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Auf dem Kaland und in der Spinnstube

Es war im Weinmonde, am Tage Burchardi des Jahres 1633.

Die Tenne war zum Notstall eingerichtet worden. Sieben schwere Dänenrosse standen auf derselben und knusperten behaglich den Zehntenhafer. Das Korn war heuer trefflich geraten und trocken geborgen. Die sieben waren Kenner, die sich auf Hafer verstanden; und er mundete zwiefach gut, weil sie nicht im Schweiße ihres Leibes die Saatfurche gezogen, noch die Garbe heimgeholt hatten. Alle sieben waren nämlich Pastorengäule.

Im getäfelten Pesel des Hauses saßen auch sieben – und noch ein Achter – und man sah auf den ersten Blick, daß alle acht geistlichen Standes waren. Am Gewande erkannte man's, wie den Vogel an den Federn, aber auch am redefrohen Gezwitscher und dem Gespräch, das sie pflogen, denn von Zehnten und Pastoreien und Neubestallungen, von Kometen, von Konkordienformel und kalvinischen Irrtümern redeten sie, von den zwei letzten Dingen am längsten und am lautesten jedoch.

Der in dem großen, mit Kissen belegten Armstuhle saß, füllte mit seinem gewichtigen Leibe seinen Platz völlig aus und war der Präpositus und Propst Vincentius von Buptee. Die Mehrheit der Acht hatte runde Wangen und ein zwiefaches Kinn, welches darauf deutete, daß auch die Herren der Rosse Kenner wären und sich auf Speise und Trank wohl verstünden.

Das Haus stand auf der Kirchwarf. Der Pastor loci nannte sich deutsch und schlicht Hermann Schröder, war ein schüchterner Mann und saß auf dem schlechtesten Stuhle von Strohgeflecht, hieß zwar von Amts wegen Kirchherr von Illgrof, stand aber im Hause unter dem Regiment seiner Hausehre und seiner zwei Töchter – unter einem Triumfeminat, wie der Präpositus zu scherzen beliebte.

Heute war die Versammlung in Illgrof anberaumt, und die Pastores der Beltring Harde hielten ihren Kaland ab.

Ein neues Buchwerk lag aufgeschlagen auf dem Tische, das Opus Cimbricum, darin die griechische, lateinische und deutsche Bibel gegeneinander gestellt waren und ein kurzer Anhang von den Sternruten, so man Kometa heisset, handelte. Es war von Pfarrhaus zu Pfarrhaus gewandert und sollte jetzo in amtsbrüderlichem Disputat besprochen werden. Herr Schröder blätterte unruhig nach hinten, bis zum Titel des Anhangs.

Nur den letzteren hatte er mit Fleiß studiert und sprach furchtsam: »Ob nicht die Sternrute, welche letztlich am Himmel gestanden und mit ihrem gräulichen Schweife viele Gemüter erschreckt hat, ein Unglück für diese Meer- und Marschländer vorbedeutet …? Schon zuvor …«

Der im Armstuhle seinen Platz ausfüllte, schnitt ihm die Rede ab: »Schon zuvor haben die Menschen Wahrsager gesucht und sind in den Wahnglauben verfallen, als wären die Wandelsterne böse Omina. Sie haben aber ihren Lauf und sind von Natur!«

Ehren Schröder verstummte, ein in der Kunst des Schweigens geübter Mann.

Aber ein anderer schwieg nicht. »Redet nicht Gott im Wetter, obschon Blitz und Donner aus natürlicher Ursach entstehen? Auch der Regenbogen ist von Natur und dennoch von Gott zum Bundeszeichen gesetzt, daß hinfüro keine allgemeine Sündflut mehr sein soll.«

Es war eine Stimme, klangvoll wie Erz, die also gesprochen, eine kraftstrotzende Gestalt, ein knochiges, sonnengebräuntes Antlitz ohne Doppelkinn und mit schmalen Lippen. Es war der Pastor Peter Boethius von Westerwohld, der die buschigen Brauen zusammenzog und mit den grauen Augen den Propst fest ansah.

Dieser lehnte sich kalt zurück.

Einer der Amtsbrüder sprach ruhig und ließ die Tatsachen reden: »Anno 1572 ist ein neuer Wandelstern von dem Mathematiko Tycho Brahe observieret worden, worauf in den Niederlanden der Herzog von Alba 30 000 Menschen hat hinrichten lassen. In Frankreich schien ein Komet, dessen feuriger Schweif an 70 himmlische Grade lang war, und sind daselbst auf der so genannten Pariser Bluthochzeit an die 72 000 Menschen massakrieret worden.«

Ein Zweiter fragte: »Und was der neuliche Komet, welcher im Jahre 1618 kurz vor dem grausamen, noch immer in Deutschland wütenden Kriege erschien und die größeste unter allen bisherigen Sternruten gewesen ist? Ich stehe nicht an zu glauben, daß sie Krieg, Seuche und großes Sterben bedeuten und daß diejenigen Länder, welche unter dem himmlischen Zeichen, so der Komet durchwandert, belegen sind, davon betroffen werden.«

Der Präpositus richtete sich auf: »Ich gestehe, Eure Astrologie stehet mir gar nicht an; besser gefällt mir, was ein verständiger Mathematikus davon demonstrieret: Sie seien keine festen Körper, sondern nur leere Dünste, von den Planeten ausgehauchet und von den Sonnenstrahlen beleuchtet, mithin ihr Feuerschweif nur ein Widerschein und sie selbst nichts anderes als eine harmlose Himmelswolke! Miraculi non sunt fingenda, das heißet, wir sollen uns mutwillig keine Mirakel machen, auch nicht glauben, daß Gott durch übernatürliche Zeichen uns etwas sagen oder gar uns Menschenkinder erschrecken wolle.«

Peter Boethius von Westerwohld sprach: »Mit Verlaub! Wenn ich sah, daß mein Knabe unten auf der Warf ein unnütz und ungeziemend Werk übte, zeigte ich ihm wohl die Rute am Fenster, und alsogleich ließ er davon ab. Also stecket Gott seine Sternrute an das Himmelsfenster, zum Zeichen, daß er sich anschicke und seine grimme Zornesrute hervorhole, uns zu stäupen mit Krieg und großem Sterben, wofern wir nicht ablassen von der Sünde und Bosheit.«

Der Propst Vincentius betrachtete den Sprechenden mit halb zugekniffenen Augen. Sein feistes Antlitz hatte etwas Lauerndes und Arglistiges zur Stunde. Als Boethius geendet, murmelte er spöttisch: »Sapienti sat«, schlug im Opus Cimbricum nach vorne und legte die fleischige Hand auf Römer 9: »Hat keiner der Brüder die Stelle angemerkt und Unrat gefunden?«

Das Buch ging von Hand zu Hand, zwei Kurzsichtige steckten gleichzeitig die Nasen tief hinein.

Einer, der eine gute Witterung hatte, äußerte: »Es sind Irrtümer drin …«

Der Präpositus schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: »Ja kalvinische Irrtümer in der Übersetzung dieses Kapitels von der Prädestinatio, der göttlichen Vorherbestimmung!«

»Haben sich eingeschlichen …?«, meinte die Spürnase.

»Oder sind mit Fleiß hineingestellt worden!«, meinte der Präpositus.

Erschrecktes, aber kurzes Schweigen! Der Verfasser des Werkes war ein lutherischer Pastor in Hamburg!

Dann ein Geschwirr vieler Stimmen, vier Köpfe beugten sich gleichzeitig über das Buch, eine große Unruhe war in die geistlichen Herren gefahren. Die Konkordienformel ward geholt und eifrig verglichen. Immer lauter ward das Gespräch, klang fast wie ein Gezänk und war doch ein einmütiges Verdammen der kalvinischen Irrtümer.

