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Das Häuflein der Geretteten

Was sich nach ergangener Flut auf dem Nordstrande zugetragen habe – davon meldet Nordfrieslands Chronik noch einiges, und von den Geschehnissen der Folgezeit soll dieser Schlußabschnitt handeln.

Gebückte Männer mit schweren Schritten und sorgenvollen Angesichtern gingen zur Ebbezeit aus und traten auf die äußerste Spitze des stehen gebliebenen Dammes, um den Deichbruch zu überschauen. Was sah ihr Auge? Wo der Deich gewesen war, tat sich ein Abgrund auf, der sechzig Ruten breit und zehn Ruten tief sein mochte! Welche Gewalt hatte die versenkten, mit schweren Felsblöcken belasteten Prähme ausgegraben und einen Steinwurf weit ins Land hineingeschleudert? Wie das Erdreich aufgewühlt und als Schlammasse über den Koog verstreut worden war! Wunderliche Zerstörungsgebilde schafft die allmächtige Springflut der Westsee. Hier hatte das Wasser einen pyramidenförmigen Erdkegel aufgetürmt und dort einen steilen Schlund ausgegraben, in dem es wie in einem Teiche stand. Dort war kein grüner, grasreicher Koog mehr, sondern nur schmutzig-schlammiges Watt zu sehen, und hier zu ihren Füßen, zwischen den Deichhäuptern eine gewaltige Aushöhlung, eine entsetzliche Grundkaule, wie die sorgenvollen Männer es nannten. Eine bittere Träne trat in jedes Auge.

Sie hatten die Wehlen gezählt, und sie wussten, daß der Deich an vierundzwanzig Stellen zerrissen war, und die Männer erkannten, daß sie keine Heimat mehr hätten. Nicht das alte Nordstrand mit allen seinen Menschen und seiner Manneskraft würde vermocht haben, diese Abgründe auszufüllen und diese zerfallenen Deiche wieder aufzurichten. Wie sollte denn das kleine, verarmte und verkümmerte Häuflein derer, die übrig geblieben waren, ein so hoffnungsloses Werk beginnen, geschweige denn vollenden?

Den Männern sank schlaff die Hand, und müde schritten sie heimwärts, dieweil die Flut kommen sollte. Und die Flut kam. Zwei Mal täglich strömte das erbarmungslose Meer durch sämtliche Wehlen frei aus und ein, Und wenn der Westwind und die Wellen gingen, stürzte das brausende Salzwasser hindurch und riß noch weiter die gähnenden Breschen auf, unterwühlte die Warfe, ebnete die Höhen, verschlickte das ganze Land und vollendete sein Werk der Verwüstung.

Nordstrand, das große Eiland, war zerschlagen worden in zahlreiche Trümmer. Seine armseligen Reste sind die Halligen, von denen noch heutigen Tages Nordstrandischmoor – das ist das hohe Moor jener Zeit – die Hamburger Hallig, Behnshallig und andere im Wattenmeer zu finden sind. Wie das Chaos des zweiten Schöpfungstages, da noch keine Scheidung geschehen war zwischen dem Wasser und dem festen Lande, so war auch diese Stätte eine schauerliche Schlick- und Wasserwüste und keine Scheidung zwischen Meer und Erde. Aus dem Tohuwabohu, aus diesem großen Kirchhofe einer begrabenen Welt ragten einzelne Kirchtürme wie trauernde Grabmäler hervor.

Die überlebenden Bewohner, welche ihr Vatererbe verloren hatten, standen verzweifelt und starrten auf die Ruinen ihrer Häuser, auf die Tausende von Menschen- und Tierleichen, die im Schlamm und Wasser trieben, und auf den nahen Winter, der mit seinem Frost und seiner Kälte, mit neuen Stürmen und neuem Jammer vor der Tür stand. Wie sollten sie ihr nacktes, ihr elendes Dasein fristen inmitten dieser Wasserwüste?

