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Erster Teil

 

Erstes Kapitel

Statt einer Einleitung: Einige Einzelheiten aus der Lebensgeschichte des hochgeschätzten Stepan Trofimowitsch Werchowenskij

1

Indem ich die Schilderung der so merkwürdigen Ereignisse in Angriff nehme, die sich vor kurzem noch in unserer, bis dahin durch nichts ausgezeichneten Stadt zugetragen haben, sehe ich mich, meiner Unerfahrenheit in derlei Dingen zufolge, gezwungen, etwas weiter auszuholen, und beginne mit der Wiedergabe einiger Einzelheiten aus dem Leben des talentvollen und hochbegabten Stepan Trofimowitsch Werchowenskij. Diese Angaben sollen nur eine Einleitung zu dem in Aussicht genommenen Zeitgemälde sein, die Geschichte selbst aber, die ich zu erzählen beabsichtige, wird erst nachfolgen.

Ich will es ohne Umschweife sagen: Stepan Trofimowitsch hatte unter uns stets eine gewisse besondere und sozusagen staatsbürgerliche, politische Rolle gespielt und liebte sie so sehr, daß er ohne sie, wie mir scheint, gar nicht hätte leben können. Nicht etwa, daß ich ihn hier mit einem Schauspieler im Theater vergleichen möchte: Gott bewahre! Das wäre mir um so weniger eingefallen, als ich ihn selbst sehr hoch achte. Es mochte sich bei ihm dabei lediglich um eine Gewohnheit handeln oder, besser gesagt, um eine Folge einer steten, ununterbrochenen, schon aus der Jugend herrührenden edlen Neigung, sich angenehmen Träumereien über seine schöne politische Position hinzugeben. So hatte er zum Beispiel seine Lage eines »Verfolgten« und, sozusagen, »Verbannten« ungemein liebgewonnen. In diesen beiden Worten liegt ein eigenartiger, klassischer Glanz, dem er ein für allemal verfallen war, der ihn dann allmählich im Laufe vieler Jahre in seiner eigenen Meinung beständig gehoben und ihn schließlich auf ein gewisses, sehr hohes und seiner Eigenliebe schmeichelndes Piedestal gestellt hatte. Ein satirischer englischer Roman des vorigen Jahrhunderts schildert, wie ein gewisser Gulliver aus dem Lande der Liliputaner zurückkehrt, wo die Menschen nur einige Zoll groß waren. Und es wird erzählt, daß dieser Gulliver sich dort dermaßen daran gewöhnt hatte, sich für einen Riesen zu halten, daß er auch nach seiner Heimkehr, wenn er in den Straßen Londons umherging, ganz unwillkürlich den Vorübergehenden und den Wagenlenkern zurief, sie möchten sich in acht nehmen und vor ihm ausweichen, damit er sie nicht zertrete. Er bildete sich nämlich immer noch ein, er sei ein Riese unter Zwergen. Man lachte ihn deshalb aus, man beschimpfte ihn, und die groben Kutscher schlugen ihn sogar mit den Peitschen. War das aber gerecht? Was kann die Gewohnheit mit einem Menschen nicht alles machen? Und gerade die Gewohnheit war es, die auch Stepan Trofimowitsch zu einem sehr ähnlichen Benehmen verleitet hatte, das allerdings noch unschuldigere und harmlosere Formen hatte als bei Gulliver, denn er war wirklich ein ganz prächtiger Mensch.

Wenn ich auch annehme, daß ihn schließlich, mit der Zeit, alle und überall vergessen haben, so kann doch keineswegs gesagt werden, daß er auch früher ganz unbekannt gewesen war. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß auch er eine gewisse Zeitlang der berühmten Reihe der vielgenannten Männer unserer vorigen Generation angehört hatte und daß während einer kurzen – allerdings sehr, sehr kurzen Spanne Zeit sein Name von vielen, die sich damals beeilten, so rasch wie möglich zu leben und zu erleben, beinah in einer Reihe mit den Namen Tschaadajews, Belinskijs, Granowskijs und des damals seine Tätigkeit im Ausland erst beginnenden Herzen genannt wurde. Aber die Mitarbeit Stepan Trofimowitschs endete fast im selben Augenblick, in dem sie begonnen hatte, und zwar sozusagen infolge eines »Wirbelsturms der ineinandergreifenden Umstände«. Nun aber stellt sich heraus, daß es damals nicht nur keinen »Wirbelsturm«, sondern auch nicht einmal irgendwelche »Umstände« gegeben hat, wenigstens nicht in seinem Fall. Erst dieser Tage habe ich zu meinem größten Erstaunen, aber mit völliger Bestimmtheit erfahren, daß Stepan Trofimowitsch hier in unserem Gouvernement keineswegs als Verbannter lebte, wie man bei uns im allgemeinen annahm, und daß er nicht einmal irgendwann unter Aufsicht gestanden hat. Wie groß muß wohl also seine eigene Einbildungskraft gewesen sein! Sein ganzes Leben lang glaubte er aufrichtig, daß man sich in gewissen höheren Kreisen stets vor ihm fürchtete, daß alle seine Schritte fortwährend kontrolliert und ihm auf sein Schuldkonto geschrieben würden, und daß jeder der drei Gouverneure, die in den letzten zwanzig Jahren das Regiment in unserem Gouvernement geführt hatten, schon bei der Übernahme der Geschäfte, bei seiner Ankunft bereits eine gewisse vorgefaßte, besorgte Meinung über ihn hatte, die ihm von oben her schon bei seiner Ernennung eingeflößt würde. Hätte jemand den überaus ehrlichen Stepan Trofimowitsch damals durch unwiderlegliche Beweise davon zu überzeugen versucht, daß für ihn überhaupt kein Grund zu Befürchtungen vorliege, so wäre er sicherlich sehr gekränkt gewesen. Und dabei war er ein überaus kluger und begabter Mensch, sogar sozusagen ein Mann der Wissenschaft, obwohl er übrigens in der Wissenschaft ... Na, kurz gesagt, auf diesem Gebiete hatte er nicht so viel oder, glaube ich, sogar überhaupt nichts geleistet. Aber das ist in unserem Rußland bei Männern der Wissenschaft gang und gäbe.

Er kehrte aus dem Ausland zurück und versuchte sich Ausgangs der vierziger Jahre als Lektor an einer Universität. Aber es gelang ihm nur, einige wenige Vorlesungen abzuhalten, und zwar, wenn ich nicht irre, über die Araber; auch hatte er noch Zeit gefunden zur Verteidigung einer glänzenden Dissertation über die seinerzeit im Entstehen begriffene politische und hanseatische Bedeutung des deutschen Städtchens Hanau in der Zeit zwischen 1413 und 1428, sowohl als auch über die besonderen und nicht ganz klaren Ursachen, denen zufolge diese Entwicklung dennoch zu keinem Ergebnis geführt hatte. Diese Dissertation verletzte geschickt und schmerzhaft die damaligen Slawophilen und verschaffte ihm unter ihnen mit einemmal zahlreiche und erbitterte Feinde. Dann – übrigens bereits nachdem er seinen Lehrstuhl wieder verloren hatte – veröffentlichte er in einer liberalen Monatsschrift, die auch Übersetzungen der Werke von Dickens brachte und sich mit der Verbreitung der Ideen der George Sand befaßte, den Anfang einer außerordentlich tiefsinnigen Untersuchung. Diese behandelte, soviel ich weiß, die Ursachen des ungewöhnlich hohen sittlichen Adels irgendwelcher Ritter in irgendeinem Zeitabschnitt der Weltgeschichte oder ein ähnliches Thema, und er schrieb sie, um seinen slawophilen Feinden zu beweisen, was für einen Mann sie an ihm verloren hätten, und um sich gewissermaßen zu rächen. Jedenfalls war seiner Abhandlung irgendein sehr hoher und ungemein edler Gedanke zugrunde gelegt. Man erzählte sich später, daß die Fortsetzung dieser Untersuchung schleunigst verboten wurde, und daß selbst die fortschrittliche Monatsschrift für die Drucklegung der ersten Hälfte gemaßregelt worden sei. Das ist durchaus möglich, denn was wurde zu jener Zeit nicht alles angestellt! Ich bin aber geneigt anzunehmen, daß im vorliegenden Falle überhaupt nichts Derartiges geschah, und daß der Herr Verfasser einfach selbst zu faul gewesen war, seine Untersuchung zu Ende zu führen. Seine Vorlesungen über die Araber aber soll er abgebrochen haben, weil irgend jemand, anscheinend einer seiner reaktionären Feinde, irgendwie einen Brief von ihm abgefangen hatte, der an irgendeinen Dritten adressiert war. In diesem Schreiben schilderte Stepan Trofimowitsch irgendwelche »Umstände«, was zur Folge hatte, daß man von ihm gewisse Erklärungen verlangte. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber es wurde doch behauptet, daß zur gleichen Zeit in Petersburg eine gewaltige gesetzwidrige und staatsfeindliche Vereinigung entdeckt worden war, die aus dreißig Mitgliedern bestand und beinah den Staat in seinen Grundlagen erschüttert hätte. Man sagte, die Verschwörer sollten sogar vorgehabt haben, die Schriften des französischen Sozialisten Fourier zu übersetzen. Wie wenn das Schicksal sich gegen Stepan Trofimowitsch verschworen hätte, fügte es sich so, daß gerade in dieser Zeit in Moskau auch eine Dichtung Stepan Trofimowitschs gefunden und beschlagnahmt wurde, die er schon vor sechs Jahren als ganz junger Mensch in Berlin geschrieben, und die zwei Literaturfreunde und ein Student in Abschriften verbreitet hatten. Diese Dichtung liegt jetzt vor mir auf meinem Schreibtisch; ich habe sie erst im vorigen Jahr in einer eigenhändigen neuen Abschrift von Stepan Trofimowitsch selbst erhalten. Sie ist prächtig in rotes Saffianleder gebunden und trägt seine eigenhändige Unterschrift. Übrigens ist sie nicht ohne poetische Qualitäten, man kann von ihr sogar auf ein gewisses Talent des Verfassers schließen, und wenn sie auch etwas seltsam ist, so muß man berücksichtigen, daß zu jener Zeit, das heißt, genauer gesagt, in den dreißiger Jahren des XIX. Jahrhunderts, viel Derartiges geschrieben wurde. Den Inhalt vermag ich aber nicht wiederzugeben, weil ich, offen gestanden, nichts von ihm verstehe. Das Ganze ist eine Art von Allegorie in lyrisch-dramatischer Form und erinnert an den zweiten Teil des »Faust«. Das Spiel beginnt mit dem Gesang eines Frauenchors. Dann singen Männer, darauf ein Chor irgendwelcher Mächte und schließlich noch ein Chor von Seelen, die noch nicht gelebt haben, aber sehr gerne leben möchten. Alle diese Chöre singen über etwas außerordentlich Unbestimmtes, meistenteils über irgend jemandes Fluch, aber mit einem Anstrich erhabensten Humors. Plötzlich ändert sich jedoch die Szene, und es beginnt etwas wie ein »Fest des Lebens«, bei dem sogar Insekten mitsingen. Es erscheint da auch eine Schildkröte mit seltsamen lateinischen sakramentalen Worten, und es singt dabei, wenn ich nicht irre, irgendein Mineral, das heißt, ein ganz und gar lebloser Gegenstand. Im großen ganzen wird überhaupt ohne Unterbrechung gesungen, wenn aber die »Personen« einmal sprechen, so beschimpfen sie sich nur gegenseitig, allerdings in einer unbestimmten und unverständlichen Weise, aber wieder mit einem Beiklang höchster Bedeutsamkeit. Zum Schluß verwandelt sich die Szenerie wieder, und man sieht auf der Bühne eine wilde Gegend. Zwischen Felsen wandert ein zivilisierter junger Mann umher, der irgendwelche Kräuter ausreißt und an ihnen saugt. Auf die Frage der Fee aber, weshalb er das tue, antwortet er, daß er unter einer Überfülle von Lebenskräften leide, Vergessenheit suche und sie im Safte dieser Kräuter finde, daß aber sein größter Wunsch darin liege, möglichst bald den Verstand zu verlieren (ein Wunsch, mit dem er sich vielleicht überhaupt nicht herumzutragen braucht). Dann erscheint plötzlich auf einem schwarzen Rosse ein Jüngling, dessen Schönheit sich gar nicht beschreiben läßt, und ihm folgt eine schreckliche Menge aller möglichen Völker. Der Jüngling stellt den Tod dar, und alle Menschen gehen ihm nach, weil sie nach ihm dürsten. Und endlich, im allerletzten Bühnenbild, sieht man auf einmal den Turm von Babel, und irgendwelche Athleten führen den Bau zu Ende, wobei sie ein Lied von neuer Hoffnung singen. Sobald der Turm zu Ende ist, läuft der bisherige Herrscher, na, sagen wir, vom Olymp, davon und zwar in einer recht komischen Weise. Die endlich hinter die Wahrheit gekommene Menschheit aber nimmt seinen Platz ein und beginnt sofort ein neues Leben, das sich auf einer vollen Erkenntnis der Dinge aufbaut. Diese Dichtung also wurde damals für gefährlich befunden. Im vorigen Jahre schlug ich Stepan Trofimowitsch vor, sein Werk drucken zu lassen, da ich der Meinung war, daß es in unserer Zeit vollkommen harmlos sei; aber er lehnte diesen Vorschlag mit unverhohlenem Mißvergnügen ab. Die von mir so offen geäußerte Ansicht von der vollkommenen Harmlosigkeit seiner Dichtung hat ihm sehr mißfallen, und ich glaube sogar, daß hier der Grund der gewissen Kälte liegt, die er mir daraufhin fast volle zwei Monate bekundete. Was geschah aber? Auf einmal, und fast zur selben Zeit, da ich ihn zur Veröffentlichung seines Werkes in Rußland zu überreden versuchte, wurde es drüben, das heißt im Ausland, in einem revolutionären Sammelwerk abgedruckt, und zwar ganz ohne daß Stepan Trofimowitsch auch nur etwas davon gewußt hätte. Er war anfangs sehr erschrocken, beeilte sich, den Gouverneur aufzusuchen, und schrieb einen sehr edel und vornehm gehaltenen Rechtfertigungsbrief nach Petersburg, den er mir zweimal vorlas, aber nicht abschickte, da er nicht wußte, an wen er ihn adressieren sollte. Kurz und gut, er war einen ganzen Monat lang wie aus dem Häuschen; aber ich bin überzeugt, daß er sich in den geheimen Tiefen seines Herzens ungewöhnlich geschmeichelt fühlte. Er schlief beinah mit dem ihm zugestellten Exemplar des betreffenden Sammelwerkes und versteckte es am Tage unter der Matratze. Seine Aufwartefrau durfte sein Bett nicht mehr zurechtmachen, und obwohl er alle Tage von irgendwoher irgendein unheilverkündendes Telegramm erwartete, trug er seinen Kopf doch sehr stolz. Es traf aber gar kein Telegramm ein. Da versöhnte er sich auch mit mir, was eben von der außerordentlichen Güte seines stillen und nicht nachtragenden Herzens zeugt.