Dem Propsten wurde so warm dabei, daß er sich ein paar Mal mit dem Nas-Tüchlein über die Stirn fahren musste. Nur einer teilte nicht die Aufregung der Amtsgenossen, sondern lehnte fast gleichgiltig an seinem Stuhle.

Der Prediger von Volksbüll machte den Vorschlag, die Irrtümer auszuziehen, eine kräftige Verwahrung dagegen einzulegen, mit den nötigen Beweisen zu versehen und an den Verfasser einzusenden.

Aber der Propst sprach: »Mitnichten an den Verfasser, sondern an den Senior des Hamburger Ministeriums, damit er selbigen zur Rechenschaft ziehe wegen Religionsvermengung und grober kalvinischer Ketzerei.«

Da regte sich der Gleichgiltige, Boethius' markige Stimme klang sanft, und die scharf geprägten Züge mühten sich, einen milden, fast bittenden Ausdruck zu gewinnen: »Warum dem Mann solch Leid antun? Er wird ein fremdes Werk benutzt und unwissentlich die Translation gebraucht haben! Warum eine peinliche Anklage, wo eine freundliche Belehrung Wandel schaffen mag?«

Vincentius sah, daß die Mehrheit der Köpfe bei diesem Vorschlage leise nickte. Die Pastores der Beltring Harde wussten nämlich, wie unangenehm Anzeigen bei einem Präpositus werden können, und wünschten keine Denunziation.

»Ei, Konfrater Boethius, Ihr habt am Ende selber eine kleine kalvinische Ader …«

Der Angeredete gab schnelle Antwort: »Hochwürden, wolltet Ihr geistliche Baderarbeit verrichten und mir die Ader stechen, würde nicht viel herauskommen, denn einen besseren Lutheraner als mich wird man in den Fünfharden nicht finden.«

Derb und etwas despektierlich klang die Rede in Vincentius' Ohren, und der würde nicht geschwiegen haben, wenn nicht die Frau des Hauses hinein getreten und mit höflicher Referenz vor ihm die Meldung getan hätte, daß sie ein wenig Speise und Trank für die Gäste bereitet habe. Fast behände erhob sich die schwere Gestalt und leistete ihrem Wunsche bereitwilligen Gehorsam.

Auf der großen Diele, welche durch die ganze Breite des Hauses ging und von lieblichen Bratengerüchen, aber auch von leichtem Rauchgewölk erfüllt war, hatte man den Tisch gestellt. Unter zinnernen Tellern und Krügen prangte ein einziger Krug aus gediegenem Silber. Der Propst sah ihn und wußte, wo sein Platz war, die übrigen Herren setzten sich, jeder hinter seinen Zinnkrug.

Die Töchter, welche nicht die friesische Kleidung Nordstrands, sondern die städtische des Festlands trugen, warteten auf bei Tische. Eine Vorsiedung, d. i. eine Suppe mit darin schwimmenden, großen Stücken Ochsenfleisch, wurde gereicht, zum andern ein ganzer gekochter Schinken. Peter Boethius aß fast schnell und zur reichlichen Sättigung von diesen zwei Gerichten. Dann legte er sein Eßgerät von sich und verneigte sich dankend vor der Tochter, wenn sie ihm die weiteren Schüsseln hinhielt. Denn es gab noch zum dritten gesottenes Rindfleisch in einem Stücke, zum vierten gekochten Fisch, zum fünften gedämpftes Schaffleisch, zum sechsten einen feinen Gerstenbrei, mit Gewürz bestreut und mit süßem Biere dazu, zum siebenten und letzten aber Butter und Käse.

Das Mahl dehnte sich nun schon über zwei Stunden aus. Eine bauchige Tonne war auf einen Stuhl gestellt. Schnell füllte die jüngere Tochter die fleißig geleerten Krüge. Insbesondere der Silberkrug machte oft die Wanderung und ging mit einem guten Beispiele voran.

Das Antlitz des Präpositus wurde leutselig, und seine kleinen Augen bekamen allgemach einen feucht-fröhlichen Glanz. Immer röter wurden die Wangen und immer lauter die Reden, oft sprachen zur selben Zeit alle durcheinander – bis auf den einen, der im Trinken ein sehr mäßiger Mann zu sein schien und immer schweigsamer wurde.

Es war nach acht Uhr, und Peter Boethius' knochiges Gesicht hatte nichts Leutseliges noch Fröhliches, sondern einen so gestrengen Zug, daß ein Fremder ihn für den Präpositus gehalten hätte.

Der Pastor von Volksbüll ergriff das Wort und ehrte die Hausfrau für Speise und Trank, die trefflich seien. Dann aber setzte er hinzu: »In einem reichen und fetten Lande wohnen wir, das fast mit einem Erdenparadiese zu vergleichen, denn es hat Korn und Fleisch die Fülle, dazu auch Malz und Bier. Ich gedenke der vorigen Zeit, da ich auf der hohen Geest des Festlandes in Viöl Pastor war und ein Wallensteinsches Regiment unser armes Dörflein gänzlich ausgeraubt hatte. War dazumal sehr böse Zeit, und ich bin in das Haus eines armen Kätners gekommen, wo ein Gericht auf dem Tische gestanden, das ich noch nimmer gekostet, denn das Essen war nichts als in Wasser gekochte Kohlstrünke. Wir wollen Gott loben, daß unser Los aufs Lieblichste gefallen und daß wir in einem Lande wohnen, dessen Fruchtbarkeit schier unermeßlich zu nennen, auf einer Insula und Meerburg, dahin der Feind, der rings in Deutschland brennt und mordet, nimmer gekommen ist und noch hingelangen wird.«

Die Rede fand Beifall. Dankbar wurden sämtliche Krüge geleert – bis auf einen.

Boethius murmelte: »Wir haben zwei schlimmere Feinde als Tilly und Wallenstein – das salze Wasser und den Weststurm.«+

Mehrmals äugte Vincentius mit halb gesenktem Lidern hinüber; jetzt wandte er sich an ihn: »Konfrater Boethius, seid Ihr nicht wohl an Eurem Leibe, daß Ihr Speise und Trank verschmähet?«

»Ich habe sattsam gegessen und getrunken zur Aufrechterhaltung des Leibes, wie es sich gebühret!«

Vincentius krauste die Stirn und fragte spöttisch: »+Oder sinnet Euer Geist über tiefe Spekulationen?«

Schlagfertig kam die Gegenrede: »Ich sinne über die Bestimmung unserer Kalandsbeliebung, welche am fünften lautet: Es soll den Brüdern eine nüchterne und mäßige Erquickung gegeben werden, nämlich zum ersten eine Vorsiedung, zum anderen ein gesottenes Gericht, zum dritten Grütze oder Brei, mit Safran zubereitet … Darüber hinaus aber darf nur Butter und Käse hinzugetan werden.«

Wie ein Schlag auf den Mund wirkte die Rede, alle verstummten.

Der Präpositus gab zuerst einen Laut von sich, der wie ein Grunzen klang: »O-ho, o-ho … Ihr wollt mich und die Brüder meistern, daß wir der Gottesgabe uns erfreuen und fröhlich und guter Dinge sind?« Dann hob er die Stimme und sprach die folgenden Worte, wie der Richter, der den Malefikanten das Gesetz verliest: »Es stehet zum achten in unserer Beliebung: Alle sollen zur brüderlichen Liebe verpflichtet sein, item soll bei der Kalands-Gasterei der Brüder kein Gezänk geduldet werden, auch nicht einer den andern durch kränkende Reden anzwacken.«

Peter Boethius schwieg. Es war ein beredtes Schweigen.

