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Drittes Kapitel

Fremde Sünden

1

Es verging ungefähr eine Woche, und die Sache begann breitere Kreise um sich zu ziehen.

Ich will hier nebenbei bemerken, daß ich in dieser unglücklichen Woche viel Kummer durchzumachen hatte, da ich fast ununterbrochen in meiner Eigenschaft als nächster Vertrauter bei meinem armen, verlobten Freunde blieb. Am meisten bedrückte ihn das Gefühl der Scham, obwohl wir in dieser Zeit keinen Menschen zu sehen bekamen und immer allein saßen; aber er schämte sich selbst vor mir, und das ging sogar so weit, daß er sich um so mehr über mich ärgerte, je mehr er mir in den ganzen Fragenkomplex Einblick gewährte. Da er sehr argwöhnisch war, so bildete er sich ein, daß schon allen in der Stadt alles bekannt sei und fürchtete sich deshalb nicht nur im Klub, sondern sogar in unserem engeren Kreis zu erscheinen. Selbst die Spaziergänge, die er nach ärztlicher Verordnung machen mußte, unternahm er erst abends, wenn es schon vollständig dunkel war.

Es verging eine Woche, und es herrschte noch immer keine Klarheit darüber, ob er Bräutigam war; er konnte es auch auf keine Weise mit Sicherheit erfahren, trotz all seiner Bemühungen. Mit der Braut war er noch nicht zusammengekommen und wußte nicht einmal, ob sie wirklich seine Braut war; er konnte nicht einmal sagen, ob an der ganzen Sache etwas ernst genommen werden durfte! Bei sich wollte ihn Warwara Petrowna aus irgendwelchen Gründen nicht empfangen. Auf einen seiner ersten Briefe (er hatte deren bereits eine Menge an sie geschrieben) antwortete sie ihm unumwunden mit der Bitte, sie für einige Zeit mit jedem Verkehr mit ihm zu verschonen, weil sie sehr beschäftigt sei. Sie habe ihm zwar selbst manche wichtige Mitteilung zu machen, warte aber damit absichtlich, bis sie freier werde; dann wollte sie ihm mit der Zeit schon mitteilen, wann er wieder zu ihr kommen könne. Seine Briefe aber, schrieb sie, werde sie ihm uneröffnet zurückschicken; denn diese Korrespondenz sei »nur törichte Spielerei«. Diese Zuschrift hat er mir gezeigt, und ich habe sie mit meinen eigenen Augen gelesen.

Und doch waren alle diese Grobheiten und all die Ungewißheit nichts im Vergleich mit Stepan Trofimowitschs Hauptsorge, die ihn außerordentlich und unaufhörlich quälte, und zwar so, daß er abmagerte und kleinmütig wurde. Es handelte sich dabei um etwas, dessen er sich am meisten schämte und worüber er nicht einmal mit mir sprechen wollte; im Gegenteil sogar, er log und machte Ausflüchte wie ein Schulbub, wenn mal das Gespräch darauf kam. Und doch ließ er mich alle Tage zu sich rufen, konnte nicht zwei Stunden lang ohne mich aushalten und bedurfte meiner wie des Wassers und der Luft.

Ein solches Benehmen kränkte mich einigermaßen ... Natürlich hatte ich schon längst im stillen sein Hauptgeheimnis erraten und ihn völlig durchschaut. Meiner damaligen tiefsten Überzeugung zufolge hätte die Enthüllung dieses Geheimnisses, das in Stepan Trofimowitsch die größten Besorgnisse hervorrief, ihm keine Ehre gemacht, und deshalb war ich als ein noch junger Mensch über die Roheit seiner Gefühle und die Häßlichkeit einiger seiner Vermutungen etwas empört. In meinem Eifer und, offen gestanden, auch weil es mir langweilig wurde, sein Vertrauter zu sein, beschuldigte ich ihn vielleicht zu hart. In meiner Grausamkeit wollte ich durchaus, daß er mir alles bekenne, obwohl ich mir selbst sagte, daß es Dinge gibt, die zu bekennen eigentlich recht schwer ist. Er durchschaute mich ebenfalls vollkommen, das heißt, er sah klar, daß ich alles erriet, ihn durch und durch verstand und sogar über ihn aufgebracht war. Nun ärgerte er sich auch über mich, über mein Benehmen und darüber, daß ich ihn so gut verstand. Es ist möglich, daß meine Gereiztheit kleinlich und dumm war; aber es schadet manchmal der wahren Freundschaft sehr, wenn zwei Freunde allzulange allein zusammen sind. Von einem gewissen Standpunkt aus faßte er einige Seiten seiner Lage richtig auf und bezeichnete sie sehr fein und genau in jenen Punkten, die zu verheimlichen er nicht für nötig hielt.

»War sie denn etwa damals so, wie sie jetzt ist?« entschlüpfte es ihm mitunter in bezug auf Warwara Petrowna. »Benahm sie sich früher so, wenn ich mit ihr sprach ...? Wissen Sie wohl, daß sie früher noch zu reden verstand? Können Sie es glauben, daß sie damals noch Gedanken hatte, eigene Gedanken. Jetzt hat sich alles verändert! Sie sagt, das sei alles nur altmodisches Gerede! Sie verachtet das Frühere ... Nun ist sie nichts mehr als irgendein Verwalter, eine Wirtin ist sie, ein erbitterter Mensch, und ich kenne sie gar nicht anders als immer aufgebracht ...«

»Was für einen Grund hätte sie denn jetzt, Ihnen zu zürnen, da Sie doch bereit sind, ihren Wunsch zu erfüllen?« erwiderte ich ihm.

Er sah mich schlau an.

»Cher ami, wenn ich nicht eingewilligt hätte, wäre sie furchtbar zornig gewesen, ganz furcht–bar! Und doch wahrscheinlich weniger als jetzt, da ich meine Zustimmung gegeben habe.«

Mit diesem Ausspruch war er sehr zufrieden, und wir tranken an diesem Abend ein Fläschchen. Aber die gute Stimmung hielt nicht lange an; am nächsten Tage war er noch unausstehlicher und mürrischer als je zuvor. Am meisten empörte mich aber, daß er sich nicht entschließen konnte, zu den nunmehr eingetroffenen Drosdows zu gehen und ihnen einen Besuch zu machen, der zur Erneuerung der Beziehungen zu ihnen unerläßlich war, um so mehr, da sie es dem Vernehmen nach selbst wünschten, sich nach ihm bereits erkundigt hatten und auch er sich alle Tage nach ihnen sehnte. Von Lisaweta Nikolajewna sprach er mit einem mir unbegreiflichen Entzücken. Er erinnerte sich wohl ohne Zweifel an das Kind, das er seinerzeit so sehr geliebt hatte. Aber außerdem bildete er sich seltsamerweise ein, daß er in ihrer Nähe sofort eine Erleichterung all seiner jetzigen Qualen verspüren und sogar die Lösung seiner wichtigsten Zweifel finden würde. In Lisaweta Nikolajewna glaubte er ein ganz ungewöhnliches Wesen vorzufinden. Und obwohl er sich täglich vornahm, endlich hinzugehen, tat er es dennoch nicht. Für mich bestand die Hauptsache darin, daß ich damals selbst sehr lebhaft wünschte, ihr vorgestellt und empfohlen zu werden und dabei einzig und allein auf Stepan Trofimowitschs Vermittlung rechnen konnte. Damals machten meine häufigen Begegnungen mit ihr einen starken Eindruck auf mich. Natürlich sah ich sie nur auf der Straße, wenn sie auf einem herrlichen Pferde spazieren ritt, in Begleitung ihres sogenannten Verwandten, eines hübschen Offiziers, der ein Neffe des verstorbenen Generals Drosdow war. Meine Verblendung dauerte indessen nur kurze Zeit, und ich erkannte recht bald selbst die ganze Unmöglichkeit und Aussichtslosigkeit meiner Schwärmerei; wenn sie aber auch nicht lange anhielt, so war sie dennoch tatsächlich vorhanden, und man kann sich deshalb leicht vorstellen, wie empört ich damals mitunter über meinen armen Freund gewesen war, da er so hartnäckig sein Einsiedlerleben weiterführte.

Alle, die zu unserem engeren Kreis gehörten, waren von vornherein offiziell benachrichtigt worden, daß Stepan Trofimowitsch eine Zeitlang keinen Menschen empfangen werde und deshalb bitte, ihn vollständig in Ruhe zu lassen. Er hatte selbst auf einer zirkularmäßigen Mitteilung an jeden einzelnen bestanden, obwohl ich ihm davon abgeraten hatte. Und da er mich sehr darum bat, so ging ich bei allen herum und erzählte, daß Warwara Petrowna unserem »Alten«, wie wir unter uns Stepan Trofimowitsch nannten, eine besonders eilige Arbeit aufgetragen habe; er müsse ihr nämlich jetzt eine mehrjährige Korrespondenz in Ordnung bringen und habe sich deshalb eingeschlossen; ich sei ihm dabei behilflich. Nur bei Liputin war ich noch nicht gewesen und schob meinen Besuch bei ihm immer auf; richtiger gesagt, fürchtete ich mich einfach, zu ihm hinzugehen. Ich wußte im voraus, daß er mir kein Wort glauben und sich unbedingt einbilden würde, daß hier ein Geheimnis vorliege, das man gerade vor ihm allein verbergen wolle. Auch war ich fest davon überzeugt, daß er, gleich nachdem ich von ihm weggegangen sein würde, nichts Eiligeres zu tun hätte, als sofort in die Stadt zu laufen, bei Fremden Erkundigungen einzuziehen und zu klatschen. Während ich mir alles das sagte, traf es sich, daß ich zufällig mit ihm auf der Straße zusammenstieß. Es stellte sich heraus, daß er bereits von unseren anderen Freunden, die durch mich soeben benachrichtigt waren, alles wußte. Aber merkwürdig: er zeigte nicht nur keine Neugierde, sondern unterbrach mich sogar, als ich mich entschuldigen wollte, daß ich nicht früher zu ihm gekommen war, erkundigte sich nicht weiter nach Stepan Trofimowitsch und begann sofort, von etwas ganz anderem zu sprechen. Allerdings hatte sich bei ihm manches angesammelt, was er mir nun erzählen wollte; er war in einer außerordentlich angeregten Stimmung und freute sich, in mir einen Zuhörer gefunden zu haben. Er begann über die Stadtneuigkeiten zu reden, über die Ankunft der Gouverneurin, die »neue Gesprächsstoffe« mitgebracht, und über die Opposition, die sich bereits im Klub gebildet hatte, darüber, daß alle von »neuen Ideen« schrien, und wie dies jedem einzelnen stehe, und dergleichen mehr. Er sprach eine Viertelstunde lang, und zwar so unterhaltend, daß ich mich nicht losreißen konnte. Wenn ich ihn auch nicht leiden mochte, so muß ich doch bekennen, daß er die Gabe besaß, seine Zuhörer zu fesseln, besonders wenn er sich über etwas ärgerte. Dieser Mann war meiner Meinung nach der richtige, geborene Spion. Er wußte in jedem Augenblick alle frischesten Neuigkeiten, und es gab für ihn in dem Privatleben der Einwohner unserer Stadt keine Geheimnisse, namentlich keine solchen, die von skandalöser Natur waren. Man mußte sich mitunter wirklich wundern, wie sehr er sich Dinge zu Herzen nahm, die ihn bisweilen gar nichts angingen. Ich hatte immer den Eindruck, daß der Hauptzug seines Charakters der Neid sei. Als ich am Abend desselben Tages Stepan Trofimowitsch erzählte, daß ich am Morgen Liputin begegnet wäre und ihm unser Gespräch mitteilte, geriet der »Alte« zu meinem Erstaunen in große Aufregung und stellte mir plötzlich die wilde Frage: »Weiß es Liputin, oder weiß er es nicht?« Ich begann ihm auseinanderzusetzen, daß gar keine Möglichkeit vorlag, die Sache so schnell in Erfahrung zu bringen, und daß außerdem keiner da war, von dem er sie hätte erfahren können. Aber Stepan Trofimowitsch ließ von seinem Standpunkt nicht ab:

»Ob Sie es glauben oder nicht,« schloß er seine Ausführungen unerwartet, »ich aber bin überzeugt, daß ihm nicht nur unsere Lage mit allen Einzelheiten bekannt ist, sondern daß er auch außerdem noch etwas weiß, was weder ich noch Sie bisher wissen und vielleicht nie erfahren werden, oder erst dann, wenn es schon zu spät und ein Wiedergutmachen nicht mehr möglich sein wird ...«

Ich antwortete nichts darauf, aber diese Worte enthielten doch so manche Anspielung. Nach diesem Gespräch hatten wir Liputin fünf Tage lang mit keinem Wort mehr erwähnt; es war mir klar, daß Stepan Trofimowitsch es sehr bedauerte, mir gegenüber einen solchen Verdacht geäußert und sich also verplappert zu haben.

2

Eines Morgens, das heißt am siebenten oder achten Tage, nachdem Stepan Trofimowitsch seine Bereitwilligkeit erklärt hatte, Bräutigam zu werden, hatte ich gegen elf Uhr, als ich wie gewöhnlich zu meinem traurigen Freunde eilte, unterwegs ein Erlebnis.

Ich begegnete Karmasinow, dem »großen Schriftsteller«, wie ihn Liputin nannte. Karmasinows Werke hatte ich schon seit meiner Kindheit gekannt und gelesen. Seine Novellen und Erzählungen sind der ganzen vorigen und sogar der heutigen Generation bekannt; ich aber hatte mich an ihnen förmlich berauscht; sie bildeten den größten Genuß meiner Jünglingsjahre und meiner ganzen Jugend. Später kühlte sich meine Neigung zu den Erzeugnissen seiner Feder etwas ab. Die Tendenznovellen, die er in der letzten Zeit schrieb, gefielen mir nicht mehr so wie seine ersten, ursprünglichen Schöpfungen, in denen so viel unmittelbare Poesie lag; und seine allerletzten Schriften sagten mir schon ganz und gar nicht mehr zu.

Wenn ich es wagen darf, über einen so heiklen Gegenstand auch meine Meinung zu äußern, so möchte ich im allgemeinen bemerken, daß alle unsere Größen von mittlerem Talent, die zu ihren Lebzeiten gewöhnlich beinah für Genies gehalten werden, nicht nur mit ihrem Tode plötzlich und fast spurlos aus dem Gedächtnis der Menschen verschwinden, sondern mitunter auch schon noch vor dem Grabe unglaublich schnell von allen vergessen und gering geschätzt werden, namentlich, sobald eine neue Generation heranwächst und an die Stelle derjenigen tritt, zu deren Zeit auch diese »Größen« gewirkt haben. Das vollzieht sich bei uns so rasch wie etwa ein Dekorationswechsel im Theater. O, da geht es ganz anders zu als bei Puschkin, Gogol, Molière, Voltaire und allen diesen Führern, die ihr eigenes, wirklich neues Wort zu sagen hatten! Allerdings stimmt es auch, daß diese Herren von mittlerem Talent sich gegen das Ende ihres an Ehren reichen Lebens gewöhnlich in der kläglichsten Weise selbst ausschreiben, ohne es auch nur zu bemerken. Es kommt mitunter vor, daß ein Schriftsteller, dem man lange Zeit eine ungewöhnliche Tiefe der Gedanken zugeschrieben und von dem man eine außerordentliche und ernste Einwirkung auf die Weiterentwicklung der Gesellschaft erwartet hatte, gegen das Ende seiner Jahre eine solche Dürftigkeit und Kümmerlichkeit seines Grundideechens bekundet, daß es niemand mehr bedauert, daß er sich so rasch ausgeschrieben hatte. Aber die grauen alten Herren bemerken es gar nicht und ärgern sich. Ihre Eitelkeit nimmt namentlich gegen das Ende ihrer Laufbahn bisweilen Dimensionen an, die geradezu bewundernswert sind. Gott weiß, wofür sich diese alten Herren dann zu halten beginnen, zum mindesten doch für Götter. Von Karmasinow erzählte man, daß er seine Beziehungen zu einflußreichen Leuten und zu den höchsten Gesellschaftskreisen fast mehr schätzte als sein Seelenheil. Auch hieß es, daß er diejenigen, die zu ihm kämen, recht freundlich empfange, sich gegen sie außerordentlich liebenswürdig benehme, sie durch seine Gutmütigkeit entzücke und bezaubere, namentlich wenn er sie irgendwie brauche, und selbstverständlich, wenn sie ihm vorher gut empfohlen worden seien. Aber beim Eintreten des ersten Fürsten, der ersten Gräfin, des ersten Menschen, den er fürchtet, halte er es für seine heiligste Pflicht, alle anderen Besucher, zu denen er eben noch so liebenswürdig war, mit der beleidigendsten Geringschätzung zu vergessen, wie etwa ein Holzspänchen oder wie Fliegen, und zwar sofort, ehe man noch aus der Tür sei. Man sagte, daß er das allen Ernstes für den feinsten und besten Ton hielt. Trotz seiner guten Manieren und seiner genauen Kenntnis der angebrachten Umgangsformen wäre er so eitel, daß er nicht imstande sei, seine Autorenreizbarkeit selbst in solchen Gesellschaftskreisen zu verbergen, in denen man sich für die Literatur wenig interessiere. Befremdete ihn aber jemand zufällig durch seine Gleichgültigkeit, so fühlte er sich tief gekränkt und suchte sich zu rächen.

