meine Schuld besteht, und gerade das ist mein Unglück für alle Zeiten. Immer und immer während dieser ganzen fünf Jahre habe ich Tag und Nacht gefürchtet, daß ich mir ›ihm‹ gegenüber etwas zuschulden kommen ließ. Ich betete, betete oft und dachte dabei immer an dieses mein großes Verschulden. Und nun hat es sich herausgestellt, daß ich recht hatte.«

»Was hat sich denn herausgestellt?«

»Ich fürchte nur, daß hier etwas von ›seiner‹ Seite vorliegt«, fuhr sie fort, ohne auf die Frage zu antworten, da sie diese wahrscheinlich überhaupt nicht gehört hatte. »Und wiederum denke ich mir, daß ›er‹ doch kaum mit solchen Menschlein übereinstimmt. Die Gräfin hätte mich wohl am liebsten bei lebendigem Leibe aufgefressen, obwohl sie mich zu sich in ihren Wagen genommen hat. Sie haben sich alle gegen mich verschworen. Ist es denn möglich, daß auch ›er‹ mit dabei ist? Hat denn auch ›er‹ mich verraten?« rief sie, und ihr Kinn und ihre Lippen begannen zu beben. »Hören Sie, haben Sie von Grischka Otrepjew, dem falschen Demetrius, gelesen, der in sieben Kathedralen mit dem Bannfluch belegt worden ist?«

Nikolaj Wsewolodowitsch gab darauf keine Antwort.

»Übrigens werde ich mich jetzt zu Ihnen wenden und Sie ansehen«, sagte sie, wie wenn sie sich plötzlich entschlossen hätte. »Wenden Sie sich auch zu mir und sehen Sie mich an, aber recht aufmerksam. Ich will mich zum letztenmal vergewissern.«

»Ich sehe Sie schon lange an.«

»Hm,« sagte Maria Timofejewna, indem sie ihn eingehend musterte, »Sie sind sehr dick geworden.«

Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber plötzlich verzerrte die frühere Angst zum drittenmal im Nu ihre Züge; sie wankte zurück und hob wie neulich den Arm vor sich in die Höhe.

»Was haben Sie denn eigentlich?« rief Nikolaj Wsewolodowitsch fast wütend.

Aber ihr Schreck hatte nur einen Augenblick gedauert; nun verzog sich ihr Gesicht zu einem seltsamen, argwöhnischen und unangenehmen Lächeln.

»Ich bitte Sie, Fürst, stehen Sie auf und treten Sie ein!« sagte sie auf einmal fest und nachdrücklich.

»Wie meinen Sie das? Wo soll ich eintreten?«

»Ich habe mir diese ganzen fünf Jahre lang immer wieder und wieder vorgestellt, wie ›er‹ eintreten wird. Stehen Sie sofort auf und gehen Sie hinter die Tür in jenes Zimmer. Ich werde dasitzen, wie wenn ich nichts erwartete; ich will sogar ein Buch in die Hand nehmen; und dann müssen Sie plötzlich nach fünfjähriger Wanderfahrt eintreten. Ich will sehen, wie sich das ausmachen wird.«

Nikolaj Wsewolodowitsch knirschte leise mit den Zähnen und murmelte etwas Unverständliches.