Die Sieben vergaßen bald des Zwischenfalles und wurden redselig wie zuvor. Der Pastor loci, der schüchterne Schröder, schaute fast kecklich drein und erzählte eine lustige Geschichte. Die älteste Tochter kehrte das Sandglas um, ein Zeichen, daß die neunte Stunde überschritten sei.

Ein wenig beschwert schon vom Biere, erhob sich der Propst, lächelte selig und brachte stückweise die Rede hervor: »Es ist eine schlechte Sitte auf hiesiger Insel, daß viele das Malz zum Biere bei Torffeuer rösten, wodurch das Getränk einen unfeinen Beigeschmack erhält. Wenn es aber bei Holz gedörrt ist, als die Kundigen tun, ist das Nordstrandinger Bier sehr gut, wofern denn nicht des lieben Wassers zu viel dazu getan wird. Der löblichen Wirtin zu Ehren, welche am Malze nicht gespart hat, aber mit dem Wasser schonsam umgegangen ist!«

Man trank und lachte. Nur der Pastor Boethius lachte nicht, sondern erhob sich schweigend.

»Wollt Ihr gehen?«

»Ja, ich will nicht gebrücht werden, noch unter das Gesetz der Beliebung fallen, daß keiner der Brüderschaft bei der Kollation über die neunte Stunde spät abends sitze, bei acht Schilling Busse für jeden.«+

Alle gafften ihn sprachlos an, und Boethius ging mit kurzem Gruß.

Als dieser auf der Tenne seinen Gaul anschirren ließ und selbst mit Hand anlegte, fanden die Herren auf der Diele wieder Worte.

Zuerst Vincentius: »Unserm Konfrater Boethius scheint feine Sitte fremd, und er weiß nicht, daß es mir zukommt, die Tafel zu beenden.«

Da fiel das Wort: Pastor rusticus! Der Bauernpastor! Und alle lachten. Der von Volksbüll erkundigte sich, woher der Beiname rühre.

Und die Antwort lautete: »Bis zu seinem fünfundzwanzigsten Jahre, ehe er den Gänsekiel zu führen lernte, hat er mit der dreizinkigen Feder, so man gemeiniglich Mistgabel nennt, geschrieben. In Westerwohld und umliegenden Kirchspielen ist viel Gerede vom ›Bauernpastor‹, und jedes Kind weiß, daß Boethius gemeint ist.«

Der, welcher also Gegenstand des Kalandsgesprächs geworden war, bestieg sein Gefährt – einen schlichten Kastenwagen –, setzte sich in den Stuhl, der in Ledergurten hing, und drückte eine Münze in die Hand des Pferdeknechts, welcher ihm die Zügel gereicht hatte. Es war ein Vier-Schilling-Stück. Der Beschenkte schnalzte mit der Zunge und schmunzelte: Herr Boethius weiß, wie einem armen Ackerknechte zu Mute ist und was ihm Not tut!

Boethius fuhr heimwärts in der mondhellen Herbstnacht, denn die Kalandsversammlungen wurden mit Ab- und Fürsicht auf Vollmondzeiten verlegt. Die Gräben zu beiden Seiten standen voll Wasser. Auf dem Wiesengrunde wob leichtes Nebelgewölk, darüber lag das weiße Mondlicht wie unendliche Stille. Er hörte nur zuweilen eine spät weidende Kuh, die das Gras rupfte, und immerzu das Aufspritzen des Schlammes unter den Rädern, die im ausgefahrenen Wege versanken. Der Gaul bedurfte keiner Leitung, sondern fand selbst den Weg in seinem Stalle.

Dachte Boethius an die Ereignisse des Tages? Oder worüber sann er, so nachdenklich in die flache Mondlandschaft hinaus starrend? Das derb geschnittene Gesicht hatte etwas Vergeistigtes und der Mann seine schwermütige Stunde, denn er dachte an sein vor Jahren verstorbenes Eheweib, auf deren Grab er die Inschrift gesetzt hatte: Hier ruhet Gunna, die mit ihrem Mann fünfundzwanzig Jahre ohne irgend einen Streit oder Klage gelebt hat!

Dann verfloß allmählich die Gestalt der Toten und wurde zur lebendigen Erinnerung. Seine Gedanken beschäftigten sich mit seiner Tochter Etta, die der Mutter leibhaftiges Ebenbild war. Der Weg ging aufwärts und dann auf einem Erdwalle entlang.

Während er auf dem hohen Deiche, welcher von Süd nach Nord die Insel in einer Länge von zwei Meilen durchschnitt, heimwärts fährt, betreten wir die Pastorei in Westerwohld.

Grau und alt ist das Haus und bietet den Einkehrenden einen ernsten Willkommensgruß, denn über dem Rundbogen seiner Tür steht die alte Inschrift, groß und lesbar im Mondlichte:

Du mußt dervan –
Gedenke dran!

In seiner ganzen Breite ist das Haus durchquert von der großen Diele, und die Küche mit dem Herde, auf dem ein Torffeuer brennt, ist nur ein offener Seitenraum derselben. Niedrig hängen die ellenbreiten Eichenplanken der Decke, bis hinauf an sie reichen zwei hohe Schränke. Auch stehen auf der Diele zwei Truhen mit eigenartigem Schnitzwerk und blanken Beschlägen.

Am Eisenhenkel der einen hatte Boje, der Knecht, das Ende des Strohseils, welches er flocht, befestigt. Alget, die spinnende Magd, stieß mit dem ledigen Fuße das verschüttete Stroh aus ihrer Nähe.

Boje fragte sanft: »Warum schaust du so scheel und verziehst den Mund? Ich werde es nachher auskehren.«

Sogleich strammte sie die Lippen fest zusammen und schwieg. Algets Hände waren rauh, und ihre Gestalt derb und gedrungen, aber das Antlitz, durch das Kopftuch gegen Sonne und Wind geschützt, wäre fast wohl geraten, wenn nicht der Mund ein wenig schief im Gesicht stände. Ein hervor stehender Zahn nämlich hatte sich nicht in die Ordnung der Zähne gefügt, sondern die Oberlippe aus ihrer Lage verdrängt. Darum preßte Alget die Lippen zusammen und schwieg.

An einem Pfosten hängt die Lampe mit doppeltem Rohr und Docht, wie eine kleine Gießkanne gestaltet, und verbreitet sparsame Helle. Aber diese mächtigen Pfosten, die unsern Blick auf sich ziehen und die innerhalb der Außenwand in der ganzen Länge und Breite des Hauses stehen und das Dach tragen, was sollen sie? Mit weiser Rücksicht auf die Sturmfluten sind sie errichtet und sollen das Dach tragen, wenn die Wogen hereinbrechen und die Wände zerschlagen sind. Und diese Pfosten reden auch; sie besagen gewissermaßen daßelbe wie die Türinschrift: Du mußt dervan – gedenke dran!

Unter der Lampe lehnte Etta, des Hauses Tochter und Herrin, verknüpfte den Wollfaden des Strumpfes und schaute einem Kätzchen zu, das mit dem Knäuel in seiner zierlich-drolligen Weise spielte. Die großen, blauen Augen der zwanzigjährigen Maid, deren frisches und fast rundes Antlitz auf weichem Schneegrunde rosigen Hauch hatte, lächelten kindlich und gütig, als sie sich erhob und das Kätzchen auf den Schoß nahm. Dabei fielen ihr zwei schwere, roggengelbe Zöpfe über den Gürtel hinab. Ettas Gestalt wäre etwas zu groß unter dem Frauengeschlecht unserer Tage, war sie doch die stattlichste unter den Friesenfrauen Nordstrands, aber trotz der kräftigen Körperfülle dennoch schlank und biegsam.