Vor einem Jahre etwa habe ich in einer Zeitschrift eine Abhandlung von ihm gelesen, die in einer geradezu erschreckenden Weise Ansprüche darauf erhob, allernaivste Poesie und dabei noch psychologische Beobachtungen zu enthalten. Er schilderte den Untergang eines Dampfers an der englischen Küste, bei dem er selbst als Zeuge zugegen war und gesehen hatte, wie Untergehende gerettet und Ertrunkene herausgefischt wurden. Diese ganze Abhandlung, die ziemlich lang und redselig war, schien einzig und allein in der Absicht geschrieben worden zu sein, den Verfasser selbst möglichst breit ins richtige Licht zu rücken. Man konnte es förmlich zwischen den Zeilen lesen: »Interessiert euch für mich, seht, wie ich in jenen Augenblicken gewesen bin. Was kümmert euch dieses Meer, der Sturm, die Felsen und die zerbrochenen Flanken des Schiffes? Ich habe ja das alles zur Genüge schon für euch mit meiner mächtigen Feder geschildert! Wozu blickt ihr auf diese ertrunkene Frau mit dem toten Kinde in den erstarrten Armen? Seht lieber auf mich, wie ich diesen Anblick nicht ertragen konnte und mich von ihm abwandte! Hier, jetzt drehe ich ihm den Rücken zu; jetzt kneife ich die Augen zusammen; jetzt bin ich vor Angst nicht mehr imstande, mich umzusehen – nicht wahr, das ist doch interessant?« Ich teilte Stepan Trofimowitsch meine Meinung über diese Arbeit Karmasinows mit, und er stimmte mir bei.

Als bei uns das Gerücht laut wurde, daß Karmasinow in unsere Stadt kommen werde, da wurde natürlich auch in mir ein heftiges Verlangen rege, ihn zu sehen, und, wenn möglich, seine Bekanntschaft zu machen. Ich wußte, daß es sich durch Stepan Trofimowitsch erreichen ließe, denn die beiden waren früher einmal befreundet gewesen. Und da geschah es, daß ich Karmasinow plötzlich an einer Straßenkreuzung begegnete. Ich hatte ihn sofort erkannt; er war mir schon vor drei Tagen gezeigt worden, als er mit der Gouverneurin in einem Wagen vorbeifuhr.

Er war ein sehr kleiner, gezierter Greis von übrigens nicht mehr als fünfzig Jahren, mit einem ziemlich rosigen Gesicht und dichten, grauen Löckchen, die unter seinem runden Zylinderhut hervorquollen und sich um seine zierlichen, rosafarbenen kleinen Ohren ringelten. Sein sauberes Gesichtchen war nicht besonders hübsch und hatte schmale, lange und schlau zusammengekniffene Lippen, eine etwas fleischige Nase und kleine, scharf und klug blickende Äuglein. Er war etwas sonderbar gekleidet und hatte um die Schultern eine Art ärmellosen Mantel, wie man ihn in dieser Jahreszeit etwa in der Schweiz oder im Norden Italiens trägt. Dagegen waren jedenfalls alle kleinen Bestandteile seines Kostüms, wie Hemdknöpfe, Vatermörder, Rockknöpfe, die Schildpattlorgnette an einem schmalen, schwarzen Bande und der Ring am Finger durchaus von der Art, wie man sie bei Menschen von untadlig gutem Tone findet. Ich bin überzeugt, daß er im Sommer unbedingt in farbigen Stiefeln mit Perlmutterknöpfen an der Seite ging. Als wir zusammenstießen, blieb er an der Ecke stehen und begann sich aufmerksam umzusehen. Da er bemerkte, daß ich ihn neugierig betrachtete, fragte er mich mit einer süßlichen, wenn auch etwas kreischenden Stimme:

»Gestatten Sie die Frage, wie komme ich am nächsten nach der Bykowa-Straße?«

»Nach der Bykowa? Aber das ist ja gleich hier, hier nebenan«, rief ich in ungewöhnlicher Aufregung. »Immer geradeaus und dann an der zweiten Kreuzung nach links.«

»Ich danke Ihnen vielmals.«

Verflucht sei dieser Augenblick! Ich glaube, ich war verlegen geworden und habe ihn beinah knechtisch angesehen! Er hatte es sofort bemerkt und natürlich gleich durchschaut, daß ich bereits wußte, wer er sei, und daß ich seine Werke gelesen, ihn seit meiner Kindheit verehrt hatte, und daß ich jetzt verlegen geworden war und wie ein Knecht dreinschaute. Er lächelte, nickte mir noch einmal zu und ging geradeaus weiter, den Weg, den ich ihm angegeben hatte. Ich weiß nicht, warum ich mich umdrehte und ihm nachging; ich weiß auch nicht, weshalb ich an die zehn Schritte neben ihm herlief. Plötzlich blieb er wieder stehen.

»Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo hier der nächste Droschkenstand ist?« kreischte er mir wieder zu.

Ein ekelhaftes Kreischen war es, er hatte eine ganz widerwärtige Stimme!

»Droschken? Der allernächste Droschkenstand ist hier ganz in der Nähe ... beim Dom; da stehen immer Droschken.« – Und ich hätte mich beinah umgedreht, um hinzulaufen und ihm eine Droschke zu holen. Ich vermute, daß er gerade das von mir erwartet hatte. Selbstverständlich besann ich mich sofort eines Besseren und blieb stehen. Aber meine Bewegung hatte er recht wohl bemerkt und verfolgte mich nun aufmerksam mit seinen Augen, während sein Mund noch immer ebenso widerwärtig lächelte. Und da geschah etwas, was ich nie vergessen werde.

Er ließ plötzlich eine kleine Tasche fallen, die er in der Hand trug. Es war übrigens nicht eigentlich eine Tasche, sondern eine Art Schächtelchen oder noch eher eine Aktenmappe oder sogar ein kleiner Ridikül von der Art, wie ihn früher die Damen trugen. Im übrigen weiß ich nicht genau, was es war, und wie ich es bezeichnen soll; ich weiß nur, daß ich mich im Eifer anschickte, es aufzuheben.

Ich bin fest davon überzeugt, daß ich es schließlich doch nicht aufgehoben hätte, aber die erste Bewegung, die ich machte, war gar zu eindeutig und unbestreitbar. Ich konnte sie nicht mehr ungeschehen machen und errötete wie ein Dummkopf. Der schlaue Karmasinow nutzte diesen Umstand sofort aus und zog daraus die Schlüsse, die er ziehen wollte.

»Bemühen Sie sich nicht, ich kann ja selbst ...« meinte er mit einer bezaubernden Liebenswürdigkeit. Das heißt, er sagte es erst, als er bemerkte, daß ich seine Tasche doch nicht aufheben würde. Erst da hob er sie selbst auf, nickte mir noch einmal zu und ging seines Weges weiter, indem er mich wie einen dummen Jungen stehen ließ. Das Ergebnis war dasselbe, wie wenn ich ihm seinen Ridikül tatsächlich aufgehoben hätte. Etwa fünf Minuten lang war ich der Ansicht, nunmehr völlig, und zwar für mein ganzes Leben lang, entehrt zu sein; als ich mich aber dem Hause Stepan Trofimowitschs näherte, mußte ich plötzlich laut lachen. Diese Begegnung erschien mir so lächerlich, daß ich mir vornahm, das Ganze unverzüglich Stepan Trofimowitsch zu erzählen, ihm die ganze Szene sogar sozusagen vorzuführen und ihn dadurch zu erheitern.

3

Aber diesmal fand ich ihn zu meiner größten Verwunderung unglaublich verändert vor. Er eilte mir allerdings, kaum daß ich eintrat, mit einer gewissen Gier entgegen und begann sogar, mir zuzuhören. Aber er tat es mit so zerstreuter Miene, daß es klar war, daß er mich anfangs gar nicht verstand. Kaum aber hatte ich den Namen Karmasinow ausgesprochen, als er auf einmal ganz außer sich geriet.

»Reden Sie mir nicht von ihm! Erwähnen Sie nicht seinen Namen!« schrie er beinah rasend. »Hier, hier, sehen Sie her, lesen Sie! Lesen Sie!«

Er zog aus einem Schubfach drei kleine Papierfetzen hervor, die eilig mit Bleistift beschrieben waren, und warf sie auf den Tisch. Alle drei hatte ihm Warwara Petrowna zugesandt. Der erste Brief war von vorgestern, der zweite von gestern, und den letzten hatte er erst vor einer Stunde erhalten. Der Inhalt war durchaus nicht wichtig: alle bezogen sich auf Karmasinow und enthüllten Warwara Petrownas unruhige und ehrgeizige Aufregung, die ihr die Angst einflößte, daß Karmasinow es vergessen könnte, ihr einen Besuch abzustatten. Hier ist der erste Brief, der vorgestern gekommen sein sollte, obwohl anzunehmen ist, daß Stepan Trofimowitsch auch vorvorgestern und vor fünf Tagen derartige Nachrichten von Warwara Petrowna erhalten hatte. Hier ist der Wortlaut dieses ersten Schreibens:

»Wenn er Sie heute endlich beehren sollte, so bitte ich, mich mit keinem Wort zu erwähnen. Nicht die geringste Andeutung. Fangen Sie nicht von mir an und erinnern Sie ihn nicht an mich.

W. S.«

Und hier der Wortlaut des gestrigen Briefes:

»Sollte er sich endlich entschließen, Ihnen heute vormittag einen Besuch zu machen, so wird es meines Erachtens das vornehmste und angebrachteste sein, ihn gar nicht zu empfangen. So denke ich, weiß allerdings nicht, wie Sie sich zu der Sache stellen.

W. S.«

Und der letzte Brief, der vom heutigen Tage, lautete:

»Ich bin überzeugt, daß in Ihren Zimmern so viel Schmutz ist, daß man damit eine ganze Fuhre beladen könnte, und daß außerdem alles dick ist von Tabaksqualm. Ich werde Ihnen Marja und Fomuschka schicken, die alles in einer halben Stunde wieder in Ordnung bringen werden. Sie müssen ihnen aber nicht im Wege sein, und es ist das beste, wenn Sie während der Zeit, da bei Ihnen aufgeräumt wird, in der Küche sitzen. Ich sende Ihnen einen Bucharateppich und zwei chinesische Vasen, die ich Ihnen schon längst schenken wollte. Außerdem erhalten sie meinen Teniers, aber nur leihweise. Die Vasen können Sie aufs Fensterbrett stellen, und den Teniers hängen Sie rechts auf, unter dem Bildnis Goethes; dort hängt er am vorteilhaftesten und fällt eher ins Auge; außerdem ist da vormittags immer Licht. Sollte er endlich erscheinen, so empfangen Sie ihn mit vollendeter Höflichkeit. Bemühen Sie sich aber, nur von Bagatellen zu sprechen, etwa von irgend etwas Gelehrtem, aber mit so einer Miene, wie wenn Sie sich erst gestern von ihm getrennt hätten. Über mich kein Wort. Es ist möglich, daß ich heute abend zu Ihnen herankommen werde.

W. S.

P.S. Wenn er heute nicht kommt, dann wird er Sie überhaupt nicht besuchen.«

Ich las und wunderte mich darüber, daß Warwara Petrowna sich durch solche Lappalien so aufregen ließ. Als ich ihn fragend anblickte, bemerkte ich auf einmal, daß er, während ich las, seine stetige weiße Halsbinde abgelegt und eine rote umgebunden hatte. Sein Stock und sein Hut lagen auf dem Tisch. Er selbst war blaß, und sogar seine Hände zitterten.

»Ich will nichts von ihren Aufregungen wissen!« rief er wie außer sich, als Antwort auf meinen fragenden Blick. »Je m'en fiche! Sie hat die Stirn, sich über Karmasinow aufzuregen und mir gleichzeitig auf meine Briefe nicht zu antworten. Hier, hier liegt ein ungeöffneter Brief von mir, den sie mir gestern zurückgeschickt hat, da auf dem Tisch unter dem Buch unter ›L'homme qui rit‹. Was geht es mich an, daß sie sich um ihren Ni–ko–len–ka grämt! Je m'en fiche et je proclame ma liberté. Au diable le Karmazinoff! Au diable la Lembke! Die Vasen habe ich im Vorzimmer versteckt und den Teniers in der Kommode, und ich habe von ihr verlangt, daß sie mich sofort empfängt. Verstehen Sie wohl, ich habe es von ihr verlangt! Ich sandte ihr mit Nastasia einen ebensolchen Papierfetzen, der ebenso unverschlossen und mit Bleistift beschrieben war wie ihre Wische. Jetzt warte ich. Ich will, daß Darja Pawlowna sich selbst, mit dem eigenen Munde, vor dem Angesicht des Himmels oder wenigstens in Ihrer Gegenwart mit mir ausspricht. Vous me seconderez, n'est-ce pas, comme ami et témoin. Ich will nicht erröten, ich will nicht lügen, ich will keine Geheimnisse haben, und ich werde in dieser Angelegenheit keine Geheimnisse dulden! Sie sollen alles bekennen, offen, ehrlich und anständig, und dann ... dann werde ich vielleicht die ganze jetzt lebende Generation durch meine Großmut überraschen! ... Bin ich ein Schuft oder nicht, mein Herr?« schloß er plötzlich und sah mich dabei drohend an, wie wenn gerade ich es gewesen wäre, der ihn für einen Schurken hielt.

Ich bat ihn, ein Glas Wasser zu trinken. Ich hatte ihn noch nie in einer solchen Verfassung gesehen. Die ganze Zeit, während er redete, rannte er im Zimmer umher, von einer Ecke in die andere; dann aber blieb er plötzlich vor mir in einer ganz ungewöhnlichen Pose stehen.

»Glauben Sie wirklich,« begann er wieder mit einem krankhaften Hochmut und sah mich dabei vom Kopf bis zu den Füßen an, »können Sie wirklich annehmen, daß ich, Stepan Werchowenskij, in mir nicht genug sittliche Kraft finden werde, um meine Schatulle, meinen Bettelsack zu nehmen, ihn um meine schwachen Schultern zu hängen, aus dem Haustor zu gehen und von hier für immer zu verschwinden, wenn es meine Ehre und das hohe Prinzip der Unabhängigkeit erforderlich machen? Es wäre nicht das erstemal, daß Stepan Werchowenskij einen Despotismus mit Seelengröße abwehrt. Und wenn es sich hier allerdings nur um den Despotismus eines wahnsinnigen Weibes handelt, so will ich Ihnen sagen, daß gerade dieser Despotismus der beleidigendste und grausamste ist, den es auf der Welt geben kann, obwohl Sie sich soeben, wie es scheint, erlaubt haben, über meine Worte zu lächeln, mein Herr! Oh, Sie glauben nicht, daß ich in mir so viel Seelengröße zu finden vermag, um imstande zu sein, mein Leben als Hauslehrer bei einem Kaufmann zu beschließen, oder hinter einem Zaun zu verhungern! Antworten Sie, antworten Sie unverzüglich: glauben Sie es, oder glauben Sie es nicht?«

Aber ich gab ihm absichtlich keine Antwort. Ich tat sogar so, als könnte ich mich nicht entschließen, ihn durch eine verneinende Antwort zu beleidigen, zu gleicher Zeit aber nicht imstande wäre, ihn durch ein »Ja« zu beruhigen. In seiner ganzen Gereiztheit lag etwas, was mich entschieden verletzte und nicht mich persönlich, o nein! Aber ... ich werde mich später erklären.

Er war sogar blaß geworden.

»Vielleicht langweilen Sie sich mit mir, G...w«, sagte er in jenem Tone leichenblasser Ruhe, der gewöhnlich einem heftigen Ausbruch vorangeht. Er nannte mich dabei sogar bei meinem Familiennamen. »Vielleicht wünschen Sie ... Ihre Besuche bei mir überhaupt einzustellen?«

Ich sprang erschrocken auf; aber im selben Augenblick kam Nastasia herein und reichte Stepan Trofimowitsch einen Zettel, auf dem etwas mit Bleistift geschrieben war. Er sah ihn an und warf ihn mir zu. Ich las die wenigen von Warwara Petrownas Hand geschriebenen Worte: »Bleiben Sie zu Hause.«

Stepan Trofimowitsch ergriff schweigend Hut und Stock und ging rasch aus dem Zimmer. Ich folgte ihm ganz mechanisch. Plötzlich wurden auf dem Flur Stimmen und das Geräusch schneller Schritte vernehmbar. Stepan Trofimowitsch blieb stehen, wie vom Donner gerührt.

»Das ist Liputin, und ich bin verloren!« flüsterte er, indem er mich bei der Hand ergriff.

Im selben Augenblick trat Liputin ins Zimmer.

4

Inwiefern er sich mit Liputins Ankunft plötzlich für verloren hielt, weiß ich nicht. Jedenfalls legte ich diesen seinen Worten keine Bedeutung bei und schrieb alles der Erregung der Nerven zu. Aber sein Schreck war doch außerordentlich groß, und ich nahm mir vor, im weiteren alles aufmerksam zu beobachten.

Schon der Gesichtsausdruck des eintretenden Liputin verriet, daß er diesmal ein besonderes Recht hatte, trotz aller Verbote hierherzukommen. Er brachte einen unbekannten Herrn mit, der allem Anschein nach ein Auswärtiger war. Den fassungslosen Blick des geradezu erstarrten Stepan Trofimowitsch beantwortend, rief er sogleich laut:

»Ich bringe Ihnen einen Gast mit, und zwar einen ganz besonderen Gast! Ich wage es, in Ihre Einsamkeit einzudringen. Herr Kirillow, ein hervorragender Bauingenieur. Und was die Hauptsache ist: der Herr kennt Ihren Sohn, den hochverehrten Piotr Stepanowitsch; er ist mit ihm sogar sehr gut bekannt und hat einen Auftrag von ihm mitgebracht. Der Herr ist eben erst angekommen.«

»Was Sie da von einem Auftrag hinzugefügt haben, stimmt nicht«, bemerkte der Gast schroff. »Ich habe gar keinen Auftrag erhalten. Werchowenskij kenne ich allerdings. Ich habe ihn vor etwa zehn Tagen im Gouvernement Ch... verlassen.«

Stepan Trofimowitsch reichte ihm mechanisch die Hand und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Dann sah er mich an, warf auch Liputin einen Blick zu und setzte sich plötzlich, wie wenn er zur Besinnung käme, schnell selbst hin, wobei er aber, ohne es zu bemerken, Hut und Stock immer noch in der Hand behielt.