Nach dem ersten lähmenden Entsetzen rafften sie sich auf. Erst in der Not zeiget sich die Stärke des Menschen, und wenn auch das Dasein ihm elend und unwert dünket, wird er dennoch aus aller Kraft kämpfen, es zu erhalten. Bretter und treibendes Gebälk fischten sie auf und zimmerten sich eine Hütte zurecht, daß sie wenigstens Dach über dem Haupte hätten. Aber nach frischem Süßwasser schmachteten viele, denn alle Brunnen waren von der Salzsee verdorben worden, und von weither mußten sie das Trinkwasser holen.

In kleinen Häuflein drängten sich an 2 600 Menschen auf den Halligen und dem hohen Moore zusammen. Ihre Vorräte waren vernichtet und ihr Vieh umgekommen in der Flut. Woher sollten so viele Nahrung nehmen, daß sie nicht des Hungers stürben? Die barmherzigkeitsarme Zeit reichte ihnen keine Samariterhand, sondern es hieß in jenem Jahrhundert: Hilf dir selber oder stirb! Doch das frierende, zagende Häuflein ist nicht verdorben noch Hungers gestorben.

Der große Helfer in Nöten reckte die Hand aus. Und die Augenzeugen berichten mit tränendem Auge von der Errettung, die vom Herrn geschehen sei, und von der wunderbaren Bespeisung der 2 600 Überlebenden.

»Es hat der Himmel ein Einsehen gehabt und einen äußerst gelinden Winter in diesem Jahr gegeben. Auch ist ein früher nie gewesener, unglaublicher Reichtum von Fischen in diese Gewässer gekommen, und haben wir so große Fänge getan, daß wir davon in die Salztonnen legen und in den Rauch hängen mußten und bis in den Sommer hinein einen Überfluß an Speise hatten. Solches aber ist nicht von ungefähr geschehen, sondern vom Herrn.«

Vom Sommer 1635 an und in der Folgezeit ernährten sich die einst so wohlhabenden Marschbauern kümmerlich genug von den Salzgräsungen, auf denen sie ihre Schafe und ein paar Stück Vieh weiden ließen, vom Fischfang und vom Stechen des Torfes, den sie auf Flachböten nach Husum verschifften. Das genügsame Geschlecht der Halligbewohner wuchs heran.

Nur die Pellwormer dachten ans Eindeichen, hatten 1635 schon fünf Wehlen verstopfet und arbeiteten rüstig weiter. Aber die Reste der Beltring- und Edoms-Harde konnten nicht Herr des Wassers werden und haben kaum ernstliche Versuche gemacht, ihr Land wiederzugewinnen. Das große Mittelstück des alten Nordstrandes – das sind vier Fünftel des ganzen Landes – ist nach und nach gänzlich im Meere verschwunden. Nur die östlichste und die westlichste Landspitze sind im Laufe der Zeit wieder bedeicht worden, und sie bilden das heutige Nordstrand und Pellworm.

Die Kirche zu Odenbüll, welches südlich vom Moore liegt, ist notdürftig instand gesetzt worden. Nimmer hat eine so große und andächtige Gemeinde das Gotteshaus gefüllt. Vom Altare herab erscholl die gesungene Litanei: »Vor Feuers- und Wassersnot behüt' uns gnädig, Herre Gott!« Wie tief sie alle das Haupt bei diesem Wort beugten, als müßten sie sich bekreuzigen, als beteten sie mit aus tiefstem Herzensgrunde.

Es war der erste Gottesdienst, welcher nach ergangener Flut auf dem Nordstrande gehalten wurde. Welche Gefühle mögen die Seelen dieser Geretteten durchlebt haben. Kein Auge blieb trocken, und die Tränen des Dankes und der Tröstung nach großem Leide rannen die wettergebräunten Wangen herab, als sie lauschten den Worten des Predigers, welcher redete über den 46. Psalm: »Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken.«

Aus einem reichen Trostborne schöpft der Prediger und schüttet lebendiges Wasser aus über das schmachtende Häuflein. Sanft ist seine Stimme, und eine große Milde entströmt seinem Munde, daß sie sitzen wie einer, den seine Mutter tröstet.