2

Ich behaupte ja keineswegs, daß er seiner politischen Anschauungen wegen gar nichts zu erdulden gehabt hatte. Ich bin nur zu der Überzeugung gekommen, daß es ihm möglich gewesen wäre, seine Vorlesungen über die Araber so lange ruhig fortzusetzen, wie es ihm beliebte, wenn er nur gewisse notwendige Erklärungen abgegeben hätte. Aber er versteifte sich zu jener Zeit auf sein Ehrgefühl und redete sich gar zu eilig ein für allemal ein, daß seine Laufbahn für immer durch den »Wirbelsturm der Umstände« zerstört worden sei. Wenn ich aber der Wahrheit die Ehre geben soll, so muß ich sagen, daß der wirkliche Grund zu der Veränderung seines Lebenswegs in dem schon viel früher gemachten und dann wiederholten, sehr zartfühlend vorgebrachten Vorschlag Warwara Petrowna Stawroginas, der schwerreichen Frau eines Generalleutnants, gelegen hat. Diese Dame bat ihn nämlich, als Freund und pädagogischer Leiter die Erziehung und die ganze geistige Ausbildung ihres einzigen Sohnes zu übernehmen. Daß sie ihm dabei auch eine glänzende Belohnung in Aussicht gestellt hatte, bedarf gar nicht erst einer besonderen Erwähnung. Zum erstenmal wurde ihm dieses Anerbieten noch in Berlin gemacht, und zwar gerade zu jener Zeit, als er zum erstenmal Witwer geworden war. Seine erste Frau stammte aus unserem Gouvernement und galt dort seinerzeit als ein sehr leichtsinniges Mädchen. Er heiratete sie noch in seiner ersten, stürmischen, urteilslosen Jugend und hatte mit diesem übrigens recht niedlichen Frauchen, glaube ich, recht viel Kummer durchgemacht, dessen eine Quelle in dem Mangel an den zu ihrem Unterhalt erforderlichen Geldmitteln lag, und der überdies noch anderen, zum Teil schon recht delikaten Gründen entsprang. Sie starb in Paris, nach einer dreijährigen Trennung von ihm, und hinterließ ihm einen fünfjährigen Sohn, »die Frucht der ersten, frohen und noch ungetrübten Liebe«, wie sich Stepan Trofimowitsch in seiner Trauer einmal unwillkürlich in meiner Gegenwart ausgedrückt hatte. Der Junge wurde sofort nach dem Ableben seiner Mutter nach Rußland gebracht, wo er nun irgendwo an einem ganz entlegenen Orte unter der Obhut einiger entfernter Tanten heranwuchs. Stepan Trofimowitsch lehnte damals den erwähnten Vorschlag Warwara Petrownas ab und beeilte sich, eine neue Ehe einzugehen, sogar noch bevor das Trauerjahr zu Ende war. Diesmal heiratete er eine recht schweigsame Deutsche aus Berlin, und das Merkwürdigste an der Sache war, daß zu diesem Bund eigentlich gar keine Veranlassung vorlag. Aber abgesehen davon hatte er die Erzieherstelle noch aus anderen Erwägungen abgelehnt: der zu jener Zeit in der ganzen Welt erklingende Ruhm eines gewissen unvergeßlichen Professors hatte es ihm angetan, und so flog er seinerseits auch auf das Katheder, für das er sich vorbereitet hatte, um dort seine Adlerflügel zu erproben. Nachdem er aber seine Fittiche bereits versengt hatte, erinnerte er sich natürlich auch an den Vorschlag der Generalin, der ihn auch früher schon beinah wankelmütig gemacht hatte. Da kam noch der plötzliche Tod seiner zweiten Frau hinzu, die nicht einmal ein ganzes Jahr mit ihm zusammengelebt hatte, und führte die endgültige Lösung dieser Angelegenheit herbei. Ich will es geradeaus sagen: alles entschied die warme Teilnahme und die sozusagen klassische Freundschaft, die ihm Warwara Petrowna erwies, wenn man sich nur von einer Freundschaft so ausdrücken kann. Er warf sich in die Arme dieses Gefühls und ließ sich für mehr als zwanzig Jahre binden. Ich sagte eben: »er warf sich in die Arme«; es denke aber um Gottes willen keiner dabei an etwas Überflüssiges und Unpassendes; diese Umarmung ist nur in einem höchst sittlichen Sinne aufzufassen. Was diese beiden so sehr merkwürdigen Geschöpfe für ewig vereinigt hatte, war ein Band von höchster, zartester Feinheit und Reinheit.

Er nahm die Erzieherstelle auch noch deswegen an, weil das kleine Anwesen, das er von seiner ersten Frau geerbt hatte, ganz dicht bei Skworeschniki lag, dem prächtigen, nahe der Stadt gelegenen Gute der Stawrogins in unserem Gouvernement. Dazu kam noch die Erwägung, daß er hier in der Stille seines Arbeitszimmers, ohne durch die ausgedehnte Universitätstätigkeit abgelenkt zu werden, die Möglichkeit haben würde, sich ganz der Wissenschaft zu widmen und dadurch die vaterländische Sprachlehre und Literatur durch tiefsinnigste Untersuchungen zu bereichern. Diese wissenschaftlichen Arbeiten blieben allerdings aus; dafür vermochte er aber sein ganzes übriges Leben lang, also mehr als zwanzig Jahre, sozusagen als »Fleisch gewordener Vorwurf« vor der Heimat »dazustehen«, ganz nach dem Ausdruck eines Volksdichters:

Wie ein Fleisch gewordner Vorwurf
................................
Vor deinem Vaterlande bist
Du liberaler Idealist.

Aber die Persönlichkeit, von der sich der Volksdichter so ausgedrückt hatte, mochte vielleicht ein Recht dazu gehabt haben, das ganze Leben lang den Gekränkten und Tadelnden zu spielen, obwohl dies eigentlich recht langweilig sein mußte. Unser Stepan Trofimowitsch dagegen war nur ein Nachahmer solcher Persönlichkeiten, wurde auch bald des »Stehens« müde und legte sich dann auf die faule Seite. Aber selbst in dieser Stellung blieb ihm die Haltung des zu Fleisch gewordenen Vorwurfs eigen – diese Gerechtigkeit muß man ihm widerfahren lassen – um so mehr, als für unser Gouvernement auch schon eine solche Gebärde vollkommen genügte. Man mußte ihn sehen, wenn er sich bei uns im Klub zum Kartenspielen hinsetzte. Sein ganzes Äußere schien förmlich zu sagen: »Karten! Ich setze mich mit euch zum Whist hin! Reimt sich denn das etwa mit meiner Vergangenheit? Wer aber trägt die Verantwortung dafür? Wer zerschlug meine Laufbahn und verwandelte sie in eine Art kunterbunten Whistspiels? Ach, mag Rußland zugrunde gehen!« Und er trumpfte würdevoll mit Herzen.

In Wirklichkeit spielte er außerordentlich gern Karten, weswegen er auch, namentlich in der letzten Zeit, recht häufige und unangenehme Wortwechsel mit Warwara Petrowna gehabt hatte. Sie erlaubte sich um so eher, ihm Vorhaltungen zu machen, da er beständig verlor. Aber davon später. Ich will hier nur noch bemerken, daß er ein sehr empfindliches Gewissen hatte, das heißt eigentlich nur manchmal, und sich deswegen häufig traurigen Gedanken ergab. Während der ganzen zwanzigjährigen Freundschaft mit Warwara Petrowna verfiel er drei- bis viermal im Jahre in das, was man bei uns als »Trübsal des Staatsbürgers« bezeichnete, was aber nichts anderes als einfaches Grillenfangen war; der hochachtbaren Warwara Petrowna gefiel indessen jene etwas politische Bezeichnung seines Zustandes besser. In der Folge übermannte ihn außer dieser staatsbürgerlichen Trübsal auch noch ein heftiger Drang zum Champagnertrinken; aber die feinfühlige Warwara Petrowna suchte ihn sein Leben lang vor allen gar zu trivialen Neigungen zu behüten. Und eigentlich bedurfte er auch einer solchen Kinderfrau, da er mitunter recht sonderbar wurde; so begann er bisweilen mitten im erhabensten Kummer auf die nur dem allereinfachsten Volke eigene Weise zu lachen. Es kam vor, daß er sogar über sich selbst in ganz humoristischem Sinne zu sprechen anfing. Und es gab nichts auf der Welt, was Warwara Petrowna so sehr ängstlich vermied wie gerade den Humor. Sie war durch und durch eine klassische Frau, eine Mäzenatin, und hatte bei allem, was sie tat, nur Erwägungen allerhöchsten Ranges im Auge. Der Einfluß, den diese erhabene Dame während der zwanzig Jahre auf ihren armen Freund ausgeübt hatte, war ungeheuerlich groß. Von ihr müßte man besonders sprechen, und so will ich es auch tun.

3

Es gibt mitunter recht sonderbare Freundschaften: beide Freunde möchten einander am liebsten vernichten, sind ihr ganzes Leben lang von Ingrimm gegeneinander erfüllt und können sich doch nicht trennen. Ein Auseinandergehen ist für sie geradezu unmöglich, denn der eigensinnige Freund, der das zarte Band zerreißt, wird als erster daran erkranken und womöglich sogar infolge des Bruchs zugrunde gehen. Ich weiß bestimmt, daß Stepan Trofimowitsch mehr als einmal und bisweilen sogar, nachdem er sich mit Warwara Petrowna unter vier Augen in der intimsten Weise ausgesprochen hatte, gleich nach ihrem Fortgehen plötzlich vom Sofa aufsprang und vor Wut mit den Fäusten gegen die Wand zu schlagen begann.

Und das geschah durchaus nicht in irgendeinem übertragenen Sinne, sondern wörtlich, so daß er einmal sogar den Kalk von der Wand losschlug. Man wird vielleicht fragen, auf welche Weise ich eine dermaßen feine Einzelheit in Erfahrung gebracht haben konnte. Wie aber, wenn ich selbst oft Zeuge solcher Auftritte gewesen bin? Wie, wenn Stepan Trofimowitsch selbst mehr als einmal an meiner Schulter geschluchzt und mir in grellen Farben die kleinsten Geheimnisse seines Lebens geschildert hätte? (Und was für Dinge hat er mir dabei nicht mitgeteilt!) Was geschah jedoch fast immer nach solchen Tränenergüssen? Schon am nächsten Tage hätte er sich am liebsten selbst wegen seines Undanks gekreuzigt. Er ließ mich eilig zu sich rufen oder kam auch selbst zu mir gelaufen, einzig und allein um mir zu verkünden, Warwara Petrowna sei »ein Engel der Ehrenhaftigkeit und des Zartgefühls«, und er selbst das gerade Gegenteil davon. Aber nicht genug, daß er zu mir kam, nein, recht oft geschah es auch, daß er ihr selbst alle diese Vorkommnisse in beredtesten Briefen mitteilte und ihr mit seiner vollen Unterschrift gestand, daß er, zum Beispiel, erst am vorhergehenden Tage einer fremden Persönlichkeit erzählt hatte, daß sie ihn nur aus Eitelkeit an sich fessele und ihn um seine Gelehrsamkeit und um seine Talente beneide, daß sie ihn hasse und nur deshalb von der offenen Bekundung dieses Gefühls absehe, weil sie befürchte, er könne von ihr weggehen und dadurch ihrem literarischen Rufe schaden. Er teilte ihr mit, daß er infolge dieser seiner Äußerungen sich selbst verachte und beschlossen habe, den Tod zu suchen; von ihr erwarte er aber das letzte Wort, das alles entscheiden würde und so weiter und so weiter, alles in derselben Art. Danach kann man sich leicht vorstellen, welche hysterischen Höhepunkte mitunter die nervösen Anfälle dieses unschuldigsten aller fünfzigjährigen Kinder erreichten! Ich selbst habe einmal einen solchen Brief gelesen, den er nach einem aus nichtiger Ursache zwischen ihnen entstandenen, aber sehr giftig verlaufenen Streite geschrieben hatte. Ich war entsetzt und flehte ihn an, diesen Brief nicht abzusenden.

»Ich kann nicht anders ... es ist ehrlicher ... es ist meine Pflicht ... ich werde sterben, wenn ich ihr nicht alles bekenne, wenn ich kein volles Geständnis ablege!« antwortete er beinahe im Fieber und schickte den Brief auch tatsächlich ab.