»Bah, Sie sind im Begriff fortzugehen! Und mir wurde gesagt, Sie wären vor vieler Arbeit ganz krank geworden.«

»Ja, ich bin krank und wollte jetzt eben ein wenig spazieren gehen; ich ...« erwiderte Stepan Trofimowitsch und stockte, worauf er hastig den Hut und den Stock auf das Sofa warf und – errötete.

Ich aber betrachtete inzwischen den Gast. Es war ein noch junger Mensch von ungefähr siebenundzwanzig Jahren, gut gekleidet, schlank, mager, brünett, hatte ein blasses Gesicht von etwas unreinem Teint und schwarze, glanzlose Augen. Er schien etwas nachdenklich und zerstreut zu sein, sprach abgebrochen und nicht ganz den grammatischen Regeln entsprechend, hatte eine sonderbare Wortstellung und verwirrte sich, wenn er einen längeren Satz bilden mußte. Liputin bemerkte ganz genau, was für einen Schreck Stepan Trofimowitsch bei seinem Anblick bekommen hatte, und war damit offenbar sehr zufrieden. Er setzte sich auf einen Rohrstuhl, den er beinah in die Mitte des Zimmers gezogen hatte, um sich in gleicher Entfernung sowohl von dem Hausherrn als auch von dem Gast zu befinden, die einander gegenüber auf zwei gegenüberstehenden Sofas Platz genommen hatten. Seine scharfen Augen fuhren neugierig im ganzen Zimmer umher.

»Ich habe ... Petruscha schon lange nicht gesehen ... Sie sind wohl im Ausland mit ihm zusammengekommen?« murmelte Stepan Trofimowitsch mühsam, indem er sich an den Gast wandte.

»Sowohl hier, als auch im Ausland.«

»Alexej Nilytsch ist selbst soeben nach vierjähriger Abwesenheit in die Heimat zurückgekehrt«, fiel ihm Liputin ins Wort. »Er ist gereist, um sich in seinem Fach zu vervollkommnen und ist jetzt zu uns gekommen, weil er genügenden Anlaß hat zu hoffen, daß er eine Anstellung beim Bau unserer Eisenbahnbrücke erhalten wird, und jetzt auf eine entscheidende Antwort wartet. Er ist auch durch Piotr Stepanowitsch mit den Drosdows und mit Lisaweta Nikolajewna bekannt geworden.«

Der Ingenieur saß da mit einem finsteren Gesicht und hörte mit einem ungeduldigen Unbehagen zu. Es schien mir, als ärgerte er sich über etwas.

»Herr Kirillow ist auch mit Nikolaj Wsewolodowitsch bekannt.«

»Sie kennen auch Nikolaj Wsewolodowitsch?« erkundigte sich Stepan Trofimowitsch.

»Ja, den auch.«

»Ich ... ich habe Petruscha schon so außerordentlich lange nicht gesehen und ... halte mich für so wenig berechtigt, mich einen Vater zu nennen ... c'est le mot; ich ... wie war er denn, als Sie ihn zuletzt sahen?«

»Wie er eben war ... Er wird selbst bald hierherkommen«, beeilte sich Herr Kirillow wieder, durch eine möglichst kurze Antwort dem Sprechen zu entgehen. Er war entschieden über etwas aufgebracht.

»So! Er wird herkommen! Endlich bekomme ich ... Bedenken Sie, ich habe schon gar zu lang meinen Petruscha nicht mehr gesehen!« meinte Stepan Trofimowitsch und stockte mitten im Satz. »Jetzt erwarte ich meinen armen Jungen, vor dem ... oh, vor dem ich mich so sehr schuldig fühle. Das heißt, ich will vielmehr sagen, daß ich, als ich ihn damals in Petersburg verließ ... Kurz gesagt, ich hielt ihn damals für vollkommen bedeutungslos, quelque chose ce genre. Er ist, wissen Sie, ein nervöser Junge, sehr empfindsam, und ... er war so ängstlich. Wenn er sich schlafen legte, machte er beim Gebet so tiefe Verbeugungen bis zur Erde und bekreuzte sein Kopfkissen, um in der Nacht nicht zu sterben ... je m'en souviens. Enfin, er hatte kein schönes Gefühl, das heißt kein Gefühl für etwas Höheres, Grundlegendes, keinen Keim einer künftigen Idee ... c'était comme un petit idiot. Übrigens habe ich, wie es mir scheint, mich selbst verwirrt; entschuldigen Sie, ich ... Sie treffen mich ...«

»Ist das Ihr Ernst, daß er sein Kopfkissen bekreuzte?« fragte plötzlich der Ingenieur mit besonderer Neugier.

»Ja, das tat er, aber ...«

»Nein, ich frage nur so; fahren Sie fort.«

Stepan Trofimowitsch blickte Liputin fragend an.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Besuch, aber ich muß gestehen, ich bin jetzt ... nicht imstande ... Gestatten Sie jedoch die Frage: wo sind Sie abgestiegen?«

»Ich wohne in der Bogojawlenskaja, im Hause Filippows.«

»Ach, das ist ja dasselbe Haus, in dem Schatow wohnt«, rief ich unwillkürlich.

»Ja, ganz recht,« bestätigte Liputin, »nur wohnt Schatow oben, im Halbgeschoß, und Herr Kirillow hat sich unten einquartiert beim Hauptmann Lebiadkin. Herr Kirillow kennt auch Schatow und sogar Schatows Frau. Er ist im Ausland mit ihr in ziemlich nahe Berührung gekommen.«

»Comment! Also wissen Sie wirklich etwas von der unglücklichen Ehe de ce pauvre ami und kennen diese Frau?« rief Stepan Trofimowitsch, der sich plötzlich von seinem Gefühl hinreißen ließ. »Sie sind der erste Mensch, der mir begegnet, der diese Frau persönlich kennt; und wenn nur ...«

»Was für ein Unsinn!« unterbrach ihn der Ingenieur und wurde feuerrot. »Was Sie alles hinzudichten, Liputin! Ich habe die Frau Schatowa nur ein einziges Mal und auch da nur von weitem gesehen und habe mit ihr gar keine nahen Beziehungen unterhalten ... Schatow kenne ich. Warum erfinden Sie alles mögliche hinzu?«

Er drehte sich schroff auf dem Sofa herum und griff nach seinem Hut. Dann aber legte er ihn zurück, nahm seine frühere Haltung wieder ein und richtete seine schwarzen, vor Zorn flammenden Augen auf Stepan Trofimowitsch. Ich konnte mir diese sonderbare Gereiztheit gar nicht erklären.

»Verzeihen Sie mir,« bemerkte Stepan Trofimowitsch eindringlich, »ich begreife, daß es sich hier vielleicht um eine sehr delikate Angelegenheit handelt ...«

»Es kann hier von gar keiner delikaten Angelegenheit die Rede sein, und man muß sich auch des Gedankens daran schon schämen. Wenn ich aber ausgerufen habe: ›Dummes Zeug‹, so war das nicht für Sie bestimmt, sondern für Liputin, weil er immer etwas hinzuschwindelt. Falls Sie es auf sich bezogen haben, so bitte ich um Verzeihung. Schatow kenne ich, aber seine Frau kenne ich gar nicht ... gar nicht!«

»Ich verstehe, ich verstehe, und wenn ich mir erlaubt hatte, eine Frage zu stellen, so tat ich das nur deshalb, weil ich unseren armen Freund, notre irascible ami, sehr liebe und mich immer für ihn interessiert habe ... Dieser Mensch hat meiner Meinung nach seine früheren, vielleicht zu jugendlichen, aber dennoch richtigen Anschauungen in einer gar zu schroffen Weise gewechselt. Und er posaunt jetzt über notre sainte Russie derartige Dinge in die Welt hinaus, daß ich schon seit langem diesen Umschwung in seinem Organismus – denn anders will ich es gar nicht bezeichnen – auf irgendeine starke Erschütterung in seinem Familienleben zurückführe und hauptsächlich natürlich auf seine unglückliche Ehe. Ich, der ich mein armes Rußland so durchschaut habe und es kenne wie meine zwei Finger, ich, der ich dem russischen Volke mein ganzes Leben gewidmet habe, ich kann Ihnen die Versicherung abgeben, daß er unser Volk nicht kennt und außerdem ...«

»Ich kenne das russische Volk auch gar nicht und ... habe gar keine Zeit, es zu studieren!« unterbrach ihn der Ingenieur wieder und drehte sich abermals kurz auf dem Sofa herum. Stepan Trofimowitsch stockte wieder mitten in seiner Rede.

»Herr Kirillow studiert Rußland, er studiert es sogar sehr intensiv!« rief Liputin. »Er hat dieses Studium schon seit langem begonnen und verfaßt jetzt eine sehr interessante Abhandlung über die Ursachen der Häufung der Selbstmorde in Rußland und überhaupt über die Kräfte, die die Verbreitung der Selbstmorde in der menschlichen Gesellschaft entweder befördern oder hindern. Er hat bereits staunenswerte Ergebnisse erzielt.«

Der Ingenieur geriet in eine schreckliche Erregung.

»Dazu haben Sie gar kein Recht«, murmelte er zornig. »Ich habe gar keine Abhandlung. Fällt mir nicht ein. Dummheiten. Ich habe Sie vertraulich gefragt, ganz zufällig. Von einer Abhandlung kann hier überhaupt nicht die Rede sein; ich veröffentliche nichts, und Sie haben gar kein Recht ...«

Liputin war dieser Auftritt offenbar ein Hochgenuß.

»Verzeihung, vielleicht habe ich mich geirrt, als ich Ihre literarische Arbeit eine Abhandlung nannte. Der Herr sammelt nämlich nur Beobachtungen und berührt den eigentlichen Kern der Frage oder sozusagen ihre moralische Seite gar nicht. Er lehnt sogar die Moralität selbst völlig ab und befürwortet den allerneuesten Grundsatz der allgemeinen Zerstörung zum Zweck der Erreichung großer und guter Endziele. Er fordert schon mehr als hundert Millionen Köpfe, um die Herrschaft der gesunden Vernunft in Europa herzustellen, also weit mehr, als auf dem letzten Friedenskongreß gefordert wurden. In dieser Beziehung ist Alexej Nilytsch allen andern voraus.«

Der Ingenieur hörte ihm mit einem geringschätzigen und matten Lächeln zu. Etwa eine halbe Minute lang schwiegen alle.

»Was Sie da sagen, ist sehr dumm, Liputin«, erwiderte schließlich Herr Kirillow mit einer gewissen Würde. »Wenn ich Ihnen zufällig einige Punkte gesagt habe, und Sie diese aufschnappten, so ist es Ihre Sache. Aber Sie haben kein Recht, weil ich niemals jemanden selbst etwas sage. Ich verachte zu sehr, um zu sprechen ... Wenn man Überzeugungen hat, was für mich keinem Zweifel unterliegt ... Aber das haben Sie sehr dumm gemacht. Ich stelle keine Erwägungen an über Punkte, die ganz erledigt sind. Ich vertrage keine Erwägungen. Ich mag nicht etwas in Erwägung ziehen ...«

»Und vielleicht tun Sie recht gut daran«, konnte sich Stepan Trofimowitsch nicht enthalten zu bemerken.

»Ich bitte um Entschuldigung, muß aber sagen, daß ich keinem von Ihnen zürne«, fuhr der Gast mit fieberhafter Hastigkeit fort. »Ich habe vier Jahre lang nur sehr wenig Menschen gesehen ... Vier Jahre lang habe ich sehr wenig gesprochen und mich bemüht, mit niemandem zusammenzukommen um meiner Ziele willen, die nur mich angehen. Vier Jahre lang. Liputin hat das herausgefunden und lacht. Ich verstehe das und übersehe es. Ich bin nicht empfindlich, aber ich ärgere mich über seine Ungeniertheit. Wenn ich Ihnen aber meine Ideen nicht auseinandersetze,« schloß er plötzlich, indem er uns alle der Reihe nach mit einem festen Blick ansah, »so ist es gar nicht, weil ich etwa befürchte, Sie könnten mich bei der Regierung denunzieren; das nicht; denken Sie bitte keine Torheiten in dieser Hinsicht ...«

Darauf wußte schon keiner etwas zu erwidern und wir sahen nur einander an. Sogar Liputin vergaß zu kichern.

»Meine Herren, es tut mir sehr leid,« sagte Stepan Trofimowitsch und stand entschlossen vom Sofa auf, »aber ich fühle mich nicht wohl und bin aufgeregt. Sie müssen schon entschuldigen.«

»Ach, Sie meinen, daß wir fortgehen müssen«, rief Herr Kirillow, sich zusammennehmend, und griff nach seiner Mütze. »Das ist gut, daß Sie es sagen; ich bin so vergeßlich.« Er stand auf und trat mit einem gutmütigen Gesichtsausdruck und mit ausgestreckter Hand auf Stepan Trofimowitsch zu.

»Schade, Sie sind krank, und ich bin gekommen.«

»Ich wünsche Ihnen bei uns allen Erfolg«, antwortete Stepan Trofimowitsch, indem er ihm wohlwollend und ohne irgendeine Hast zu bekunden die Hand reichte. »Ich begreife sehr wohl, daß, wenn Sie, was ich Ihrer Mitteilung entnehme, so lange im Auslande gelebt und um Ihrer Ziele willen die Menschen gemieden und – Rußland vergessen haben, Sie schließlich ganz von selbst und unwillkürlich uns Stockrussen mit einer gewissen Bewunderung ansehen müssen, was naturgemäß auf Gegenseitigkeit beruht. Mais cela passera. Nur eins vermag ich nicht recht zu begreifen: Sie wollen hier eine Brücke bauen und erklären gleichzeitig, daß Sie das Prinzip der allgemeinen Zerstörung vertreten. Unter diesen Umständen wird man Ihnen kaum den Bau unserer Brücke anvertrauen!«

»Wie? Was haben Sie da gesagt? ... Ach, der Teufel!« rief Kirillow überrascht und brach plötzlich in ein außerordentlich helles und heiteres Lachen aus. Für einen Augenblick nahm sein Gesicht einen recht kindlichen Ausdruck an, der ihm meiner Meinung nach sehr gut stand. Liputin war über Stepan Trofimowitschs gelungene Bemerkung so sehr entzückt, daß er sich sogar die Hände rieb.

Ich aber wunderte mich immer noch im Stillen, weshalb Stepan Trofimowitsch sich so sehr vor Liputin erschrocken und bei seiner Ankunft »Ich bin verloren!« ausgerufen hatte.

5

Wir standen alle an der Türschwelle. Es war jener Augenblick, in dem die Wirte und die Gäste schnell die letzten und liebenswürdigsten Redensarten austauschen, um dann wohlgemut auseinanderzugehen.

»Herr Kirillow ist heute nur deshalb so mürrisch,« warf Liputin, der schon ganz aus dem Zimmer hinausgegangen war, auf einmal sozusagen wie im Fluge hin, »weil er vorhin mit dem Hauptmann Lebiadkin wegen dessen Schwester einen heftigen Zusammenstoß gehabt hat. Der Hauptmann Lebiadkin schlägt seine schöne, aber wahnsinnige Schwester täglich morgens und abends mit der Peitsche, mit einer richtigen Kosakenknute. Aus diesem Grunde ist Alexej Nilytsch sogar in ein Seitengebäude des Hauses gezogen, um eben garnicht mit Lebiadkins in Berührung zu kommen. Nun, auf Wiedersehen!«

»Die Schwester? Eine Kranke? Mit der Knute?« schrie Stepan Trofimowitsch förmlich auf, wie wenn er selbst soeben einen Peitschenhieb erhalten hätte. »Welche Schwester? Was für ein Lebiadkin?«

Die vorherige Angst hatte sich sofort wieder seiner bemächtigt.

»Wer Lebiadkin ist? Das ist ein Hauptmann außer Dienst; früher hat er sich allerdings nur als Stabshauptmann bezeichnet ...«

»Ach, was geht mich sein Rang an? Was für eine Schwester? Mein Gott! Sie sagen Lebiadkin? Aber bei uns war ja auch ein Lebiadkin ...«

»Der eben ist es, gerade unser Lebiadkin, Sie wissen doch, er wohnte noch bei Wirginskij!«

»Aber der ist doch mit falschen Banknoten abgefaßt worden?«

»Jetzt ist er wieder zurückgekehrt. Schon vor fast drei Wochen, und zwar unter ganz besonderen Umständen.«

»Aber er ist ja ein Lump!«

»Als ob wir keinen Lumpen hier haben könnten!« sagte Liputin, schmunzelte auf einmal und sah Stepan Trofimowitsch an, wie wenn er ihn mit seinen listigen Äuglein betastete.

