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Der Straßensänger des Ghettos

Lublin

(1917)

Hinter dem Judentor
In der winkeligen Gasse
Steht der Straßensänger und singt …
Singt von Moses' ehernem Siegesruf,
Von der Welten nimmerruhendem Hasse
Und von Gott, der die Liebe erschuf.
Singt vom Lande Mizrajim
Und all seinen Plagen,
Von den hungernden Kindern und ihrem Klagen,
Von den schweren Stürmen der neuen Zeit,
Den tausenden Söhnen, die draußen fielen,
Und von den Müttern im Trauerkleid.
Und in einem Atem weint er dann wieder
Seine vor Schmerz überquellenden,
Schreienden, gellenden,
Atemraubenden Judenlieder
Von des Volkes nie versandenden Tränen
Und von dem ewig brandenden Sehnen
Nach Jeruscholajim,
Nach Jeruscholajim …

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Hinter dem Judentor
In der winkeligen Gasse
Steht die große Menge und lauscht …
Aber der Sänger, der blind ist,
Sieht sie nicht,
Und der Sänger, der singt,
Er hört sie nicht.
Sieht nicht, wie die Bösen die Augen verdrehen,
Merkt nicht, daß sie den Schmerz nicht verstehen,
Merkt nicht, daß unter all diesen Gotteskindern,
Den Schlechten, die falsche Wege wandeln
Und um ihrer selbst ihr Volk verhandeln,
Auch die Gerechten und Guten sind.
Und all diese Weisen und Milden legen
Zitternd die Hand an die feuchten Augen,
Gleich als spräche er seinen Segen,
Gleich als wäre der blinde Sänger
Als wie von Gott erwählt und gesandt:
Ein Wahrheitskünder, ein Wahrheitsdichter,
Ein Kläger und Richter
Im fremden Land …

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Hinter dem Judentor
In der winkeligen Gasse
Steht der Straßensänger und singt …

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Wann?

(Im Osten, Frühjahr 1918)

Wann wird der Haß verschwinden
Und wann die Liebe kommen?
Wann wird man Menschen finden,
Die, einer für den andern,
Neidlos durchs Leben wandern,
Bis sie ihr Ziel erklommen?

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Nie wird die Welt gesunden
Und nie die Not verfliegen,
Wenn nicht die tiefen Wunden,
Die Sturm und Schmerz geschlagen,
In sonnefrohen Tagen
Von Mensch zu Mensch versiegen.

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