Und darin lag eben der große Unterschied zwischen ihm und ihr. Warwara Petrowna hätte ihm niemals einen solchen Brief zukommen lassen. Allerdings schrieb er leidenschaftlich gern, schrieb ihr auch, als er mit ihr in demselben Hause wohnte und, nach solchen hysterischen Anfällen, sogar zweimal am Tage. Ich weiß bestimmt, daß sie seine Episteln stets mit der größten Aufmerksamkeit durchlas, selbst wenn es ihrer zwei nacheinander gab, sie danach mit dem Eingangsdatum versah und wohlgeordnet in ein besonderes Fach legte. Außerdem hob sie seine Briefe in ihrem Herzen auf. Hierauf ließ sie ihren Freund einen ganzen Tag ohne Antwort und tat dann bei einem Zusammentreffen mit ihm so, als ob überhaupt nichts geschehen wäre, und als ob sich am vorhergehenden Tage nichts Besonderes zugetragen hätte. Allmählich gelang es ihr, ihn so abzurichten, daß er es schon selbst nicht mehr wagte, den vorangegangenen Streit zu erwähnen und sich nur erlaubte, ihr noch eine Weile in die Augen zu sehen. Aber sie vergaß nichts, während er mitunter nur zu schnell alles aus dem Kopf warf und, durch ihr ruhiges Benehmen ermutigt, nicht selten gleich am selben Tage, wenn Freunde zu Besuch kamen, beim Champagner lachte und wie ein Schulbub Streiche machte. Wie giftig mußte sie ihn wohl in solchen Augenblicken angesehen haben! Er aber merkte nichts davon! Nur nach einer Woche etwa oder erst nach einem Monat, oder mitunter auch erst nach einem halben Jahre fiel ihm gelegentlich und unwillkürlich irgendein besonderer Ausdruck aus einem solchen Schreiben ein. Allmählich erinnerte er sich dann auch an den ganzen Brief mit allen Begleitumständen, und eine heiße Scham stieg in ihm auf. Seine Qualen waren dabei bisweilen so groß, daß er an einem seiner Cholerineanfälle erkrankte. Diese eigenartigen und bei ihm oft vorkommenden Anfälle, die an den Ausbruch der Cholerine erinnerten, bildeten mitunter den Ausgang einer Nervenerschütterung und waren eine in ihrer Art seltsame Kuriosität seiner körperlichen Struktur.

Warwara Petrowna empfand allerdings sicherlich, und zwar sehr oft, einen Haß gegen ihn. Aber eins hatte er an ihr zeitlebens nicht bemerkt, nämlich die Tatsache, daß er für sie schließlich gleichsam ihr Sohn, ihr Geschöpf, man könnte sogar sagen: ihre Erfindung geworden war. Sie betrachtete ihn schon als Fleisch von ihrem Fleische und behielt ihn bei sich und sorgte für seinen Unterhalt durchaus nicht allein deshalb, weil sie ihn »um seine Talente beneidete«. Wie mußte sie sich also durch seine derartigen Vermutungen gekränkt und beleidigt gefühlt haben! Mitten unter dem unaufhörlichen Haß, der steten Eifersucht und Geringschätzung lag in ihr eine unbezwingbare Liebe zu ihm verborgen. Sie behütete ihn vor jedem Stäubchen, bemutterte ihn zweiundzwanzig Jahre lang und hätte ganze Nächte vor Sorge kein Auge zugemacht, wenn sein Ruf als Dichter, als Gelehrter und als Volksführer in Gefahr gekommen wäre. Sie hatte sich einen besonderen Stepan Trofimowitsch ersonnen und glaubte selbst als erste an das Produkt ihres eigenen Geistes. Er war ihr etwas wie die Verkörperung eines Traumes ... Aber dafür forderte sie von ihm auch wirklich sehr viel, manchmal wollte sie sogar, daß er sich wie ein Sklave ihr gegenüber benehme. Dabei war sie in ganz unglaublichem Maße nachtragend. Bei dieser Gelegenheit möchte ich nun zwei kleine Anekdoten erzählen.

4

Eines Tages, in jener bewegten Zeit, als gerade die ersten Gerüchte von der Befreiung der Bauern in das Land gedrungen waren, und ganz Rußland plötzlich aufjubelte und sich zu einer völligen Wiedergeburt bereit machte, besuchte Warwara Petrowna auf der Durchreise ein Baron aus Petersburg, der sehr hohe Verbindungen hatte und den leitenden Kreisen ziemlich nahe stand. Warwara Petrowna schätzte derartige Besuche sehr hoch, weil ihre eigenen Beziehungen zu der höchsten Gesellschaft sich nach dem Tode ihres Mannes immer mehr und mehr lockerten und schließlich ganz aufhörten. Der Baron blieb eine Stunde bei ihr und trank Tee. Andere Gäste hatte Warwara Petrowna nicht eingeladen, aber Stepan Trofimowitsch wurde von ihr herbeigerufen und sozusagen zur Schau gestellt. Der Baron hatte bereits früher von ihm etwas gehört oder tat wenigstens so, als wenn er ihm nicht ganz unbekannt wäre, wandte sich aber mit seinen Worten nur recht selten an ihn. Natürlich konnte sich Stepan Trofimowitsch auf keinen Fall blamieren, und außerdem besaß er ja auch die erlesensten Manieren. Obwohl er, glaube ich, nur von geringer Herkunft war, traf es sich so, daß er schon von früher Kindheit an in einem sehr vornehmen Moskauer Hause gelebt und infolgedessen eine ganz vorzügliche Erziehung erhalten hatte. So sprach er zum Beispiel Französisch wie ein geborener Pariser. Der Baron mußte also gleich auf den ersten Blick erkennen, mit was für Menschen sich Warwara Petrowna selbst in der Abgeschiedenheit der Provinz umgab. Indessen kam es ganz anders, und ihr geheimer Wunsch ging nicht in Erfüllung. Als der Baron mit aller Bestimmtheit die Glaubwürdigkeit der sich damals erst soeben verbreitenden Gerüchte über die große Reform bestätigte, vermochte sich Stepan Trofimowitsch auf einmal nicht mehr zu beherrschen und rief: »Hurra!« Und dabei machte er sogar mit der Hand eine Gebärde, die sein Entzücken ausdrücken sollte. Seinen Ausruf tat er nicht laut und sogar in einer sehr eleganten Manier; vielleicht war auch sein Entzücken schon im voraus überlegt, und die Handbewegung eine halbe Stunde vorher absichtlich vor dem Spiegel einstudiert worden; aber anscheinend hatte das Ganze doch nicht ganz richtig geklappt, so daß der Baron sich sogar die Freiheit nahm, kaum merklich zu lächeln, obwohl er sofort mit außerordentlicher Höflichkeit ein paar Worte sagte, die sein Einverständnis mit der allgemeinen und sehr wohl begründeten Rührung aller russischen Herzen angesichts des großen Ereignisses kundgab. Dann fuhr er sehr bald fort und vergaß beim Abschied nicht, auch Stepan Trofimowitsch zwei Finger hinzustrecken. Nachdem Warwara Petrowna, die den Gast das Geleit gegeben hatte, in den Salon zurückgekehrt war, schwieg sie zunächst ungefähr drei Minuten lang und tat so, als ob sie etwas auf dem Tische suche; plötzlich aber wandte sie sich zu Stepan Trofimowitsch. Ihr Gesicht war blaß, ihre Augen funkelten, und im Flüsterton stieß sie durch die Zähne:

»Das werde ich Ihnen nie vergessen!«

Am nächsten Tag begegnete sie ihrem Freund so, als wenn nichts vorgefallen wäre; und nie erwähnte sie ihm gegenüber das Geschehene. Aber dreizehn Jahre später kam sie in einem tragischen Augenblick darauf zurück und warf ihm sein Benehmen vor, wobei sie ebenso blaß wurde wie damals, als sie ihn zum erstenmal deswegen getadelt hatte. Nur zweimal in ihrem ganzen Leben hatte sie zu ihm gesagt: »Das werde ich Ihnen nie vergessen!« Der Fall mit dem Baron war schon die zweite Begebenheit dieser Art. Aber auch die erste war in ihrer Weise so charakteristisch und hatte, wie mir scheint, für den ferneren Lebensverlauf Stepan Trofimowitschs eine so hohe Bedeutung, daß ich mich bewogen fühle, auch diese zu schildern.

Es war im Frühling des Jahres 1855, im Monat Mai, gerade kurz nachdem man in Skworeschniki die Nachricht vom Ableben des Generalleutnants Stawrogin erhalten hatte. Er war ein leichtlebiger alter Herr, den sein Tod auf der Reise nach der Krim ereilte, wohin er sich begab, da er zu der dort operierenden aktiven Armee abkommandiert war. Er starb an einer Magenverstimmung. Warwara Petrowna sah sich nun als Witwe und legte tiefe Trauer an. Allzu groß konnte ihr Kummer allerdings nicht gewesen sein. In den letzten vier Jahren hatte sie infolge des schlechten Zusammenpassens der beiderseitigen Charaktere von ihrem Manne völlig getrennt gelebt und zahlte ihm alljährlich eine Pension. Der Generalleutnant selbst hatte nämlich nur etwa hundertfünfzig Leibeigene und sein Gehalt. Dazu besaß er natürlich noch sein Ansehen und seine einflußreichen Verbindungen. Der ganze Reichtum aber, darunter auch das Gut Skworeschniki, gehörten Warwara Petrowna, der einzigen Tochter eines sehr reichen Branntweinpächters. Nichtsdestoweniger war sie durch die unerwartete Nachricht tief erschüttert und zog sich nun ganz zurück. Selbstverständlich befand sich Stepan Trofimowitsch beständig in ihrer Nähe.

Der Mai stand in voller Pracht; die Abende waren wundervoll. Der Faulbaum blühte. Die beiden Freunde trafen sich jeden Abend im Garten, saßen dort bis tief in die Nacht hinein in einer Laube und schütteten voreinander ihre Gefühle und Gedanken aus. Es kamen sehr poetische Minuten vor. Unter dem Eindruck der in ihrem Schicksal eingetretenen Veränderung sprach Warwara Petrowna mehr als gewöhnlich. Es war, wie wenn sie sich an das Herz ihres Freundes schmiegen wollte, und das ging so mehrere Abende hindurch. Da kam Stepan Trofimowitsch plötzlich auf einen seltsamen Einfall: »Rechnet die untröstliche Witwe vielleicht auf mich und spekuliert sie etwa darauf, daß ich ihr am Ende des Trauerjahres einen Antrag mache?« Das war natürlich zynisch gedacht; aber gerade Höhe der seelischen Organisation entwickelt mitunter eine Neigung zu zynischen Gedanken, schon allein infolge der Vielseitigkeit der Entwicklung des betreffenden Menschen. Stepan Trofimowitsch begann über seine Vermutung nachzudenken und fand, daß es tatsächlich danach aussehe. Er überlegte: »Das Vermögen ist ja ganz gewaltig, aber ...« In der Tat, Warwara Petrowna glich ganz und gar nicht einer Schönheit; sie war eine hochgewachsene, gelbliche, knochige Frau, mit einem übermäßig langen Gesicht, das unwillkürlich an ein Pferd erinnerte. Stepan Trofimowitsch schwankte immer mehr und mehr, er quälte sich mit Zweifeln und hatte sogar ein paarmal aus Unschlüssigkeit geweint, was er nebenbei gesagt, überhaupt ziemlich oft tat. Abends aber, das heißt, wenn er in der Laube war, begann sein Gesicht, ganz ohne daß er es wollte, einen etwas launischen, spöttischen, koketten, zugleich aber hochmütigen Ausdruck anzunehmen. Das pflegt unversehens und ganz unwillkürlich zu geschehen, und je edler und vornehmer der Mensch ist, um so leichter sogar kann man so etwas an ihm wahrnehmen. Gott weiß, ob Stepan Trofimowitschs Verdacht einen Grund hatte, am wahrscheinlichsten ist es aber, daß in Warwara Petrownas Herz sich nichts regte, was ihn hätte rechtfertigen können. Auch würde sie ihren Namen Stawrogina wohl nicht für den seinigen hergegeben haben, mochte dieser auch noch so berühmt sein. Vielleicht lag ihrerseits nichts weiter vor als ein Spiel mit Gefühlen, eine Äußerung unwillkürlicher weiblicher Bedürfnisse, die in manchen außerordentlichen Situationen bei Frauen so natürlich sind. Im übrigen kann ich nichts mit Bestimmtheit behaupten; die Tiefen des Frauenherzens sind noch bis auf den heutigen Tag unerforscht! Aber ich fahre fort.

Man muß annehmen, daß sie in ihrem Innern recht bald eine Erklärung für den seltsamen Gesichtsausdruck ihres Freundes gefunden und ihn verstanden hatte; sie verfügte über eine scharfe Beobachtungsgabe und war sehr achtsam, während er bisweilen eine nur allzu große Harmlosigkeit an den Tag legte. Aber die abendlichen Zusammenkünfte wurden nach wie vor abgehalten, und die Gespräche waren noch ebenso interessant und poetisch wie vorher. Eines Abends nun verabschiedeten sie sich bei Einbruch der Nacht nach einem außerordentlich lebhaften und gefühlvollen Gespräch in freundschaftlicher Weise voneinander. Sie hatten sich sogar warm die Hand gedrückt. Das geschah an der Tür des Nebengebäudes, in dem Stepan Trofimowitsch wohnte. Er zog jeden Sommer aus dem riesigen Herrschaftshaus von Skworeschniki in dieses Nebengebäude um, das fast im Garten stand. Gleich nachdem er nun in sein Zimmer gekommen war, nahm er sich dort in besorgtem Nachdenken eine Zigarre, hatte sie aber noch nicht angesteckt, da er, müde, wie er war, vor dem offenen Fenster stehenblieb und die weißen, federleichten Wölkchen, die an dem klaren Mond vorüberglitten, betrachtete. Da ließ ihn plötzlich ein leises Geräusch zusammenfahren und zwang ihn, sich umzudrehen. Vor ihm stand Warwara Petrowna, die er vor kaum vier Minuten verlassen hatte. Ihr gelbes Gesicht war fast blau geworden; ihre fest zusammengepreßten Lippen zuckten an den Mundwinkeln. Etwa zehn Sekunden lang sah sie ihm schweigend mit festem, unerbittlichem Blick in die Augen und flüsterte dann auf einmal hastig:

»Das werde ich Ihnen nie vergessen!«

Als Stepan Trofimowitsch, schon zehn Jahre später, nachdem er vorher die Tür verschlossen hatte, mir im Flüsterton diese traurige Geschichte erzählte, schwur er mir, er wäre damals so starr vor Schreck gewesen, daß er weder gehört noch gesehen hatte, wie Warwara Petrowna wieder verschwunden sei. Da sie später ihm gegenüber nie eine Andeutung oder Anspielung auf diese Begebenheit machte, und alles so vor sich ging, als ob überhaupt nichts geschehen wäre, neigte er sein ganzes Leben lang zu der Annahme, daß alles nichts weiter als eine Halluzination vor der Krankheit gewesen sei, um so mehr, als er in derselben Nacht wirklich erkrankte und zwei Wochen lang das Bett hüten mußte, was, nebenbei gesagt, auch den Zusammenkünften in der Laube ein Ende machte.