»Ach, mein Gott, Sie mißverstehen mich ... obwohl ich übrigens in bezug auf die Möglichkeit des Vorkommens eines Lumpen unter uns mit Ihnen durchaus einer Meinung bin, gerade mit Ihnen. Aber weiter, weiter! Was wollten Sie damit sagen? Sie wollten doch sicherlich irgend etwas damit andeuten!«

»Ach, das sind alles Lappalien ... Dieser Hauptmann ist damals allem Anschein nach nicht der falschen Banknoten wegen von uns weggereist, sondern einzig und allein, um eben seine Schwester zu suchen, die sich offenbar vor ihm an einem unbekannten Ort versteckt hielt. Nun hat er sie gefunden und hergebracht; das ist die ganze Geschichte. Was ist das mit Ihnen, Stepan Trofimowitsch? Sie scheinen ja so erschrocken zu sein, weshalb denn? Übrigens ist alles, was ich hier erzähle, mir von ihm selbst, als er betrunken war, ausgeschwatzt worden; wenn er nüchtern ist, spricht er darüber nicht. Er ist ein sehr reizbarer Mensch und von einem sozusagen militärisch-ästhetischen, aber dennoch sehr schlechten Geschmack. Was aber seine Schwester betrifft, so ist sie nicht nur wahnsinnig, sondern auch noch lahm. Sie soll von irgendeinem Lumpen verführt und entehrt worden sein, aus welchem Grunde Herr Lebiadkin schon mehrere Jahre hindurch von dem Verführer eine jährliche Rente bezieht, sozusagen als Vergütung der seinem edlen Namen angetanen Schmach. Wenigstens konnte ich das seinem trunkenen Gerede entnehmen, aber ich bin der Ansicht, daß es nur leeres Geschwätz ist. Er prahlt einfach. Einer solchen Sache wegen kann man sich billiger loskaufen. Indessen stimmt es, daß er über bedeutende Summen verfügt; vor anderthalb Wochen ging er noch barfuß, und jetzt habe ich selbst gesehen, daß er Hundertrubelscheine besitzt. Seine Schwester hat täglich gewisse Anfälle. Sie kreischt dann, und er »bringt sie in Ordnung«, mit seiner Peitsche nämlich. ›Einem Weibe‹, sagte er, ›muß man Respekt einflößen.‹ Ich begreife nur nicht, wie es der Schatow fertig bringt, über ihnen weiter zu wohnen. Alexej Nilytsch, der mit Lebiadkin noch von Petersburg her bekannt ist, hat es kaum drei Tage ausgehalten und ist, um der fortwährenden Aufregung aus dem Wege zu gehen, ins Seitengebäude gezogen.«

»Ist das alles wahr?« fragte Stepan Trofimowitsch den Ingenieur.

»Sie schwatzen schon gar zu viel, Liputin«, murmelte dieser zornig.

»Geheimnisse, Heimlichkeiten! Wie kommt es, daß Sie auf einmal so viele Geheimnisse und Heimlichkeiten haben?« rief Stepan Trofimowitsch, der schon nicht mehr an sich halten konnte.

Der Ingenieur machte ein finsteres Gesicht, errötete, zuckte mit den Achseln und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

»Alexej Nilytsch hat ihm sogar die Peitsche auf der Hand gerissen, sie zerbrochen und aus dem Fenster geworfen. Er hat sich dabei mit ihm heftig gezankt«, fügte Liputin hinzu.

»Wozu schwatzen Sie soviel, Liputin? Das ist dumm, wozu das?« rief Alexej Nilytsch und wandte sich wieder hastig um.

»Weshalb soll man denn aus Bescheidenheit die edelsten Regungen seiner Seele verheimlichen? Ich rede natürlich von Ihrer Seele und nicht von meiner eigenen.«

»Wie dumm das ist ... Und ganz unnötig ... Lebiadkin ist dumm, er ist ein Hohlkopf und für unser Vorhaben vollkommen unbrauchbar und ... er kann sogar schaden. Wozu schwatzen Sie all das Zeug? Ich gehe.«

»Ach, wie schade!« rief Liputin mit einem heiteren Lächeln. »Sonst hätte ich Sie, Stepan Trofimowitsch, noch durch ein kleines Anekdötchen erheitert. Ich bin sogar mit der Absicht hierhergekommen, es Ihnen zu erzählen, obwohl Sie übrigens wahrscheinlich selbst schon informiert sind. Nun, ein andermal denn. Alexej Nilytsch hat es so eilig ... Auf Wiedersehen! Das Geschichtchen ist mit Warwara Petrowna geschehen; sie hat mich vorgestern geradezu zum Lachen gebracht; sie ließ mich zu sich rufen; ich hätte mich totlachen können. Auf Wiedersehen.«

Aber jetzt klammerte sich Stepan Trofimowitsch gewissermaßen an ihm fest: er packte ihn an der Schulter, drehte ihn kurz um, zog ihn zurück ins Zimmer und drückte ihn auf einen Stuhl nieder. Liputin bekam beinah einen Schreck.

»Ist das denn nicht verwunderlich?« begann er von selbst, indem er von seinem Stuhl Stepan Trofimowitsch vorsichtig ansah. »Sie ließ mich plötzlich zu sich rufen und fragte mich ›vertraulich‹, wie ich persönlich darüber dächte, ob Nikolaj Wsewolodowitsch wirklich geisteskrank sei oder nicht. Ist das nicht geradezu verblüffend?«

»Sie sind verrückt!« murmelte Stepan Trofimowitsch und geriet auf einmal ganz außer sich: »Liputin, Sie wissen nur zu gut, daß Sie einzig und allein deshalb hergekommen sind, um mir irgendeine Gemeinheit von dieser Art mitzuteilen und ... vielleicht noch etwas Schlimmeres!«

Sofort erinnerte ich mich an seine Vermutung, daß Liputin von unserer Angelegenheit nicht nur bereits mehr wisse als wir selbst jetzt, sondern auch noch etwas, was wir nie erfahren würden.

»Ich bitte Sie, Stepan Trofimowitsch!« murmelte Liputin und tat so, als ob er furchtbare Angst bekommen hätte. »Aber ich bitte Sie ...«

»Machen Sie keine Ausflüchte und fangen Sie an! Auch Sie, Herr Kirillow, bitte ich dringend, wieder umzukehren und bei unserer Aussprache zugegen zu sein. Ich bitte Sie ganz dringend darum! Nehmen Sie Platz! Und Sie, Liputin, legen Sie los: geradeaus, einfach ... und ohne die geringste Umschweife!«

»Hätte ich gewußt, daß es Sie so frappieren würde, dann hätte ich überhaupt nicht davon angefangen ... Und ich dachte, es wäre Ihnen schon alles von Warwara Petrowna selbst mitgeteilt worden!«

»Das haben Sie gar nicht gedacht! Fangen Sie an, fangen Sie an, verstehen Sie nicht?«

»Dann tun Sie mir aber auch den Gefallen und setzen Sie sich selbst hin. Denn es schickt sich nicht, daß ich dasitze, während Sie in solcher Erregung vor mir ... hin und her rennen. Das macht keinen guten Eindruck.«

Stepan Trofimowitsch nahm sich zusammen und ließ sich in eindrucksvoller Weise auf einen Sessel nieder. Der Ingenieur richtete seinen finsteren Blick zu Boden. Liputin betrachtete die beiden mit unbeschreiblich großem Genuß.

»Ja, wie soll ich denn anfangen? ... Sie haben mich ganz aus der Fassung gebracht ...«

6

»Vorgestern kommt zu mir plötzlich Warwara Petrownas Diener und teilt mir mit, daß sie mich für morgen um zwölf Uhr zu sich bittet«, sagte Liputin. »Können Sie sich das vorstellen? Ich ließ also meine Arbeit liegen und klingelte Punkt zwölf bei ihr. Man führte mich in den Salon. Nach kaum einer Minute kam sie schon hervor, forderte mich auf, Platz zu nehmen und setzte sich selbst mir gegenüber. Da saß ich nun und wollte es selbst nicht glauben, denn Sie wissen ja, wie sie mich immer schlecht behandelt hatte! Sie begann geradeaus zu reden und ohne Umschweife, wie das eben so ihre Art ist. ›Sie erinnern sich‹, sagte sie, ›daß vor vier Jahren Nikolaj Wsewolodowitsch, als er krank war, einige sonderbare Handlungen beging, über die die ganze Stadt erstaunt war, bis sich alles aufklärte. Eine dieser Handlungen betraf Sie selbst. Nikolaj Wsewolodowitsch hat Ihnen nach seiner Genesung einen Besuch abgestattet, und zwar, weil ich ihn darum bat. Es ist mir jedoch bekannt, daß er auch früher schon wiederholt mit Ihnen gesprochen hatte. Sagen Sie mir offen und ehrlich, wie Ihnen ...‹ – hier stockte sie ein wenig – ›wie Ihnen damals Nikolaj Wsewolodowitsch vorgekommen ist ... Welche Meinung haben Sie sich damals über ihn gebildet ... Was haben Sie damals von ihm gedacht und ... was denken Sie über ihn jetzt?‹

Hier verwirrte sie sich schon ganz und gar, so daß sie sogar eine volle Minute innehielt und plötzlich errötete. Und dann begann sie von neuem, nicht etwa in einem rührenden Tone, der ihr auch schlecht stehen würde, sondern so recht eindringlich:

›Ich wünsche, daß Sie mich genau und richtig verstehen‹, sagte sie. ›Ich habe Sie jetzt rufen lassen, weil ich Sie für einen klugen und scharfsinnigen Menschen halte, der fähig ist, richtig zu beobachten.‹ Was sagen Sie zu solchen Komplimenten?! ›Sie werden gewiß auch begreifen,‹ fuhr sie fort, ›daß es eine Mutter ist, die jetzt mit Ihnen spricht ... Nikolaj Wsewolodowitsch hat in seinem Leben viele Wendungen durchgemacht und mancherlei Unglück erlitten. Das alles konnte schon sehr leicht auf seine Geistesverfassung einwirken. Natürlich spreche ich nicht vom Irrsinn, der ist völlig ausgeschlossen!‹ sagte sie fest und stolz. ›Aber es konnte sich bei ihm etwas Seltsames, Besonderes einstellen, eine eigenartige Gedankenrichtung herausbilden, eine Neigung zu einer gewissen besonderen Anschauungsweise.‹

Das alles sind ihre eigenen Worte, und ich bin erstaunt, Stepan Trofimowitsch, mit welcher Deutlichkeit Warwara Petrowna eine Sache klarzumachen versteht. Sie ist eine Dame von sehr hohem Verstand! ›Jedenfalls‹, sagte sie, ›habe ich selbst eine gewisse beständige Unruhe und den Hang zu gewissen besonderen Neigungen an ihm wahrgenommen. Aber ich bin die Mutter, Sie indessen, als ein Fremder, sind bei Ihrem Verstände fähiger, sich eine unabhängige, unbeeinflußte Meinung zu bilden. Ich flehe Sie also an,‹ jawohl, so sagte sie es: ›ich flehe Sie an,‹ sagte sie, ›mir die ganze Wahrheit zu sagen, ohne Umschweife, und wenn Sie mir dazu noch das Versprechen geben, nie zu vergessen, daß ich mit Ihnen vertraulich gesprochen habe, so können Sie darauf rechnen, daß ich stets bereit sein werde, mich Ihnen bei jeder sich bietenden Gelegenheit, und zwar im hohen Maße, dankbar zu erweisen.‹ Nun, was sagen Sie dazu?«

»Sie ... Sie haben mich so frappiert ...« stammelte Stepan Trofimowitsch, »daß ich Ihnen nicht glaube ...«

»Nein, ich bitte Sie sehr zu beachten,« fiel ihm Liputin ins Wort, wie wenn er nicht gehört hätte, was Stepan Trofimowitsch sagte, »wie groß wohl ihre Unruhe und Aufregung gewesen sein mußte, wenn sie sich mit einer solchen Frage von ihrer Höhe herabließ, sich an so einen Menschen wie mich wandte und sich obendrein noch so erniedrigte, daß sie mich um Verschwiegenheit bat. Was soll denn das bedeuten? Sind etwa wieder irgendwelche unerwartete Nachrichten über Nikolaj Wsewolodowitsch eingelaufen?«

»Ich weiß nichts ... von irgendwelchen Nachrichten ... ich bin schon mehrere Tage mit ihr nicht zusammengekommen, aber ... aber ich muß doch bemerken ...« murmelte Stepan Trofimowitsch, der offenbar kaum seine Gedanken sammeln konnte, »ich muß Ihnen sagen, Liputin, daß, wenn man Ihnen dies im Vertrauen mitgeteilt hat, und Sie jetzt vor uns allen ...«

»Streng vertraulich! Strafe mich Gott, wenn ich ... Aber wenn ich hier ... ist denn etwas dabei? Sind wir denn etwa Fremde? Sogar Alexej Nilytsch ist doch kein Fremder?«

»Ich kann diese Ansicht nicht teilen; ohne Zweifel werden wir drei das Geheimnis zu wahren wissen, aber Ihnen, dem vierten, traue ich nicht im geringsten und fürchte Sie in dieser Hinsicht!«

»Wie kommen Sie darauf? Ich habe doch das größte Interesse an der Verschwiegenheit, denn mir ist doch ewige Dankbarkeit versprochen worden! Und da wollte ich eigentlich bei diesem Anlaß auf eine außerordentlich merkwürdige Tatsache hinweisen, die eigentlich mehr als psychologisch interessant zu bezeichnen wäre. Gestern abend, als ich noch unter dem Eindruck des Gesprächs mit Warwara Petrowna stand – und Sie können sich selbst leicht denken, was für einen Eindruck es auf mich gemacht hatte, – wandte ich mich an Alexej Nilytsch mit der beiläufigen Frage: ›Sie haben ja‹, sagte ich, ›sowohl im Auslande als auch schon früher in Petersburg Nikolaj Wsewolodowitsch gekannt; wie finden Sie ihn denn,‹ fragte ich, ›was seinen Verstand und seine geistigen Fähigkeiten anbetrifft?‹ Da antwortet mir Herr Kirillow so lakonisch, wie das eben seine Art ist, Nikolaj Wsewolodowitsch sei ein Mensch von feinem Verstande und vernünftigen Anschauungen. ›Haben Sie aber nicht im Laufe der Jahre‹, sagte ich, ›eine gewisse Abweichung seiner Ideen oder eine besondere Verdrehung der Denktätigkeit oder sozusagen eine Art Irrsinn an ihm bemerkt?‹ Kurz, ich wiederholte die Frage Warwara Petrownas. Und stellen Sie sich vor: Alexej Nilytsch wurde auf einmal nachdenklich, legte sein Gesicht in Falten genau so wie jetzt, und erwiderte: ›Ja, auch mir schien mitunter manches an ihm sonderbar.‹ Nun aber beachten Sie dies: wenn schon selbst Alexej Nilytsch an ihm manches sonderbar erschien, was kann sich da unter diesen Umständen in der Tat alles herausstellen? Wie?«

»Ist das wahr?« wandte sich Stepan Trofimowitsch an Alexej Nilytsch.

»Ich möchte nicht gern davon sprechen«, erwiderte Alexej Nilytsch, indem er plötzlich den Kopf hob. Seine Augen funkelten. »Ich will Ihnen das Recht dazu streitig machen, Liputin. Sie haben gar kein Recht, in diesem Zusammenhang von mir zu reden. Ich habe gar nicht meine ganze Meinung ausgesprochen. Ich kannte ihn zwar in Petersburg, aber das ist schon lange her; und wenn ich ihm auch jetzt begegnet bin, so kenne ich Nikolaj Stawrogin doch nur sehr wenig. Ich bitte mich nicht hineinzuziehen und ... das alles sieht wie eine Klatscherei aus.«

Liputin machte eine Handbewegung, die besagen wollte, daß er eine verfolgte Unschuld sei.

»Ich soll ein Klatschbruder sein?! Warum nicht gleich ein Spitzel? Sie haben gut kritisieren, Alexej Nilytsch, wenn Sie sich von der ganzen Sache fernhalten. Sie werden es mir nicht glauben, Stepan Trofimowitsch, aber schauen Sie, so dumm dieser Hauptmann Lebiadkin auch ist ... man schämt sich ordentlich zu sagen, wie dumm er ist; es gibt im Russischen einen solchen Vergleich, der den Grad seiner Dummheit bezeichnet; – aber selbst er behauptet, von Nikolaj Wsewolodowitsch beleidigt worden zu sein, obwohl er sich vor seinem Scharfsinn geradezu beugt. ›Dieser Mensch hat mich ganz verblüfft,‹ sagte Lebiadkin zu mir, ›er ist klug wie eine Schlange.‹ Das sind seine eigenen Worte. Und da fragte ich ihn, immer noch unter der Einwirkung der gestrigen Auseinandersetzung mit Warwara Petrowna, und gleich nachdem ich mit Alexej Nilytsch gesprochen hatte: ›Was glauben Sie, Hauptmann,‹ fragte ich, ›wie urteilen Sie darüber: ist Ihre kluge Schlange wahnsinnig oder nicht?‹ Meine Frage wirkte auf ihn wie ein Peitschenhieb, den man ihm hinterrücks und ohne seine Erlaubnis versetzt hatte. Er sprang geradezu von seinem Stuhl auf. ›Ja,‹ sagte er, ›ja, aber ... aber das kann keinen Einfluß darauf haben ...!‹ Worauf es keinen Einfluß haben kann, hat er mir mit keiner Silbe verraten. Und dann verfiel er in eine solche Versonnenheit, in ein so trübes Nachdenken, daß selbst sein Rausch verflog. Wir saßen beide in der Filippowschen Schenke. Fast eine halbe Stunde sprach er kein Wort. Dann aber schlug er mit der Faust auf den Tisch und rief: ›Ja,‹ rief er, ›vielleicht ist er wirklich verrückt, aber das kann trotzdem keinen Einfluß darauf haben ...‹ und er sprach wieder nicht zu Ende und sagte mir auch jetzt nicht, was er damit meinte. Ich teile Ihnen natürlich nur einen Extrakt dieses Gesprächs mit, aber der Sinn des Ganzen ist doch klar verständlich. Man mag fragen, wen man will, jedem kommt sofort ein und derselbe Gedanke, auch wenn er ihm vorher niemals eingefallen ist: ›Ja,‹ sagt ein jeder, ›er ist verrückt; er ist sehr klug, aber vielleicht dennoch irrsinnig.‹«

Stepan Trofimowitsch saß in Gedanken versunken da und überlegte etwas sehr angestrengt.