Wir kennen die Stimme des Predigers zu Odenbüll. Nicht mehr hat sie die Kraft und den ehernen Klangton von einst, aber wie ein leises Loblied nach großer Erlösung, wie eine gedämpfte Friedensweise fährt sie hin über die Saiten der Menschenherzen, und ein Säuseln vom Berge Horeb wehet durch das Kirchlein.

Der Odenbüller Prediger heißt Boethius.

Nach dem Gottesdienste tritt er zu Karl Heimreich und Hertie, seinen beiden Kindern, welche der Herr der Stürme und Fluten ihm gelassen hat.

Tief bewegt ist seine Seele, wie großes, getröstetes Menschenweh, wenn es endlich Frieden gefunden hat. Hinter ihm liegt seines Lebens schwerster und letzter Kampf, denn er hat mondelang gerungen mit Gott; und was in ihm war an Eigenwille und eigener Stärke, an Menschengewalt und kirchenherrlichem Wesen, ist gebrochen worden in seinem Streite, und er hat als ein Jakobszeichen seines Kampfes eine tiefe und brennende Herzwunde davongetragen, von der er nimmer ganz genesen wird.

Aber ihm, dem gestrengen Richter der Menschen, der das Gesetz halten wollte und das höchste Gebot der Liebe brach, ist dennoch von seinem Gott Gnade geworden und viel Vergebung.

Herzlich küßt er seine Kinder, und sein Mund hebt an zu rühmen und zu preisen: »Lobe den Herrn, meine Seele, und alles, was in mir ist, seinen heiligen Namen! Denn er gab mir noch Raum zur Buße und ließ mich nicht hinfahren in meines Sinnes verstockter Härte, und mir wurde mehr Erbarmen als dem großen Dulder Hiob, denn Gottes Hand tat Wunder und trug mir den Sohn und von den Töchtern die eine …; die eine auf den Wassern der Sündflut …«

Es ist; als wenn seine Stimme bräche, und er klagt und wehklagt: »Etta, Etta! Meiner Gunna Ebenbild, mein süßes und herziges Mägdlein! Die ich am innigsten liebte, der habe ich am meisten Leides getan von allen Menschen. Wehe mir, wehe! Meine Seele ist betrübt bis zum Tode und trauert um die Tote, das ich fast scheiden möchte und gehen an ihren Ort. Mein Herr und Gott, mein Gott und Herr …«

Zwei Tränen quellen unter den buschigen Brauen hervor. Dann beugt sein Haupt sich tief, sehr tief, und er bekennt und beichtet vor seinen Kindern: »Ich dünkte mich stark in meiner Kraft und wollte mit dem Gesetz Gottes wie ein Elias dreinfahren unter dem zuchtlosen Geschlecht, und liebelos war mein Wort, daß es leer zu mir zurückkehrte. Aber der Mann, der Peter Boethius hieß und als ein Kirchherr von Westerwohld im alten Bunde stand, starb und ward ersäufet in diesen Wasserfluten. Heil mir, dem armen Hirten von Odenbüll, denn Gott schloß einen neuen Bund mit mir, einen Bund der Gnade und der Vergebung in und durch meinen Herrn und Heiland Jesum Christum.«

Ein Regenschauer hat gegen die Scheiben geschlagen, aber die Sonne bricht jetzt hindurch. Boethius tritt ans Fenster und blickt empor. Siehe, siehe! Ein prächtiger Regenbogen steht am Himmel und spannt sich über die ganze Westsee, in die seine Enden zu tauchen scheinen. Gott hat sein ewiges Bundeszeichen in die Wolken gesetzt, zu Trost und Verheißung, daß Sommer und Winter, Saat und Ernte nicht aufhören und keine Sündflut mehr kommen soll auf Erden.

Peter Boethius hat die Verstreuten der untergegangenen Kirchspiele zu einer Gemeinde versammelt und den ersten Gottesdienst nach der Flut gehalten. Zehn Prediger Nordstrands – und unter diesen Propst Vincentius – sind in jener Oktobernacht ertrunken; die neun, welche ihr Leben behielten, flohen entsetzt und sind nicht mehr vom festen Lande zurückgekehrt zu ihrer Gemeinde. Ein Grauen soll in ihren Gliedern gelegen haben, daß sie kein Salzwasser mehr zu sehen vermochten.