Im halbdunklen Hintergrunde saß ein stilles Paar, das zu träumen schien, und die Hände lässig im Schoße hielt, ein junges Mädchen mit braunem Haar und fast übergroßen Augen in dem schmächtigen Antlitz – das war Hertie, die eine Waise war und als Pflegetochter des Hauses gehalten wurde – und ein junger Mann mit einem sanften, milden Ausdruck in den blassen Zügen. Karl Heimreich Boethius war nicht wie die Schwester, sondern ein von Geburt an schwächliches Kind gewesen. Seit einem Jahr kränkelte er an der Brust, litt am bösen Seitenstich und hatte nach der Ostervakanz, nicht wieder auf die hohe Schule, wo er fleißig Theologika getrieben hatte, ziehen dürfen. Nun harrte er geduldig und hoffnungsvoll auf Genesung, und erholte sich sehr allmählich von seinen Gebresten, indem die Ruhe und die kräftige Salzluft der Heimat seinem Leibe wohl tat.

Außer den fünf Genannten, welche zum festen Hausbestande der Pastorei gehörten, waren noch andere Personen, durch Nachbarschaft oder gelegentliches Dienstverhältnis dem Pfarrhause zugetan, auf der Diele versammelt und jeder mit seiner Handarbeit beschäftigt. Der große Raum mutete wie eine große Spinnstube an, wenn auch das wortkarge Wesen sich weniger mit einer solchen zu reimen schien. Doch das war friesische Weise.

Dem glühenden Torffeuer des Herdes am nächsten saß ein Greis mit sehr starkem, aber schneeweißem Haar. Mit seinen Händen griff er zwei Weidenkörbe, nahm aus jedem ein Büschel und kratzte dann die Wolle, und zwar weiße und schwarze, durcheinander, denn also sparte man den Färber. Dabei nickte er beständig mit dem weißen Haupte auf und nieder. Doch war es ein unfreiwilliges Nicken, darüber er keine Gewalt hatte. Seitdem er nämlich von der schlimmen Gesichtsgicht heimgesucht worden, hatte er diese Zuckungen, und der alte Kopf wollte nimmer ganz still halten. Aber die Hände des Alten zitterten nicht, sondern griffen fest und fleißig zu, auch die Füße des Achtzigjährigen verrichteten ihre Hantierung wie vor dreißig Jahren, klommen die steile Leiter hinauf und machten sichere Tritte auf den schwankenden Dachsparren. Sönke war nämlich ein Dachdecker, welcher in seinem Häuschen auf der Nachbarwarf wohnte und tagtäglich seinem Berufe nachging, solange es Arbeit gab.

Zwei Dirnen drehten das Spinnrad, die eine war Alma, sein Enkelkind. Stumpfnasig und lebhaft, drehte dieselbe nicht bloß das Rad, sondern auch die Augen – zwei lustig-lose Augen – beständig hin und her, als suchten sie Kurzweil.

Da fanden sie solche. Algets Rad surrte nicht mehr, ihr Kopf neigte sich sanft und seitwärts, die müden Magd, die seit vier Uhr morgens auf den Beinen gewesen war, wollte entschlummern.

Almas übermütige Augen forderten den Knecht auf, neckischen Unfug zu üben. Boje aber reichte ihr aus dem Strohbunde den längsten Halm.

Doch Etta Boethius erhob die Hand und rief: »Alget, Alget!«, wandte den Kopf nach Sönke hin und sprach: »Wir möchten bessere Unterhaltung … erzählt Ihr etwas, was die Hände munter und die Augen offen hält. Und wenn es auch ein altes Stücklein wär'.«

Der Alte schmunzelte, denn er war wohl bewandert in Frieslands Historie und redete gern. »Von Rungholt, das in der großen Manndränke untergegangen ist?«, fragte er, »welches mit allen seinen Häusern in der See steht und dessen Türme bei hellem Wetter sichtbar werden, so daß Vorüberfahrende den Glockenklang gehört zu haben vermeinen.«

»Habe nichts gesehen und nichts vernommen, obschon ich oft bis zum äußersten Watt gelaufen bin und auf die Rungholter Tiefe hinaus gelugt habe«, fiel ihm seine Enkelin in die Rede, »die Fabel von Rungholt weiß auch jedes Kind im ganzen Nordstrande.«

Der Alte nickte mit dem weißen Kopfe und murmelte, als spräche er mit sich selber: »Ist keine Fabel, und zwiefach ist Frieslands Feind … der eine kommt vom Westen und ist das salze Wasser und die Springflut, der andere bricht vom Osten, vom Festland ein, der Däne und der Holstenherzog, der uns Landrecht und Gerechtsame nehmen und seine Gesetze geben will …«

Dann fuhr er wie aus einem Traume empor und sagte laut: »Soll ich erzählen von Wessel Hummer, dem Rademacher von Pellworm?«

»Hebt an, Sönke!«, ermunterte Etta freundlich, obschon sie nicht zum ersten Mal vom Rademacher hörte.

Der Hochbetagte ließ die Hände ruhen und begann: »Ich zähle jetzt vier Stieg Jahre … rechnet zurück, etwa um das Vierfache meiner Zeit, da lebte ein König in Dänemark, der hieß Abel und war doch ein Kain, ein Brudermörder, denn meuchlings ließ er seinen Bruder, den König Erik, auf dem Schleistrome, wo er am schmälsten ist, töten, reinigte sich durch einen falschen Schwur, tat also Meineid zum Mord und setzte sich die blutige Krone aufs Haupt. Erik war tot, aber der ewige Gott lebte, und Abel fand nicht einen bequemen Strohtod in hohen Jahren, sondern erlitt ein baldiges und böses Ende. In Geldnot, wie alle Dänenkönige, ließ er sogleich eine allgemeine Landsteuer ausschreiben, aber die Friesen hatten ihr Gut auf Deiche und Dämme verwandt und sandten seine Säckelmeister leer heim. Da zog Abel auf Schiffen den Eiderstrom hinab, mit Gewalt das freie Friesland zu zwingen. Aber das alte Sprüchlein: Lewer dod as Slav! scholl rings in den Uthlanden, und die Männer von Siebenharden liefen zu Hauf. Das Meer, sonst Frieslands Feind, kam ihnen zu Hilfe und ebbte so tief wie kaum zuvor, daß des Königs Schmacken in Schlick und Schlamm stecken blieben. Seine schwer gewappneten Mannen versanken im Sumpfe und wurden erschlagen. König Abel floh und suche die hohe Geest zu gewinnen. Auf seinem Hengste sprengte er über den Milderdamm und schien gerettet. Aber hinterrücks kam der Tod, denn hinter einem Brückenpfeiler stand Wessel, und des Rademachers wohl gezielte Axt zerschmetterte dem Brudermörder das Haupt.«

Der Sprecher schwieg und nickte weiter. Die Räder hatten nicht aufgehört zu surren, und keine Spannung war auf den Gesichtern zu lesen, denn es war eine alte Historie.

»Wir sollten von Wessels Geschick hören«, mahnte Etta.

»Wessel ward wiederum ein Rademacher in Pellworm und verschwieg seine Tat«, sprach Sönke, »denn hinterrücks deuchte sie ihm, und die Axt … die Axt, mit der er sein Handwerk trieb, brannte ihm von nun an in der Hand. Darum warf er sie von sich und ging als Schiffer aufs Meer, dort Ruhe zu suchen. Auf allen Gewässern trieb er sich umher, und seine Genossen wunderten sich, warum der stille Mann so verdrossen und unfroh sei, bis einer vom Festlande ein dunkles Gerücht mitbrachte, daß an der Axt, mit der Wessel vom Milderdamme heimgekehrt, Blut gesehen worden sei. Eines Tages nun erhob sich ein wilder Sturm in der Nordsee, und das Schiff, auf welchem Wessel fuhr, wollte vergehen. Jeder schrie zu seinem Heiligen in großen Nöten. Auch der Schweigsame tat plötzlich den Mund auf, aber nicht zum Gebet, sondern zu den Worten: ›Ich war's, der König Abel auf dem Milderdamme erschlug, und es ist um meinetwillen, daß Sturm und Wellen sich wider uns empören. Stoßet mich ins Meer, daß Ruhe werde und Gott meiner Seele gnädig sei!‹ Die Schiffsleute taten ihm seinen Willen, und kaum war er verschlungen von der See, als sie aufhörte zu toben und es ganz still wurde.«

Sönke schwieg. Längst kreisten die Räder nicht mehr. Ganz still und lautlos war es auf der großen Diele der Westerwohlder Pastorei geworden.