»Aber woher weiß es denn Lebiadkin?«

»Wollen Sie sich mit dieser Frage nicht lieber an Alexej Nilytsch wenden, der mich soeben einen Spitzel genannt hat. Ich bin ein Spitzel, und – ich weiß nichts. Alexej Nilytsch ist aber alles bis in die kleinsten Einzelheiten hinein bekannt und er beliebt zu schweigen.«

»Ich weiß gar nichts, oder sehr wenig«, erwiderte der Ingenieur mit derselben Gereiztheit. »Sie machen Lebiadkin betrunken, um etwas zu erfahren. Sie haben auch mich hierhergebracht, um mich zum Reden zu bringen und etwas herauszubekommen. Daraus folgt, daß Sie ein Spitzel sind.«

»Ich habe ihm noch nie Branntwein gekauft, und er ist mit allen seinen Geheimnissen nicht soviel Geld wert. Mir bedeuten sie gar nichts, wieviel sie Ihnen wert sind, weiß ich allerdings nicht. Das Gegenteil ist wahr. Er ist es, der jetzt mit Geld um sich wirft, während er vor zwölf Tagen noch zu mir kam, um bei mir fünfzehn Kopeken zu borgen. Und jetzt spendiert er mir Champagner, nicht ich ihm. Aber Sie bringen mich da auf einen guten Gedanken, und wenn es nötig sein sollte, werde ich ihn jetzt wirklich einmal betrunken machen, erst recht, um alles zu erfahren. Und es wird mir vielleicht gelingen, alle ihre ... kleinen Geheimnisse ans Tageslicht zu bringen!« antwortete Liputin boshaft und bissig.

Stepan Trofimowitsch sah mit Erstaunen auf die beiden Streitenden. Beide verrieten sich selbst und, was die Hauptsache war, sie genierten sich nicht im geringsten. Ich hatte den Eindruck, daß Liputin diesen Alexej Nilytsch nur deshalb zu uns gebracht hatte, um ihn durch eine dritte Person in ein Gespräch hineinzuziehen, was ein Lieblingskunstgriff von ihm war.

»Alexej Nilytsch kennt Nikolaj Wsewolodowitsch nur allzu gut,« fuhr Liputin gereizt fort, »aber er verheimlicht es. Und wenn Sie mich nach dem Hauptmann Lebiadkin fragen: der hat früher als wir alle die Bekanntschaft des Herrn Stawrogin gemacht. In Petersburg vor etwa fünf oder sechs Jahren, in jener, wenn man so sagen darf, wenig bekannten Periode des Lebens Nikolaj Wsewolodowitschs, als er noch gar nicht daran dachte, uns mit seiner Ankunft zu beglücken. Man muß annehmen, daß unser Prinz zu jener Zeit sich ziemlich seltsame Bekanntschaften gesucht hatte. Auch mit Alexej Nilytsch ist er, glaube ich, damals bekannt geworden.«

»Nehmen Sie sich in acht, Liputin; ich warne Sie: Nikolaj Wsewolodowitsch beabsichtigt, bald selbst hierher zu kommen, und er versteht es sehr gut, seinen Mann zu stehen.«

»Was könnte er denn wohl gegen mich haben? Ich bin der erste, der es laut ausspricht, daß er ein Mann von größtem und feinsten Verstande ist, und auch Warwara Petrowna habe ich gestern in dieser Hinsicht völlig beruhigt. ›Für seinen Charakter‹, habe ich ihr gesagt, ›kann ich allerdings keine Bürgschaft übernehmen.‹ Auch Lebiadkin sprach sich gestern im gleichen Sinne aus: ›Es ist seinem Charakter zuzuschreiben,‹ sagte er, ›daß er dieses Leid über mich gebracht hat.‹ Ach, Stepan Trofimowitsch, Sie haben gut schreien, daß ich ein Klatschbruder und Spitzel bin, vergessen Sie aber nicht, daß Sie mich selbst ausgehorcht haben und dazu noch mit einer so maßlosen Neugier. Warwara Petrowna ist gestern gleich auf den Hauptpunkt losgegangen: ›Sie‹, sagte sie, ›sind bei der Sache persönlich interessiert gewesen, und das ist es, weshalb ich mich an Sie wende.‹ Und ob ich dabei interessiert war! Wie kann denn hier überhaupt von irgendwelchen Zielen, die ich durch Klatsch und Spionage verfolgen sollte, die Rede sein, wenn ich vor den Augen der ganzen Gesellschaft von Seiner Exzellenz beleidigt worden bin? Ich glaube wohl behaupten zu dürfen, daß ich Gründe habe, mich für ihn zu interessieren, die mit einer Klatschabsicht nichts zu tun haben. Heute drückt er Ihnen die Hand, und morgen ohrfeigt er Sie mir nichts dir nichts in Gegenwart der ganzen verehrlichen Gesellschaft zum Dank für Ihre Gastfreundschaft, und zwar ganz, wie es ihm beliebt. Vom Wohlleben ist er toll geworden! Die Hauptsache ist aber für ihn das weibliche Geschlecht! Solche Herren wie er sind wie Schmetterlinge und wie tapfere Hähnchen! Gutsbesitzer mit Flügelchen wie die antiken Amoretten, Herzensbrecher in der Art von Lermontows Petschorin! Sie haben's leicht, Stepan Trofimowitsch, als eingefleischter Junggeselle, so zu reden und mich um Seiner Exzellenz willen einen Klatschbruder zu nennen. Wenn Sie aber, da Sie noch ein so frischer und ansehnlicher Mann sind, jetzt eine junge und hübsche Frau genommen hätten, dann würden Sie auch vielleicht vor unserem Prinzen ihre Tür zusperren und in ihrem eigenen Hause Barrikaden errichten! Was soll ich es verheimlichen: wenn dieses Fräulein Lebiadkina, die lahm ist und mit der Knute geschlagen wird, nicht so verunstaltet und von Sinnen wäre, dann hätte ich bei Gott angenommen, daß auch sie ein Opfer der Leidenschaften unseres Generals geworden ist, und daß gerade er derjenige sei, von dem der Hauptmann Lebiadkin ›in seiner Familienehre‹ gekränkt worden ist, wie er sich selbst ausdrückte. Eine solche Annahme stimmt nur vielleicht mit seinem feinen Geschmack nicht überein; aber auch das macht ihm vielleicht nichts aus. Ihm schmeckt jede Beere, wenn er nur in der richtigen Stimmung ist. Sie werfen mir Klatschereien vor; aber bin ich es denn, der das hinausschreit? Die ganze Stadt ist ja schon voll davon! Ich höre ja nur zu und bestätige es. Es ist doch wohl nicht verboten, ›ja‹ zu sagen!«

»Die ganze Stadt ist voll davon? Wovon denn?«

»Das heißt, es ist eigentlich Hauptmann Lebiadkin, der in seiner Trunkenheit in der ganzen Stadt ein Geschrei erhebt. Aber ist das etwa nicht dasselbe? Was trifft denn mich für eine Schuld? Ich interessiere mich dafür und spreche darüber nur im Kreise meiner Freunde, denn ich glaube immer noch unter Freunden zu sein«, sagte er und sah uns alle der Reihe nach mit einem recht unschuldigen Blick an. – »Hier ist folgender Fall geschehen: denken Sie nur – es stellt sich heraus, daß Seine Exzellenz noch aus der Schweiz durch ein hochvornehmes junges Mädchen, das ich zu kennen die Ehre habe, und das eine bescheidene Waise ist, dreihundert Rubel zur Aushändigung an Hauptmann Lebiadkin hergeschickt hat. Kurz darauf aber erhielt Lebiadkin eine ganz zuverlässige Nachricht von einer ebenfalls hochachtbaren und somit glaubwürdigen Persönlichkeit, die ich aber nicht nennen möchte, daß unser Prinz nicht dreihundert, sondern tausend Rubel geschickt hatte! ... Infolgedessen erhebt jetzt Lebiadkin ein Geschrei und behauptet, das junge Mädchen hätte ihm siebenhundert Rubel unterschlagen. Er beabsichtigt sogar, die Hilfe der Polizei anzurufen, jedenfalls droht er damit und erhebt jetzt in der ganzen Stadt einen gewaltigen Lärm ...«

»Das ist gemein, gemein von Ihnen!« rief plötzlich der Ingenieur und sprang von seinem Stuhl auf.

»Aber Sie selbst sind ja jene hochachtbare Persönlichkeit, die dem Hauptmann Lebiadkin im Namen von Nikolaj Wsewolodowitsch versichert hat, daß nicht dreihundert, sondern tausend Rubel abgesandt wären. Das hat mir der Hauptmann alles selbst in seiner Trunkenheit ausgeplaudert.«

»Das ... das ist ein unglückliches Mißverständnis. Irgend jemand hat sich geirrt, und nun sind es eben die Folgen ... Es ist alles Unsinn, und von Ihrer Seite ist es gemein ...!«

»Das ist ja gerade mein Wunsch, zu glauben, daß es Unsinn ist, und ich habe das alles mit Bedauern vernommen, weil erstens immerhin ein hochanständiges Mädchen in diese Geschichte mit den siebenhundert Rubeln verwickelt ist, und weil ihr zweitens offenbar intime Beziehungen zu Nikolaj Wsewolodowitsch in die Schuhe geschoben werden. Für Seine Exzellenz ist es doch eine Kleinigkeit, ein anständiges Mädchen zu kompromittieren oder eine fremde Frau zu entehren, ähnlich, wie er es auch in meinem Falle getan hat! Trifft er gerade einen hochgesinnten Mann, dann zwingt er ihn einfach, fremde Sünden mit seinem eigenen ehrlichen Namen zu decken. Genau dasselbe habe ich doch zu ertragen gehabt; ich rede von mir selbst ...«

»Hüten Sie sich, Liputin!« rief Stepan Trofimowitsch, indem er sich von seinem Sessel erhob. Er war ganz blaß geworden.

»Glauben Sie ihm nicht, glauben Sie kein Wort! Es ist ein Mißverständnis, Lebiadkin aber ist ewig betrunken ...« rief der Ingenieur in unbeschreiblicher Aufregung. »Es wird sich alles aufklären! Ich kann aber nicht mehr ... Ich halte es für eine Niederträchtigkeit ... Genug, genug davon!«

Und er lief aus dem Zimmer hinaus.

»Was haben Sie denn? Ich komme doch auch mit Ihnen!« rief Liputin ebenfalls etwas unruhig, sprang auf und beeilte sich, Alexej Nilytsch zu folgen.

7

Stepan Trofimowitsch stand eine Weile wie in Gedanken versunken da, blickte mich an, ohne mich eigentlich zu sehen, nahm seinen Hut und Stock und ging langsam aus dem Zimmer. Ich folgte ihm wie vorhin. Als wir aus dem Tore traten, bemerkte er, daß ich ihn begleitete und sagte:

»Ach ja, Sie können später einmal Zeuge sein ... de l'accident. Vous m'accompagnerez, n'est-ce pas?«

»Stepan Trofimowitsch, wollen Sie denn wirklich zu Warwara Petrowna gehen? Bedenken Sie, was das für Folgen haben kann!«

Mit einem kläglichen und fassungslosen Lächeln, einem Lächeln der Scham und der vollkommenen Verzweiflung, das gleichzeitig irgendein sonderbares Entzücken ausdrückte, flüsterte er mir, einen Augenblick stehenbleibend, zu:

»Ich kann doch nicht ›fremde Sünden‹ heiraten!«

Auf dieses Wort hatte ich nur gewartet. Endlich war es ausgesprochen, dieses bis dahin tief verborgene verheißungsvolle Wort, daß er mir eine ganze Woche lang durch allerlei Winkelzüge und Grimassen zu verheimlichen suchte. Ich war geradezu außer mir vor Wut.

»Und ein so schmutziger, so ... gemeiner Gedanke konnte in Ihrem Kopf entstehen, in dem hellen Verstand, in dem guten Herzen eines Stepan Werchowenskij ... und ... und sogar noch, ehe Liputin Ihnen seine Mitteilungen gemacht hat!«

Er sah mich an, antwortete aber nicht und ging auf demselben Wege weiter. Ich dachte nicht daran, mich von ihm zu trennen. Ich wollte bei Warwara Petrowna als Zeuge auftreten. Ich würde ihm vielleicht verziehen haben, wenn er in seinem weibischen Kleinmut nur Liputin Glauben geschenkt hätte; jetzt aber war es für mich klar, daß er schon lange vor Liputins Klatschereien auf diesen Gedanken gekommen war, und Liputin jetzt nur seinen Verdacht verstärkt und Öl ins Feuer gegossen hatte. Er hatte kein Bedenken getragen, das junge Mädchen gleich vom ersten Tage an in einer so schmutzigen Weise zu verdächtigen, ohne daß er irgendeinen Grund dafür gehabt hatte, nicht einmal den von Liputin vorgebrachten. Das despotische Verhalten Warwara Petrownas erklärte er sich nur mit ihrem verzweifelten Wunsche, so schnell wie möglich die adligen Sünden ihres unschätzbaren Nicolas durch die Verheiratung Daschas mit einem achtbaren Menschen zu vertuschen! Ich wünschte unbedingt, daß er dafür bestraft werden sollte.

»O! Dieu, qui est si grand et si bon! Oh, wer wird mir meine Ruhe wiedergeben!« rief er aus, nachdem er noch etwa hundert Schritt weiter gegangen war, und blieb plötzlich stehen.

»Kommen Sie sofort nach Hause; dort will ich Ihnen alles erklären!« rief ich und versuchte ihn mit Gewalt umzudrehen, um ihn zur Rückkehr zu bewegen.

»Er ist es! Stepan Trofimowitsch, sind Sie es? Tatsächlich?« ertönte in unserer Nähe auf einmal eine frische, muntere, junge Stimme, die wie Musik klang.

Wir sahen nichts, aber plötzlich erschien neben uns eine Reiterin. Es war Lisaweta Nikolajewna mit ihrem ständigen Begleiter. Sie hielt ihr Pferd an.

»Kommen Sie, kommen Sie schnell her!« rief sie laut und heiter. »Ich habe ihn zwölf Jahre lang nicht gesehen und doch erkannt; er aber ... Erkennen Sie mich denn wirklich nicht?«

Stepan Trofimowitsch ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte und küßte sie ehrfurchtsvoll. Er sah sie an, wie wenn er betete und konnte kein Wort herausbringen.«

»Er hat mich erkannt, Mawrikij Nikolajewitsch, und freut sich, mich wiederzusehen! Weshalb sind Sie denn während der ganzen zwei Wochen nicht zu uns gekommen? Die Tante redete mir ein, Sie wären krank und dürften nicht gestört werden; aber ich wußte ja, daß die Tante log. Ich habe immer mit den Füßen gestampft und auf Sie geschimpft, aber ich wollte unbedingt, unbedingt, daß Sie zuerst von selbst kommen sollten, und habe deshalb nicht zu Ihnen geschickt. Mein Gott, er hat sich gar nicht verändert!« rief sie, indem sie sich vom Sattel herabbeugte und ihn näher betrachtete. »Es ist geradezu komisch, wie unverändert er geblieben ist! Ach nein: – da sind Fältchen, sehr viele Fältchen um die Augen und auf den Backen! Und auch einige graue Haare sind schon da, aber die Augen sind dieselben geblieben! Und ich? Habe ich mich verändert? Ja? Weshalb schweigen Sie denn?«

Ich erinnerte mich in diesem Augenblick daran, daß man sich erzählt hatte, sie wäre, als man sie als elfjähriges Kind nach Petersburg brachte, geradezu krank geworden, und habe in der Krankheit geweint und nach Stepan Trofimowitsch verlangt.

»Sie ... ich ...« stammelte er jetzt mit einer vor Freude versagenden Stimme. »Ich habe eben den Ausruf getan: ›Wer wird mir meine Ruhe wiedergeben?‹ und da ertönte Ihre Stimme ... Ich halte das für ein Wunder, et je commence à croire!«

»En Dieu? En Dieu, qui est là-haut et qui est si grand et si bon? Sehen Sie, ich weiß noch alles auswendig, was Sie mich gelehrt haben. Mawrikij Nikolajewitsch, was hat er mir damals für einen Glauben en Dieu, qui est si grand et si bon, beigebracht! Und erinnern Sie sich noch an Ihre Erzählung von der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus und davon, wie alle schrien: ›Land! Land!‹ Meine Wärterin Aliona Frolowna sagt, daß ich danach phantasiert und im Schlafe ›Land, Land!‹ gerufen habe. Und wissen Sie noch, wie Sie mir die Geschichte des Prinzen Hamlet erzählten? Und besinnen Sie sich noch, wie Sie mir beschrieben, wie man die armen Auswanderer aus Europa nach Amerika transportiere? Es war kein Wort daran wahr, ich habe nachher alles erfahren, was mit ihrem Transport zusammenhängt! Aber wie hübsch hat er mir alles vorgelogen, Mawrikij Nikolajewitsch! Es war fast schöner als die Wahrheit! Warum sehen Sie denn Mawrikij Nikolajewitsch so an? Er ist der beste und der treueste Mensch auf Erden, und Sie müssen ihn unbedingt ebenso lieb gewinnen wie mich! Il fait tout ce que jeveux! Aber, lieber Stepan Trofimowitsch, Sie müssen also wohl wieder sehr unglücklich sein, wenn Sie auf offener Straße nach dem rufen, der Ihnen Ihre Ruhe wiedergeben soll. Sie sind unglücklich, nicht wahr? Nicht wahr?«

»Jetzt bin ich glücklich ...«

»Es ist wohl die Tante, die Sie kränkt?« fuhr sie fort, ohne ihn zu hören. »Sie ist noch immer dieselbe böse, ungerechte und uns allen doch so teure Tante! Und wissen Sie noch, wie Sie sich im Garten mir in die Arme warfen, und ich Sie tröstete und weinte? Fürchten Sie sich doch nicht vor Mawrikij Nikolajewitsch; er weiß über Sie alles, alles, schon längst; Sie können auch an seiner Schulter weinen, soviel es Ihnen beliebt; er wird solange Sie wollen stehen und stillhalten! ... Heben Sie doch Ihren Hut für einen Augenblick ein bißchen in die Höhe oder nehmen Sie ihn ganz ab, strecken Sie den Kopf vor und stellen Sie sich auf die Zehen, ich will Sie gleich auf die Stirn küssen, so wie ich Sie das letztemal geküßt habe, als wir voneinander Abschied nahmen. Schauen Sie nur, jenes Fräulein da beobachtet sie aus dem Fenster und freut sich über Ihren Anblick ... Nun, kommen Sie näher, noch näher! Mein Gott, wie grau er geworden ist!«

Und sie beugte sich im Sattel herunter und küßte ihn auf die Stirn. »Nun und jetzt wollen wir zu Ihnen eilen. Ich weiß, wo Sie wohnen. Ich werde gleich bei Ihnen sein. Ich will Ihnen, Sie eigensinniger Mensch Sie, den ersten Besuch machen und Sie dann für den ganzen Tag zu mir verschleppen. Gehen Sie, und bereiten Sie sich auf meinen Empfang vor!«

Und sie sprengte mit ihrem Kavalier davon. Wir kehrten nach Hause zurück. Stepan Trofimowitsch setzte sich auf das Sofa und begann zu weinen.