Trotzdem er aber sich einzureden versuchte, daß es sich bei jenem Vorfall nur um ein Gaukelspiel der kranken Phantasie gehandelt hatte, erwartete er doch tagtäglich sein ganzes Leben lang eine Fortsetzung und sozusagen eine Lösung dieses rätselhaften Ereignisses. Er glaubte keineswegs, daß die Angelegenheit längst zu Ende sei! Und das führte natürlich dazu, daß er nicht umhin konnte, seine Freundin mitunter in recht sonderbarer Weise anzusehen.

5

Sie selbst hatte ihm sogar sein Kostüm entworfen, und er kleidete sich sein Leben lang ihren Wünschen gemäß. Dieses Kostüm war elegant und charakteristisch: ein langschößiger, schwarzer, fast bis oben zugeknöpfter, aber sehr gut sitzender Rock; ein weicher Hut mit breiter Krempe (im Sommer aus Stroh); eine weiße batistene Halsbinde mit einem großen Knoten und herabhängenden Enden; ein Spazierstock mit silbernem Knopf; dazu reiches, bis auf die Schultern fallendes Haar. Er war dunkelblond, und erst in der letzten Zeit begannen sich Silbersträhnen in seiner Mähne zu zeigen. Kinn und Lippen waren glatt rasiert. Man erzählte sich, daß er in der Jugend außerordentlich hübsch gewesen sei. Meiner Ansicht nach machte er auch im Alter noch einen sehr günstigen Eindruck. Und was ist es auch für ein Alter, wenn man erst dreiundfünfzig Jahre zählt? Aber aus einer Art politisch gefärbter Ziererei hatte er nicht nur kein Verlangen danach, sich ein jüngeres Aussehen zu geben, sondern protzte sogar gewissermaßen mit seinem vorgeschrittenen Alter. So hoch und mager wie er war, glich er in seinem Anzug und mit den auf die Schultern herniederfallenden Haaren ein wenig einem Patriarchen oder, noch richtiger, dem Bilde des Dichters Kukolnik, das in den dreißiger Jahren in Steindruck irgendeiner Ausgabe seiner Gedichte beigegeben war. Diese Ähnlichkeit fiel besonders ins Auge, wenn Stepan Trofimowitsch im Sommer im Garten auf einer Bank unter einem blühenden Fliederstrauche saß, sich mit beiden Händen auf seinen Stock stützte, neben sich ein aufgeschlagenes Buch liegen hatte, und in poetischen Gedanken über den Sonnenuntergang schwelgte. Was Bücher anbelangt, so bemerke ich, daß er gegen das Ende seines Lebens immer weniger und weniger las. Übrigens war das erst ganz kurz vor seinem Tode der Fall. Die vielen Zeitungen und Zeitschriften, die Warwara Petrowna bekam, sah er stets regelmäßig durch. Auch interessierte er sich dauernd für die Erfolge der russischen Literatur, ohne allerdings dabei seiner eigenen Würde etwas zu vergeben. Eine Zeitlang fesselte ihn das Studium der zeitgenössischen hohen Politik, sowohl der inneren als auch der äußeren; bald aber ließ er diese Beschäftigung verächtlich fallen und gab sie gänzlich auf. Es kam auch nicht selten vor, daß er Tocqueville mit in den Garten nahm, zu gleicher Zeit aber einen Band Paul de Kock in der Tasche versteckt trug. Indessen sind das Kleinigkeiten, die kaum der Erwähnung wert sind.

Hier will ich auch noch in Paranthese über das Bild Kukolniks sagen, daß es Warwara Petrowna zum erstenmal in die Hände gefallen war, als sie sich noch als junges Mädchen in einem vornehmen Moskauer Pensionat befand. Sofort verliebte sie sich in dieses Bildnis, wie es bei den jungen Pensionärinnen überhaupt gang und gäbe ist, sich in alles zu verlieben, was ihnen vor die Augen kommt, darunter auch in ihre Lehrer, namentlich in diejenigen, die ihnen das Schönschreiben und das Zeichnen beizubringen haben. Merkwürdig ist aber hierbei nicht diese Eigentümlichkeit des jungen Mädchens, sondern die Tatsache, daß Warwara Petrowna noch als fünfzigjährige Frau das einst geliebte Bild unter ihren intimsten Kostbarkeiten aufbewahrte und vielleicht das Kostüm für Stepan Trofimowitsch nur deshalb in der geschilderten Weise entwarf, weil es mit der auf dem Bilde dargestellten Kleidung einige Ähnlichkeit hatte. Aber auch das ist natürlich durchaus nicht von Belang.

In den ersten Jahren oder, besser gesagt, in der ersten Hälfte der Zeit, die Stepan Trofimowitsch bei Warwara Petrowna verlebte, dachte er immer noch an irgendein Werk und nahm sich jeden Tag allen Ernstes vor, es endlich zu schreiben. Aber in der zweiten Hälfte dieser Jahre vergaß er wahrscheinlich sogar das, was er früher noch gewußt hatte. Immer öfter und öfter sagte er zu uns: »Ich möchte meinen, daß ich alles für das Werk bereit habe, das ganze Material ist in meinen Händen, aber ich komme einfach nicht zum Schreiben! Die Arbeit will nicht gehen!« Und er ließ betrübt seinen Kopf hängen. Ohne Zweifel mußte ihm das als einem Märtyrer der Wissenschaft in unseren Augen noch eine höhere Bedeutung verleihen; aber ihn selbst verlangte es nach etwas anderem. »Man hat mich vergessen; kein Mensch braucht mich mehr!« entrang sich nicht selten seiner Brust eine Klage. Diese gesteigerte Grämlichkeit bemächtigte sich seiner besonders gegen das Ende der fünfziger Jahre. Warwara Petrowna begriff schließlich, daß die Sache ernst wurde. Auch konnte sie den Gedanken nicht ertragen, daß ihr Freund vergessen sei, und daß niemand seiner bedürfe. Um ihn zu zerstreuen und um gleichzeitig seinen Ruhm aufzufrischen, nahm sie ihn damals mit nach Moskau, wo sie einige gute Bekannte in der literarischen und wissenschaftlichen Welt hatte. Aber es stellte sich heraus, daß auch Moskau Stepan Trofimowitsch nicht befriedigen konnte.

Es war damals eine besondere, ungewöhnliche Zeit; es kündigte sich etwas Neues an, das der bisherigen Stille schon gar zu wenig glich, etwas beinah allzu Seltsames, das sich aber überall, selbst in Skworeschniki, bemerkbar machte. Sogar bis dorthin drangen allerlei Gerüchte. Die Tatsachen waren im allgemeinen mehr oder weniger bekannt; man sah jedoch deutlich, daß außer den Tatsachen plötzlich auch gewisse sie begleitende Ideen zum Vorschein kamen, und, was die Hauptsache war, gleich in einer außerordentlichen Menge. Und gerade das verwirrte: es war schlechterdings unmöglich, sich dem Geiste der Zeit anzupassen und mit Bestimmtheit zu erfahren, was eigentlich diese Ideen zu bedeuten hatten. Warwara Petrowna wollte ihrer weiblichen Natur entsprechend unbedingt ein Geheimnis dahinter sehen. Sie machte sich sogar daran, auch die ausländischen, verbotenen Zeitungen und Zeitschriften und sogar die damals aufkommenden Proklamationen und Flugschriften zu lesen (ihr wurde dies alles zugeschickt); aber davon begann es sie schließlich zu schwindeln. Auch Briefe fing sie an zu schreiben, doch man antwortete ihr wenig und im Laufe der Zeit immer unverständlicher. Stepan Trofimowitsch wurde feierlich aufgefordert, ihr »alle diese Ideen« ein für allemal zu erklären; aber sie war mit seinen Erläuterungen entschieden nicht zufrieden. Stepan Trofimowitschs Ansicht über die allgemeine Bewegung war im höchsten Grade hochmütig; es kam bei ihm alles darauf hinaus, daß er selbst vergessen sei, und daß ihn kein Mensch mehr brauche. Schließlich erinnerte man sich aber auch seiner; zuerst in ausländischen Veröffentlichungen als eines verbannten Dulders, und gleich darauf auch in Petersburg als eines ehemaligen Sternes in einem berühmten Sternbilde; man verglich ihn sogar aus irgendeinem Grunde mit Radistschew. Dann druckte jemand die Nachricht, Stepan Trofimowitsch sei gestorben, und versprach, einen Nekrolog über ihn zu bringen. Sofort war Stepan Trofimowitsch zu neuem Leben erwacht und nahm nun eine außerordentlich würdevolle Haltung an. Alles Hochmütige in seinem Urteil über die Zeitgenossen glitt mit einmal fort und verschwand, und in ihm entbrannte die Sehnsucht, sich der Bewegung anzuschließen und dabei seine Kraft zu zeigen. Warwara Petrowna begann sofort von neuem an alles zu glauben, wurde höchst unruhig und tat sehr geschäftig. Man beschloß, unverzüglich nach Petersburg zu reisen, alles an Ort und Stelle in Erfahrung zu bringen, sich persönlich in das Neue zu vertiefen und, wenn möglich, sich voll und ganz einer entsprechenden Tätigkeit zu widmen. Unter anderem erklärte sich Warwara Petrowna bereit, eine eigene Zeitschrift zu gründen und dieser ihr ganzes Leben zu weihen. Als Stepan Trofimowitsch bemerkte, wie weit sie in ihrem Eifer schon gekommen war, wurde er noch hochmütiger und begann sich unterwegs gegen Warwara Petrowna sogar etwas gönnerhaft zu benehmen, – was sie sofort in ihrem Herzen sozusagen zu den Akten nahm. Übrigens hatte sie noch einen anderen triftigen Grund zu dieser Reise: nämlich die Auffrischung ihrer früheren Beziehungen zu den höchsten Kreisen. Sie wollte sich nach Möglichkeit der Welt wieder in Erinnerung bringen oder wenigstens einen entsprechenden Versuch machen. Den Hauptvorwand für die Reise bildete aber ein beabsichtigtes Wiedersehen mit ihrem einzigen Sohne, der damals gerade sein Studium im Petersburger Lyzeum zu Ende führte.