Der Greis nickte mit verschlossenen Augen und murmelte dumpf: »In vierhundert Jahren kommen und gehen zehn Geschlechter der Menschen … das Geschlecht der Wessels ist geblieben auf diesem Eiland, drunten in der Pellwormer und hier in unserer Beltringharde …«

Etta hing an dem Mund des Alten mit großen, fast schreckhaften Augen und hielt den Atem an, daß kein Laut ihr entgehe. Aber Sönke langte nach dem Wollkratzer, um seine Arbeit wieder aufzunehmen.

Da entglitt das Kätzchen ihrem Schoße, und sie stieß die Worte hervor: »Alles, was im heutigen Nordstrande Wessel heißt, wollt Ihr herleiten von jenem Wessel, dem Pellwormer Rademacher und Königsmörder … wo steht das geschrieben?«

Sönke erwiderte ruhig: »So sagte mein Großvater uns vor siebzig Jahren … und der hatte gehört, daß sein Urgroßvater es erzählte … Als ein hartes Geschlecht werden die Wessels von jeher geschildert, bei allen der starke Wille und der ruhelose Sinn … bei einigen zum rechten Männerstolz geworden, der einstand für Frieslands Freiheit, bei den meisten aber zum ruchlosen Treiben und Tun …«

Was jagte das Blut in Ettas Wangen? Nach einer Weile fragte sie scheu und leise: »Volquart Wessel, unser Kirchspielvogt … und … sein Sohn Edleff …?«

»Stammen im zehnten oder zwölften Gliede vom Rademacher her und sind so gut wie die in Pellworm und Trindermarsch Wessels«, sprach Sönke.

»Ja, echte und rechte Wessels!«, bestätigte der Knecht Boje.

Etta starrte ins Leere. Nach einer Weile wandte sie den Kopf so eilig, daß zwei Locken ihr in die Stirn fielen. Sie wurden nicht zurück gestrichen und mehrten den Eindruck der Verwirrung, welchen das Mädchen machte. »Was wolltest du sagen, Boje?«

Der Knecht machte ein verschlagenes Gesicht: »Davor soll mich Gott und das achte Gebot bewahren, daß ich unsern Nachbarn afterreden und etwas Übles nachsagen sollte dem löblichen Kirchspielvogte oder seinem langen Sohne …«

Er grinste unbemerkt beim letzten Worte und fuhr fort: »Aber der Vater, mithin Edleffs Großvater, Bernt Wessel, der jetzt unter dem stattlichsten Leichensteine der Kirchwarf liegt, hat zwar unermeßlich viel Geld und Gut, aber eben nicht das beste Gerede hier oben auf de Erde hinter sich gelassen.«

Der Sprecher dämpfte die Stimme zum Flüstern: »Hat nicht Eure Frau, Sönke, ihn nächtlicherweile umgehen sehen, wie er an den Grenzsteinen rückte?« – Der Greis schüttelte das Haupt. – »Sonsten, alle alten Weiber in Westerwohld wollen ihn gesehen haben. Obschon er mit großem Gepränge und vollem Geläut beigesetzt ist, will er nicht liegen bleiben in seinem Eichensarg, sondern der alte Sünder stehet auf wie ein Geist und Gespenst und erschrecket die Lebenden, dieweil er stumme Sünden begangen hat …«

Aller Augen hingen gespannt, Ettas aber mit einem angstvollen Ausdruck an den Lippen des Knechts.

Nur Alget schien gleichmütig und erkundigte sich: »Stumme Sünden … was soll das heißen?«

Der Knecht verzog den Mund: »Meinest etwa, wer wortkarg ist und gerne schweiget, begehe stumme Sünden? Dann hättest du nichts zu fürchten, Alget, denn deine Zunge ist wohl geschliffen.«

Ehe die Gehänselte Antwort geben und Gebrauch von ihrer Zunge machen konnte, hatte Etta Schweigen geboten.

Und der Greis sprach ernst: »Stumme Sünden begeht, wer Grenzsteine verrückt, dem Armen den Acker nimmt und Waisen und Witwen übervorteilt … es ist richtig, daß Bernt Wessel üble Nachrede hinterlassen.«

»Aber auch vier Kisten, die sechzehn Männer mit Not hätten tragen können, voll von Lübschem Gelde und schweren Joachims-Talern standen im Pesel, als er in seinem Todbette lag, dazu vierzehn große Truhen mit heimlichem Reichtume, mit Kleidern und Geschmeide rings im Haus.« Boje sprach's mit funkelnden Augen.

Etta nickte traurig: »Auf unrechte Weise ist er zu seinem großen Gut gekommen.«

Der Knecht zuckte die Schultern: »Wer Geld leihen wollte, kam zum reichen Bernt … Wenn das Landrecht sagt: ›Keiner soll mehr denn einen Schilling Zins von der Mark nehmen!‹, sagte Bernt: ›Zwei‹, nahm auch drei oder vier, wenn er es haben konnte, ließ sich ein paar Äcker verschreiben und legte sie zu seinem Hofe, sobald die Frist verstrichen war. Als er zu seinen Vätern, den Wessels, versammelt war, fand die Erbteilung statt. Es verblieben aber dem Ältesten, unserm Kirchspielvogt, an Kleiland 200 Demat, außer dem Moor und den Salzgräsungen, auch etliche Kisten und Truhen, die sich inzwischen zur vorigen Zahl gemehret haben sollen …«

Er brach ab, und jedes Ohr horchte, denn draußen auf den Steinen vor der Dielentür stampften zwei den zähen Klei des Weges von den Stiefeln.

Die Tür ward aufgestoßen. Auf allen Vieren kroch ein Ungetüm, ganz in Seehundsfell vermummt, herein: nur die großen, groben Menschenhände sah man über den Boden patschen. Mit diesen Händen umschlang der Riesen-Seehund Algets Kniee, daß die Magd zuerst laut aufschrie. Dann aber die Fäuste kräftig gegen die Gestalt stemmte, so daß die über den Kopf gezogene Kapuze zurück glitt.

Ein bärtiges, breit grinsendes Gesicht kam zum Vorschein.

»Was soll die Narretei«, sprach Etta, sich mühend, einem Lächeln zu wehren und gestreng zu blicken, »bist du wiederum zu Biere gewesen, Hans Pauls?«

»Weit gefehlt, Jungfer! Zu Wasser waren wir und auf den Watten und haben beim Mondschein den Seehunden nachgestellt.« Und Hans Pauls verzog das Gesicht zu einer Grimasse, daß die Mägde vor Lachen bersten wollten.

Der, welcher langsam hinter ihm eintrat, stand nur zwei Handbreit unter dem Balken. Unter der zurück geschlagenen Kapuze schoß ein hastiger Blick nach Etta hin, dann bot er allen seinen Gruß, ruhig und gemessen.