»Dieu! Dieu!« rief er in einem fort. »Enfin une minute de bonheur!«

Schon nach zehn Minuten erschien sie ihrem Versprechen gemäß, und zwar in Begleitung ihres Mawrikij Nikolajewitsch.

»Vous et le bonheur, vous arrivez en même temps!« sagte er und erhob sich, um ihr entgegenzugehen.

»Da haben Sie einen Blumenstrauß; ich bin eben bei Madame Chevalier gewesen; sie wird den ganzen Winter über frische Blumen haben, für die Damen, die ihren Namenstag feiern. Und da ist auch Mawrikij Nikolajewitsch, ich bitte die Herren, Bekanntschaft zu schließen. Ich wollte Ihnen eigentlich eine Pastete statt des Blumenstraußes mitbringen, aber Mawrikij Nikolajewitsch behauptet, das sei in Rußland nicht Sitte.«

Dieser Mawrikij Nikolajewitsch war ein Hauptmann der Artillerie, ungefähr dreiunddreißig Jahre alt, hochgewachsen, von schönem und untadeligem Äußeren, mit einem ernsten Gesichtsausdruck, der auf den ersten Blick sogar streng erscheinen konnte, und das trotz seines geradezu bewundernswerten Zartgefühls und seiner großen Herzensgüte, die fast jedem schon vom ersten Augenblick der Bekanntschaft mit ihm auffiel. Er war übrigens schweigsam, schien sehr kaltblütig zu sein und drängte sich niemandem als Freund auf. Viele sagten später, er wäre beschränkt; aber das traf nicht ganz zu.

Ich will es gar nicht übernehmen, Lisaweta Nikolajewnas Schönheit zu beschreiben. Die ganze Stadt redete bereits von ihrer herrlichen Erscheinung, obwohl einige unserer Damen und Mädchen mit Entrüstung widersprachen. Es gab unter ihnen auch solche, die Lisaweta Nikolajewna bereits haßten, und zwar in erster Linie ihres Stolzes wegen. Die Drosdows hatten bis jetzt kaum begonnen, Besuche zu machen, was natürlich als Kränkung aufgefaßt wurde, obgleich Praskowia Iwanownas tatsächlich schlimmer Gesundheitszustand die alleinige Schuld an der Verzögerung trug. Zweitens haßte man sie deswegen, weil Sie eine Verwandte der Gouverneurin war, und drittens, weil sie täglich spazieren ritt. Bisher hatte man bei uns noch nie Damen reiten gesehen; es war nur natürlich, daß das Erscheinen Lisaweta Nikolajewnas, die ausritt, obwohl sie noch keine Besuche gemacht hatte, die Mitglieder unserer Gesellschaft beleidigte. Übrigens wußten alle bereits, daß sie auf ärztliche Verordnung ritt, und sprachen nun giftig auch noch über ihre Krankheit. Aber sie war wirklich nicht gesund. Was an ihr auf den ersten Blick besonders auffiel, das war ihre stete krankhafte, nervöse Unruhe. Die Ärmste litt in der Tat sehr viel, und in der Folge fand auch alles seine Aufklärung. Jetzt, wenn ich an die Vergangenheit zurückdenke, kann ich nicht mehr sagen, daß sie so schön war, wie sie mir damals vorkam. Vielleicht war sie überhaupt nicht einmal hübsch. Hochgewachsen und etwas dünn, aber kräftig und biegsam, fiel sie sogar durch die Unregelmäßigkeit ihrer Gesichtszüge auf. Ihre Augen hatten eine kalmückenhafte, schiefe Stellung; und obwohl ihr Gesicht mager und blaß war und besonders hervorstehende Backenknochen hatte, lag in ihm dennoch etwas Anziehendes und Sieghaftes. In dem feurigen Blick ihrer dunklen Augen kam irgendeine Macht zum Ausdruck; sie erschien »als eine Siegerin und um zu siegen«. Sie machte den Eindruck eines stolzen und mitunter sogar dreisten Mädchens; ich weiß nicht, ob es ihr gelang, gütig zu sein; aber es ist mir bekannt, daß sie es sehnlichst wünschte und sich quälte, um sich zu zwingen, auch einigermaßen gut zu sein. In ihrem Wesen lagen sicherlich viele schöne Triebe, und unzweifelhaft dachte sie an viele gute Unternehmungen. Aber alles schien in ihr fortwährend das Gleichgewicht zu suchen und es nicht finden zu können; alles befand sich in Unordnung, in steter Bewegung, in Unruhe. Vielleicht trat sie auch mit gar zu strengen Anforderungen an sich heran und fand keine Ruhe, weil es ihr eben an Kraft mangelte, diesen Anforderungen zu genügen.

Sie setzte sich auf das Sofa und sah sich im Zimmer um.

»Warum wird mir in solchen Augenblicken immer so traurig zumute? Erraten Sie es und erklären Sie es mir, Sie gelehrter Mann! Ich habe mein ganzes Leben lang gedacht, daß ich mich weiß Gott wie sehr freuen würde, wenn ich Sie wiedersähe und mir alles ins Gedächtnis zurückriefe, und nun bin ich eigentlich so gut wie gar nicht froh, obwohl ich Sie immer noch liebe ... Ach Gott, bei ihm hängt ja hier mein Bild! Geben Sie es einmal her! Ich erinnere mich daran, ja, ja!«

Vor neun Jahren hatten die Drosdows aus Petersburg an Stepan Trofimowitsch ein vorzügliches, mit Wasserfarben gearbeitetes Bildnis der zwölfjährigen Lisa geschickt. Seitdem hing es beständig bei ihm an der Wand.

»Bin ich denn wirklich ein so hübsches Kind gewesen? Ist denn das wirklich mein Gesicht?«

Sie stand auf, trat an den Spiegel und verglich das Bildnis mit ihrem jetzigen Aussehen.

»Hier, nehmen Sie es schnell fort!« rief sie, indem sie ihm das Kunstwerk zurückgab. »Und hängen Sie es jetzt nicht wieder auf, lassen Sie das bis nachher; ich mag es jetzt nicht mehr sehen.« Sie setzte sich wieder auf das Sofa. »Ein Leben verging, und es begann ein zweites; dann verging auch das zweite, und es begann ein drittes, und keins hat einen rechten Abschluß gehabt. Das Ende war stets wie mit der Schere abgeschnitten. Sehen Sie, was ich für alte Dinge erzähle! Und doch liegt viel Wahres darin!«

Sie schmunzelte und sah mich an; schon mehrmals hatte sie mich angeblickt, aber Stepan Trofimowitsch mußte wohl in seiner Aufregung vergessen haben, daß er mir versprochen hatte, mich vorzustellen.

»Aber weshalb hängt mein Bild bei Ihnen unter Dolchen? Wozu haben Sie so viele Dolche und Säbel?«

Es hingen bei ihm wirklich an der Wand, ich weiß nicht, aus welchem Grunde, über Kreuz zwei Jatagans und darüber ein echter tscherkessischer Säbel. Als sie die Frage nach den Waffen stellte, sah sie mir so gerade ins Gesicht, daß ich ihr schon etwas antworten wollte und die Regung nur mit Mühe unterdrückte. Stepan Trofimowitsch besann sich schließlich und stellte mich vor.

»Ich weiß, ich weiß, ich kenne Sie«, sagte sie. »Ich freue mich sehr. Auch Mama hat schon viel von Ihnen gehört. Machen Sie sich auch mit Mawrikij Nikolajewitsch bekannt, er ist ein ganz vortrefflicher Mensch. Ich habe mir über Sie bereits eine komische Meinung gebildet: Sie sind doch wohl Stepan Trofimowitschs Vertrauter?«

Ich errötete.

»Ach, verzeihen Sie bitte, ich habe eine falschen Ausdruck gebraucht: ich wollte gar nicht sagen, daß meine Meinung über Sie etwas Komisches hat, sondern ...«, und sie wurde selbst rot und verlegen. – »Übrigens haben Sie gar keinen Grund, sich zu schämen, daß Sie ein vortrefflicher Mensch sind! Aber es wird Zeit, daß wir gehen, Mawrikij Nikolajewitsch! Stepan Trofimowitsch, in einer halben Stunde müssen Sie bei uns sein. O Gott, wieviel wollen wir da miteinander reden! Jetzt werde ich Ihre Vertraute sein, und zwar in allem, in allem, verstehen Sie?«

Stepan Trofimowitsch wurde sofort wieder von einem Schreck ergriffen.

»Oh, Mawrikij Nikolajewitsch weiß alles, vor dem brauchen Sie sich nicht zu genieren!«

»Was weiß er?«

»Und Sie fragen noch!« rief sie erstaunt. »Bah, dann ist es also wahr, daß Sie ein Geheimnis daraus machen! Ich wollte es gar nicht glauben. Und Dascha wird auch verborgen gehalten. Die Tante ließ mich neulich nicht zu ihr, weil Dascha, wie sie sagte, Kopfschmerzen hatte.«

»Aber ... aber wie haben Sie es denn erfahren?«

»Ach, mein Gott, genau so wie alle anderen. Das war doch kein Kunststück!«

»Wissen es denn alle schon?«

»Aber natürlich! Mama hat es zuerst allerdings von Aliona Frolowna, von meiner alten Kinderwärterin erfahren; zu der war Ihre Nastasia gelaufen gekommen und hat es ihr erzählt. Und der Nastasia haben Sie es doch selbst gesagt! Wenigstens behauptet sie, sie hätte es von Ihnen selbst gehört.«

»Ich ... ich habe einmal davon gesprochen,« stammelte Stepan Trofimowitsch und wurde ganz rot, »aber ... ich habe es ja nur angedeutet ... j'étais si nerveux et malade et puis ...«

Sie brach in ein Lachen aus.

»Und da gerade kein Vertrauter bei der Hand war und Nastasia Ihnen unter die Augen kam, – da war es eben geschehen. Nastasia aber hat die ganze Stadt voll Gevatterinnen! Nun, lassen wir es gut sein; es ist ja auch einerlei; mögen es die Leute wissen, um so besser sogar. Beeilen Sie sich aber mit Ihrem Besuch bei uns; wir essen früh zu Mittag ... Ja, das hätte ich beinah vergessen,« rief sie und setzte sich wieder, »hören Sie mal: was ist eigentlich Schatow?«

»Schatow? Das ist Darja Pawlownas Bruder ...«

»Das weiß ich doch, daß er ihr Bruder ist! Wie können Sie mir nur so antworten«, unterbrach sie ihn ungeduldig. »Ich will wissen, was er eigentlich ist, was für eine Art Mensch?«

»C'est un pense-creux d'ici. C'est le meilleur et le plus irascible homme du monde.«

»Ich habe selbst schon gehört, daß er ein Sonderling ist. Darum handelt es sich übrigens nicht. Es wurde mir gesagt, daß er drei Sprachen beherrscht, darunter auch die englische, und eine literarische Arbeit übernehmen könnte. Wenn dem so ist, so hätte ich für ihn viel Arbeit; ich brauche jemand, der mir hilft, und je eher, um so besser. Wird er eine Arbeit übernehmen oder nicht? Man hat ihn mir empfohlen ...«

»Oh, bestimmt, et vous ferez un bienfait ...«

»Ich tue es durchaus nicht um des bienfait willen; ich brauche selbst einen Gehilfen.«

»Ich kenne Schatow ziemlich gut,« sagte ich, »und wenn Sie mich beauftragen wollen, ihn zu benachrichtigen, so werde ich sofort zu ihm hingehen.«

»Sagen Sie ihm bitte, er möchte morgen mittag um zwölf Uhr zu mir kommen. Ausgezeichnet! Ich danke Ihnen. Mawrikij Nikolajewitsch, sind Sie fertig?«

Sie ritten fort. Ich lief natürlich sofort zu Schatow hin.

»Mon ami!« rief mir Stepan Trofimowitsch zu, der mir nacheilte und mich auf der Vortreppe einholte, »kommen Sie unbedingt um zehn oder gegen elf zu mir. Ich werde dann schon zurück sein. Oh, auf mir lastet eine zu große, viel zu große Schuld Ihnen gegenüber ..., und ich habe mich gegen alle vergangen, gegen alle!«

8

Schatow traf ich nicht zu Hause. Etwa zwei Stunden später ging ich noch einmal heran, er war aber immer noch nicht da. Endlich gegen acht Uhr abends begab ich mich zum dritten Male zu ihm, um ihn entweder anzutreffen oder ihm einen Brief zu hinterlassen; aber auch diesmal war er noch nicht zu Hause. Seine Wohnung war verschlossen, und er wohnte allein ohne alle Bedienung. Ich wollte schon unten beim Hauptmann Lebiadkin nach Schatow anfragen; aber auch da stieß ich auf eine zugeschlossene Tür, kein Laut war zu hören und kein Licht zu sehen, wie wenn die Wohnung vollkommen leer wäre. Unter der Nachwirkung der kurz vorher gehörten Erzählungen ging ich an Lebiadkins Tür mit einer gewissen Neugier vorbei. Endlich beschloß ich, am nächsten Tage in aller Frühe wiederzukommen. Offen gesagt, hätte ich auch auf eine schriftliche Mitteilung keine allzu große Hoffnung gesetzt. Schatow könnte diese einfach und mit Absicht übersehen, denn er war ein sehr eigensinniger und scheuer Mensch. Ich verwünschte mein Mißgeschick. Als ich beinah fluchend durch den Torweg zurückging, stieß ich plötzlich auf Herrn Kirillow; er wollte gerade nach Hause gehen und erkannte mich als erster. Da er selbst zu fragen begann, erzählte ich ihm alles in groben Zügen und sagte ihm auch, daß ich Schatow einen Brief hinterlassen wollte.

»Kommen Sie mit,« meinte er, »ich werde das alles ins Lot bringen.«

Ich erinnerte mich, daß Liputin erzählt hatte, Kirillow sei seit dem Vormittag in ein auf dem Hofe gelegenes hölzernes Seitengebäude umgezogen. In diesem für ihn allzu geräumigen Nebenhaus wohnte mit ihm zusammen eine bejahrte taube Frau, die ihm die Aufwartung besorgte. Der Hausbesitzer hatte in einer Nebenstraße, in einem anderen ihm gehörenden neuen Hause eine Schenke, und diese alte Frau, wohl eine Verwandte von ihm, war hiergeblieben, um das ganze alte Haus zu beaufsichtigen. Die Zimmer im Seitengebäude waren ziemlich sauber, aber die Tapeten sahen sehr schmutzig aus. In dem Raum, in den wir jetzt eintraten, waren die Möbel bunt zusammengewürfelt und sozusagen Ausschuß: es standen da zwei Kartenspieltische, eine Kommode von Erlenholz, ein großer Brettertisch aus irgendeiner Bauernstube oder einer Küche, ein paar Stühle und ein Sofa mit einer Lattenlehne und sehr harten Lederkissen. In einer Ecke erblickte ich ein altertümliches Heiligenbild, vor dem die Alte noch vor unserem Eintritt das Lämpchen angezündet hatte, und an den Wänden zwei große, dunkelgewordene Ölbildnisse. Das eine stellte den verstorbenen Kaiser Nikolaj Pawlowitsch dar und war, nach dem Aussehen zu urteilen, etwa um 1820 gemalt worden; das andere zeigte irgendeinen Bischof.

Als Herr Kirillow eingetreten war, zündete er ein Licht an und holte aus seinem Koffer, der noch unausgepackt in einer Ecke stand, einen Briefumschlag, Siegellack und ein kristallenes Petschaft hervor.

»Siegeln Sie Ihren Brief zu und schreiben Sie die Adresse auf den Umschlag.«

Ich meinte, daß es nicht nötig wäre, aber er bestand darauf. Als ich es getan hatte, nahm ich meine Mütze.

»Ich dachte, Sie würden Tee trinken«, meinte er. »Ich habe Tee gekauft. Wollen Sie?«

Ich lehnte es nicht ab. Die Alte brachte bald den Tee herein, das heißt, eine mächtige Kanne mit siedendem Wasser, ein kleines Teekännchen mit reichlich viel Tee-Extrakt, zwei große, grob bemalte Steinguttassen, Semmeln und einen ganzen Teller voll Stückenzucker.