6

Sie fuhren also hin und verlebten in Petersburg fast die ganze Wintersaison. Aber um die großen Fasten platzten alle Hoffnungen wie große, farbenfrohe Seifenblasen. Die Zukunftsträume zerbarsten, und der Wirrwarr hatte sich keineswegs geklärt, sondern wurde noch widerwärtiger. Erstens gelang es fast gar nicht, oder nur in ganz mikroskopischem Umfange, die Beziehungen zu den höchsten Kreisen wieder anzuknüpfen, und auch das erforderte ganz demütigende Anstrengungen. Die beleidigte Warwara Petrowna stürzte sich nun uneingeschränkt in die »neuen Ideen« und richtete bei sich Empfangsabende ein. Sie wollte Literaten um sich sehen, und man hatte ihr diese sogleich in großen Mengen zugeführt. Später kamen die Herren Schriftsteller auch von selbst ohne Einladung: einer brachte den anderen mit. Noch nie hatte sie solche Ritter der Feder zu sehen bekommen. Sie waren unglaublich eitel und verbargen es gar nicht. Es schien sogar, als wenn sie durch die offene Bekundung ihrer übertrieben hohen Meinung von sich selbst eine Pflicht erfüllten. Einige, wenn auch bei weitem nicht alle, kamen zu Warwara Petrowna sogar in angeheitertem Zustande, taten aber so, als ob sie darin eine besondere, erst gestern entdeckte Schönheit fänden. Sie alle waren auf etwas stolz, und zwar so sehr, daß es einen Unbeteiligten geradezu seltsam anmutete. Auf allen ihren Gesichtern stand gleichsam geschrieben, daß sie soeben erst ein ungemein wichtiges Geheimnis entschleiert hätten. Sie beschimpften sich gegenseitig und rechneten sich dies Benehmen als Ehre an. Es war ziemlich schwer zu erfahren, was sie eigentlich geschrieben hatten; aber es waren unter ihnen Kritiker, Romanschriftsteller, Dramatiker, Satiriker und Leute, die es sich zur Aufgabe machten, die Wunden der Gesellschaft aufzudecken. Stepan Trofimowitsch gelang es sogar, in ihren höchsten Kreis einzudringen, von wo aus die ganze Bewegung geleitet wurde. Es war unglaublich schwer, zu den führenden Persönlichkeiten durchzukommen, aber sie begegneten ihm freundlich, obwohl keiner von ihnen über ihn etwas wußte und nichts weiter gehört hatte, außer daß er »eine Idee verkörpere«. Er ging so geschickt mit ihnen um, daß er auch sie ein paarmal dazu brachte, Warwara Petrownas Salon mit ihrer Anwesenheit zu beehren und das trotz aller ihrer olympischen Höhe. Sie waren sehr ernste und sehr höfliche Menschen und benahmen sich tadellos; die übrigen hatten offenbar Furcht vor ihnen; aber man sah deutlich, daß sie keine Zeit hatten. Es kamen auch zwei oder drei frühere literarische Berühmtheiten, die sich damals zufällig in Petersburg aufhielten und mit denen Warwara Petrowna schon lange in sehr feinen, ästhetischen Beziehungen stand. Aber zu ihrer Verwunderung benahmen sich diese wirklichen und unzweifelhaften Berühmtheiten so still und bescheiden wie nur irgend möglich; manche von ihnen schmeichelten geradezu diesem ganzen neuen Gesindel und suchten sich bei ihm in ganz schmählicher Weise lieb Kind zu machen. Anfangs hatte Stepan Trofimowitsch Glück; man nahm sich seiner an, bemühte sich um ihn und begann, ihn sogar in öffentlichen literarischen Versammlungen zur Schau zu stellen. Als er zum ersten Male als einer der Redner zu einem Vortrag in solcher Versammlung die Tribüne betrat, erscholl ein rasendes Händeklatschen, das an die fünf Minuten lang nicht verstummte. Neun Jahre später erinnerte er sich daran mit Tränen in den Augen, die übrigens mehr eine Folge seiner Künstlernatur als seiner Dankbarkeit waren. »Ich schwöre Ihnen, und möchte darauf wetten,« sagte er einmal zu mir (aber nur eben zu mir und nur im geheimen), »daß kein Mensch unter diesem Publikum von mir auch das Geringste wußte!« Dieses Bekenntnis ist sehr beachtenswert: er hatte also doch wohl einen scharfen Verstand, wenn er damals auf der Tribüne trotz seines ganzen Freudentaumels seine Situation so klar übersehen und erfassen konnte; andererseits mußte aber sein Verstand dennoch nicht besonders scharf sein, da er noch neun Jahre später an diesen Vorfall nicht ohne ein Gefühl der Kränkung zurückdenken konnte. Man veranlaßte ihn, seine Unterschrift unter zwei oder drei Kollektivproteste zu setzen, und er tat es, ohne zu wissen, wogegen sich diese richteten; auch Warwara Petrowna zwang man, eine Kundgebung, die sich gegen irgend jemandes »gräßliche Handlung« richtete, zu unterschreiben. Übrigens hielten sich alle diese neuen Leute, obwohl sie Warwara Petrowna besuchten, aus irgendeinem unverständlichen Grunde für verpflichtet, auf sie mit Geringschätzung und unverhohlenem Spott herabzublicken. Stepan Trofimowitsch deutete mir später in einem seiner bitteren Augenblicke an, daß sie eben zu dieser Zeit ihn zu beneiden anfing. Sie begriff natürlich sehr wohl, daß die zu ihr kommenden Leute kein passender Umgang für sie wären, empfing sie aber dennoch beinah gierig und mit einer echt weiblichen nervösen Ungeduld. Die Hauptsache jedoch war, daß sie noch immer etwas Außerordentliches von ihnen zu erwarten schien. Abends, wenn ihre Gäste sich versammelten, sprach sie sehr wenig, obgleich sie an der Unterhaltung recht wohl sich zu beteiligen imstande gewesen wäre. Sie zog es jedoch vor, zu schweigen und zuzuhören. Man sprach über die Abschaffung der Zensur und des überflüssigen Buchstaben »jer«, man redete über den Ersatz des russischen Alphabetes durch das lateinische, besprach die tags zuvor erfolgte Verbannung irgendeines Bekannten, einen Skandal, der in der Passage vorgekommen sein sollte, die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Einteilung Rußlands in einzelne Völkergebiete, die durch ein freies, föderatives Bundesverhältnis miteinander vereint wären, debattierte über die Auflösung der Armee und der Flotte, über die Wiederherstellung Polens bis an den Dnepr, über Agrarreformen und Proklamationen, über die Abschaffung des Erbrechts, der Familie, der bestehenden Vorschriften und Gesetze, die sich auf Kinder bezogen, über die Abschaffung der Geistlichkeit, über die Frauenrechte, über das Haus Krajewskijs, das niemand Herrn Krajewskij verzeihen konnte, und so weiter und so weiter. Es war klar, daß sich in diese zusammengewürfelte Gesellschaft von neuen Männern auch sehr viele Schurken hineingeschlichen hatten, aber ebenso unzweifelhaft war es, daß sich darunter auch viele ehrliche, aufrichtige und sogar anziehende Persönlichkeiten befanden, denen man diese guten Eigenschaften nicht absprechen konnte, trotz eines immerhin recht merkwürdigen Untertons in ihrem Benehmen. Die Ehrenhaften waren bedeutend unverständlicher als die Schufte und Grobiane; aber es war nicht recht zu erkennen, wer unter ihnen eigentlich die Oberhand hatte. Als Warwara Petrowna ihre Absicht, eine Zeitschrift herauszugeben, kundgab, strömte ihr noch mehr Volk zu; aber sofort begann man ihr ganz offen und in ihrer Gegenwart den Vorwurf zu machen, sie sei eine Kapitalistin und wolle sich an fremder Arbeit bereichern. Diese Beschuldigungen waren ebenso ungeniert wie unerwartet. Eines Abends geriet im Salon Warwara Petrownas irgendein berühmter Jüngling mit dem hochbetagten General Iwan Iwanowitsch Drosdow in Streit. Der General war ein früherer Freund und Regimentskamerad des verstorbenen Generals Stawrogin, ein, allerdings in seiner Art, sehr achtungswerter Mann, den wir hier alle kennen und von dem wir wissen, daß er ein äußerst starrköpfiger, reizbarer Mensch ist, der stets sehr viel zu essen pflegt und über alle Maßen den Atheismus verabscheut. Der Jüngling sagte ihm gleich am Anfang des Wortwechsels: »Wenn Sie so sprechen, dann sind Sie eben ein – General!« Er meinte damit eben, daß es für ihn ein stärkeres Schimpfwort als »General« überhaupt nicht gebe. Iwan Iwanowitsch brauste ganz fürchterlich auf. »Ja, mein Herr, ich bin ein General, und zwar ein Generalleutnant, und ich habe meinem Kaiser gedient! Du aber, mein Bester, bist nichts als ein grüner Junge und ein Gottesleugner!« Es folgte ein ganz unmöglicher Auftritt. Schon am nächsten Tage wurde der Fall in der Presse erörtert, und man begann Unterschriften zu sammeln zu einem Kollektivprotest gegen Warwara Petrownas »gräßliche Handlung«, da sie dem General nicht sofort die Türe gewiesen hatte. In einer illustrierten Zeitschrift erschien eine Karikatur, die in recht boshafter Weise Warwara Petrowna, den General und Stepan Trofimowitsch als drei reaktionäre Freunde darstellte; dem Bildchen waren noch einige Verse beigefügt, die irgendein Volksdichter eigens für diesen Fall verfaßt hatte. Ich will hier noch von mir aus bemerken, daß viele Personen im Generalsrang tatsächlich die lächerliche Gewohnheit haben, zu sagen: »Ich habe meinem Kaiser gedient ...« Als ob sie nicht denselben Kaiser hätten wie wir einfache Untertanen, sondern einen besonderen, eigenen Herrscher.

Nun war es natürlich unmöglich, länger in Petersburg zu bleiben, um so weniger, als auch Stepan Trofimowitsch ein entschiedenes Fiasko ereilte. Er hatte den Ton der Zeit nicht durchhalten können und begann, die Rechte der Kunst zum Ausdruck zu bringen, was nur zur Folge hatte, daß man über ihn von nun an noch mehr lachte als vorher. Bei seinem letzten Vortrag wollte er durch staatsbürgerliche Beredsamkeit eine Wirkung erzielen, da er sich einbildete, man würde ihn aus Achtung vor seiner früheren »Verbannung« anhören und es könnte ihm gelingen, die Herzen zu rühren. Widerspruchslos gab er die Lächerlichkeit und Nutzlosigkeit des Wortes »Vaterland« zu; er bekundete auch sein Einverständnis mit den neuen Gedanken über die Schädlichkeit der Religion, erklärte aber laut und fest, daß Puschkin bedeutend mehr wert sei als ein paar Stiefel. Man pfiff ihn erbarmungslos aus, und zwar so sehr, daß er gleich auf dem Fleck, ohne noch die Rednerbühne verlassen zu haben, in aller Öffentlichkeit in Tränen ausbrach. Warwara Petrowna brachte ihn mehr tot als lebendig nach Hause. »On m'a traité comme un vieux bonnet de coton!« stammelte er in einem fort. Sie sorgte die ganze Nacht hindurch für ihn, gab ihm Kirschlorbeertropfen zu trinken und wiederholte ihm bis zum Tagesanbruch: »Sie sind noch imstande, nützlich zu sein; man wird Sie noch holen; man wird Sie noch nach Gebühr würdigen ... an einem anderen Orte.«

Gleich am anderen Tage erschienen bei Warwara Petrowna frühmorgens fünf Literaten, von denen ihr drei vollkommen unbekannt waren, und die sie überhaupt nie zuvor gesehen hatte. Mit sehr ernster Miene erklärten sie ihr, sie hätten sich mit der Angelegenheit ihrer Zeitschrift befaßt und ihr jetzt ihren Beschluß mitgebracht. Warwara Petrowna war es noch nie eingefallen, jemanden den Auftrag zu erteilen, etwas, was sich auf ihre Zeitschrift bezog, zu erwägen und irgendwie darüber zu beschließen. Die Herren Literaten aber teilten ihr mit, sie solle, sobald sie die Zeitschrift gegründet haben werde, diese sofort mitsamt dem zum Betrieb nötigen Geld ihnen überlassen, und zwar nach den Grundsätzen einer offenen Handelsgesellschaft; sie selbst müsse indessen unverzüglich nach Skworeschniki zurückreisen und nicht vergessen, Stepan Trofimowitsch mitzunehmen, da er »schon recht veraltet sei«. Aus Feingefühl erklärten sie sich bereit, ihr Eigentumsrecht an der Zeitschrift anzuerkennen und ihr jährlich ein Sechstel des Reingewinns zuzusenden. Das Rührendste dabei aber war, daß aller Wahrscheinlichkeit nach unter diesen fünf Menschen mindestens vier gar keine eigennützigen Absichten hatten und sich lediglich um der »gemeinsamen Sache« willen soviel Mühe gaben.

»Als wir abfuhren, waren wir wie verblödet,« erzählte mir später Stepan Trofimowitsch, »ich konnte absolut nichts begreifen und erinnere mich, daß ich zum Klappern der Waggonräder immerfort murmelte:

Die Zeit ist weg und Lew Kambek,
Lew Kambek, die Zeit ist Dreck ...

und noch Gott weiß was mehr. Und so bis dicht vor Moskau. Erst in Moskau kam ich wieder zur Besinnung, wie wenn ich dort wirklich etwas anderes hätte finden können!«

»Oh, meine Freunde!« rief er uns mitunter in Augenblicken edler Inspiration zu, »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, welche Trauer und welcher Ingrimm die Seele erfassen können, wenn unverständige Menschen eine große Idee, die man schon lange als heilig geachtet hat, plötzlich aufgreifen, zu ebensolchen Dummköpfen, wie sie selbst es sind, auf die Straße schleppen, und man ihr dann auf einmal auf dem Trödelmarkt wieder begegnet, sie kaum zu erkennen vermag, da sie, mit Schmutz besudelt, in abgeschmackter, unharmonischer Art zur Schau gestellt wird, da sie ihrer Proportionen und ihrer Einheitlichkeit beraubt und bereits zu einem Spielzeug für dumme Kinder degradiert ist! Nein! In unserer Zeit war es anders! Ganz anderen Zielen haben wir da nachgestrebt. Ganz, ganz anderen Zielen! Ich erkenne fast nichts wieder ... Aber unsere Zeit wird noch zurückkommen und wird dann alles, was heute schwankt und taumelt, wieder auf den festen Weg führen. Wie soll denn das sonst enden?«