Sie rückte einen Stuhl zurecht, aber weit von ihrem, drüben am Herdfeuer, strich auf dem Wege sich die Locken zurück und sagte dann: »Mein Vater ist nicht im Hause, Edleff, sondern zum Kaland in Illgrof.«

Der zuletzt Eingetretene war Edleff Wessel, des Kirchspielvogtes Sohn. Eine reckenhafte Gestalt, die an sieben Fuß in ihren Stiefeln stand, und hatte doch nichts von dem linkischen Wesen, welches oft langen Leuten anhängt. Man sah es an der Weise, wie er sich setzte, denn mit gemessenem Anstand und beweglicher Anmut ließ er sich nieder. Als er die Kapuze ganz in den Nacken strich, quoll eine braune Lockenfülle hervor. Das bartlose, stark gebräunte Antlitz zeigte feine und fest geschnittene Züge. Für gewöhnlich schauten seine Augen scharf und fast kalt um sich, jetzt leuchteten sie in ihrem freundlichsten Glanze, aber immer lag etwas Unergründliches in ihrem Blick, das man nicht scheiden konnte in gut und böse.

Hans Pauls setzte seine Narrenstreiche fort, und die Mägde schlugen ihm auf die großen, dreisten Hände.

»Laß' die Hanswurst-Gebärden!«, befahl Edleff.

Und Hans sprang auf eine Truhe, schlug kreuzweise die Beine unter sich wie ein Schneider, sperrte den Mund halb auf und machte Glotzaugen wie ein Trottel. »Ich höre auf eure Weisheit.«

Da barst ein Kichern sogar aus Ettas Munde.

»Abends auf der Diele müssen Rad und Zunge um die Wette gehen … setzet eure Rede fort!«, meinte Edleff.

»Wir waren just am Ende, Herr«, antwortete Boje.

»Nennt den Pastor und den Staller Herr, ich aber heiße Edleff Wessel!«, kam's kurz und dann die Frage: »Wovon handeltet ihr?«

»Ein wenig von den alten, freien und frommen Geschlechtern dieses Nordstrandes«, blinzelte der Knecht.

Der Vogtsohn wandte sich ab und an Etta. Voll trafen sich ihre Blicke, und er sagte: »Vielleicht geziemt es sich nicht, daß ich hier verweile, da Euer Vater abwesend und der Mann nicht im Hause?«

Im Hintergrunde erhob sich Karl Heimreich, lächelte und antwortete an ihrer Statt: »Bleibet nur, Edleff, wofern Ihr denn mich zu den Männern zählt. Und gebet ein Stücklein zum Besten, denn Ihr seid ja weit herum gewesen, in Dänemark und bis Amsterdam in Holland.«

Hans Pauls kraulte sich die vorstehenden Ohren: »Ich wüßte ein Stücklein, das wäre noch kürzer und besser, und ich wette, es wird Beifall finden, so daß Alget nicht den Mund verziehen wird und Almas Augen leuchten werden wie zwei feurige Kohlen. Mein Stück ist kurz und lautet: Wir treten insgesamt zum langen Reigen an und richten ihn aus mit Tritten und Handgebärden!«

Es geschah, wie er gesagt. Alle Magdaugen leuchteten, und der anfangs säuerliche Zug um Algets Mund wurde zum seligen Grinsen. Boje schob mit den Füßen hastig sein Stroh in den Winkel und sprach: »So, nun wäre die Diele des Westerwohlder Pastors gekehrt zum Tanze.«

Etta schüttelte den Kopf, mit einem Lächeln aber. Edleff summte eine Weise, blickte sie fröhlich-launig an und sagte dann singend die Worte:

»Ich weiß mir eine feine Magd,
die meinem Herzen wohl behagt,
die nähme ich mir zum Weibe,
könnt' sie von Haferstroh oder Heu
spinnen mir ein Wämslein neu.«

Ettas Lippen kräuselten sich, und flugs entströmte ihnen die Antwort im gleichen Singtone:

»Soll ich von Haferstroh und Heu
spinnen dir ein Wämslein neu,
dann sollst du zum Schneiden des Kleides
holen der Seejungfer güldne Scher',
tauchend hinunter ins tiefste Meer.«

Nach kurzem Besinnen sang er:

»Soll ich der Meerjungfer güldne Scher'
holen dir aus dem tiefsten Meer,
mußt du mir am hellen Mittage
weisen am Himmel das Siebengestirn,
Weg mir zu finden, vielkluge Dirn!«

Und sie entgegnete schnell und neckisch:

»Ehe dir die kluge Dirn
zeiget am Himmel das Siebengestirn,
sollst du mit den Händen mir reiben
drunten am Strand den gröbsten Stein,
scharf wie Pfeffer, wie Mehl so fein.«

Sein Auge suchte ihr Auge, und was in seinem lächelnden Blick lag, war nicht unergründlich, sondern leicht zu lesen, und geschwinde sang er:

»Soll ich dir reiben den harten Stein,
scharf wie Pfeffer, wie Mehlstaub fein,
dann sollst du zum Weibe mir geben
unter den Jungfrauen zart und lind
wohl deiner Mutter eigenes Kind.«

Etta sprang vom Stuhle, sah zur Seite, wo die Mägde saßen, und schloß das Reimspiel also:

»Eh' ich von Jungfrauen zart und lind
gäb' dir meiner Mutter Kind,
du müßtest zum Leben rückkommen,
nachdem du sieben geschlagene Jahr'
gleichwie am Halse gehangen fürwahr.«

Sie hatte den Schluß des Liedes selbst gereimt und geändert. Die Stühle und Spinnräder waren zur Seite gerückt. Alget stemmte die Hände in die Hüften und wiegte sich. Alma trippelte ungeduldig mit den Füßen.

Schon räusperte Hans Pauls die belegte Stimme, um vorzusingen, als Edleff auf einen Wink von Etta vor ihn trat und das Amt des Vorsängers und Vortänzers übernahm. Alle bildeten eine lange Reihe, der Vorsänger stimmte die eben gehörte Weise an, die übrigen fielen ein, und insgesamt richtete man sich nach den Bewegungen des Vortänzers in Treten und Hüpfen und Handgebärden.

Die Gesichter röteten sich, und der Staub flog zur Decke. Nach einer anderen Singweise ward ein zweiter und dritter Reigen getanzt. Es waren aber sehr zierliche und sehr züchtige Tänze.

Nur drei beteiligten sich nicht daran. Sönke karrte seine Wolle und nickte mit dem Kopfe. Mitten im Getriebe der Jugend verweilten seine Gedanken in vergangener Zeit … Werden die Sünden der Väter heimgesucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied …? Ja, sogar was jene an Deichen und Dämmen versäumt haben, müssen die Enkel büßen …

Karl Heimreich und Hertie saßen im Hintergrunde. »Tue du mit den andern!«, flüsterte er, »ich vermag es nicht.«

»Und ich mag es nicht!«, erwiderte sie. Dennoch fand sie Gefallen an dem lustigen Spiel der andern.

Was hatte Alma, die Dirne mit der Stumpfnase und den losen Augen, dem bärtigen Hans Pauls von hinten ins Ohr geflüstert? Gewiß ist, daß dieser den Vorschlag machte, einmal zur Abwechslung einen Zweipaarentanz zu erproben.

Etta erhob mit der Hand Einspruch. Aber es war zu spät. Des Hauses Herrin konnte der entfesselten Tanzlust der Männer und insonderheit der Weibsen nicht mehr wehren. Schon hatten Hans Pauls und Boje die Hand nach Alma ausgestreckt, und die Dirne hatte den Bärtigen gewählt, Boje aber mit Alget fürlieb nehmen müssen.

Etta stellte sich in den Hintergrund neben Hertie. A+ber Edleff stand vor ihr, bat und drängte. Hans Pauls sang aus baßtiefer Kehle die Weise und schwenkte seine Tänzerin vorbei. Ettas Mieder wogte. Sie gab nicht ihre Zustimmung, aber sie ließ es geschehen, daß Edleff den Arm um ihren Gürtel legte. Da taten ihre Füße, was ihr Sinn nicht wollte, und ehe sie es sich versah, war sie mitten im Zweipaar-Wirbel der anderen.