»Genug«, sagte er und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Jetzt bitte ich Sie, Maria Timofejewna, mich anzuhören. Tun Sie mir den Gefallen und nehmen Sie, so gut es geht, Ihre ganze Aufmerksamkeit zusammen. Sie sind ja doch noch nicht ganz verrückt!« entfuhr es ihm in seiner Ungeduld. »Morgen werde ich unsere Ehe bekanntgeben. Sie werden niemals in Palästen wohnen, daran brauchen Sie gar nicht zu denken. Wollen Sie mit mir Ihr ganzes Leben verbringen, aber sehr weit von hier? Im Gebirge, in der Schweiz ist so ein Ort ... Seien Sie unbesorgt, ich werde sie nie verlassen und werde Sie nie in ein Irrenhaus bringen. Mein Geld reicht aus, um davon leben zu können, ohne andere Leute um etwas bitten zu müssen. Sie werden eine Magd haben; Sie werden keine Arbeit zu verrichten brauchen. Jeden Ihrer Wünsche, dessen Erfüllung möglich ist, werde ich erfüllen. Sie sollen beten können und gehen, wohin es Ihnen beliebt, und tun, was Ihnen beliebt. Ich will Sie vollkommen unbehelligt lassen. Ich werde mich von jenem Ort ebenfalls mein ganzes Leben lang nicht rühren. Wenn Sie wollen, werde ich immerzu mit Ihnen reden, wenn Sie wollen, können Sie mir jeden Abend, wie damals in Petersburg in den elenden Winkeln, Ihre Geschichten erzählen. Ich werde Ihnen Bücher vorlesen, wenn Sie es wünschen. Aber dafür müssen Sie Ihr ganzes Leben lang an diesem einen Orte bleiben, und es ist kein heiterer Ort. Wollen Sie? Können Sie sich dazu entschließen? Werden Sie es nachher nicht bereuen und mich mit Ihren Tränen und Verwünschungen peinigen?«

Sie hatte mit großem Interesse zugehört; nachdem er zu Ende gesprochen hatte, schwieg sie eine lange Weile und dachte nach.

»Das kommt mir alles so unwahrscheinlich vor«, erklärte sie endlich spöttisch und verächtlich. »Auf diese Weise kann es geschehen, daß ich am Ende vierzig Jahre dort im Gebirge verbringen werde.« Sie lachte auf.

»Was ist denn dabei? Wenn es nicht anders ist, werden wir dort eben auch vierzig Jahre leben«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch mit einem sehr finsterem Gesicht.

»Hm! Ich fahre um keinen Preis dahin!«

»Selbst mit mir nicht?«

»Was sind Sie denn für ein großartiger Herr, daß ich ein Verlangen haben soll mit Ihnen mitzureisen? Da soll ich vierzig Jahre hintereinander mit ihm auf einem Berg sitzen! Auch eine Zumutung! Und hör' nur einer, was es jetzt mit einemmal für geduldige Menschen geben soll! Nein, das ist nicht möglich, daß ein Falke zum Uhu wird. Mein Fürst ist von ganz anderer Art!« rief sie stolz und hob feierlich den Kopf.

Mit einemmal schien ihm ein Licht aufzugehen.

»Weshalb nennen Sie mich Fürst, und ... für wen halten Sie mich?« fragte er hastig.

»Wieso? Sind Sie denn kein Fürst?«

»Das bin ich nie gewesen.«

»Also gestehen Sie mir das ganz von selbst, ganz von selbst und so gerade ins Gesicht, daß Sie kein Fürst sind?«

»Ich sage ja: Ich bin es nie gewesen.«

»Mein Gott!« rief sie und schlug die Hände zusammen. »Alles habe ich – von ›seinen‹ Feinden erwartet, aber eine solche Dreistigkeit niemals. Lebt ›er‹ noch?!« schrie sie wie rasend auf, indem sie sich zu Nikolaj Wsewolodowitsch vorbeugte. »Hast du ihn getötet oder nicht? Bekenne!«

»Für wen hältst du mich denn?« rief er und sprang mit entstelltem Gesicht auf; aber nun war es schon nicht mehr leicht, sie zu erschrecken. Sie triumphierte.

»Weiß ich denn, wer du bist, und woher du hereingeschneit kommst? Aber mein Herz, mein Herz ahnte es! Die ganzen fünf Jahre lang hat es die Ränke geahnt! Und ich sitze hier und wundere mich: Was für eine blinde Eule ist denn da angekommen? Nein, mein lieber Mann, du bist ein schlechter Schauspieler, noch ein schlechterer sogar als Lebiadkin. Verbeuge dich für mich vor der Gräfin, aber tief, begrüße sie und bestelle ihr, sie soll einen gewandteren Menschen als dich herschicken. Sie hat dich wohl gedungen, wie? Rede! Du bist wohl aus Gnade und Barmherzigkeit bei ihr in der Küche angestellt? Ich durchschaue euren Betrug durch und durch! Ich verstehe euch alle, alle ohne Ausnahme!«

Er packte sie fest am Arm oberhalb des Ellbogens; sie lachte ihm gerade ins Gesicht.