»Ich trinke gern Tee,« sagte er, »nachts; ich gehe viel umher und trinke; bis zum Morgengrauen. Im Ausland ist das Teetrinken in der Nacht nicht ganz angängig.«

»Sie legen sich erst gegen Morgengrauen schlafen?«

»Immer, seit langem. Ich esse wenig, trinke immer Tee. Liputin ist schlau, aber ungeduldig.«

Es wunderte mich, daß er mit mir sprechen wollte; ich beschloß den Augenblick auszunutzen.

»Es war da zu recht unangenehmen Mißverständnissen gekommen«, bemerkte ich.

Er machte ein sehr finsteres Gesicht.

»Das sind Dummheiten! Nichtige Bagatellen. Alles nur Lappalien, weil Lebiadkin immer betrunken ist. Ich habe zu Liputin nichts gesagt, sondern nur erklärt, was für Lappalien es sind; denn er hat ja alles entstellt. Liputin hat viel Phantasie; aus der Bagatelle hat er Berge aufgebaut. Ich habe ihm gestern geglaubt.«

»Und heute glauben Sie mir?« fragte ich lachend.

»Sie wissen doch schon von vorhin über alles Bescheid. Liputin ist entweder schwach oder ungeduldig oder schädlich oder ... neidisch.«

Das letzte Wort überraschte mich.

»Sie haben da so viele Kategorien aufgestellt, daß es kein Wunder ist, wenn er schon in eine von ihnen hineinpaßt.«

»Oder auch in alle zusammen.«

»Auch das mag wohl stimmen. Liputin ist das reine Chaos! Nicht wahr, er hat doch vorhin gelogen, als er sagte, daß Sie eine Abhandlung schreiben wollen?«

»Warum soll er das gelogen haben?« erwiderte er, machte von neuem ein finsteres Gesicht und blickte zu Boden.

Ich bat um Entschuldigung und versicherte ihm, daß ich keineswegs die Absicht habe, ihn auszuhorchen. Er errötete.

»Er hat die Wahrheit gesagt: ich schreibe. Aber das ist ja einerlei.«

Ein Weilchen schwiegen wir beide; auf einmal verklärte sein Gesicht dasselbe kindliche Lächeln, das ich schon einmal bei Stepan Trofimowitsch an ihm wahrgenommen hatte.

»Das von den Köpfen ist seine Erfindung. Er hat es wohl einem Buche entnommen und selbst zu mir davon zuerst gesprochen. Er versteht es nicht richtig. Ich aber suche nur die Ursache, warum die Menschen sich nicht selbst zu töten wagen; das ist alles. Und das ist einerlei.«

»Wieso das? Gibt es denn etwa wenig Selbstmörder?«

»Sehr wenig.«

»Sind Sie tatsächlich dieser Ansicht?«

Er gab keine Antwort, stand auf und begann nachdenklich auf und ab zu gehen.

»Was hält denn Ihrer Meinung nach die Menschen vom Selbstmord zurück?« fragte ich.

Er sah mich zerstreut an, wie wenn er sich auf den Gegenstand unseres Gesprächs zu besinnen suchte.

»Ich ... Ich weiß noch sehr wenig ... bin mir im unklaren. Zwei Vorurteile halten die Menschen davon zurück, zwei Dinge; nur zwei; das eine ist sehr klein, und das andere sehr groß. Aber auch das Kleine ist sehr groß.«

»Was ist denn das Kleine?«

»Der Schmerz.«

»Der Schmerz? Ist denn das so wichtig ... in einem solchen Falle?«

»Der Schmerz steht an erster Stelle. Es gibt zwei Arten von Selbstmördern: solche, die sich aus großem Kummer oder aus Wut oder im Wahnsinn töten ... oder aus ähnlichem Grunde ... Die machen es plötzlich. Die denken wenig an den Schmerz, bei ihnen wirkt der Augenblick. Diejenigen aber, die es mit Überlegung tun, denken viel darüber nach.«

»Gibt es denn Selbstmörder aus Überlegung?«

»Sehr viel. Wenn nicht das Vorurteil wäre, gäbe es noch mehr; viel mehr, alle.«

»Nun, das ist doch wohl übertrieben!«

Er antwortete nicht.

»Gibt es denn kein Mittel, um schmerzlos aus dem Leben zu scheiden?«

»Denken Sie sich,« sagte er und blieb vor mir stehen, »denken Sie sich einen Stein, so groß wie ein großes Haus; er hängt, und Sie stehen unter ihm; wenn er Ihnen auf den Kopf fällt, wird Ihnen das weh tun?«

»Ein hausgroßer Stein? Das ist natürlich furchtbar.«

»Ich rede nicht von der Furcht. Wird es wehtun?«

»Ein Stein wie ein Berg, der Millionen von Zentnern wiegt? Selbstverständlich wird es nicht wehtun.«

»Aber wenn Sie sich wirklich unter einen solchen Stein stellen, werden Sie doch, solange er hängt, sehr fürchten, daß es wehtun wird. Selbst der größte Gelehrte, der erfahrenste Arzt, alle, alle werden große Angst haben. Alle werden einsehen, daß es nicht wehtun kann, und werden sich dennoch fürchten.«

»Nun, und die zweite Ursache, die große?«

»Das Jenseits.«

»Das heißt, Sie meinen die Bestrafung?«

»Das ist einerlei; das Jenseits; nur das Jenseits.«

»Gibt es denn nicht solche Atheisten, die überhaupt nicht an ein Jenseits glauben?«

Er gab wieder keine Antwort.

»Sie urteilen vielleicht von sich auf andere?« fragte ich.

»Jeder kann nur von sich selbst urteilen«, erwiderte er errötend. »Völlig frei wird der Mensch nur dann, wenn es ihm einerlei sein wird, ob er lebt oder nicht. Das ist das Ziel aller Bestrebungen.«

»Das Ziel? Aber dann wird vielleicht niemand mehr leben wollen!«

»Niemand!« sagte er im entschiedenen Tone.

»Der Mensch fürchtet sich vor dem Tod, weil er das Leben liebt; so fasse ich es wenigstens auf,« bemerkte ich, »und so hat es auch die Natur eingerichtet.«

»Das ist gemein, und hier steckt der Betrug!« rief er, und seine Augen funkelten. »Das Leben ist Schmerz, das Leben ist Furcht; und der Mensch ist unglücklich. Jetzt ist alles Schmerz und Furcht. Jetzt liebt der Mensch das Leben, weil er den Schmerz und die Furcht lieb hat. So hat man das eingerichtet. Nur durch Schmerz und durch Furcht erwirbt man jetzt das Recht zum Leben, und hierin steckt der Betrug. Der heutige Mensch ist noch nicht der richtige Mensch. Es wird einen neuen Menschen geben, einen glücklichen und stolzen Menschen. Wem es gleichgültig sein wird, ob er lebt oder nicht, der wird ein neuer Mensch sein! Wer den Sieg über den Schmerz und die Furcht davonträgt, wird selbst ein Gott sein. Und der jetzige Gott wird nicht mehr sein.«

»Also existiert der jetzige Gott doch nach Ihrer Ansicht?«

»Es gibt keinen Gott, aber er ist da. In einem Stein liegt kein Schmerz, aber die Furcht vor dem Stein erzeugt Schmerz. Gott ist der Schmerz der Todesfurcht. Wer über den Schmerz und die Furcht den Sieg davonträgt, wird selbst ein Gott sein. Dann wird ein neues Leben beginnen, ein neuer Mensch kommen, und alles wird neu sein ... Dann wird man die Geschichte in zwei Abschnitte einteilen: vom Gorilla bis zur Abschaffung Gottes, und von der Abschaffung Gottes bis ...«

»Bis zum Gorilla?«

»... bis zur physischen Umgestaltung der Erde und des Menschen. Der Mensch wird ein Gott sein und sich physisch verändern. Und die Welt wird sich verändern und die Taten und die Gedanken und alle Gefühle. Glauben sie, daß der Mensch sich dann physisch umgestalten wird?«

»Wenn es allen gleichgültig sein wird, ob sie leben oder nicht, dann werden sich alle umbringen. Und die ganze Umgestaltung wird vielleicht nur darin bestehen.«

»Das ist einerlei. Man wird die Lüge getötet haben. Jeder, der nach der Hauptfreiheit strebt, muß es wagen können, sich zu töten. Wer es wagt, Hand an sich zu legen, der hat das Geheimnis der Lüge erkannt. Es gibt keine höhere Freiheit; das ist alles; darüber hinaus gibt es nichts weiter. Wer es gewagt hat, sich zu töten, der ist ein Gott. Jetzt kann ein jeder bewirken, daß es keinen Gott geben wird und nichts. Indessen hat es noch nie jemand getan.«

»Es hat doch aber schon Millionen von Selbstmördern gegeben.«

»Aber alle haben dabei nicht an diesen Zweck gedacht. Alle hatten Furcht. Keiner hat sich getötet, um auch die Furcht zu töten. Wer nur um die Furcht zu töten Selbstmord begeht, wird sofort ein Gott.«

»Er wird vielleicht dazu gar keine Zeit mehr haben«, bemerkte ich.

»Das ist einerlei«, erwiderte er leise und mit einem ruhigen Stolz, ja beinah verächtlich. »Es tut mir leid, daß Sie sich anscheinend darüber lustig machen«, fügte er nach einer kurzen Weile hinzu.

»Und mir kommt es sonderbar vor, daß Sie vorhin so reizbar waren, jetzt aber trotz des Eifers mit solcher Ruhe sprechen.«

»Vorhin? Vorhin war das Ganze lächerlich«, erwiderte er mit einem Lächeln. »Ich schimpfe nicht gerne jemand aus und mache mich nie über jemand lustig«, fügte er traurig hinzu.

»Ja, Sie verbringen Ihre Nächte beim Tee nicht fröhlich.« Ich stand auf und ergriff meine Mütze.

»Meinen Sie?« fragte er immer noch lächelnd und einigermaßen erstaunt. »Warum denn? Nein, ich ... ich weiß nicht,« sagte er mit einemmal verwirrt, »ich weiß nicht, wie es bei anderen ist, ich aber fühle, daß ich nicht so kann wie ein jeder. Ein jeder denkt über etwas und gleich wieder über etwas anderes. Ich kann über nichts anderes denken. Ich denke das ganze Leben lang an das eine. Mich hat Gott mein ganzes Leben lang gequält«, schloß er plötzlich mit erstaunlicher Offenherzigkeit.

»Sagen Sie mir doch bitte, wenn Sie die Frage gestatten, woher kommt es, daß Sie eine so sonderbare Sprache reden? Haben Sie denn wirklich in den fünf Jahren, die Sie im Ausland verbrachten, die richtige Satzbildung verlernt?«

»Spreche ich denn nicht richtig? Ich weiß nicht. Nein, nicht deshalb, weil ich im Auslande die Muttersprache verlernt habe. Ich habe schon immer so gesprochen ... es ist mir einerlei.«

»Und dann noch eine delikatere Frage: ich glaube Ihnen vollkommen, daß Sie keine Neigung haben, mit Menschen zu verkehren, und daß Sie nur wenig mit ihnen reden. Wie kommt es, daß Sie sich jetzt mit mir in ein Gespräch eingelassen haben?«

»Mit Ihnen? Sie haben heute Vormittag so nett dabei gesessen und Sie ... übrigens ist es einerlei ... Sie haben eine große Ähnlichkeit mit meinem Bruder, sehr viel Ähnlichkeit, außerordentlich viel«, sagte er errötend. »Er starb vor sieben Jahren; der ältere; sehr, sehr viel.«

»Er muß wohl einen großen Einfluß auf Ihre Denkweise gehabt haben.«

»N–nein, er hat wenig gesprochen; er sagte nie etwas. Ich werde Ihren Brief abgeben.«

Er begleitete mich mit einer Laterne zum Haustor, um hinter mir zuzuschließen. »Natürlich ein Verrückter!« entschied ich über ihn im stillen.

Im Torweg hatte ich eine neue Begegnung.

9

Kaum wollte ich den Fuß über die hohe Schwelle des Pförtchens setzen, als mich plötzlich eine starke Hand an der Brust packte.

»Wer ist dieser?« brüllte eine Stimme. »Freund oder Feind? Beichte!«

»Es ist ein Freund, ein Freund!« kreischte daneben Liputins Stimmchen. »Es ist Herr G...w, ein Mann von klassischer Bildung und mit Beziehungen zu den höchsten Kreisen.«

»Das mag ich, wenn er in den höchsten Kreisen, klass–ssi... also, ge–bil–de–test ... Hauptmann außer Dienst Ignat Lebiadkin, der Welt und den Freunden zu Diensten ... wenn sie treu sind, wenn sie treu sind, die Lumpen!«

Hauptmann Lebiadkin, ein großer, dicker, fleischiger und kraushaariger Kerl, stand vor mir mit einem roten Gesicht, war stark betrunken, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und brachte die Worte nur mit Mühe heraus. Ich hatte ihn übrigens schon früher einmal von weitem gesehen.

»Ach, der ist auch da!« brüllte er wieder, als er Kirillow erblickte, der mit seiner Laterne immer noch nicht weggegangen war. Er hob schon die Faust wie zum Schlage, ließ sie aber gleich wieder sinken.

»Ich verzeihe ihm der Bildung wegen! Ignat Lebiadkin, der ge–bil–de–tes–te ...

Der Liebe flammende Granaten
Zerbersten in der Brust Ignatens.
Nun wein' ich ob dem bittren Harm,
Nach Sewastopol ohne Arm.

Ich bin allerdings nicht bei Sewastopol gewesen und bin auch nicht einmal ohne Arm, aber die Reime! Was sagen Sie zu den Reimen?« rief er und kam mir mit seiner betrunkenen Fratze immer näher.

»Der Herr hat keine Zeit, gar keine Zeit; der Herr muß nach Hause gehen«, redete ihm Liputin zu. »Der Herr wird morgen alles Lisaweta Nikolajewna wiedererzählen.«

»Lisaweta! ...« begann Lebiadkin wieder zu heulen. »Halt! Nicht vom Fleck! Eine Variante:

Und es flattert der Stern auf dem Roß
Unter den Amazonen geschwind,
Und es lächelt mir zu aus dem Troß
Das a–ri–sto–kra–ti–sche Kind.

›An den Stern von einer Amazone!‹ Das ist doch ein Hymnus! Das ist ein Hymnus, wenn du kein Esel bist! Die Tagediebe, sie haben kein Verständnis dafür! Halt!« schrie er und klammerte sich an meinen Mantel fest, obwohl ich mich mit aller Kraft von ihm losriß und durch das Pförtchen drängte. »Bestelle, daß ich ein Ritter der Ehre bin, die Daschka aber ... Die Daschka werde ich mit zwei Fingern ... sie ist eine leibeigene Magd und wird es nicht wagen ...«

Hier fiel er zu Boden, weil ich mich mit Gewalt aus seinen Händen losriß und auf die Straße hinauslief. Liputin eilte mir nach.

»Alexej Nilytsch wird ihn schon aufheben. Wissen Sie, was ich soeben von ihm erfahren habe?« schwatzte er in der Eile. »Haben Sie die Verse gehört? Nun, diese Verse ›An den Stern von einer Amazone‹ hat er in einen Briefumschlag gelegt, versiegelt und schickt sie morgen an Lisaweta Nikolajewna mit seiner vollen Namensunterschrift. Wie gefällt er Ihnen?«

»Ich möchte wetten, daß Sie ihn selbst dazu verleitet haben.«

»Sie würden die Wette verlieren!« rief Liputin und brach in ein Lachen aus. »Er ist verliebt, verliebt wie ein Kater, und wissen Sie, daß die Sache mit Haß begonnen hat? Er hat Lisaweta Nikolajewna ihres Reitens wegen dermaßen gehaßt, daß er beinah auf der Straße laut auf sie schimpfte; und er hat es auch wirklich getan! Noch vorgestern hat er sie ausgeschimpft, als sie vorbeiritt; – zum Glück hörte sie es nicht. Und nun auf einmal heute diese Verse! Wissen Sie wohl, daß er es wagen will, ihr einen Antrag zu machen? In allem Ernst! Tatsächlich!«

»Ich muß mich über Sie wundern, Liputin; überall, wo irgend etwas Dummes und Schmutziges beginnt, spielen Sie sofort den Anführer!« rief ich in heller Wut.

»Es scheint mir, daß Sie da etwas zu weit gehen, Herr G...w; haben Sie vielleicht Krämpfe im Herzchen, aus Angst vor dem Nebenbuhler? Wie?«

»Wa–a–as!?« rief ich und blieb stehen.

»Jetzt werde ich Ihnen zur Strafe nichts weiter sagen! Und wie gern hätten Sie wohl mehr vernommen! Schon allein das ist interessant, daß dieser Dummkopf jetzt kein einfacher Hauptmann mehr ist, sondern ein Gutsbesitzer unseres Gouvernements und dazu noch ein ziemlich bedeutender, denn Nikolaj Wsewolodowitsch hat ihm dieser Tage sein ganzes Gut, das ehemals zweihundert Seelen zählte, verkauft. Gott strafe mich, wenn ich Ihnen etwas vorlüge! Ich habe es eben erst erfahren, aber dafür aus einer ganz zuverlässigen Quelle. Nun, und jetzt können Sie sich weiter selbst durchtasten; mehr werde ich Ihnen nicht sagen. Auf Wiedersehen!«

10

Stepan Trofimowitsch erwartete mich in krampfhafter Ungeduld. Er war schon seit einer Stunde zurückgekehrt. Ich fand ihn in einem Zustand vor, der mich vermuten ließ, daß er betrunken sei; wenigstens glaubte ich es die ersten fünf Minuten lang. Der Besuch bei Drosdows hatte ihm den letzten Rest der Vernunft geraubt.