Sönke hob den Kopf und folgte den beiden. Zwei Menschenkinder von ungewöhnlichem Wuchs und fast vollkommener Leibesschöne. Mit großer Anmut schwebten sie über den ausgetretenen Fußboden, und sittig lehnte sie sich an ihn. Aber beim zweiten Tanze wollte schon heißer sein das Blut, und fester faßte sein Arm die Tänzerin. Und beim dritten Tanze? Da geschah es, daß der tolle Hans Pauls seine Maid mit starkem Griffe hob und die Aufjauchzende in die Runde schwenkte.

Solche Tanztollheit steckte an. Der Grund entwich plötzlich unter Ettas Füßen. Vom Schwung seiner Arme bis zur Decke gehoben, schwebte sie fast über Edleffs Haupt und sah seinen glühenden Blick. Sie hielt den Atem eine Weile an, dann war's wie ein kurzes Ringen, ein kräftiges Entwinden, ein behendes Entfliehen. Neben Sönke sank sie in einen Stuhl, als suchte sie Schutz beim Alter.

Edleff trank aus dem Wasserkruge ein paar tiefe Züge und stand vor ihr. Über seine Lippen kam ein »Verzeiht«, welches de- und reumütig klang.

Aber kalt war ihr Blick und kurz die Antwort: »Ich will nicht mehr tanzen noch mittun!«

Dann wandte sie sich an Sönke: »Mach' Feierabend, es ist genug für heute, Alter!«

Sollte es auch ihm eine Mahnung zum Aufbruch sein? Edleff kehrte sich ab, aber nicht zum Gehen, sondern mischte sich mit einem trotzigen Zug um den Mund ins Getümmel und schwenkte gelassen die Mägde der Reihe nach über die Diele, von einem Pfosten zum andern.

Boje, der Knecht, war es, welcher dem Tanz ein Ende machte. An der Haustür kam er aus dem Tritt, hielt die Hand ans Ohr und horchte. Dann meldete er gelassen: »Ich höre einen Wagen über das Pflaster unter der Kirchwarf rollen und eines Gaules Trott, den ich kennen sollte;« und schloß schmunzelnd: »Herr Boethius kommt noch rechtzeitig zum letzten Dreiritt.«

Die Mägde fuhren hin und her, rückten die Stühle zurecht und saßen ehrsam hinter den Spinnrädern. Edleff schien in Zweifel, was er täte, näherte sich der Tür, blieb aber und lehnte sich an eine Truhe. Der Knecht lief hinaus und hatte sich nicht geirrt.

Pastor Boethius hatte sein Dorf erreicht und fuhr über das Pflaster unterhalb der Kirchwarf. Dort begegnete ihm ein Mann, der einen Leuchter aus Eisenstäben mit darüber gespannter Schweinsblase trug und neugierig ihn hob, so daß sein Licht auf beide Gesichter fiel. Es war ein gefurchtes Antlitz, umrahmt von einem grau gesprenkelten Barte, das einen lauernden, fast feindseligen Blick auf den Pastor schoß. Beide murmelten einen flüchtigen Gruß, der mürrisch klang. Der Mann mit dem Leuchter war der Kirchspielvogt, und es ging das Gerede, daß er abends gern um die Häuser herumschleiche und spähe.

Das Gefährt hielt auf der Hofstelle der Pastorei. Boje nahm dem Pastor den Zügel ab und löste die Stränge. Und der Herr erkundigte sich wohlwollend: »Nun, wie steht's? Habt Ihr gut auf Feuer und Licht Obacht gegeben?«

»Ja, Herr!«, sprach der Knecht, schob an der Mütze und schleppte die Rede nach. »Sonst … wo junge Männer und Weiber auf der Diele beisammen sind, ist es nicht leicht, auf Funken und Feuer Obacht zu geben.«

Boethius fragte nicht weiter, sondern stieß hastig die Tür auf und trat über die Schwelle. Sein erster Blick fiel auf Edleff, welcher mit gekreuzten Armen an der Truhe lehnte, und er nickte kalt. Dann gewahrte er die Staubwolke, welche sich legte, und die Wangen der Mägde, die wie Feuer brannten, zog die buschigen Brauen zusammen und räusperte sich: »Karl Heimreich, geh' in deine Kemenate, du verträgst nicht, den Staub zu schlucken, und der Husten wird dich plagen.«

Keiner entging seinem Blick, nur Hans Pauls, der sich hinter Algets rundliche Gestalt geduckt hatte und närrische Gesichter schnitt.

Der Pastor trat fest über die Diele, auf die errötende Etta zu, sah den versteckten Kauz und lächelte unliebsam:

»Ei, Hans Pauls, nicht im Bierhause, sondern im Pfarrhofe! Ihr wollt auf besseren Wegen wandeln.«

»Ja, Ehrwürden, wir wandelten just nicht, sondern sprangen ganz ehrbarlich ein wenig.«

Boethius kniff die Lippen zusammen, kehrte sich und sagte sehr laut: »Gäste sind mir+ allzeit willkommen, doch sehe ich sie lieber in meinem Hause, wenn ich selber darinnen bin.«

Die Worte galten allen und schienen doch an einen gerichtet. Wenigstens war der, welcher an der Truhe lehnte, des Glaubens, denn er ging zuerst und ohne Abschied.

Hans Pauls war unbemerkt verschwunden. Die Mägde schieden mit einem schüchternen Gruß, nur Sönke erhielt einen herzlichen Händedruck des Pastors.

Dieser schritt zum Herde, entzündete den Leuchter, winkte seiner Tochter und trat in die Stube, die hinter der Küche lag.

Zitterte seine Hand von der mancherlei Gemütsbewegung des Tages, da das Talglicht auf die blendend weiße Bretterdiele tröpfelte? Er setzte es auf den Tisch und wärmte sich die Hände am Beileger-Ofen, der eine neue Einrichtung war und vom Herde aus geheizt wurde.

Biblische Bilder, von denen das eine Adam und Eva, das andere wohl die Gottesmutter mit dem Kinde darstellen sollte, zierten die Seitenflächen desselben und hohe, blank geputzte Messingknöpfe die obere Platte.

Pastor Boethius ließ seinem Unwillen Zeit, sich zu setzen. Dann trat er vor Etta. Sie schlug nicht die Augen nieder, sondern richtete sie zu ihm empor, als wenn sie einen Tadel erwarte und willig hinnehmen wolle.

Aber sein Auge war milde. Er strich über das Haar und küßte sie auf die Stirn.

»Vater, es geschah, ohne daß ich es wollte, aber ich hätte es wehren können.«

»Laß es, Etta«, nickte er gedankenvoll, »es ist nichts Ungeziemendes geschehen und war doch nicht gut, daß auf meiner Diele gestampft und gesprungen wurde … setze dich, mein Kind, ich möchte dir eine kurze Historie erzählen … wenn du willst, einen Abschnitt aus dem Curriculum vitae, dem Lebenslauf eines Mannes.«

Sie horchte auf und hing an seinem Munde.