7

Gleich nach der Rückkehr aus Petersburg schickte Warwara Petrowna ihren Freund ins Ausland, um sich dort zu »erholen«. Auch fühlte sie sehr wohl, daß sie sich unbedingt für einige Zeit voneinander trennen mußten. Stepan Trofimowitsch trat seine Reise mit Begeisterung an. »Dort werde ich von den Toten auferstehen!« rief er aus. »Dort werde ich mich endlich der Wissenschaft widmen können!« Aber gleich in den ersten Briefen aus Berlin stimmte er seine alte Leier wieder an: »Mein Herz ist gebrochen,« schrieb er an Warwara Petrowna, »ich kann nichts vergessen! Hier in Berlin erinnert mich alles an die Vergangenheit, an meine ersten Wonnen und an meine ersten Qualen. Wo ist sie? Wo sind sie beide jetzt? Wo seid ihr, ihr meine beiden Engel, deren ich nie wert gewesen bin? Wo ist mein Sohn, mein geliebter Sohn? Und wo ist schließlich mein Ich, mein früheres, eigenes Ich geblieben, das stark wie Stahl und unerschütterlich wie ein Fels war, wenn jetzt irgendein Andrejew, ein rechtgläubiger Narr mit einem Vollbart peut briser mon existence en deux«, und so weiter und so weiter. Was Stepan Trofimowitschs Sohn anbetrifft, so hatte er ihn nur zweimal in seinem ganzen Leben gesehen, zum erstenmal, als das Kind geboren wurde, und zum zweitenmal kürzlich in Petersburg, wo der Knabe bereits als junger Mann sich zum Eintritt in die Universität vorbereitete. Während der ganzen Zeit seines Lebens war der Junge, wie ich bereits gesagt habe, bei seinen Tanten im Gouvernement O., siebenhundert Werst von Skworeschniki entfernt, auf Warwara Petrownas Kosten erzogen worden. Und was nun jenen Andrejew anbelangt, so war das ganz einfach unser hiesiger Kaufmann und Ladenbesitzer, ein großer Sonderling, ein archäologischer Autodidakt, ein leidenschaftlicher Sammler russischer Altertümer, der sich manchmal vor Stepan Trofimowitsch mit seinen Kenntnissen und namentlich mit seiner Weltanschauung hervorzutun versuchte. Dieser ehrbare Kaufmann, der einen grauen Bart hatte und eine große silberne Brille trug, war Stepan Trofimowitsch für einige von ihm in der Nähe von Skworeschniki zum Abschlagen gekauften Desiatinen Wald vierhundert Rubel schuldig geblieben. Obwohl Warwara Petrowna ihren Freund vor seiner Abreise nach Berlin reichlich mit Geldmitteln ausgestattet hatte, rechnete Stepan Trofimowitsch doch noch besonders auch auf diese vierhundert Rubel, die er wahrscheinlich für seine geheimen Ausgaben verwenden wollte, und hatte fast geweint, als Andrejew ihn bat, sich noch einen Monat zu gedulden. Der Kaufmann hatte übrigens ein Recht, einen solchen Aufschub zu verlangen, denn die ersten Raten hatte er alle fast ein halbes Jahr zu früh bezahlt, weil Stepan Trofimowitsch sich damals in besonders großer Geldnot befunden hatte. Warwara Petrowna las diesen ersten Brief geradezu gierig durch, unterstrich mit Bleistift den Ausruf: »Wo sind sie beide?« vermerkte darauf das Eingangsdatum und schloß ihn in ihre Schatulle. Stepan Trofimowitsch hatte natürlich seine beiden verstorbenen Frauen gemeint. Im zweiten Schreiben, das aus Berlin eintraf, wurde das alte Lied etwas variiert: »Ich arbeite zwölf Stunden täglich« (»na, wenn's auch nur elf sind«, murmelte Warwara Petrowna), »stöbere in den Büchereien umher, vergleiche die Materialien, mache Abschriften, laufe umher; ich bin schon bei vielen Professoren gewesen. Auch habe ich die Beziehungen zu der prächtigen Familie Dundasow wieder angeknüpft. Wie reizend ist doch Nadeshda Nikolajewna bis auf den heutigen Tag geblieben! Sie läßt Sie schön grüßen. Ihr junger Gemahl und alle ihre drei Neffen sind in Berlin. Abends unterhalte ich mich mit der Jugend bis zum Morgengrauen. Wir haben da beinah attische Nächte, aber natürlich nur in bezug auf die Feinheit und Eleganz des Geistes; es ist alles edel und vornehm: wir treiben viel Musik, spanische Melodien, beschäftigen uns mit dem Zukunftstraum von der Erneuerung der Menschheit, mit der Idee der ewigen Schönheit, mit der Sixtinischen Madonna, mit dem Licht, das stellenweise von der Dunkelheit durchbrochen wird; aber selbst die Sonne hat ja ihre Flecke! Oh, meine Freundin, meine edle, treue Freundin! Mit meinem Herzen bin ich der Ihrige und stets bei Ihnen; mit Ihnen allein en tout pays, und wäre mit Ihnen sogar dans le pays de Makar et de ses veaux gegangen, von dem wir, wie Sie sich wohl erinnern, so oft mit Zittern vor unserer Abreise aus Petersburg gesprochen haben. Ich besinne mich darauf mit einem Lächeln. Nachdem ich die Grenze überschritten hatte, überkam mich das Gefühl, endlich allen Gefahren entronnen zu sein, eine Empfindung, die mir seltsam und neu war, nach so vielen, langen Jahren ...« und so weiter und so weiter.

»Na, das ist lauter Unsinn!« entschied Warwara Petrowna, als sie auch diesen Brief zu den übrigen legte. »Wenn die dort bis zum Morgengrauen attische Nächte feiern, dann wird er wohl kaum zwölf Stunden täglich bei den Büchern sitzen. War er wohl betrunken, als er mir das schrieb? Wie wagt es diese Dundasowa nur, mich grüßen zu lassen? Übrigens, mag er meinetwegen ein bißchen über die Stränge schlagen ...«

Mit dem Ausdruck »dans le pays de Makar et de ses veaux« übersetzte Stepan Trofimowitsch die russische Redensart »Wohin Makar seine Kälber nicht treibt«, die man zur Bezeichnung eines gar zu entlegenen Ortes anwendet. Er übertrug überhaupt recht gern und absichtlich in der dümmsten Weise echt russische Sprichwörter und Redensarten ins Französische, obwohl er sie ohne Zweifel sehr gut verstand und bedeutend besser übersetzen konnte. Aber er tat das, weil er es für besonders schick und geistreich hielt.

Indessen dauerte sein Bummelleben nicht lange; er hielt es nicht vier Monate lang aus und beeilte sich, wieder nach Skworeschniki zurückzukehren. Seine letzten Briefe brachten nur noch Ergüsse der gefühlvollsten Liebe zu seiner abwesenden Freundin und waren buchstäblich von Tränen durchnäßt, die die lange Trennung seinen Augen entpreßt hatte. Es gibt Naturen, die sich außerordentlich stark an ein Haus gewöhnen können, wie etwa kleine Zimmerhunde. Das Wiedersehen der beiden war ein begeistertes und feierliches. Aber schon nach zwei Tagen ging alles wie früher und war sogar noch langweiliger geworden. »Mein Freund,« sagte mir Stepan Trofimowitsch nach etwa vierzehn Tagen unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit, »mein Freund, ich entdeckte eine für mich ganz entsetzliche ... Neuigkeit: Je suis un ... einfach ein Gnadenbrotesser – et rien de plus! Mais r–r–rien de plus!«

8

Dann trat bei uns eine vollkommen sturmlose und stille Zeit ein, die beinah diese ganzen neun Jahre hindurch dauerte. Die hysterischen Anfälle, die regelmäßig mit einem Schluchzen an meiner Schulter endeten, setzten sich natürlich in regelmäßiger Weise fort, störten aber unsere Glückseligkeit keineswegs. Ich wundere mich darüber, daß Stepan Trofimowitsch in dieser Zeit kein Fett angesetzt hatte. Nur seine Nase wurde ein wenig röter und seine großherzige Gelassenheit nahm noch zu. Allmählich bildete sich um ihn ein fester Kreis von Freunden, der allerdings immer nur sehr klein war. Warwara Petrowna kümmerte sich wenig um uns, aber dennoch erkannten wir sie alle als unsere Patronin an. Nach der Lehre, die sie in Petersburg erhalten hatte, ließ sie sich endgültig in unserer Stadt nieder; im Winter wohnte sie in ihrem Stadthause und im Sommer auf dem nicht weit entlegenen Gute. Noch nie hatte sie in der besseren Gesellschaft unseres Gouvernements so viel Bedeutung und Einfluß gehabt wie in den letzten sieben Jahren, das heißt, bis zur Ernennung unseres jetzigen Gouverneuers. Unser früherer Gouverneuer, der unvergeßliche, sanftmütige Iwan Osipowitsch, war ein naher Verwandter von ihr, dem sie früher einmal Wohltaten erwiesen hatte. Seine Frau zitterte schon bei dem bloßen Gedanken, mit irgend etwas Warwara Petrownas Mißfallen erregen zu können; und die Verehrung, die ihr von allen Angehörigen der Gesellschaft des Gouvernements erwiesen wurde, ging so weit, daß sie schon beinah etwas Sündhaftes enthielt. Also hatte es infolgedessen auch Stepan Trofimowitsch sehr gut. Er war Mitglied des Klubs, verstand es, mit Würde im Kartenspiel zu verlieren, und erwarb sich die allgemeine Hochachtung, obwohl viele in ihm nur einen »Gelehrten« sahen. Später, als ihm Warwara Petrowna erlaubt hatte, in einem anderen Hause zu wohnen, fühlten wir uns noch freier und noch ungehemmter. Wir versammelten uns bei ihm zweimal in der Woche; es ging dabei lustig zu, namentlich, wenn er mit dem Champagner nicht knauserte. Der Wein wurde im Laden des bereits erwähnten Andrejew gekauft. Zahlen tat für ihn natürlich Warwara Petrowna, und zwar alle Halbjahr einmal. Der Tag der Begleichung dieser Rechnungen war fast immer auch ein Tag der Cholerineanfälle.

Das älteste Mitglied unseres engeren Kreises war Liputin, der zu der Beamtenschaft des Gouvernements zählte, nicht mehr allzu jung war, sich als großer Fortschrittler fühlte und in der Stadt als Atheist galt. Er war zum zweitenmal verheiratet, und zwar mit einer jungen und hübschen Frau, die zu ihm mit einer nennenswerten Mitgift gekommen war; außerdem hatte er drei heranwachsende Töchter. Seine ganze Familie hielt er zur Gottesfurcht an und ließ sie kaum aus den vier Wänden heraus, denn er war außerordentlich geizig und hatte es fertig gebracht, von seinem geringen Gehalt so viel zu sparen, daß er sich ein Häuschen kaufen und ein nettes Sümmchen zurücklegen konnte. Als einem unruhigen und nur ein niederes Amt bekleidenden Menschen zollte man ihm in der Stadt nur wenig Respekt, und in die bessere Gesellschaft wurde er überhaupt nicht aufgenommen. Zudem kannte man ihn noch als ein notorisches Klatschmaul, und er war schon seiner losen Zunge wegen oft und recht schmerzlich bestraft worden, einmal von einem Offizier, ein anderes Mal von einem achtbaren Familienvater, einem Gutsbesitzer. Wir aber liebten seinen scharfen Verstand, seine Wißbegierde und seine eigenartige boshafte Lustigkeit. Warwara Petrowna mochte ihn nicht leiden, aber er verstand es doch, sich bei ihr immer wieder einzuschmeicheln.

Auch Schatow brachte sie keine besonderen Sympathien entgegen. Dieser Schatow gehörte erst seit einem Jahr unserem Kreis an. Früher war er Student gewesen, mußte aber infolge einer skandalösen Studentengeschichte die Hochschule verlassen. In seinen Kinderjahren gehörte er zu den Schülern Stepan Trofimowitschs; geboren war er als Leibeigener Warwara Petrownas, und zwar als Sohn ihres verstorbenen Kammerdieners Pawel Feodorow, weshalb sie ihm auch viele Wohltaten erwiesen hatte. Aber sie mochte seinen Stolz und seine Undankbarkeit nicht leiden und konnte ihm nicht verzeihen, daß er nach seiner Vertreibung aus der Universität nicht sofort zu ihr gekommen war; er hatte ihr nicht einmal auf einen eigens wegen diesem Vorfall geschriebenen Brief geantwortet und vorgezogen, sich in die Fron eines etwas kultivierten Kaufmanns als Lehrer zu begeben. Zusammen mit der Familie seines Brotherrn war er ins Ausland gereist, allerdings mehr als Aufseher der Kinder und nicht als deren Erzieher; aber es zog ihn damals schon gar zu sehr über die Grenze. Der Kinder wegen wurde auch noch eine Gouvernante mitgenommen, ein frisches russisches Fräulein, das auch erst kurz vor der Abreise in den Dienst des Kaufmanns getreten und hauptsächlich wohl der geringen Gehaltsansprüche wegen angenommen war. Etwa zwei Monate später jagte der Kaufmann das Mädchen »wegen zu freier Anschauungen« hinaus. Da verließ auch Schatow seine Stellung, folgte der Gemaßregelten und ließ sich kurz darauf mit ihr in Genf trauen. Etwa drei Wochen lebten sie zusammen und gingen dann auseinander, als freie und durch nichts gebundene Menschen, was allerdings auch infolge ihrer Armut geschah. Danach trieb sich Schatow lange Zeit allein in Europa herum und lebte Gott weiß wovon; man erzählte sich, er hätte auch auf der Straße Stiefel geputzt und sei in irgendeinem Hafen Lastträger gewesen. Vor einem Jahr etwa war er endlich zu uns in seinen Heimatsort zurückgekehrt und ließ sich da mit einer alten Tante nieder, die aber schon einen Monat darauf starb. Mit seiner Schwester Dascha, die ebenfalls ein Pflegekind Warwara Petrownas war und als Lieblingsgesellschafterin in ihrem Hause auf sehr vornehmem Fuße lebte, unterhielt er nur sehr lose und entfernte Beziehungen. Wenn er sich unter uns befand, war er stets mürrisch und schweigsam; mitunter aber, wenn seine Überzeugungen angetastet wurden, geriet er in eine krankhafte Erregung und nahm dann kein Blatt vor den Mund. »Schatow muß man vor allem binden und erst dann kann man mit ihm disputieren«, sagte bisweilen Stepan Trofimowitsch, wenn er zum Scherzen aufgelegt war; aber er mochte seinen ehemaligen Schüler sehr gern leiden. Im Auslande hatte Schatow einige seiner früheren sozialistischen Ansichten von Grund aus geändert und war zum entgegengesetzten Extrem übergesprungen. Er war eine jener idealen russischen Naturen, die, wenn sie einmal in den Bann irgendeiner starken Idee geraten sind, sich gleichsam von ihrer Last niederdrücken lassen und das mitunter sogar fürs ganze Leben. Sie sind niemals imstande, mit dieser Idee fertig zu werden, glauben aber leidenschaftlich an sie, und so vergeht denn bisweilen ihr ganzes Leben wie im Todeskampf unter einem auf sie niedergefallenen und sie halb schon zermalmenden Steine. Das Äußere Schatows entsprach durchaus seinen Anschauungen: er war ungelenk, blond, langmähnig, strubblig, kleingewachsen, breitschulterig, hatte dicke Lippen, sehr dichte, überhängende, hellblonde Augenbrauen, eine finster gerunzelte Stirn und einen ungeduldigen Blick, den er allerdings stets zu Boden richtete, wie wenn er sich über etwas schämte. Er mochte sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt sein. »Ich wundere mich nicht mehr darüber, daß seine Frau vor ihm Reißaus genommen hat«, bemerkte einmal Warwara Petrowna, nachdem sie ihn aufmerksam gemustert hatte. Trotz seiner großen Armut war er stets bemüht, sich sauber zu kleiden. An Warwara Petrowna wandte er sich auch jetzt noch nicht um Hilfe, sondern schlug sich recht und schlecht mit zufälligen Verdiensten durch; auch zu Kaufleuten ging er in Stellung. Einmal war er Verkäufer in einem Laden, ein andermal wäre er beinah auf einem mit Waren beladenen Dampfer als Gehilfe des Vertreters der Firma mitgefahren, erkrankte aber unmittelbar vor der Abreise. Man kann sich nur schwer eine Vorstellung davon machen, wie große Armut er zu ertragen imstande war, ohne an sie überhaupt zu denken. Warwara Petrowna schickte ihm nach seiner Krankheit heimlich und anonym hundert Rubel. Es gelang ihm jedoch, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Er überlegte sich die Sache, beschloß, das Geld anzunehmen und ging dann zu Warwara Petrowna, um sich zu bedanken. Diese empfing ihn beinah mit Begeisterung; aber auch diesmal täuschte er schmählich ihre Erwartungen: er blieb nur fünf Minuten sitzen, lächelte dumm, schwieg und hatte seinen Blick wie gewöhnlich stumpfsinnig zu Boden gerichtet; dann stand er plötzlich an der interessantesten Stelle einer Geschichte, die sie ihm erzählte, auf, hörte sie nicht bis zu Ende an, verbeugte sich schief und ungeschickt, wurde von furchtbarer Scham überwältigt, stieß in seiner Verwirrung ihr teures, mit eingelegter Arbeit verziertes Nähtischchen um, das dabei zerbrach, und eilte halb tot vor Beschämung aus dem Zimmer hinaus. Liputin machte ihm später bittere Vorwürfe dafür, daß er diese hundert Rubel, die ihm eine ehemalige Gutsherrin und Despotin zugesandt, nicht mit Verachtung zurückgewiesen hatte und obendrein noch zu ihr hingegangen war, um sich zu bedanken. Schatow lebte einsam am Rande der Stadt und sah es nicht gern, wenn jemand zu ihm kam, mochte es sogar einer von uns sein. Die Abende bei Stepan Trofimowitsch besuchte er regelmäßig und ließ sich von ihm Bücher und Zeitungen zum Lesen geben.