»Ähnlich bist du ›ihm‹, sehr ähnlich sogar; vielleicht bist du auch ein Verwandter von ihm ... Schlau seid ihr! Aber mein Mann ist ein kühner Falke und ein Fürst, du aber bist ein Waldkauz und ein elender Krämer! Mein Mann verbeugt sich selbst vor Gott nur dann, wenn er will, dich aber hat Schatuschka, der liebe, gute Kerl, geohrfeigt! Mein Lebiadkin hat es mir erzählt. Und wovor hast du damals so einen Schreck gekriegt, als du hereinkamst? Wer hat dich denn in so große Angst versetzt? Als du mich damals auffingst, da ich strauchelte, und ich in dein gemeines Gesicht blickte, da war es mir, als wenn sich ein Wurm in mein Herz eingeschlichen hätte: ›er‹ ist es nicht, dachte ich, ›er‹ ist es nicht! Mein Falke hätte sich vor jenem Salonfräulein meiner nicht geschämt! O Gott! Ich war schon allein dadurch diese ganzen fünf Jahre lang glücklich, daß ich wußte, daß mein Falke dort irgendwo hinter den Bergen lebt und umherfliegt und in die Sonne blickt ... Sprich, du Betrüger, hast du viel Geld bekommen? Hast du dich für großes Geld zu dieser Rolle bereit erklärt? Ich hätte dir nicht einen einzigen Groschen gegeben! Hahaha! Hahaha! ...«

»Ah! Du Idiotin!« rief Nikolaj Wsewolodowitsch zähneknirschend, wobei er sie immer noch fest am Arm hielt.

»Fort, du Betrüger!« schrie sie ihn befehlend an. »Ich bin die Frau meines Fürsten und fürchte mich nicht vor deinem Messer!«

»Vor meinem Messer?«

»Jawohl, vor deinem Messer! Du hast ein Messer in der Tasche. Du glaubtest, ich schliefe, aber ich habe es gesehen: als du vorhin hereinkamst, holtest du ein Messer hervor!«

»Was hast du gesagt, du Unglückliche? Was für Träume hast du gehabt?« heulte er förmlich auf und stieß sie aus voller Kraft von sich, so daß sie mit den Schultern und mit dem Kopf recht schmerzhaft gegen das Sofa stieß.

Dann stürzte er hinaus; aber sie sprang sofort auf und eilte ihm hinkend und hüpfend nach. Und schon von der Haustür aus, wo sie der erschrockene Lebiadkin mit Gewalt festgehalten hatte, rief sie dem Davoneilenden kreischend und aus vollem Halse lachend in die Dunkelheit nach:

»Grischka Ot–re–pjew, A–na–the–ma!«

4

»Ein Messer, ein Messer!« wiederholte er in einer unstillbaren Anwandlung von Zorn, indem er, ohne auf den Weg zu achten, mit großen Schritten durch die Pfützen und durch den Schmutz davonging. Allerdings hatte er von Zeit zu Zeit die größte Lust, laut und ganz wild aufzulachen; aber aus irgendeinem Grunde beherrschte er sich und unterdrückte diese Regung. Ganz zur Besinnung kam er erst auf der Brücke, genau an derselben Stelle, wo ihm auf dem Hinweg Fedka begegnet war; derselbe Fedka erwartete ihn auch jetzt wieder dort, zog, sobald er ihn erblickte, die Mütze, grinste fröhlich und begann sofort, flott und munter etwas zu schwatzen. Nikolaj Wsewolodowitsch ging anfangs an ihm vorbei und hörte eine Weile lang sogar überhaupt nichts von dem, was ihm der Landstreicher erzählte. Plötzlich überraschte ihn aber der Gedanke, daß er diesen Menschen vollständig vergessen hatte, und zwar gerade in der Zeit, da er selbst die Worte »ein Messer, ein Messer« vor sich hinsagte. Er packte den Landstreicher beim Kragen und warf ihn mit all dem Ingrimm, der sich in ihm angesammelt hatte, aus Leibeskräften gegen die Brückenplanken. Einen Augenblick dachte Fedka daran, sich zu verteidigen und mit dem Gegner zu ringen, begriff aber sofort, daß er diesem gegenüber, zumal bei einem so unerwarteten Angriff, nur etwa die Rolle eines Strohhalms spielen würde. Er nahm sich daher zusammen, verhielt sich ruhig und leistete überhaupt keinen Widerstand. Kniend, zu Boden niedergedrückt, mit auf den Rücken zurückgezwängten Ellbogen wartete der schlaue Landstreicher auf den Abschluß der Episode und glaubte offenbar durchaus nicht an das Vorhandensein einer wirklichen Gefahr.