Er blieb stehen, an den Beileger-Ofen gelehnt. »Vor mehr als 35 Jahren, im Nachbarkirchspiel Osterwohld war es …, dort diente auf einem Hofe ein Knecht schon einige Jahre, war nicht unfleißig und vergnügt in seinem geringen Stande. Hinter dem Pfluge, wenn der Möwenschwarm der Furche folgte und die Lerche droben schmetterte, sang und flötete er immer seine Weisen. Aber von einem Marientage an verstummte der Knecht, denn er hatte mit des Bauern jüngsten Tochter Disteln gestochen im Haferfelde und wußte, daß sie ihm gut sei, und war dennoch traurig, trotz des Treugelübdes, das sie ihm gab. Der Vater nämlich hatte einen reichen Freier, den Sohn des Vogtes im Nachbarkirchspiele, das Mägdlein aber ein treues Herz und einen starken Sinn. Dem Vogtsohne gönnte sie kein freundliches Wort, obgleich er immer häufiger sein Rößlein vor der Tür anband und immer deutlicher warb. Da geschah es eines Tages – wahrlich, es war der Burchardi-Tag wie heute – als sie das Herbstfeld bestellten und den Weizen säeten, daß der Bauer über das Feld kam und den Knecht anschrie, daß er den Samen ungeschickt streue, dann aber nicht mehr schalt, sondern mit der Hand nach ihm ausschlug. Der Knecht wich aus und ging stracks von dannen, hörte aber noch hinter sich, wie der Bauer sich verschwur, daß er nimmer einem Knechte sich verschwägern wolle. Ein Geraune der Leute mochte dem Bauern zu Ohren gekommen sein. Dem Knecht aber schien das Joch allzu schwer und sein Stand mißfiel ihm dermaßen, daß er sogleich vom Nordstrande entlief auf das Festland hinüber, wo er nach Schleswig ging und in die Domschule sich hineinbettelte …«

Etta, welche mit steigender Spannung zugehört hatte, sprang empor. »Vater, ich weiß ja, daß du in deiner Jugend ein Ackerknecht gewesen bist … wer war der Bauer?«

»Dein Großvater Gert Tetens in Osterwohld, und das Mägdlein war deine selige Mutter, mein vielliebes Weib. Vier Jahre saß ich auf der Schulbank, und weitere vier studierte ich die Theologika und trieb's mit saurer Mühe; im zehnten Jahr aber war ich zum Pastor in Westerwohld vociert worden, und Gunna Tetens ward mein Weib. Einem Pastor sich zu verschwägern, hatte der Bauer nicht verschworen. Der Vogtsohn war bis ins vierte Jahr alle Sonntage gekommen, Gunna konnte es nicht wehren, schüttelte aber den Kopf und schwieg und harrte … Etta, Etta, wo ist eine Treue gewesen wie deiner Mutter Treue?« Die Erinnerung überwältigte den Mann.

Nach einer Weile hauchte die Tochter: »Wer war der Vogtsohn?« Fest sah er ihr in die Augen und sprach langsam: »Er ist jetzt selber Vogt und heißet Volquart Wessel.«

Man hörte einen tiefen Atemzug, der in der Stille des Gemachs fast wie ein leiser Seufzer klang.

»Die Historie hast du gehört, mein Kind, und was dir daraus zu wissen und zu nehmen Not tut«, schloß der Vater. Dann zog ein leises Lächeln über das knochige Gesicht. »Den Bauernpastor nennen mich die Laien und geringen Leute, insonderheit, wenn sie beim Bier sitzen, und die Lateiner der Insel haben es in pastor rusticus verdolmetscht … es betrübt mich nicht, es freut und ehrt mich, wenn es gleich ein Schelmenname ist … Volquart Wessel soll ihn bei meiner Installation aufgebracht haben.«

Nachdenklich schaute sie das Ofenbild an, und wie ein fürsichtiges Tasten kam ihr Wort: »Du zürnest … ihm … Vater?«

»Wie sollte ich Zorn hegen, da die Mutter mich erwählet und ihn verworfen hat! Aber in seinem Auge, wenn es unbemerkt auf mir ruht, liegt Arglist und ein Hinterhalt, vor dem ich fünfundzwanzig Jahre lang auf der Hut gestanden habe.«

Ihre Wangen röteten sich, indem sie redete: »Ich spreche gewiß einfältig. Aber ich habe gehört, daß der Sieger, wenn er dem Überwundenen die Hand hinhält, durch Sanftmut und Milde zum zweiten Male siegen mag … bist du nicht der Sieger, Vater? Und kann die Feindschaft nicht enden?«

Es war anders gekommen, als der Pastor gewollt hatte, Über die Diele schritt er und warf einen Blick auf die Uhr: »Schon Mitternacht! Geh schlafen, Etta!«

Gehorsam erhob sie sich.

»Ja, ich bin Sieger, warum sollte ich hassen? Er aber kann nicht vergessen, daß ich es war! Wo wir bei einander sind, sind unsere Meinungen wider einander, sowohl in Kirchen- als auch in Welt-Sachen auf dem Dorfdinge. Das ist eine lange und heimliche Fehde, und manche Grube hat er mir gegraben. Höre, mein Kind! Also ist eine große, unwegbare Kluft geworden zwischen seinem und meinem Hause, und er hat sie geschaufelt!«

Erblaßte sie? Hurtig hatte sie sich gewandt und war zum Wandschrank gegangen, entnahm demselben ein Holzstäbchen und reichte es dem Vater. Das lenkte seine Augen von ihr ab. Sogleich griff er danach und entzifferte die Zeichen, denn der Pflock war ein Dingstock mit eingeschnittenen Marken und ging in bestimmter Reihenfolge von Haus zu Haus.

Welche Bestellung richtete er aus? Der Pastor folgte mit den Fingern den Kerben und murmelte: »Diese Woche … Sonnabend … nach dem Abendläuten.«

Dann schleuderte er den Stock auf den Tisch. »Da siehst du, Etta, zum Greifen mit der Hand, was es ist zwischen dem Vogte und mir! Auf dem Ding soll meine Sache, der Neubau der einen Haushälfte der Pastorei, verhandelt werden. Weil er nun weiß, daß ich den Sonnabend wie einen Sabbat halte, mit stillem Sinnen über die Predigt hinbringe, und nicht das Haus verlasse, hat er es mit Fleiß und Willen auf den Sonnabend anberaumt! Immer hinterrücks und fein ersonnen … es soll ohne mich verhandelt werden.«

Über der Stirnfalte stießen die buschigen Brauen zusammen. Er schritt hart auf und nieder. »Ist Karl Heimreich heute vom Husten geplagt worden?«

»Nein, er ist fröhlicher gewesen, als seit langem, und hat gegen Abend gesungen gar.«

Boethius stand still: »Sehr wohl! Auf einen Schelm gehören zweie! Karl Heimreich wird am Sonntag an meiner Statt predigen, und ich werde trotz alledem zum Ding gehen. Sage es ihm morgen, Etta, daß er zeitig anfängt zu meditieren.«

»Ja, Vater, er wird eilfertig aus dem Bette springen, wenn er es hört.« Sie hielt die Stirn zum Kusse hin und ging.

Hatte sie ihn beim Gutenachtgruß angeschaut wie sonsten? Er wußte es nicht und blickte ihr nach. Wie sie den Fuß so fest und doch so leicht aufsetzte! Wo hatte er es schon geschaut? Ja, so von hinten war sie der Mutter Ebenbild und ganz die Gunna, die vor 35 Jahren im Hofe ging.

Der Hausherr nahm die Laterne, durchschritt das Haus, wie er allabendlich tat, und verriegelte die Türen. Alget schlief auf der Diele im Alkoven, man sah sie nicht, aber man hörte sie.

Der Pastor hielt die Laterne hoch und bückte tief den Kopf, denn er betrat den Stall, welcher sehr niedrig und dumpf war, auch so beschränkt, daß die Tiere bis auf den Gang hinaus lagen. Mit Mühe wand er sich hindurch, und einer Kuh, die sich erheben wollte, rief er kosend zu: »Still, Bless, bleib liegen!« Die Pferde wühlten im Häckselhafer, er strich ihnen über den breiten Rücken. Man sah am Gebaren des Alten, daß er tierlieb war. Und er murmelte: »Es ist eine Schand' und wehleidige Sache! Ihr sollt bessere Unterkunft haben, so wahr ich Boethius, der Bauernpastor, heiße … das Kirchspiel muss bauen!«


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