Zu unseren abendlichen Veranstaltungen erschien noch ein junger Mann, ein hiesiger Beamter namens Wirginskij, der einige Ähnlichkeit mit Schatow hatte, obwohl er anscheinend in jeder Hinsicht das Gegenteil von ihm war. Aber auch er hatte »Familie«. Er war ein kümmerlicher, außerordentlich stiller junger Mensch von übrigens schon ungefähr dreißig Jahren, mit einer nicht unbedeutenden Bildung, die er sich jedoch größtenteils selbst ohne Lehrer angeeignet hatte. Er war arm, verheiratet, versah sein Amt und unterhielt mit seinen Einkünften eine Tante und eine Schwester seiner Frau. Diese und mit ihr auch die übrigen Damen der Familie hatten die radikalsten Ansichten; aber alles kam bei ihnen ein wenig plump heraus; hier war eben »die Idee auf die Straße geraten«, wie sich Stepan Trofimowitsch einmal bei einem anderen Anlaß ausgedrückt hatte. Sie alle schöpften ihre Anschauungen nur aus Büchern und waren bereit, auf den ersten Wink aus den fortschrittlichen Vereinigungen der Hauptstadt sich von allem möglichen loszusagen, wenn man ihnen nur dazu riet. Mme. Wirginskaja übte bei uns in der Stadt den Beruf einer Hebamme aus; als junges Mädchen hatte sie eine lange Zeit in Petersburg gelebt. Wirginskij selbst war von einer seltenen Reinheit des Herzens, und ich habe kaum je ein ehrlicheres Feuer der Seele bei einem Menschen gefunden. »Nie, nie werde ich diese leuchtenden Hoffnungen aufgeben!« pflegte er mir oft mit strahlendem Blick zu sagen. Von diesen »leuchtenden Hoffnungen« sprach er immer leise, beinah flüsternd, mit einem Wonnegefühl, wie wenn es sich um ein Geheimnis handelte. Er war ziemlich hochgewachsen, aber sehr dünn und schmal in den Schultern und hatte recht spärliches Haar von rötlicher Färbung. Alle hochmütigen Spöttereien Stepan Trofimowitschs über einige seiner Ansichten nahm er mit größter Sanftmut entgegen, und wenn er ihm einmal erwiderte, so tat er es sehr ernst und verblüffte ihn dadurch sogar nicht selten. Stepan Trofimowitsch behandelte ihn freundlich und benahm sich überhaupt uns gegenüber mit einem Anstrich väterlichen Wohlwollens.

»Ihr seid alle ›unausgebrütet‹«, sagte er scherzend zu Wirginskij. »Alle die, die Ihnen ähnlich sind, Wirginskij, obwohl ich an Ihnen nicht jene Be–schränkt–heit wahrgenommen habe, wie sie mir in Petersburg chez ces séminairistes entgegengetreten war; trotzdem aber seid ihr alle ›unausgebrütet‹. Schatow würde für sein Leben gern als ein Vollendeter gelten, aber auch er ist nur ein Unausgebrüteter.«

»Und ich?« fragte Liputin.

»Sie sind einfach die goldene Mitte, die sich überall zurechtzufinden weiß ... in ihrer Weise.«

Liputin fühlte sich gekränkt.

Man erzählte sich von Wirginskij, und leider ziemlich glaubwürdig, daß seine Gattin, als sie noch nicht ein volles Jahr mit ihm verheiratet war, ihm plötzlich erklärt habe, er könne sich als abgesetzt betrachten, da sie einen gewissen Lebiadkin vorziehe. Dieser Lebiadkin, der von auswärts zugezogen war, erwies sich später als eine recht verdächtige Persönlichkeit, und es stellte sich heraus, daß er gar nicht Stabshauptmann war, wie er sich selbst titulierte. Er verstand nichts weiter, als sich den Schnurrbart zu drehen, zu trinken und das ungereimteste Zeug zu schwatzen, das man sich nur denken kann. Dieser Mensch war in der taktlosesten Weise sofort zu Wirginskijs gezogen, da er sich freute, fremdes Brot essen zu können, schlief auch bei ihnen und begann schließlich den Hausherrn von oben herab zu behandeln. Man versicherte, daß Wirginskij seiner Frau, als sie ihm von seiner Verabschiedung Mitteilung machte, gesagt habe: »Liebe Freundin, bisher habe ich dich nur geliebt, jetzt aber achte ich dich auch.« Es ist aber wohl kaum anzunehmen, daß er bei dieser Gelegenheit einen solchen altrömischen Ausspruch getan hat; er soll im Gegenteil bitterlich geweint haben. Einmal, es war etwa zwei Wochen nach der Absetzung, begaben sie sich alle, die ganze »Familie«, zu einem Picknick in ein Wäldchen außerhalb der Stadt, wo sie sich mit Bekannten treffen und gemeinsam Tee trinken wollten. Wirginskij war fieberhaft lustig gestimmt und beteiligte sich auch am Tanzen; plötzlich aber packte er ohne jeden Anlaß, ohne daß vorher ein Streit vorgekommen wäre, den riesengroßen Lebiadkin, der gerade solo einen Cancantanz ausführte, mit beiden Händen bei den Haaren, zog ihn zu Boden und begann ihn kreischend, schreiend und weinend umherzuschleifen. Der Riese hatte sich derart erschrocken, daß er sich nicht einmal verteidigte und fast die ganze Zeit über, während ihn der andere an den Haaren herumzog, keinen Ton von sich gab; nach dieser Mißhandlung aber spielte er den Beleidigten mit dem ganzen unbändigen Zorn eines edlen Menschen.

Die ganze folgende Nacht flehte Wirginskij seine Frau auf den Knien an, ihm zu verzeihen; aber es wurde ihm nicht vergeben, denn er wollte sich doch nicht dazu verstehen, zu Lebiadkin zu gehen und ihn um Entschuldigung zu bitten; außerdem wurde ihm Mangel an Überzeugungskraft vorgeworfen und Dummheit; die letztere deswegen, weil er vor einer Frau gekniet habe. Der Stabskapitän verduftete bald darauf und erschien in unserer Stadt erst in der allerletzten Zeit wieder; diesmal brachte er seine Schwester mit und hatte ganz neue Absichten; aber von ihm wird noch später die Rede sein. Es ist daher durchaus nicht verwunderlich, daß der arme »Familienvater« bei uns Erholung suchte und unserer Gesellschaft bedurfte. Über seine Familienangelegenheiten sprach er sich übrigens bei uns niemals aus. Nur einmal, als er mit mir von Stepan Trofimowitsch heimging, machte er einige entfernte Andeutungen über seine Lage, ergriff mich aber sogleich an der Hand und rief mit flammender Begeisterung:

»Das hat aber nichts zu sagen; das ist ja nur ein Einzelfall und kann nicht im geringsten, nicht im geringsten der ›gemeinsamen Sache‹ schaden!«

Auch Gäste kamen gelegentlich zu unseren Zusammenkünften; so erschien bisweilen der Jude Liamschin und der Hauptmann Kartusow. Eine Zeitlang kam noch ein wißbegieriger alter Herr; aber dieser starb. Liputin brachte uns einmal einen verbannten römisch-katholischen Pfarrer namens S³oñczewski mit, und eine Zeitlang gestatteten wir ihm aus Prinzip an unseren Zusammenkünften teilzunehmen, dann aber empfingen wir ihn nicht mehr.

9

Einmal hieß es von uns in der Stadt, unser engerer Kreis sei die Brutstätte der Freigeisterei, der Liederlichkeit und der Gottlosigkeit; dieses Gerücht verstärkte sich immer mehr und mehr. Und doch gab es bei uns eigentlich nur ganz harmloses, nettes, echt russisches, heiteres, liberales Geschwätz. »Der höchste Liberalismus« und »der höchste Liberale«, das heißt der Liberale ohne jedes praktische Ziel, sind nur in Rußland möglich. Stepan Trofimowitsch brauchte, wie jeder geistreiche Mensch, Zuhörer, und außerdem mußte er unbedingt das Bewußtsein haben, daß er die höchste Pflicht, das Propagieren von Ideen, erfüllte. Und schließlich konnte er doch seinen Champagner nicht allein trinken und brauchte Menschen, mit denen er bei vollen Gläsern gewisse lustige Gedanken über Rußland und den »russischen Geist« sowohl, als auch über Gott im allgemeinen und den »russischen Gott« im besonderen austauschen konnte. Außerdem machte es ihm Spaß, zum hundertstenmal die allen bekannten und beinah auswendig gelernten russischen Skandalanekdötchen zu erzählen. Auch Stadtklatsch lehnten wir nicht ab und fällten dabei bisweilen sehr strenge, hochmoralische Urteilssprüche. Mitunter verfielen wir auch auf allgemein menschliche Gesprächsstoffe und redeten über das zukünftige Schicksal Europas und der gesamten Menschheit; wir prophezeiten im Tone allwissender Hochschullehrer, daß Frankreich nach dem Zusammenbruch des Cäsarismus mit einem Male zu einem Staate zweiten Ranges herabsinken werde und waren fest davon überzeugt, daß diese Entwicklung sehr bald und sehr leicht vor sich gehen würde. Dem Papst hatten wir schon längst in dem geeinigten Italien die Rolle eines einfachen Metropoliten vorausgesagt und zweifelten nicht im geringsten daran, daß dieses tausendjährige Problem in unserem Zeitalter der Humanität, der Industrie und der Eisenbahnen nichts weiter als eine Kleinigkeit sei. Aber der »höchste russische Liberalismus« stellte sich zu den Dingen überhaupt nicht anders. Bisweilen sprach Stepan Trofimowitsch von der Kunst, und zwar sehr gut, nur etwas zu abstrakt. Mitunter erinnerte er sich auch an seine Jugendfreunde – alles Männer, die in der Geschichte unserer Gesamtentwicklung bereits ihren sichtbaren Platz hatten – und gedachte ihrer mit Rührung und Verehrung, zugleich aber auch mit einem Anstrich von Neid. Wenn wir uns schon gar zu sehr langweilten, dann setzte sich der Jude Liamschin, der bei uns in der Stadt die Stelle eines Unterbeamten an der Post innehatte und vorzüglich Klavier spielen konnte, an das Instrument. In den Pausen zwischen den einzelnen Musikstücken imitierte er ein Schwein, ein Gewitter, eine Entbindung mit dem ersten Schrei des Kindes und dergleichen mehr; eigentlich wurde er ja auch nur zu diesem Zweck eingeladen. Waren wir aber sehr angeheitert, was, wenn auch nicht oft, doch mitunter vorkam, so gerieten wir in Begeisterung und sangen sogar einmal, von Liamschin auf dem Klavier begleitet, im Chor die Marseillaise, aber ich weiß nicht, ob es bei uns gut geklungen hat. Den großen Tag der Abschaffung der Leibeigenschaft, den 19. Februar, begrüßten wir enthusiastisch und begannen schon viel früher zu seinen Ehren unter Trinksprüchen unsere Gläser zu leeren. Das war noch in der längst verflossenen Zeit, als noch kein Schatow und kein Wirginskij in unserem Kreise war und Stepan Trofimowitsch noch mit Warwara Petrowna in demselben Hause wohnte. Schon einige Zeit vor dem großen Tage fing Stepan Trofimowitsch an, immerzu ein paar bekannte, wenn auch ziemlich gezierte Verse vor sich hinzubrummeln, die wahrscheinlich von irgendeinem früheren liberalen Gutsbesitzer verfaßt worden waren:

»Bauern kommen, bewaffnet mit Beilen,
Es wird etwas Schreckliches geben.«

Ich glaube wenigstens, daß es ungefähr so hieß, genau kann ich mich auf die Worte nicht besinnen. Warwara Petrowna hörte das einmal zufällig mit an, rief: »Unsinn, Unsinn!« und ging erzürnt hinaus. Liputin, der gerade zugegen war, sagte boshaft zu Stepan Trofimowitsch:

»Es wäre doch eigentlich bedauerlich, wenn die früheren Leibeigenen den Herren Gutsbesitzern in ihrer Freude wirklich eine Unannehmlichkeit bereiten würden.«

Und er fuhr mit seinem Zeigefinger recht anschaulich um den Hals.