»Mon ami, ich habe jetzt ganz den Faden verloren ... Lise ... ich liebe und verehre diesen Engel wie früher; eben, wie früher; aber es scheint mir, daß die beiden Damen mich nur deshalb erwartet haben, um etwas zu erfahren, das heißt, um mich einfach auszuhorchen und mich dann meine Wege gehen zu lassen ... So ist das.«

»Schämen Sie sich!« rief ich, außerstande, mich zu beherrschen.

»Mein Freund, ich stehe jetzt vollkommen allein da. Enfin c'est ridicule. Denken Sie sich nur: auch dort ist alles mit Geheimnissen vollgespickt. Sie stürzten sich da förmlich auf mich und verlangten Auskunft über all diese Nasen- und Ohrengeschichten und über allerlei Petersburger Geheimnisse. Sie haben doch erst hier zum erstenmal von den Taten, die Nicolas vor vier Jahren vollbracht hatte, gehört. ›Sie sind doch hier gewesen, Sie haben ihn gesehen; ist es wahr, daß er verrückt ist?‹ fragten sie mich. Wie kommen sie nur auf diese Idee? Ich verstehe es einfach nicht. Warum will Praskowia durchaus, daß Nicolas plötzlich wahnsinnig sein soll? Und das will doch dieses Weib, sie will es! Ce Maurice, oder wie sie ihn nennen, Mawrikij Nikolajewitsch, ist wohl ein brave homme tout de même, aber sollte sie denn das wirklich in seinem Interesse wünschen und dazu noch, nachdem sie selbst zuerst aus Paris an cette pauvre amie jenen Brief geschrieben hat ... Enfin, diese Praskowia, wie sie von cette chère amie genannt wird, ist ein Typus; sie ist die leibhaftige, unvergeßliche Korobotschka, Gogols Korobotschka, nur eine boshafte, eine händelsüchtige Korobotschka und schon eine wirkliche ›Korobatschka‹, eine ›Schachtel‹, aber in außerordentlich vergrößertem Maßstabe.«

»Das ist dann schon mehr eine regelrechte Truhe; muß es denn in vergrößertem Maßstab sein?«

»Na, dann meinetwegen in verkleinertem Maßstabe; das ist ganz gleichgültig; unterbrechen Sie mich nur nicht, denn es dreht sich auch ohnehin schon alles in meinem Kopf. Die Weiber scheinen sich vollständig verzankt zu haben; Lise ausgenommen; die sagt noch immer: ›Tante, Tante‹, aber Lise ist schlau, und da steckt noch etwas dahinter. Geheimnisse. Aber mit der Alten muß es einen Zank gegeben haben. Cette pauvre ›Tante‹ tyrannisiert allerdings alle ganz schrecklich ... Dazu kommt noch die Frau Gouverneurin, die veränderte Haltung der Gesellschaft und die ›Respektlosigkeit‹ Karmasinows; und außerdem auf einmal diese Idee, Nicolas wäre vielleicht wirklich geistesgestört; ce Lipoutine, ce que je ne comprends pas ... und man sagt, sie habe sich Essigumschläge um den Kopf gemacht! Und dann noch Sie und ich mit unseren Klagen und unseren Briefen! ... Oh, wie habe ich sie gequält, geplagt in einer solchen Zeit! Je suis un ingrat! Denken Sie sich: ich komme zurück und finde einen Brief von ihr vor; hier, lesen Sie ihn, lesen Sie ihn! Oh, wie wenig edel habe ich mich benommen.«

Er reichte mir den eben erhaltenen Brief Warwara Petrownas. Sie schien ihren Zettel vom Vormittag mit der schroffen Anweisung: »Bleiben Sie zu Hause« zu bereuen. Der jetzige Brief war höflich, aber doch ziemlich energisch und wortkarg. Sie bat Stepan Trofimowitsch, übermorgen, am Sonntag, pünktlich um zwölf Uhr zu ihr zu kommen und riet ihm, einen seiner Freunde mitzubringen. In Klammern stand mein Name. Ihrerseits versprach sie Schatow als Darja Pawlownas Bruder hinzuzuziehen. »Sie können von ihm die endgültige Antwort erhalten; wird Ihnen das genügen? Ist es die Formalität, auf die Sie soviel Wert legen?«

»Beachten Sie bitte diese gereizte Redewendung von der Formalität am Schluß des Briefes! Arme, arme Freundin meines ganzen Lebens! Ich gestehe: diese plötzliche Schicksalswendung hat mich niedergedrückt ... Ich habe, offen gesagt, immer noch gehofft; aber jetzt, tout est dit, ich weiß nun, daß alles zu Ende ist. C'est terrible. Oh, wenn es doch diesen Sonntag gar nicht gäbe, wenn doch alles wie früher wäre: Sie würden zu mir kommen, und ich hätte hier ...«

»Die Gemeinheiten und Klatschereien, die Liputin am Vormittag zum besten gegeben hat, haben Sie ganz verwirrt, Stepan Trofimowitsch!«

»Mein Freund, Sie haben soeben mit Ihrem Freundesfinger eine andere wunde Stelle berührt. Diese Freundesfinger sind überhaupt erbarmungslos und mitunter recht unvernünftig, pardon, aber ob Sie es glauben oder nicht, ich hatte dies, alle diese Gemeinheiten beinah vergessen; das heißt, ich habe sie nicht eigentlich vergessen, aber ich bemühte mich in meiner Dummheit die ganze Zeit über, die ich bei Lise war, glücklich zu sein und redete mir ein, daß ich es auch sei. Aber jetzt ... jetzt denke ich an diese großmütige, humane, geduldige, gegen meine häßlichen Mängel so nachsichtige Frau ... Das heißt, sie ist zwar nicht durchweg nachsichtig, aber bedenken Sie doch auch, was ich für ein Mensch bin, mit meinem schlechten, schwächlichen Charakter. Ich bin doch ein eigensinniges Kind und habe den ganzen Egoismus eines Kindes, nicht aber dessen Unschuld. Sie hat mich zwanzig Jahre lang wie eine Kinderfrau gepflegt, cette pauvre Tante, wie Lise sie so anmutig nennt ... Und plötzlich, nach zwanzig Jahren will das Kind sich auf einmal verheiraten! Es schreibt Brief auf Brief: ›Verheirate mich, verheirate mich!‹ ruft es, – und sie hat sich Essigumschläge gemacht, und ... und nun habe ich es erreicht, daß ich am nächsten Sonntag so gut wie verheiratet sein werde ... Spaß! ... Und weshalb habe ich denn selbst so sehr darauf gedrängt und ihr die Briefe geschrieben? Ja, ich hätte es beinah vergessen: Lise vergöttert Darja Pawlowna geradezu, wenigstens sagt sie es. Sie meinte heute: ›C'est un ange, aber sie verbirgt es nur ein wenig.‹ Beide rieten mir zu der Heirat zu, sogar Praskowia ... übrigens hat mir Praskowia nicht dazu geraten. Oh, wie viel Gift liegt in dieser Korobotschka verborgen! Und auch Lise hat mir eigentlich nicht zugeredet: ›Wozu wollen Sie sich verheiraten, haben Sie an den Gelehrtengenüssen nicht genug?‹ sagte sie und lachte dazu. Ich habe ihr dieses Lachen verziehen, weil ihr selbst nicht wohl ums Herz ist. Aber beide meinten: ›Sie können ohne Frau ganz und gar nicht auskommen. Es nähern sich bereits die Jahre der Gebrechlichkeiten, und da wird Sie Ihre Frau betreuen‹, oder so ähnlich ... Ma foi, ich habe auch selbst in dieser ganzen Zeit, während ich hier mit Ihnen allein saß, daran gedacht, daß wohl die Vorsehung selbst mir Dascha zum Schluß meiner stürmischen Tage sendet, auf daß sie mich betreue, oder wie sie das sagten ... Enfin, sie wird sich auch im Haushalt nützlich machen. Sehen Sie doch, was für Schmutz hier bei mir überall herumliegt, schauen Sie doch her: diese Unordnung! Vorhin habe ich befohlen aufzuräumen, und nun liegt noch ein Buch auf der Erde. La pauvre amie war stets darüber aufgebracht, daß bei mir eine solche Unordnung herrscht ... O, jetzt wird ihre Stimme nicht mehr hier ertönen! Vingt ans! U–und sie haben offenbar anonyme Briefe erhalten, aus denen hervorgeht, daß Nicolas sein Gut an Lebiadkin verkauft hat. Denken Sie sich das nur! C'est un monstre; et enfin, wer ist Lebiadkin? Lise hörte und hörte zu, ach, wie gespannt sie zuhörte! Ich habe ihr ihr Lachen verziehen; ich sah, mit was für einem Gesicht sie zuhörte, und ce Maurice ... ich möchte jetzt nicht in seiner Haut stecken, brave homme tout de même, aber etwas zu verlegen; übrigens, was kümmert er mich ...«

Er verstummte; er war müde, hatte den Faden seiner Erzählung verloren, saß mit gesenktem Kopf da und blickte mit matten Augen starr auf den Fußboden. Ich benutzte die Gelegenheit und erzählte ihm von meinem Besuche im Filippowschen Hause, wobei ich schroff und trocken meine Meinung dahin aussprach, daß die Schwester Lebiadkins, die ich nicht gesehen habe, vielleicht tatsächlich einmal ein Opfer von Nicolas geworden war in jener »rätselhaften Periode seines Lebens«, wie sich Liputin ausgedrückt hat. Ich sagte auch, daß es durchaus möglich sei, daß Lebiadkin aus irgendwelchem Grunde von Nicolas Geld empfange, meinte aber, daß dies auch alles sei. Was aber die Klatschereien über Darja Pawlowna anlangte, so wäre das alles nur dummes Zeug und von dem Schufte Liputin an den Haaren herbeigezogen. Wenigstens sagte ich, daß diese Ansicht mit großem Eifer von Alexej Nilytsch verteidigt worden wäre, dem nicht zu glauben man keinen Grund hatte. Stepan Trofimowitsch hörte meinen Versicherungen mit zerstreuter Miene zu, wie wenn ihn das Ganze überhaupt nichts anginge. Bei dieser Gelegenheit erwähnte ich auch mein Gespräch mit Kirillow und fügte hinzu, daß Kirillow vielleicht geisteskrank sei.

»Das ist er nicht, aber er gehört zu den Menschen mit einem beschränkten Gesichtskreis und kurzen Gedanken«, murmelte Stepan Trofimowitsch matt. »Ces gens-là supposent la nature et la société humaine autres que Dieu ne les a faites et qu'elles ne sont réellement. Manche scherzen mit diesen Leuten, aber Stepan Werchowenskij tut das auf keinen Fall. Ich habe sie damals in Petersburg gesehen, avec cette chère amie (Oh, wie habe ich sie da gekränkt!) und habe mich nicht nur vor ihren Schimpfreden, sondern sogar vor ihren Lobsprüchen nicht gefürchtet. Auch jetzt empfinde ich keine Angst vor ihnen, mais parlons d'autre chose ... Ich habe, glaube ich, ganz schreckliche Dinge angerichtet. Ich habe gestern einen Brief an Darja Pawlowna abgeschickt und ... Oh, wie ich mich deshalb verwünsche!«

»Was haben Sie ihr denn geschrieben?«

»Oh, mein Freund, Sie können mir glauben, daß meine Mitteilung recht edle Formen hatte. Ich gab ihr kund, daß ich schon fünf Tage vorher an Nicolas geschrieben habe, und zwar ebenfalls in einem sehr edlen Sinne.«

»Jetzt verstehe ich!« rief ich erregt. »Welches Recht hatten Sie nur, die beiden so gegenüberzustellen?«

»Aber, mon cher ami, erdrücken Sie mich doch nicht ganz, schreien Sie mich nicht so an; ich bin schon sowieso beinah zerquetscht wie ... wie eine Schabe, und ich glaube doch, daß meine ganze Handlungsweise durchaus edel ist. Nehmen Sie an, daß dort, en Suisse ... wirklich etwas geschehen ist ... oder begonnen hatte. Da muß ich doch zunächst ihre Herzen befragen, damit ... enfin, um eben ihren Herzen nicht hinderlich zu sein und ihnen nicht wie ein Pfahl im Wege zu stehen ... Ich habe doch nur aus Großmut so gehandelt.«

»O Gott, was haben Sie da für eine Dummheit gemacht!« entfuhr es mir unwillkürlich.

»Eine Dummheit, eine Dummheit«, fiel er mir eifrig ins Wort. »Noch nie haben Sie etwas Klügeres gesagt, c'était bête, mais que faire, tout est dit. Ich werde ja doch heiraten, auch die ›fremden Sünden‹! Also wozu brauchte ich da erst noch zu schreiben? Nicht wahr?«

»Fangen Sie schon wieder an!?«

»Oh, jetzt werden Sie mich mit Ihrem Geschrei nicht einschüchtern, jetzt steht vor Ihnen nicht mehr der frühere Stepan Werchowenskij. Der ist begraben: enfin tout est dit. Und weshalb schreien Sie auch? Doch nur, weil Sie selbst nicht heiraten und nicht Sie in die Lage kommen werden, einen gewissen bekannten Kopfschmuck zu tragen. Ekelt Sie diese Bemerkung wieder? Mein armer Freund, Sie kennen die Frau nicht, ich aber habe mein ganzes Leben lang nichts anderes getan als die Frau studiert. ›Wenn du über die Welt einen Sieg davontragen willst, so besiege zuerst, vor allen Dingen, dich selbst!‹ Das ist der einzige gute Ausspruch, der einem anderen genau so romantisch veranlagten Menschen wie Sie gelungen ist. Ich meine Schatow, den Bruder meiner künftigen Gemahlin. Ich entlehne ihm gern diese gut geprägten Worte. Nun, so bin auch ich bereit, einen Sieg über mich davonzutragen und heirate. Was aber werde ich, statt der ganzen Welt, erobern? Oh, mein Freund, die Ehe ist der geistige Tod jeder stolzen Seele, sie ist der Untergang jeder Unabhängigkeit. Das Eheleben wird mich verderben, wird mir die Energie rauben, den Mut, den ich brauche, um der guten Sache zu dienen; es werden Kinder kommen, die noch dazu möglicherweise nicht die meinen sein werden – das heißt, sie werden sogar selbstverständlich nicht von mir sein! Ein weiser Mann scheut sich nicht, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken ... Liputin riet mir heute vormittag, mich vor Nicolas durch Barrikaden zu schützen; Liputin ist dumm. Das Weib kann selbst jenes Auge betrügen, das alles sieht. Le bon Dieu wußte natürlich, was er wollte, als er das Weib schuf; aber ich bin überzeugt, daß ihn das Weib bei der Schöpfung gehindert und ihn selbst gezwungen hat, es so zu schaffen, wie es jetzt ist ... mit solchen Eigenschaften; wer würde sich sonst ohne Not soviel Sorgen aufladen? Nastasia ist vielleicht imstande, mir wegen meiner Freidenkerei zu zürnen, aber ... Enfin tout est dit.«

Er wäre nicht er selbst gewesen, wenn er es unterlassen hätte, auch jetzt ein billiges freidenkerisches Späßchen zu machen, von der Art, wie sie zu seiner Zeit so sehr beliebt waren. Jedenfalls tröstete er sich jetzt damit. Aber der Trost hielt nicht lange vor.

»Oh, weshalb soll dieses Übermorgen, dieser Sonntag, nicht ganz fortfallen?« rief er plötzlich, diesmal aber schon ganz verzweifelt aus. »Warum kann nicht wenigstens diese eine Woche ohne Sonntag sein – si le miracle existe? Was würde es schon der Vorsehung ausmachen, aus dem Kalender diesen einen Sonntag auszustreichen, wär's auch nur, um dem Atheisten ihre Macht zu zeigen et que tout soit dit! Oh, wie habe ich sie geliebt! Zwanzig Jahre lang, ganze zwanzig Jahre lang, und niemals hat sie mich verstanden!«

»Aber von wem reden Sie denn?« fragte ich ihn erstaunt. »Auch ich verstehe Sie nicht.«

»Vingt ans! Und nicht ein einziges Mal hat sie mich verstanden! Oh, das ist grausam! Und glaubt sie denn wirklich, daß ich aus Furcht und aus Not heirate? Oh, diese Schmach! Tante, Tante, ich tue es ja um deinetwillen! ... Oh, möge sie es erfahren, diese Tante, daß sie die einzige Frau ist, die ich zwanzig Jahre lang angebetet habe! Sie muß es erfahren, sonst wird nichts daraus, sonst wird man mich nur mit Gewalt vor den ... ce qu'on appelle le ... Traualtar schleppen können!«

Zum erstenmal hörte ich dieses Bekenntnis, und dazu wurde es noch so energisch ausgesprochen. Ich will nicht leugnen, daß ich die größte Lust verspürte, laut loszulachen. Indessen hatte ich unrecht.

»Nur er allein, er allein ist mir jetzt geblieben; er ist meine einzige Hoffnung!« rief er und schlug die Hände zusammen, wie wenn er plötzlich von einem neuen Gedanken überrascht worden wäre. »Jetzt wird nur er, mein armer Junge, mich retten, und ... oh, warum kommt er nicht? Oh, mein Sohn, oh, mein Petruscha ... Und wenn ich auch nicht den Namen eines Vaters verdiene, sondern eher den eines Tigers ... aber ... laissez-moi, mon ami, ich will mich ein bißchen hinlegen, um meine Gedanken zu sammeln. Ich bin so müde, so müde; und auch für Sie, glaube ich, ist es Zeit, schlafen zu gehen; voyezvous, es ist schon zwölf Uhr ...«


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