Er hatte sich nicht geirrt. Nikolaj Wsewolodowitsch hatte allerdings bereits mit der linken Hand sein warmes Halstuch heruntergenommen, um seinem Gefangenen damit die Hände zu binden; auf einmal aber ließ er ihn aus irgendeinem Grunde los und stieß ihn von sich. Fedka sprang im Nu auf die Füße, drehte sich um und ein kurzes, breites Schustermesser, das plötzlich irgendwoher auftauchte, blitzte in seiner Hand auf.

»Weg mit dem Messer! Fort damit! Steck es sofort ein!« befahl Nikolaj Wsewolodowitsch mit einer ungeduldigen Handbewegung, und das Messer verschwand ebenso schnell, wie es aufgetaucht war.

Nikolaj Wsewolodowitsch setzte schweigend und ohne sich umzudrehen seinen früheren Weg fort, aber der hartnäckige Taugenichts ließ dennoch nicht von ihm ab, obwohl er jetzt auch nicht mehr schwatzte und ehrerbietig einen Abstand von einem ganzen Schritt innehielt. Die beiden passierten auf diese Weise die Brücke und traten auf das Ufer, worauf sie nach links einbogen, in eine ebenfalls lange und öde Gasse, durch die man aber schneller zum Zentrum der Stadt gelangen konnte als auf dem Wege, den Nikolaj Wsewolodowitsch früher von der Bogojawlenskaja aus eingeschlagen hatte.

»Man sagt, du hättest dieser Tage irgendwo hier im Kreise eine Kirche ausgeraubt. Ist das wahr?« fragte plötzlich Nikolaj Wsewolodowitsch.

»Ich ging eigentlich nur hinein, um zu beten«, erwiderte der Landstreicher höflich und gemessen, wie wenn überhaupt nichts vorgefallen wäre (und »gemessen« ist auch noch eigentlich nicht der richtige Ausdruck, denn er sprach jetzt fast mit einer gewissen Würde). Von der früheren »freundschaftlichen« Familiarität war keine Spur mehr übrig. Fedka gab sich als ein ernster und tüchtiger Mensch, den man zwar grundlos gekränkt hatte, der sich aber darauf verstand, selbst eine Beleidigung zu vergessen. – »Als mich aber der liebe Gott da hineingeführt hatte,« fuhr er fort, »da dachte ich mir: das ist ein Segen des Himmels! Nur meiner Armut zufolge ist diese Sache geschehen, denn bei meinem Schicksal geht es nun einmal nicht ohne Unterstützung. Und glauben Sie mir, gnädiger Herr, bei Gott: ich habe beinah Schaden dabei gehabt, Gott hat mich für meine Sünden bestraft! Denken Sie sich nur: für die Bauchbinde und den Schlenkertopf und das andere habe ich nur zwölf Rubelchen bekommen. Den Kinnriemen des heiligen Nikolaus, des Knechts Gottes, aus purem Silber habe ich umsonst dazu geben müssen: er sei similiert, sagte man mir.«

»Du hast den Wächter umgebracht?«

»Das heißt, wir hatten mit diesem Wächter eigentlich beide zusammengearbeitet, aber dann am Morgen sind wir bei dem Flüßchen in einen Streit geraten darüber, wer den Sack tragen soll. Da habe ich mich versündigt und ihn ein wenig erleichtert.«