»Cher ami,« erwiderte ihm Stepan Trofimowitsch gutmütig, »glauben Sie mir, daß dies« (er wiederholte die Fingerbewegung um den Hals) »weder uns allen noch unseren Gutsbesitzern irgendeinen Nutzen bringen wird. Auch ohne Köpfe werden wir nicht imstande sein, unser Leben besser einzurichten, obgleich es wahr ist, daß es gerade unsere Köpfe sind, die uns am meisten daran hindern, die Dinge richtig zu verstehen.«

Ich will hier bemerken, daß viele bei uns glaubten, am Tage der Verkündung des Manifestes würde etwas Ungewöhnliches geschehen, etwas in der Art, wie es Liputin voraussagte und mit ihm alle sogenannten Kenner des Volkes und des Staates. Es scheint mir, daß auch Stepan Trofimowitsch diesbezügliche Befürchtungen hatte, und sogar in so hohem Maße, daß er kurz vor dem großen Tage Warwara Petrowna plötzlich um die Erlaubnis bat, ins Ausland reisen zu dürfen; mit einem Wort, er befand sich in heftiger Unruhe. Aber der große Tag verging ohne Störungen, dann mit ihm noch eine Zeitspanne, und das hochmütige Lächeln erschien wieder auf den Lippen Stepan Trofimowitschs. Er äußerte vor uns einige bemerkenswerte Gedanken über den Charakter des Russen im allgemeinen und den des russischen Bauern im besonderen.

»Da wir nun einmal so hastige Menschen sind, haben wir uns auch mit unseren Bauern übereilt«, schloß er die Reihe seiner interessanten Ausführungen. – »Wir haben sie in Mode gebracht, und ein ganzer Zweig unserer Literatur trug sich mit ihnen ein ganzes Jahr lang herum, wie mit einem neuentdeckten Schatz. Die verlausten Köpfe haben wir mit Lorbeer bekränzt. Das russische Dorf hat im Laufe der letzten tausend Jahre nichts weiter als den Bauerntanz Kamarinskij hervorgebracht. Ein bedeutender russischer Dichter, der außerdem sehr geistreich ist, hatte, als er zum erstenmal die große Rachel auf der Bühne erblickte, begeistert ausgerufen: ›Nie würde ich die Rachel für einen Bauern hingeben!‹ Ich möchte noch weitergehen: ich gäbe alle russische Bauern für die eine Rachel hin. Es ist Zeit, daß wir einen nüchternen Blick auf die Dinge gewinnen und unseren heimischen plumpen Birkenteer nicht mehr mit dem bouquet de l'impératrice vermischen.«

Liputin erklärte sich sofort mit ihm einverstanden, bemerkte aber, daß es seinerzeit schon der ganzen liberalen Richtung wegen notwendig gewesen sei, sich ein wenig des Volkes anzunehmen und selbst, wenn es gegen die eigene Überzeugung ginge, die Bauern zu loben, denn sogar die Damen der höchsten Gesellschaftskreise hätten doch beim Lesen der Erzählung »Anton, der Unglücksmensch« von Grigorowitsch Tränen vergossen, und manche von ihnen schrieben sogar von Paris aus an ihre Gutsverwalter, sie möchten von nun an die Bauern möglichst menschenwürdig behandeln.

Es geschah, daß zufällig gerade nach den Gerüchten über die Untaten des Anton Petrow auch in unserem Gouvernement, nur fünfzehn Werst von Skworeschniki entfernt, gewisse Mißhelligkeiten vorkamen, so daß man in der ersten Verwirrung sogar Militär hingeschickt hatte. Diesmal war die Aufregung Stepan Trofimowitschs dermaßen heftig, daß sogar wir darüber einen Schreck bekamen. Er schrie im Klub, daß man mehr Soldaten hinschicken müßte, und daß man sie telegraphisch aus einem anderen Landkreis herbeiholen sollte; er lief zum Gouverneur und versicherte ihm, daß er an der Sache völlig unbeteiligt sei; er bat, man möchte ihn nicht etwa auf Grund alter Erinnerungen in diese Affäre hineinziehen und ersuchte den Gouverneur, von dieser seiner Erklärung unverzüglich nach Petersburg an die zuständige Stelle einen Bericht abzusenden. Nur gut, daß dies alles schnell vorbeiging und keine Folgen mit sich brachte; aber über Stepan Trofimowitsch habe ich mich damals sehr gewundert.

Etwa drei Jahre darauf fing man bekanntlich an, von Nationalitäten zu sprechen, und es begann gerade die »öffentliche Meinung« aufzukeimen. Stepan Trofimowitsch lachte darüber.

»Meine Freunde,« belehrte er uns, »unsere Nationalität, wenn sie schon wirklich ›ihre Geburt feiert‹, wie die Zeitungen jetzt behaupten, sitzt bestimmt noch in der Schule, in irgendeiner deutschen Peterschule, bei einem deutschen Buch und lernt ihre ewige deutsche Aufgabe, während der deutsche Lehrer sie nach Bedarf zur Strafe in einem Winkel knien läßt. Die Herbeiziehung des deutschen Lehrers halte auch ich für löblich. Das Allerwahrscheinlichste ist jedoch, daß überhaupt nichts Derartiges ›seine Geburt feiert‹ und alles genau so weitergeht, wie es bisher gegangen ist, das heißt unter Gottes Schutz. Das genügt meiner Ansicht nach für Rußland vollkommen, pour notre sainte Russie. Dazu kommt, daß alle diese Panslawismen und Nationalitäten viel zu alt sind, um neu zu wirken. Unsere Nationalität, könnte man sagen, hatte sich noch nie anders geäußert als in der Form irgendeines Einfalls müßiger, vornehmer Herren in einem Klub und dazu noch in einem Moskauer Klub. Ich spreche natürlich nicht von der Zeit des Fürsten Igor. Und schließlich, rührt bei uns alles vom Müßiggange her. Von diesem unseren netten, hochherrschaftlichen, gebildeten und launischen Müßiggange! Das behaupte ich schon dreißigtausend Jahre lang. Wir verstehen es nicht, selbst schöpferisch zu arbeiten. Und was machen sie jetzt für einen großen Tramtram mit dieser öffentlichen Meinung, die ›ihre Geburt feiern‹ soll? Ist sie ihnen plötzlich, auf einmal, mir nichts dir nichts, vom Himmel in den Schoß gefallen? Verstehen sie denn wirklich nicht, daß man dem Besitz einer eigenen Meinung vor allen Dingen eine eigene Praxis voransetzen muß, eigene Arbeit, eigene Initiative? Umsonst fällt keinem etwas zu. Wollten wir arbeiten, so könnten wir auch in den Besitz einer eigenen Meinung gelangen. Da wir uns aber nie zur Arbeit bequemen werden, so werden statt uns auch immer diejenigen eine eigene Meinung besitzen, die an unserer Statt bisher immer gearbeitet haben, das heißt eben Europa und dieselben Deutschen, die schon seit zwei Jahrhunderten unsere Lehrer sind. Außerdem ist Rußland ein zu großes Mißverständnis, als daß wir es allein ohne die Deutschen und ohne uns anzustrengen, aufklären könnten. Schon zwanzig Jahre lang läute ich Sturm und rufe zur Arbeit auf! Ich habe mein Leben diesem Rufen geweiht und habe, ich Tor! an einen Erfolg geglaubt! Jetzt ist mein Glaube verschwunden, aber ich läute immer noch und werde bis zu meinem Ende läuten, bis zum Grab; ich werde so lange am Glockenstrick ziehen, bis man zum Requiem für mich läutet!«

Wir stimmten ihm nur bei. Leider! Wir applaudierten unserem Lehrer und mit welchem Eifer! Wie ist denn das, meine Herren, hört man nicht auch jetzt noch, mitunter sogar auf Schritt und Tritt, solchen »netten«, »vernünftigen«, »liberalen« altrussischen Unsinn?

An Gott glaubte unser Lehrer. »Ich verstehe nicht, warum ich hier als ein Gottesleugner verschrien bin?« pflegte er bisweilen zu sagen. »Ich glaube ja an Gott, mais distinguons, ich glaube an ihn wie an ein Wesen, das sich seiner in mir bewußt wird. Ich kann doch nicht auf dieselbe Weise an ihn glauben, wie etwa mein Dienstmädchen Nastasia, oder wie irgendein nobler Herr, der seinen Glauben ›für alle Fälle‹ in sich herumträgt, oder wie etwa unser Schatow – übrigens nein, Schatow zählt nicht mit, Schatow bemüht sich zu glauben, als Moskauer Slawophile. Was aber das Christentum anbetrifft, so bin ich bei all der aufrichtigen Achtung, die ich dieser Lehre entgegenbringe, dennoch kein Christ. Ich bin eher ein antiker Heide, wie der große Goethe oder wie es die alten Griechen waren. Man berücksichtige doch allein schon den Umstand, daß das Christentum die Frau nicht zu verstehen vermochte, wie es die George Sand in einem ihrer genialen Romane so prächtig dargelegt hat. Was aber Verbeugungen, Fasten und dergleichen mehr anbelangt, so verstehe ich einfach nicht, was meine Stellung zu diesen Dingen irgend jemand angeht? Mögen unsere hiesigen Denunzianten noch soviel über mich sprechen, ein Jesuit will ich dennoch nicht sein. Im Jahre 1847 schickte Belinskij aus dem Auslande an Gogol seinen bekannten Brief, in dem er ihm bittere Vorwürfe darüber machte, daß er an ›irgendeinen Gott‹ glaube. Entre nous soit dit, ich kann mir wahrhaftig nichts Komischeres vorstellen als den Augenblick, wo Gogol, der damalige Gogol, diesen Ausdruck und ... den ganzen Brief las! Aber ich lasse das Lächerliche beiseite, und da ich im wesentlichen mit der Sache einverstanden bin, so will ich sagen: das waren Menschen! Die haben es wirklich verstanden, ihr Volk zu lieben, um seinetwillen ein Leid auf sich zu nehmen und alles zu opfern, ohne sich ganz an seine Seite zu stellen, wenn sie es nicht für nötig hielten, und ohne ihm in gewissen Anschauungen nach dem Munde zu reden. Wie hätte auch in der Tat ein Belinskij die Erlösung in Fastenöl oder in Rettich mit Erbsen suchen sollen! ...«

Aber hier widersprach ihm Schatow.

»Niemals haben diese Ihre Männer das Volk geliebt, niemals haben sie um des Volkes willen gelitten, und nie haben sie ihm Opfer gebracht, wenn sie sich das zu ihrem Troste auch einreden!« brummte er grimmig, indem er die Augen zu Boden senkte und sich auf seinem Stuhl zurechtrückte.

»Diese Männer sollen das Volk nicht geliebt haben?« erhob Stepan Trofimowitsch ein Jammergeschrei. »Oh, wie sie Rußland liebten!«

»Weder Rußland noch das Volk!« schrie nun auch Schatow, und seine Augen funkelten. »Man kann nicht etwas lieben, was man nicht kennt, diese Ihre Männer aber haben von dem russischen Volk keine Ahnung gehabt! Alle diese Männer, und Sie mit ihnen, ließen sich das russische Volk durch die Finger entschlüpfen und betrachteten es durch eine Brille! Belinskij sogar ganz besonders; das geht schon aus seinem Briefe an Gogol deutlich genug hervor. Belinskij hat, genau so wie der ›Neugierige‹ in Krylows Fabel, in der Kunstkammer gerade den Elefanten übersehen, weil er seine ganze Aufmerksamkeit auf die französischen sozialistischen Käferchen gerichtet hatte; so ist er auch zeitlebens an diese gefesselt geblieben. Und er war doch wohl klüger als Sie alle! Nicht genug, daß Sie das Volk übersehen haben, Sie haben ihm gegenüber auch noch Verachtung und Widerwillen empfunden, schon allein deswegen, weil Sie sich unter einem Volke nur das französische Volk vorstellten, und auch von diesem nur die Pariser Bevölkerung, und sich daher schämten, weil das russische Volk dieser nicht gleiche. Da haben Sie die nackte Wahrheit! Wer aber kein Volk hat, der hat auch keinen Gott! Seien Sie überzeugt, daß jeder, der sein Volk zu verstehen aufhört und die Verbindung mit ihm verliert, sofort und im selben Maße auch des väterlichen Glaubens verlustig geht und entweder ein Atheist oder einfach gleichgültig wird. Was ich da sage, stimmt schon. Das ist eine Tatsache, die sich sehr leicht durch Beweise belegen läßt. Das ist es, weshalb Sie alle und auch wir jetzt entweder schändliche Atheisten oder gleichgültiges, liederliches Gesindel sind und weiter nichts! Und Sie auch, Stepan Trofimowitsch, ich schließe Sie keineswegs aus! Was ich da sagte, war hauptsächlich auf Sie gemünzt! Damit Sie es nur wissen!«

Gewöhnlich ergriff Schatow nach einer solchen Rede, wie er sie oft vor uns gehalten hatte, seine Mütze und stürzte zur Tür, in der festen Überzeugung, daß nunmehr alles zu Ende sei und er seine freundschaftlichen Beziehungen zu Stepan Trofimowitsch für alle Ewigkeit zerstört habe. Aber diesem gelang es, ihn immer noch rechtzeitig zurückzuhalten.

»Wie wäre es, Schatow, wenn wir um nach all diesen lieben Worten wieder versöhnten«, pflegte er zu sagen und streckte ihm dabei von seinem Lehnstuhl aus gutmütig die Hand entgegen.

Der plumpe, aber sehr empfindliche und schamhafte Schatow mochte durchaus keine Zärtlichkeiten leiden. Nach außen hin schien er ziemlich grob und derb zu sein, in seinem Innern aber war er, glaube ich, sehr feinfühlend. Wenn er auch bisweilen das rechte Maß überschritt, so war er stets selbst der erste, der darunter litt. Nachdem er auf Stepan Trofimowitschs einladende Worte etwas vor sich hingebrummt hatte und wie ein Bär auf demselben Fleck herumgetreten war, schmunzelte er auf einmal ganz unerwartet, legte seine Mütze hin und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, wobei er hartnäckig auf den Boden blickte. Natürlich wurde Wein geholt, und Stepan Trofimowitsch brachte einen passenden Trinkspruch aus, mit dem er mitunter das Andenken irgendeiner Größe aus seiner Zeit ehrte.


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