Peter Boethius war in diesen Tagen ein anderer Mann geworden. Sein Haar war ergraut, seine starke Gestalt ging nicht mehr so straff, und die buschigen Brauen zogen sich selten zusammen. Er war auch ein stiller Mann, und in seinem Kämmerlein lag oft ein Müdes über ihm, aber es wich stracks, sobald er ausging, um seine Seelsorgerarbeit zu tun. Und er hat eine große und gesegnete Arbeit getan und ist der verstreuten Herde ein rechter Hirte gewesen.

Sonderbar! Jetzo trat immer mehr die große Ähnlichkeit zwischen dem alten und dem jungen Boethius hervor, und die Leute sahen's verwundert, und es schien fast, als wenn der Vater vom Sohne die Weise entlehnt und das stille und sanfte Wesen erlernt habe.

Viel Hass und Leiden, viel unverdiente Verkennung und Verfolgung hatte der Kirchherr in Westerwohld erfahren, aber von seiner neuen Halliggemeinde ist er wie ein Vater geachtet und mit unendlicher Liebe getragen worden.

Karl Heimreich und Hertie lebten bei ihm, und sie gingen nebeneinander her wie Schwester und Bruder, die ohne Wort und Händedruck dennoch einander zugetan sind.

Von allen Haustieren und allem Vieh, welcher der Bauernpastor in Westerwohld+ hielt, hatte nur ein einziges die Flut überleb+t – nämlich Cito, der Hund, welcher noch lange ein lustiger Springinsfeld blieb und dann, im warmen Ofenwinkel ruhig alternd, es zu hohen Hundejahren brachte.

Den schwer heimgesuchten Nordstrandingern stand noch die letzte und herbste Prüfung bevor, und Pastor Boethius hat auf seiner Odenbüller Kanzel noch eine schwere Predigt halten und eine sehr böse Verkündung der Gemeinde verlesen müssen.

Der Herzog Friedrich III. zu Gottorp nämlich hatte durch den Untergang der Insel den zehnten Teil des ihm steuerbaren Landes und den zwanzigsten Teil seiner Untertanen verloren, und in seiner Habgier verfuhr er mit unglaublicher Härte und Ungerechtigkeit gegen die Bewohner und Eigentümer des alten Nordstrandes. Ein herzogliches Reskript von diesem land- und steuergierigen Fürsten von Gottes Zorn: »Sintemal die bisherigen Einwohner sich als völlig unvermögend erwiesen hätten, die Wiederbedeichung zu unternehmen, seien sie hiermit des Landes ledig, und Seine hochfürstliche Gnaden habe selbiges durch ein Oktroy einer holländischen Gesellschaft übergeben, welcher er zugleich freie Ausübung des katholischen und des reformierten Gottesdienste gestatte.«

Mit einem Federstrich waren sie heimatlos und rechtlos gemacht von Fürstengewalt und Unrecht.

Dieses erbarmungslose Edikt seines Landesfürsten hat Boethius am sechzehnten Sonntage nach Trinitatis auf der Kanzel publizieren müssen, und es war der letzte Schmerzenskelch, den dieser Mann leeren musste. Nicht ohne heiße Zähren der alten Landeigner ist die Verlesung geschehen, die ganze Gemeinde brach in Schluchzen aus, und eine große Bitternis zog durch ihr Herz.

Die Holländer, Katholiken und Remonstranten haben das Werk angegriffen und das jetzige Nordstrand bedeicht. Die von ihrer meerumspülten Scholle Vertriebenen wanderten aus nach Husum und Föhr und den andern friesischen Inseln. Ein zusammengeschmolzenes Häuflein blieb bei der Odenbüller Kirche und auf dem hohen Moore.

An diese Kirche von Nordstrandischmoor, wie sie von nun an hieß, ist Karl Heimreich Boethius als Pastor und Seelsorger berufen und vom Herzoge bestallt worden.