»Morde weiter, stiehl noch mehr.«

»Genau dasselbe sagt mir auch Piotr Stepanowitsch, sogar mit denselben Worten, weil er hinsichtlich der Unterstützung eines Menschen sehr geizig und hartherzig ist. Abgesehen davon, daß er nicht für einen Groschen Glauben an den himmlischen Schöpfer besitzt, der uns aus Erdenstaub erschaffen hat, sondern behauptet, daß uns alle bis zum geringsten Tiere hinab die Natur hervorgebracht hat, abgesehen davon, sage ich, hat er gar kein Verständnis dafür, daß unsereiner bei dem nun einmal aufgenommenen Schicksal ohne eine wohltätige Unterstützung schlechterdings überhaupt nicht existieren kann. Wenn man ihm das auseinandersetzen will, sieht er einen an wie der Hammel das Wasser, so daß man sich über ihn nur wundern kann. Glauben Sie wohl: bei dem Hauptmann Lebiadkin, den Sie soeben besucht haben, stand mitunter die ganze Nacht über die Tür offen, als er noch vor Ihrer Ankunft in dem Filippowschen Hause wohnte! Er selbst schlief sternhagelvoll betrunken, und das Geld fiel ihm aus allen Taschen auf den Fußboden heraus. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, denn bei meinen Einnahmen ist es ganz unmöglich zu leben, wenn ich keine Unterstützung habe ...«

»Wieso mit deinen eigenen Augen? Bist du denn nachts in seiner Wohnung gewesen?«

»Vielleicht bin ich auch dahingegangen; nur weiß es eben kein Mensch.«

»Warum hast du ihn denn nicht ermordet?«

»Ich habe mir das ausgerechnet, überlegt und mich daraufhin zusammengenommen. Denn da ich einmal sicher erfuhr, daß ich mir hundertundfünfzig Rubel immer holen könnte, wollte ich mich doch nicht jetzt auf die Sache einlassen, da ich mit Bestimmtheit weiß, daß ich, wenn ich nur ein bißchen warte, ganze fünfzehnhundert Rubel bekommen kann? Denn der Hauptmann Lebiadkin hoffte immer stark auf Sie. In seiner Trunkenheit sprach er davon, und es gibt hier kein Restaurant und keine Schenke, wo er das in diesem Zustand nicht getan hätte. Auch ich habe das mit meinen eigenen Ohren von ihm selbst gehört. Da ich also soviel Gutes über Sie aus dem Munde so vieler vernahm, begann auch ich meine ganze Hoffnung auf Euer Erlaucht zu setzen. Ich spreche zu Ihnen ganz offen, gnädiger Herr, wie zu meinem leiblichen Vater oder Bruder, und Piotr Stepanowitsch wird nie etwas davon von mir erfahren, wie auch sonst keine Menschenseele. Werden Sie mir also die drei Rubel schenken oder nicht, Erlaucht? Entscheiden Sie, gnädiger Herr, und geben Sie mir endgültigen Bescheid, damit ich die volle Wahrheit weiß, denn ohne Unterstützung kann unsereiner gar nicht leben.«

Nikolaj Wsewolodowitsch lachte laut auf, holte aus der Tasche seinen Geldbeutel, in dem sich etwa fünfzig Rubel in kleinen Scheinen befanden, und warf dem Landstreicher zuerst eine Banknote aus dem Päckchen hin, dann eine zweite, eine dritte, eine vierte. Fedka fing sie im Fluge auf, sprang hin und her, die Scheine fielen in den Schmutz, Fedka holte sie heraus und rief dabei bedauernd: »Ei, ei!« Nikolaj Wsewolodowitsch warf ihm schließlich das ganze Päckchen zu und ging dann, immer noch lachend, nunmehr aber allein, die Gasse entlang. Der Landstreicher blieb zurück und suchte, auf den Knien im Schmutz herumrutschend, die vom Wind auseinandergetriebenen und in den Pfützen versunkenen Banknoten, und noch eine ganze Stunde lang konnte man in der Dunkelheit hören, wie er abgebrochen und bedauernd »Ei, ei!« rief.


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