Drei Tage nach geschehener Vokation, an einem sonnigen Maienmorgen, trat der Vater ins Zimmer und mitten zwischen Karl Heimreich und Hertie. Seine Hand hielt ein bedrucktes Blatt, welches ein herzogliches Reskript den Kirchherren und durch diese den Kirchspielen kundtat, und es müßte eine fröhliche Verordnung sein, denn der Vater lächelte still.

Wes Inhalts war sie? Von den Ehen in verbotenen Verwandtschaftsgraden handelte sie, und Seine Gnaden, der Herzog, gab eine gnädige Erweiterung der zu Recht bestehenden, gestrengen Gesetzesbestimmungen. Das Edikt besagte: Unstreitig gehöre es zu einer guten Polizei, Ehen unter nahen Verwandten zu verbieten. Aber es sei hart und grausam, keine Ausnahme zu gestatten. Doch sei die Entscheidung in jedem Fall nicht der Willkür der einzelnen, sondern der Weisheit der Regierung zu überlassen. Und er, der Landesherr, welcher wissen würde, wie weit zu gehen sei, behalte sich selbst vor, in allen näheren Graden als dem dritten Erlass zu geben. Für jeden ausgestellten Dispens aber seien zwanzig Taler an die herzogliche Kasse zu entrichten.

Der Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorp konnte auch ein gnädiger Herr sein!

Peter Boethius hielt das Blatt in der Hand, und mit einem milden Lächeln betrachtete er seine beiden Kinder. Endlich hub er an zu sprechen, seine Stimme zitterte, und eine Träne trat in seine Wimpern: »Was nützet des Menschen Ringen und Rennen? Und was ist seine Kraft und Stärke? Edleff Wessel ist tot, und Etta, mein Kind, ist nicht mehr! Selig aber sind die Sanftmütigen und die Stillen im Lande, denn das Himmelreich ist ihr, und sie werden auch das Erdreich besitzen. Karl Heimreich, mein Sohn, und du, meine Tochter! Ihr seid stille gewesen und ihr seid geblieben in der Hoffnung und in der Geduld die vielen Jahre, darum soll euer Herz getröstet werden und seinen Frieden finden. Ich werde vom Herzog Dispens für euch begehren, denn ich habe die Gewißheit bekommen, daß ich euch segnen muss.« Und er legte die Hände auf ihre Häupter und segnete sie.

Die beiden sahen sich an wie die Träumenden und faßten noch nicht, daß sie in Wahrheit und von Herzen sich lieb haben durften wie Mann und Weib.

Die Sonne, nicht die Märzensonne, die mit lindem Scheine wie treue Geschwisterliebe glänzet, sondern die warme, wonnige Maiensonne lag hell und leuchtend im Zimmer und auf ihren Angesichtern. Unter ihrem Kusse erwachten sie zu neuem Leben.

*

Karl Heimreich Boethius lebte und wirkte vierzig Jahre lang als Prediger auf der Hallig Nordstrandischmoor.

Gunne, die Greisin, ist gestorben im Glauben, und er hat sie begraben.

Sönke, der Achtzigjährige, aber, welcher müde von Gram in die Grube fahren wollte und seinen Sarg sich kommen ließ? – Seine Gedanken waren nicht Gottes Gedanken! Er lebte noch achtzehn Sommer und Winter nach der Flut und erreichte ein Alter von neunundneunzig Jahren. Seine Sinne waren nicht stumpf geworden, und sein Gesicht hatte nicht abgenommen, nur das weiße Haupt wollte nimmer stille halten.

Von dem fast hundertjährigen Greise ging ein Gerede auf den Halligen und umliegenden Inseln als von dem Manne, der unter fünf Herzögen gelebt habe.

Als einst der Gottorper Landesfürst nach Nordstrandischmoor kam, ließ er Sönke Rickmers zu sich kommen und redete leutselig mit dem alten Nickekopf, der in seinem Sarge die Flut überlebt habe.

Anno 1653 aber war Sönkes Zeit um, und er entschlief sanft in seinem Wandbette. Über seinem Grabe redete Karl Heimreich und sprach das Wort: »Die Knaben werden müde und matt, und die Jünglinge fallen. Aber die auf den Herrn hoffen, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden.«


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